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Vampire.

Die Nacht war voll davon. Er hatte in dem Club mehr als ein Dutzend von ihnen gezählt. Die meisten waren durch die halb bekleidete, wogende Menschenmenge gegangen und hatten die Frauen ausgesucht – und verführt –, die in jener Nacht ihren Durst stillen würden. Das war ein symbiotisches Arrangement, das dem Stamm mehr als zwei Jahrtausende gute Dienste geleistet hatte – ein friedliches Zusammenleben, das nur durch die Fähigkeit der Vampire, die Erinnerungen der Menschen zu löschen, von denen sie sich nährten, gelingen konnte. Bevor die Sonne aufging, würde eine Menge Blut vergossen werden, aber am nächsten Morgen würde der Stamm zu seinen Dunklen Häfen in und bei der Stadt zurückgekehrt sein, und die Menschen, von denen sie in dieser Nacht gekostet hatten, würden nichts davon wissen.

Aber das war in der Gasse vor dem Nachtclub nicht der Fall.

Für die sechs blutrünstigen Raubtiere hier würde dieser unrechtmäßige Mord, der gegen den Kodex des Stammes verstieß, der letzte sein. In ihrem Hunger waren sie leichtsinnig geworden; sie hatten nicht bemerkt, dass sie beobachtet wurden. Weder als er sie in dem Club überwacht noch als er sie nach draußen verfolgt und vom Sims eines Fensters im zweiten Stock der zweckentfremdeten Kirche aus beobachtet hatte.

Sie vergaßen in ihrem Blutrausch alles um sich herum – eine Sucht, die früher schon bei dem Stamm verbreitet gewesen war und dazu geführt hatte, dass so viele von ihnen Rogues geworden waren – wild gewordene, räuberische, maßlose Vampire, denen es einzig auf die Befriedigung ihrer Sucht ankam. Genauso wie diese sechs hier, die sich in aller Öffentlichkeit und unüberlegt von den Menschen nährten, die unter ihnen lebten.

Lucan Thorne fühlte sich der Menschheit nicht sonderlich verbunden, aber noch weniger empfand er für die Rogues, die er jetzt vor sich sah. Ein oder zwei von ihnen auf einer nächtlichen Patrouille, in einer Stadt dieser Größe – das war nicht ungewöhnlich. Aber das hier, das war etwas ganz anderes, das war sogar ziemlich beunruhigend: Mehrere von ihnen, die sich zusammentaten und in aller Öffentlichkeit ihren Bluthunger stillten. Die Zahl der Rogues nahm in letzter Zeit zu, und sie wurden mutiger.

Etwas musste unternommen werden.

Lucan und einige andere des Stammes gingen Nacht für Nacht auf Jagd nach den Durchgeknallten ihrer Art, den Kranken. So hofften sie, dass nicht alles aufs Spiel gesetzt wurde, was sich das Volk der Vampire so hart erarbeitet hatte. Heute Nacht spürte Lucan seine Beute allein auf, es war ihm gleichgültig, dass er zahlenmäßig unterlegen war. Er hatte abgewartet, bis die Gelegenheit zum Zuschlagen günstig war – nämlich dann, wenn die Rogues ihre Sucht befriedigt hatten und satt und träge waren.

Betrunken von dem Übermaß an Blut hatten sie weiterhin den Körper des jungen Mannes aus dem Club attackiert und um ihn gekämpft, knurrend und schnappend wie ein Rudel wilder Hunde. Lucan hatte vorgehabt, ihnen schnell ihre gerechte Strafe zukommen zu lassen – und hätte das auch getan, wenn nicht plötzlich eine rotblonde Frau in dem dunklen Gang aufgetaucht wäre. Von einem Augenblick zum anderen hatte sie seinen ganzen Plan zunichte gemacht, dadurch, dass sie den Rogues zu der Gasse gefolgt war und dann deren Aufmerksamkeit unabsichtlich von ihrer Beute abgelenkt hatte.

Als das Blitzlicht ihres Mobiltelefons in der Dunkelheit explodierte, ließ sich Lucan von dem im Schatten liegenden Fenstersims herunter und landete ohne ein Geräusch auf dem Asphalt. Wie die Augen der Rogues unter ihm wurden auch Lucans empfindliche Sehorgane von diesem plötzlichen Lichtblitz mitten in der Dunkelheit erheblich geblendet. Die Frau feuerte eine Reihe von grellen Blitzen ab, während sie vor dem Blutbad floh. Dabei waren diese wenigen panischen Klicks wahrscheinlich ihre Rettung vor dem Zorn seiner wild gewordenen Verwandten.

Aber während die Sinne der anderen Vampire durch den Blutrausch umnebelt und träge waren, waren die von Lucan von erbarmungsloser Klarheit. Er zog seine Waffen unter seinem dunklen Trenchcoat hervor – Zwillingsschwerter aus geschmiedetem, mit Titan umrandetem Stahl – und holte zum Schlag gegen den Kopf des Rogue aus, der ihm am nächsten stand.

Zwei weitere Hiebe folgten. Die Körper der Toten zuckten, als sie sich zu zersetzen begannen; sie wurden zunächst zu tropfendem, säurehaltigem Brei, dann zu Asche. Animalische Schreie erfüllten die Gasse, als Lucan den Kopf eines weiteren Vampirs abtrennte und dann herumwirbelte, um den Rumpf des nächsten Rogue zu durchbohren. Die Blutbestie fauchte durch ihre gebleckten, blutigen Zähne hindurch, Blut tropfte ihr noch von den Fangzähnen. Blassgoldene Augen blickten Lucan verächtlich an, und die riesigen Iris vergrößerten sich vor Hunger und verschlangen die Pupillen, bis diese nur noch aus dünnen, vertikalen Schlitzen bestanden. Die ganze Kreatur verkrampfte sich, griff mit langen Armen nach Lucan. Ihr Mund verzerrte sich zu einem seltsamen und schrecklichen, höhnischen Grinsen, als der Stahl des Zwillingsschwerts ihr Blut vergiftete und den Vampir in einen schwelenden Fleck auf der Straße verwandelte.

Nur ein Rogue war übrig geblieben. Lucan wirbelte herum und riss die Klingen seines Zwillingsschwerts hoch, bereit, erneut zuzuschlagen.

Aber der Vampir war verschwunden – in die Nacht geflohen, bevor er ihn niedermetzeln konnte.

Verdammt.

Noch nie zuvor hatte er einen der Bastarde seiner gerechten Strafe entkommen lassen. Und er hätte es auch dieses Mal nicht zulassen dürfen. Er überlegte, den Rogue zu verfolgen, aber das würde bedeuten, dass er den Schauplatz der Bluttat so wie er war zurückließe. Und das war mit Sicherheit das größere Risiko – die Menschen das volle Ausmaß der Gefahr wissen zu lassen, die mitten unter ihnen weilte. Denn nicht zuletzt wegen der Rogues und ihrer außergewöhnlichen Grausamkeit war Lucans Volk in der Vergangenheit immer wieder von den Menschen verfolgt und gejagt worden. Das Vampirvolk würde ein neues Zeitalter der Vergeltung möglicherweise nicht überleben, nun, da der Mensch die Technologie auf seiner Seite hatte.

Bis die Rogues besiegt – oder noch besser: gänzlich ausgerottet – waren, durfte die Menschheit nicht erfahren, dass die Vampire so zahlreich mitten unter ihnen lebten.

Als er damit begann, den Schauplatz von allen Spuren des Kampfes zu reinigen, kehrten Lucans Gedanken immer wieder zu der Frau mit dem rotblonden Haar und der zarten alabasterfarbenen Haut zurück.

Wie war es möglich, dass sie in der Lage gewesen war, die Rogues in der Gasse zu finden?

Die Menschen behaupteten immer wieder, dass Vampire nach Belieben verschwinden konnten, doch die Wahrheit war eine andere, wenn auch kaum weniger bemerkenswert. Vampire konnten sich einfach schneller bewegen, als es das menschliche Auge zu erfassen vermochte. Dazu kam ihre hypnotische Macht, die sie über den Verstand niederer Lebensformen besaßen. Seltsamerweise hatte diese Frau gegen beides immun gewirkt.

Lucan wurde nun klar, dass er sie schon in dem Club gesehen hatte. Sein Blick war durch ihr Paar seelenvoller Augen und ihre offensichtliche Verlorenheit, die seiner eigenen sehr ähnelte, von seinem Opfer abgelenkt worden. Sie hatte ihn ebenfalls bemerkt und angestarrt. Selbst durch die Menschenmenge und die verrauchte Luft hindurch hatte Lucan ihren Duft wahrgenommen – etwas Exotisches, Seltenes.

Er roch es auch jetzt, eine zarte Duftnote, die in der Nachtluft hing, seine Sinne reizte und seine primitivsten Gelüste ansprach. Sein Zahnfleisch schmerzte, als sich seine Fangzähne verlängerten, eine physische Reaktion auf Verlangen – fleischlich oder anderweitig –, das zu zügeln er unfähig war. Er witterte sie, und er hungerte, kaum besser als seine Blutbestienbrüder.

Lucan legte den Kopf in den Nacken und sog den Geruch der Frau tiefer in seine Lungen. Er spürte sie mit dem scharfen Geruchssinn eines Vampirs quer durch die Stadt auf. Es war mehr als unklug, der einzigen Zeugin des Überfalls der Rogues die Erinnerung an das zu lassen, was sie gesehen hatte. Lucan würde die Frau aufsuchen und alle Mittel ergreifen, die nötig waren, um den Schutz des Stammes zu sichern.

Und in seinem Hinterkopf flüsterte ein uraltes Bewusstsein, dass sie, wer auch immer sie war, bereits ihm gehörte.

 

„Ich sage Ihnen, ich habe die ganze Sache gesehen. Es waren sechs, und sie zerrten mit Händen und Zähnen an dem Mann – wie Tiere. Sie haben ihn getötet!“

„Miss Maxwell, wir haben heute Nacht bereits mehrmals darüber gesprochen. Also, wir sind alle müde, und es wird immer später.“

Gabrielle befand sich nun schon mehr als drei Stunden auf der Polizeiwache und hatte die ganze Zeit versucht, das Grauen zu schildern, das sie beim La Notte beobachtet hatte. Die beiden Polizisten, mit denen sie sprach, waren zuerst skeptisch gewesen, nun wurden sie allmählich ungeduldig, fast feindselig. Bald nachdem sie auf die Wache gekommen war, hatten die Polizisten einen Streifenwagen zum Club geschickt, der den angeblichen Tatort überprüfen und den Leichnam, den Gabrielle gesehen haben wollte, bergen sollte. Die Fahrt hatte nichts ergeben. Keine Berichte über eine Auseinandersetzung einer Gang und nicht die Spur eines Beweises, dass irgendjemand ein Verbrechen beobachtet hatte. Es war, als sei der gesamte Vorfall niemals geschehen – oder als sei der Tatort auf beinahe wundersame Weise gründlich aufgeräumt worden.

„Wenn Sie mir nur zuhören würden … wenn Sie sich nur die Bilder ansehen würden, die ich gemacht habe …“

„Wir haben sie gesehen, Miss Maxwell. Bereits mehrere Male. Offen gesagt, nichts von dem, was Sie heute Nacht erzählt haben, lässt sich bestätigen – nicht Ihre Aussage, und auch nicht diese grobkörnigen, schwer zu erkennenden Fotos auf Ihrem Mobiltelefon.“

„Es tut mir leid, wenn die Qualität mangelhaft ist“, erwiderte Gabrielle, sich ihres bissigen Tonfalls sehr wohl bewusst. „Das nächste Mal, wenn ich Zeugin eines blutigen Gemetzels durch eine Bande Psychos werde, werde ich daran denken, meine Leica und einige Extraobjektive mitzubringen.“

„Vielleicht möchten Sie Ihre Aussage noch einmal überdenken“, schlug der ältere der beiden Polizisten vor. In seiner Bostoner Sprechweise war ein leichter irischer Akzent zu erkennen, was auf eine in South Boston verbrachte Jugend hindeutete. Er strich mit einer dicklichen Hand über seinen zurückweichenden Haaransatz und schob Gabrielle ihr Handy über den Tisch hinweg zu. „Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass eine falsche Zeugenaussage ein Verbrechen ist, Miss Maxwell.“

„Das hier ist keine falsche Zeugenaussage“, beharrte sie. Sie war frustriert und wütend, dass sie hier wie eine Verbrecherin behandelt wurde. „Ich stehe zu allem, was ich heute Nacht gesagt habe. Warum sollte ich mir das ausdenken?“

„Das ist eine Frage, die nur Sie beantworten können, Miss Maxwell.“

„Das ist unglaublich. Sie haben meinen Notruf vorliegen …“

„Ja“, stimmte der Polizist zu. „Sie haben in der Tat die Notrufnummer gewählt. Leider ist alles, was wir haben, ein Rauschen auf dem Band. Sie haben nichts gesagt und nicht auf das Ansuchen um Informationen geantwortet.“

„Tja, es ist schwer, die richtigen Worte zu finden, um zu beschreiben, wie jemandem die Kehle herausgerissen wird.“

Er warf ihr erneut einen zweifelnden Blick zu. „Dieser Club – La Notte? Ich habe gehört, das soll ein wilder Laden sein. Beliebt in der Gothicszene, bei den Ravern …“

„Was wollen Sie damit sagen?“

Der Polizist zuckte mit den Schultern. „Viele Kids geraten heutzutage in seltsamste Kreise, machen die merkwürdigsten Dinge. Vielleicht war das, was Sie gesehen haben, nur ein bisschen Spaß, der außer Kontrolle geraten ist.“

Gabrielle stieß einen Fluch aus und griff nach ihrem Handy. „Sieht das für Sie aus, als ob ein bisschen Spaß außer Kontrolle geriete?“

Sie rief wieder das Fotomenü auf und sah sich erneut die Bilder an, die sie aufgenommen hatte. Obwohl die Schnappschüsse wegen des Blitzes unscharf waren, konnte sie dennoch deutlich eine Gruppe von Männern erkennen, die einen anderen umringten, der auf dem Boden lag. Sie klickte weiter, zu einem neuen Bild, und sah das reflektierende Glühen von mehreren Augen, die ins Objektiv starrten, die vagen Konturen der Gesichtszüge in animalischer Wildheit verzerrt.

Warum sahen die Polizisten nicht das, was sie sah?

„Miss Maxwell“, warf der jüngere Polizeibeamte ein. Er schlenderte zu der anderen Seite des Schreibtisches und setzte sich vor ihr auf den Rand. Er war bisher der ruhigere der beiden Männer gewesen, derjenige, der zugehört und reiflich überlegt hatte, während sein Partner sie seinen Zweifel und sein Misstrauen überdeutlich hatte spüren lassen. „Es ist offensichtlich, dass Sie glauben, heute Abend bei dem Club etwas Schreckliches gesehen zu haben. Officer Carrigan und ich möchten Ihnen helfen, aber vorher müssen wir uns sicher sein, dass wir alle von den gleichen Fakten ausgehen.“

Sie nickte. „Okay.“

„Nun, wir haben Ihre Aussage, und wir haben Ihre Bilder gesehen. Sie scheinen mir eine vernünftige Frau zu sein. Bevor wir dies hier heute Nacht weiterverfolgen können, muss ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, sich einem Drogentest zu unterziehen.“

„Ein Drogentest.“ Gabrielle sprang von ihrem Stuhl auf. Mittlerweile war sie mehr als wütend. „Das ist lächerlich! Ich bin kein Junkie auf einem Trip, und ich finde es unverschämt, dass ich wie einer behandelt werde. Ich versuche hier einen Mord zu melden!“

„Gabby? Gabrielle?“

Irgendwo hinter sich hörte Gabrielle Jamies Stimme. Sie hatte ihn angerufen, kurz nachdem sie hier angekommen war, da sie das Bedürfnis hatte, sich nach dem Horror, den sie erlebt hatte, von einem Freund trösten zu lassen.

„Gabrielle!“ Jamie stürmte zu ihr und nahm sie in den Arm. „Tut mir leid, dass ich nicht eher kommen konnte, aber ich war schon zu Hause, als ich deine Nachricht bekommen habe. Meine Süße! Bist du in Ordnung?“

Gabrielle nickte. „Ich glaube schon. Danke, dass du gekommen bist.“

„Miss Maxwell, warum lassen Sie sich nicht von Ihrem Freund hier nach Hause bringen?“, schlug der jüngere Polizist vor. „Wir können ein anderes Mal weitermachen. Vielleicht können Sie klarer denken, wenn Sie ein bisschen geschlafen haben.“

Die beiden Polizeibeamten standen auf und gaben Gabrielle zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. Sie widersprach nicht. Ja, sie war müde, zutiefst erschöpft, und sie hatte nicht das Gefühl, dass sie imstande wäre, die Polizisten von dem zu überzeugen, was sie vor dem La Notte erlebt hatte, selbst wenn sie die ganze Nacht auf der Polizeiwache bliebe. Benommen ließ Gabrielle es zu, dass Jamie und die beiden Polizisten sie aus der Wache begleiteten. Sie war die Stufen zum Parkplatz schon halb hinuntergestiegen, als der jüngere der beiden Männer ihren Namen rief.

„Miss Maxwell?“

Sie blieb stehen und blickte über die Schulter zurück zu dem Polizisten, der vor der hell erleuchteten Polizeiwache stand.

„Wenn Sie dann besser schlafen können, schicken wir jemanden, der bei Ihnen zu Hause alles überprüft und vielleicht noch mal mit Ihnen redet, wenn Sie ein bisschen Zeit hatten, noch einmal über Ihren Bericht nachzudenken.“

Ihr gefiel sein jovialer Tonfall nicht, aber es gelang ihr auch nicht, den Zorn wieder heraufzubeschwören, den sie gebraucht hätte, um sein Angebot abzulehnen. Nach dem, was sie heute Nacht gesehen hatte, wäre es ihr sogar sehr recht, wenn ein Polizist zu ihr nach Hause käme – selbst wenn er sie von oben herab behandeln, ihr nicht unbedingt glauben würde. Sie nickte und folgte dann Jamie hinaus zu seinem wartenden Wagen.

 

An einem Schreibtisch in einer stillen Ecke des ehrwürdigen Gemäuers drückte ein Büroangestellter die Drucken-Taste an seinem Computer. Ein Laserdrucker schaltete sich hinter ihm surrend ein und spuckte eine einzelne Seite mit einem Bericht aus. Der Angestellte trank den letzten Schluck des kalten Kaffees aus seinem angeschlagenen Red Sox-Becher, erhob sich von seinem wackeligen, mit bunter Dichtungsmasse reparierten Stuhl und nahm beiläufig das Dokument aus dem Drucker.

Die Polizeiwache war ruhig, die Pause der Mitternachtsschicht hatte gerade begonnen. Aber selbst wenn hier geschäftiges Treiben geherrscht hätte, hätte niemand dem zurückhaltenden, unbeholfenen Praktikanten, der sich immer etwas abseits hielt, Beachtung geschenkt.

Das war das Schöne an seiner Rolle.

Das war der Grund, warum er ausgewählt worden war.

Er war nicht das einzige Mitglied der Truppe, das rekrutiert worden war. Er wusste, dass es noch andere gab, auch wenn die Identitäten geheim gehalten wurden. Auf diese Art war es sicherer, sauberer. Er selbst konnte sich nicht erinnern, wie lange es her war, dass er zum ersten Mal seinen Meister getroffen hatte. Er wusste nur, dass er nun lebte, um zu dienen.

Mit dem Bericht in der Hand schlurfte der Büroangestellte den Gang hinunter, auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen. Im Pausenraum, der niemals leer war, gleichgültig, zu welcher Tageszeit, saßen einige Sekretärinnen und Carrigan, ein fetter, überlauter Polizist, der Ende der Woche in den Ruhestand ging. Er war damit beschäftigt, mit dem tollen Geschäft anzugeben, das er abgeschlossen hatte – eine Eigentumswohnung in Florida, am Arsch der Welt. Die Frauen ignorierten ihn so gut es ging. Sie aßen Geburtstagskuchen, der schon Tage hier stand, und spülten alles mit Diätcola herunter.

Der Büroangestellte strich sich mit den Fingern durch sein hellbraunes Haar und ging an der offenen Tür vorbei, auf die Toiletten am Ende des Ganges zu. Er hielt vor der Herrentoilette, die Hand auf dem zerbeulten Metallgriff, und sah sich beiläufig um. Als er niemanden erblickte, der ihn sehen konnte, lief er zur nächsten Tür weiter, dem hausmeisterlichen Abstellraum der Wache. Dieser sollte eigentlich immer verschlossen sein, war es aber selten. Es gab dort sowieso nicht vieles, das es wert gewesen wäre, gestohlen zu werden, wenn man nicht gerade ein Faible für industriegenormtes Toilettenpapier, Ammoniakreiniger und braune Papierhandtücher hatte.

Der Mann drehte den Knauf und drückte die alte Stahltür nach innen. Als er sich in dem dunklen Abstellraum befand, verschloss er die Tür von innen und nahm sein Mobiltelefon aus der vorderen Tasche seiner Khakihose. Er drückte die Kurzwahltaste und rief die einzige Nummer an, die in dem Prepaid-Karten-Handy, das man nicht orten konnte, eingespeichert war. Es klingelte zweimal, dann war ein ominöses Schweigen zu vernehmen, als die unverkennbare Anwesenheit seines Meisters am anderen Ende der Leitung drohend deutlich wurde.

„Sire“, hauchte der Büroangestellte, wobei er seine Stimme zu einem ehrfurchtsvollen Flüstern senkte. „Ich habe Informationen für Euch.“

Er sprach schnell und leise, gab sämtliche Details des Besuchs dieser Gabrielle Maxwell auf der Wache weiter, einschließlich der Einzelheiten ihrer Aussage über einen Mord im Stadtzentrum. Der Büroangestellte hörte ein Knurren und das leise Geräusch von Atemzügen im Lautsprecher seines Handys. Der andere nahm die Neuigkeiten stumm auf. Der Büroangestellte spürte Zorn in diesem langsamen, wortlosen Ausatmen, und ihm lief ein Schauder über den Rücken.

„Ich habe ihre persönlichen Daten für Euch aufgeführt, Sire – und zwar alle“, erklärte er. Dann las er im Schein des schwach leuchtenden Handydisplays Gabrielles Adresse vor, ihre nicht im Telefonbuch angegebene Telefonnummer und noch weitere Informationen – ganz der unterwürfige Lakai, erpicht darauf, seinen furchtbaren und mächtigen Meister zufriedenzustellen.