25

Er hatte sie den Rest des Tages über gemieden, und Gabrielle dachte sich, dass das wahrscheinlich nur gut war. Jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, marschierten Lucan und die fünf anderen Krieger als Einheit aus der Trainingsanlage, jeder von ihnen eine fleischgewordene Drohung in schwarzem Leder und mit pfundweise tödlichen Waffen. Selbst Gideon nahm an dem Angriff teil, anstelle von Conlan, dem Krieger, den sie vor einigen Nächten verloren hatten.

Savannah und Eva warteten im Gang, um sie zu verabschieden. Sie traten zu ihren Gefährten und umarmten sie lange. Sanfte, persönliche Worte wurden leise gewechselt. Zärtlichbange Küsse zeigten die Angst der Frauen und besiegelten die Versprechen der Männer, heil und gesund zu ihnen zurückzukehren.

Etwas abseits der Stelle, wo Gabrielle stand und sich wie eine Außenseiterin fühlte, sagte Lucan leise etwas zu Savannah. Die Stammesgefährtin nickte, und er legte ihr einen kleinen Gegenstand in die Hand, wobei sein Blick über ihre Schulter auf Gabrielle fiel. Er sprach kein Wort mit ihr und machte keine Anstalten, sich ihr zu nähern, aber sein Blick ruhte lange auf ihr.

Und dann war er weg.

Als erster der Krieger bog Lucan am Ende des Ganges um eine Ecke und verschwand aus ihrem Blickfeld. Der Rest seines Kaders folgte, dann war nur noch das Hallen von schweren Stiefeln und das metallische Klirren von Stahl zu hören.

„Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“ Savannah trat zu Gabrielle und legte ihr sanft einen Arm um die Schultern.

„Ja. Es wird schon gehen.“

„Er wollte, dass ich Ihnen das hier gebe.“ Sie hielt Gabrielle ihr Mobiltelefon hin. „Eine Art Friedensangebot?“

Gabrielle nahm das Gerät und nickte zustimmend. „Die Dinge zwischen uns laufen gerade nicht so gut.“

„Das tut mir leid. Lucan sagte, er hoffe, Sie verstehen, dass Sie das Quartier nicht verlassen und Ihren Freunden nicht erzählen können, wo Sie sich aufhalten. Aber wenn Sie sie anrufen müssen …“

„Vielen Dank.“ Gabrielle blickte zu Gideons Gefährtin auf und zwang sich zu einem kleinen Lächeln.

„Wenn Sie ungestört sein wollen, machen Sie es sich gemütlich, wo Sie möchten.“ Savannah umarmte sie kurz und sah dann Eva entgegen, die herbeikam, um sich zu ihnen zu gesellen.

„Ich weiß ja nicht, wie es euch so geht“, meinte Eva, deren schönes Gesicht vor Sorge abgespannt aussah, „aber ich könnte einen Drink gebrauchen. Oder auch drei.“

„Vielleicht könnten wir alle etwas Wein und Gesellschaft gebrauchen“, antwortete Savannah. „Gabrielle, leisten Sie uns doch Gesellschaft, wenn Sie fertig sind. Wir sind dann bei mir.“

„Gut. Vielen Dank.“

Die beiden Frauen sprachen leise miteinander, als sie untergehakt den gewundenen Korridor in Richtung von Savannahs und Gideons Wohnung hinuntergingen. Gabrielle wanderte in die andere Richtung, nicht sicher, wohin sie wollte.

Das stimmte eigentlich nicht. Sie wollte zu Lucan, wollte in seinen Armen sein, aber diesen verzweifelten Wunsch musste sie sich aus dem Kopf schlagen, und zwar schnell. Sie hatte nicht vor, ihn um seine Gunst anzubetteln. Wenn er von dem heutigen Angriff heil und gesund zurückkam, wollte sie darauf bedacht sein, ihre Würde zu wahren – auch wenn das hieß, ihn sich endgültig abzuschminken.

In einer ruhigen, schwach erleuchteten Abzweigung des Ganges kam sie an einer offenen Tür vorbei. Eine Kerze brannte als einzige Lichtquelle in dem leeren Raum. Die Einsamkeit und der schwache Geruch nach Weihrauch und altem Holz zogen sie an. Es handelte sich um die Kapelle des Quartiers. Gabrielle erinnerte sich, auf ihrer Tour mit Savannah daran vorbeigekommen zu sein.

Sie ging zwischen zwei Reihen aus Sitzbänken auf ein erhöhtes Podest zu, das vorne im Raum stand. Dort stand die Kerze, eine dicke rote Säule aus langsam schmelzendem Wachs, deren Flamme tief in der Mitte brannte und ein sanftes, karmesinrotes Licht warf. Gabrielle setzte sich auf eine der vorderen Bänke, ruhte sich eine Weile aus und ließ den Frieden dieses Ortes auf sich wirken.

Dann klappte sie ihr Handy auf. Das Nachrichtensymbol blinkte auf dem Display. Gabrielle drückte den Knopf für Voicemail und hörte den ersten Anruf ab. Er war von Megan und stammte von vor zwei Tagen, etwa um die gleiche Zeit, als sie in Gabrielles Wohnung angerufen hatte, nach dem Lakaienangriff im Park.

„Gabby, ich bin es wieder. Ich habe dir zu Hause ein paar Nachrichten hinterlassen, aber du hast nicht zurückgerufen. Wo bist du? Ich mache mir langsam wirklich Sorgen! Ich finde nicht, dass du nach dem, was passiert ist, allein sein solltest. Ruf mich an, sobald du diese Nachricht bekommst – und ich meine, noch in der gleichen Sekunde, okay?“

Gabrielle löschte die Nachricht und ging zur nächsten über. Sie war von gestern Abend, gegen elf Uhr. Kendras Stimme war zu hören, die etwas müde klang.

„Hallo, du. Bist du zu Hause? Nimm ab, wenn ja. Scheiße – ich nehme an, es ist schon spät – tut mir leid. Wahrscheinlich schläfst du schon. Also, ich wollte anrufen und fragen, ob ihr Lust auf Drinks oder so was habt, oder vielleicht können wir ja mal wieder einen neuen Club ausprobieren? Wie wäre es mit morgen Abend? Ruf mich an.“

Also, zumindest war Kendra noch vor ein paar Stunden wohlauf gewesen. Das nahm Gabrielle einen Teil ihrer Besorgnis. Aber da gab es ja noch den Kerl, den sie gesehen hatte – diesen Rogue, ergänzte Gabrielle in Gedanken. Sie hatte Angst um ihre Freundin, die ahnungslos der gleichen Gefahr nahe gekommen war, die ihr selbst jetzt auf den Fersen war.

Sie ging zur letzten Nachricht über. Die kam wieder von Megan und war erst ein paar Stunden alt.

„Hi, Süße. Ich wollte nur mal hören, wie’s so geht. Hast du vor, mich anzurufen und mir mitzuteilen, wie es neulich Nacht auf dem Polizeirevier gelaufen ist? Ich bin sicher, dein Kriminalbeamter war froh, dich zu sehen, aber du weißt, ich sterbe vor Neugier, in allen Einzelheiten zu hören, wie froh er genau war …“

Megans Stimme klang ruhig und neckend und völlig normal. Keine Spur mehr von der Panikstimmung ihrer früheren Nachrichten bei Gabrielle zu Hause und auf dem Handy.

Ach, na klar.

Denn für sie und auch für ihren Polizistenfreund gab es keinen Grund, besorgt zu sein, da Lucan ihre Erinnerung gelöscht hatte.

„Wie auch immer, ich treffe Jamie heute Abend zum Essen im Ciao Bella – deinem Lieblingsrestaurant. Wenn du es schaffst, komm doch vorbei. Wir werden um sieben da sein. Wir halten dir einen Platz frei.“

Gabrielle drückte den Knopf zum Löschen und sah auf der Zeitanzeige des Handys nach, wie spät es war: zwanzig nach sieben.

Sie schuldete es ihrem Freundeskreis, zumindest anzurufen und Bescheid zu sagen, dass es ihr gut ging. Und sie sehnte sich danach, eine vertraute Stimme zu hören, eine Verbindung zu dem Leben, das sie gehabt hatte, bevor Lucan Thorne ihre gesamte Welt auf den Kopf stellte. Sie drückte die Kurzwahlnummer für Megans Handy und wartete gespannt, während es klingelte. Gedämpftes Gemurmel drang durch den Hörer, bevor ihre Freundin sich eine Sekunde später meldete.

„Hallo, Meg.“

„Oh, hey – da bist du ja! Jamie, es ist Gabby!“

„Wo ist das Mädchen? Kommt sie her, oder was?“

„Ich weiß es noch nicht. Gabby, kommst du auch her?“

Gabrielle hörte dem vertrauten chaotischen Geplauder der beiden zu und wünschte sich, dabei zu sein. Sie wünschte sich, zurück zu können, die Zeit zurückzudrehen bis zu einem Punkt, bevor sich die Dinge so verändert hatten.

„Ich, äh … ich kann nicht. Etwas ist passiert, und ich …“

„Sie ist beschäftigt“, sagte Megan zu Jamie. „Wo bist du denn überhaupt? Kendra hat mich angerufen und gesagt, ich soll nach dir sehen. Sie meinte, dass sie bei deiner Wohnung vorbeigesehen hat, aber dass es nicht so aussieht, als ob du zu Hause bist.“

„Kendra ist vorbeigekommen? Hast du sie gesehen?“

„Nein, aber sie will sich mit uns allen treffen. Klingt so, als ob die Sache mit diesem Kerl aus dem Club vorbei ist –“

„Brent“, ergänzte Jamie laut und dramatisch, womit er Megans Stimme übertönte.

„Sie haben Schluss gemacht?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Megan. „Sie sagte nur, dass sie sich nicht mehr mit ihm trifft.“

„Gut“, erwiderte Gabrielle, die sehr erleichtert war. „Das sind wirklich gute Neuigkeiten.“

„Und was ist mit dir? Was ist so wichtig, dass du heute Abend nicht herkommen kannst?“

Gabrielle runzelte die Stirn und starrte auf ihre Umgebung. Die Flamme der roten Kerze flackerte, als die Luft in der Kapelle sich leicht bewegte. Sie hörte leise Schritte und dann, wie jemand tief Luft holte, als habe die Person, die hereingekommen war, gerade bemerkt, dass der Raum besetzt war. Gabrielle drehte den Kopf und sah eine große Blonde in der Türöffnung stehen. Die Frau warf Gabrielle einen entschuldigenden Blick zu und wandte sich ab, um den Raum zu verlassen.

„Ich, äh … bin nicht in der Stadt“, erklärte sie Megan mit gedämpfter Stimme. „Ich bin ein paar Tage weg. Vielleicht auch länger.“

„Was machst du denn?“

„Äh, ich bin für eine Auftragsarbeit unterwegs“, log Gabrielle. Sie hasste es, die anderen anzulügen, sah im Moment aber keine andere Möglichkeit. „Ich rufe euch an, sobald ich kann. Passt auf euch auf. Hab euch lieb.“

„Gabrielle –“

Sie unterbrach die Verbindung, bevor sie gezwungen war, noch mehr zu lügen.

„Es tut mir leid“, sagte die blonde Frau, als Gabrielle zu ihr tat. „Ich wusste nicht, dass die Kapelle besetzt ist.“

„Das ist sie nicht. Bitte bleiben Sie. Ich war nur damit beschäftigt …“ Gabrielle ließ ihren angehaltenen Atem entweichen. „Ich habe gerade eine Freundin angelogen.“

„Oh.“ Sanfte hellblaue Augen ruhten mitfühlend auf ihr.

Gabrielle schloss das Klapphandy und strich mit dem Finger über das glänzende silberne Gehäuse. „Ich habe meine Wohnung neulich Nacht überstürzt verlassen, um mit Lucan herzukommen. Mein Freundeskreis hat keine Ahnung, wo ich bin oder warum ich wegmusste.“

„Ich verstehe. Vielleicht können Sie ihnen eines Tages alles erklären.“

„Ich hoffe es. Ich will sie nur nicht in Gefahr bringen, indem ich ihnen die Wahrheit erzähle.“

Der Glorienschein aus langem, goldenem Haar bewegte sich, als die Frau verständnisvoll nickte. „Sie sind wohl Gabrielle? Savannah hat erzählt, dass Lucan eine Frau hergebracht hat, die unter seinem Schutz steht. Ich bin Danika. Ich bin – ich war – Conlans Gefährtin.“

Gabrielle ergriff die schlanke Hand, die Danika ihr zur Begrüßung hinhielt. „Es tut mir sehr leid um Ihren Verlust.“

Danika lächelte, aber in ihren Augen glitzerten Tränen. Als sie Gabrielle ihre Hand entzog, tastete sie geistesabwesend nach der fast nicht wahrnehmbaren Schwellung ihres Bauches und berührte sie sanft. „Ich wollte eigentlich zu Ihnen kommen, um Sie zu begrüßen, aber ich fürchte, ich bin im Augenblick nicht die beste Gesellschaft. Ich hatte in den letzten Tagen nicht oft den Wunsch, mein Quartier zu verlassen. Es ist für mich noch immer schwer, diese … Umstellung. Alles ist jetzt so anders.“

„Natürlich.“

„Lucan und die anderen Krieger sind sehr großzügig zu mir. Jeder von ihnen hat mir einzeln seinen Schutz geschworen, wenn ich ihn jemals brauchen sollte, egal, wo ich bin. Für mich und mein Kind.“

„Sie sind schwanger?“

„In der vierzehnten Woche. Ich hatte gehofft, dass es der erste von vielen Söhnen für Conlan und mich sein würde. Wir waren so voller Pläne für unsere Zukunft. Wir haben lange mit der Familiengründung gewartet.“

„Warum haben Sie gewartet?“ Gabrielle zuckte zusammen, sobald die Frage über ihre Lippen gedrungen war. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich bin mir sicher, das geht mich nichts an –“

Danika schnalzte mit der Zunge, um die Entschuldigung abzutun. „Sie müssen sich nicht entschuldigen. Mir machen Ihre Fragen wirklich nichts aus. Es ist gut für mich, über meinen Conlan zu sprechen. Kommen Sie, setzen wir uns eine Weile hin“, meinte sie und zog Gabrielle zu einer der langen Bänke in der Kapelle.

„Ich lernte Conlan kennen, als ich noch ein Mädchen war. Mein Dorf in Dänemark wurde von Invasoren geplündert. Das dachten wir jedenfalls. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Bande von Rogues. Sie haben fast alle getötet, Frauen und Kinder abgeschlachtet, unsere Dorfältesten. Niemand war sicher vor ihnen. Mitten in dem Gemetzel tauchte eine Gruppe von Stammeskriegern auf. Conlan gehörte dazu. Sie retteten so viele meines Volkes, wie sie konnten. Als mein Mal entdeckt wurde, wurde ich in den nächsten Dunklen Hafen gebracht. Dort lernte ich alles über das Vampirvolk und meinen Platz darin. Aber ich konnte nicht aufhören, über meinen Retter nachzudenken. Wie das Schicksal es wollte, kam Conlan wieder in die Gegend. Ich war so aufgeregt, ihn zu sehen. Stellen Sie sich meinen Schock vor, als ich herausfand, dass er auch nie aufgehört hatte, an mich zu denken.“

„Wie lange ist das her?“

Danika musste kaum eine Pause einlegen, um nachzurechnen. „Conlan und ich haben vierhundertzwei Jahre zusammen verbracht.“

„Mein Gott“, flüsterte Gabrielle. „So lange …“

„Die Zeit verging wie im Flug, um ganz ehrlich zu sein. Ich will nicht lügen und Ihnen erzählen, dass es immer leicht war, die Gefährtin eines Kriegers zu sein, aber ich hätte keinen einzigen Moment missen wollen. Conlan glaubte voll und ganz an das, was er tat. Er wollte eine sicherere Welt, für mich und für unsere zukünftigen Kinder.“

„Und darum haben Sie so lange mit der Schwangerschaft gewartet?“

„Wir wollten keine Familie gründen, solange Conlan das Gefühl hatte, er müsse beim Orden bleiben. Die Frontlinien sind nicht der beste Ort für Kinder. Das ist der Grund, warum bei der Kriegerklasse keine Familien zu sehen sind. Die Gefahren sind zu groß, und unsere Gefährten müssen imstande sein, sich einzig und allein auf ihre Mission zu konzentrieren.“

„Passieren denn keine ,Unfälle‘?“

„Ungeplante Schwangerschaften sind fast undenkbar beim Stamm, weil bei uns zur Empfängnis etwas Heiligeres als einfacher Sex gehört. Die fruchtbare Zeit für im Blut verbundene Stammesgefährtinnen ist die Zeit des zunehmenden Mondes. Wenn wir während dieser entscheidenden Zeit ein Kind empfangen möchten, muss sowohl der Samen als auch das Blut unseres Gefährten in uns fließen. Es ist ein heiliges Ritual, auf das sich kein verbundenes Paar leichtfertig einlässt.“

Allein die Vorstellung, diesen zutiefst intimen Akt mit Lucan zu erleben, ließ tief in Gabrielle ein warmes Gefühl entstehen. Der Gedanke, sich auf diese Art mit einem anderen zu verbinden und von ihm schwanger zu werden, ein Kind von einem anderen zu bekommen als von Lucan, war eine Möglichkeit, über die nachzudenken sie sich weigerte. Lieber würde sie allein bleiben, und wahrscheinlich würde sie das auch.

„Was werden Sie jetzt tun?“, fragte sie und füllte so die Stille, die sie dazu verleitete, über ihre eigene einsame Zukunft nachzudenken.

„Ich bin noch nicht sicher“, antwortete Danika. „Ich weiß, dass ich mich nie mit einem anderen Mann verbinden werde.“

„Brauchen Sie keinen Gefährten, um jung zu bleiben?“

„Conlan war mein Gefährte. Nun, da er weg ist, reicht ein Menschenleben aus. Wenn ich mich weigere, mich im Blut mit einem anderen Mann zu verbinden, werde ich von jetzt an normal altern, wie ich es tat, bevor ich Conlan traf. Ich werde einfach … sterblich sein.“

„Sie werden sterben“, sagte Gabrielle.

Danikas Lächeln war entschlossen, aber nicht ganz traurig. „Irgendwann.“

„Wohin werden Sie gehen?“

„Conlan und ich hatten geplant, uns in einen der Dunklen Häfen in Dänemark zurückzuziehen, wo ich geboren wurde. Er wollte das um meinetwillen, aber jetzt denke ich, ich möchte seinen Sohn lieber in Schottland aufziehen, sodass unser Kind etwas über seinen Vater erfährt, durch das Land, das er so sehr liebte. Lucan hat bereits begonnen, Vorbereitungen für mich zu treffen, sodass ich gehen kann, wann auch immer ich beschließe, dass ich bereit bin.“

„Das ist nett von ihm.“

„Sehr nett. Ich konnte es kaum glauben, als er zu mir kam und mir davon erzählte. Zugleich hat er mir versprochen, dass mein Kind und ich immer eine direkte Verbindung zu ihm und dem Rest des Ordens haben werden, falls wir je etwas brauchen. Es war am Tag der Beerdigung, nur wenige Stunden danach, sodass seine Verbrennungen noch immer sehr schlimm waren. Aber trotzdem war er um mein Wohlergehen –“

„Lucan hat sich verbrannt?“ Angst schlich sich in Gabrielles Herz. „Wann und wie?“

„Erst vor drei Tagen, als er das Begräbnisritual für Conlan durchführte.“ Danikas schmale Augenbrauen hoben sich. „Wissen Sie nichts davon? Nein, natürlich nicht. Lucan würde nie ein Wort über seine Ehrentat verlieren oder auch über den Schaden, den er dabei erlitten hat. Wissen Sie, die Stammestradition bei Begräbnissen verlangt es, dass ein Vampir den Leichnam des Gefallenen nach draußen trägt, wo er von den Elementen aufgenommen wird“, erklärte Danika und zeigte in eine Ecke der Kapelle, die im Schatten lag und zu einem dunklen Treppenhausschacht führte. „Das ist eine Verpflichtung, die mit großem Respekt und einem persönlichen Opfer verbunden ist. Denn nachdem er an der Oberfläche angekommen ist, muss der Vampir, der seinen Bruder begleitet, mehrere Minuten bei ihm bleiben, wenn die Sonne aufgeht.“

Gabrielle runzelte die Stirn. „Aber ich dachte, ihre Haut kann Sonnenstrahlen nicht aushalten.“

„Nein, das kann sie auch nicht. Vampire erleiden schnell ernsthafte Verbrennungen, aber bei niemandem ist es so schlimm wie bei den Vampiren der ersten Generation. Die ältesten Angehörigen des Stammes leiden am meisten, selbst wenn sie der Sonne nur ganz kurz ausgesetzt sind.“

„Wie Lucan“, sagte Gabrielle.

Danika nickte ernst. „Für ihn waren die acht Minuten bei Sonnenaufgang wahrscheinlich unerträglich. Aber trotzdem hat er das auf sich genommen. Für Conlan ließ er sein Fleisch bereitwillig verbrennen. Er hätte dort oben sterben können, aber er ließ keinen anderen die Last tragen, meinen geliebten Conlan zur letzten Ruhe zu betten.“

Gabrielle erinnerte sich an den dringenden Anruf, der Lucan mitten in der Nacht aus ihrem Bett gescheucht hatte. Er hatte niemals erzählt, worum es dabei gegangen war. Nie seinen Verlust mit Ihr geteilt.

Schmerz drehte ihr den Magen um, als sie daran dachte, was er laut Danikas Beschreibung hatte erleiden müssen. „Ich habe damals mit ihm gesprochen – sogar noch am gleichen Tag. In seiner Stimme konnte ich hören, dass etwas nicht stimmte, aber er hat es geleugnet. Er klang so müde, mehr als erschöpft. Meinen Sie, da litt er an schweren Verbrennungen durch UV-Strahlung?“

„Ja. Savannah hat mir erzählt, wie Gideon ihn nicht lange danach gefunden hat. Lucan war von Kopf bis Fuß mit Blasen übersät. Er konnte seine Augen wegen der Schmerzen und der Schwellungen nicht öffnen, aber er lehnte jede Hilfe bei der Rückkehr in sein Quartier ab, wo sein Körper heilen konnte.“

„Mein Gott“, keuchte Gabrielle erstaunt. „Das hat er mir nie erzählt, nichts davon. Als ich ihn später in dieser Nacht sah, nur wenige Stunden später, wirkte er auf mich ziemlich normal. Also, was ich meine, ist, dass er aussah und handelte, als ob alles mit ihm in Ordnung wäre.“

„Lucans fast reine Blutlinie lässt ihn am meisten leiden, aber sie hilft ihm auch dabei, sich rasch wieder zu erholen. Trotzdem war es schwer für ihn, und er brauchte vermutlich eine Menge Blut, um die Reserven seines Organismus nach solchen Verletzungen wieder aufzufüllen. Als es ihm gut genug ging, dass er das Quartier verlassen konnte, um zu jagen, war er wohl völlig ausgehungert.“

Ja, genau das war der Fall gewesen, wie Gabrielle nun verstand. Die Erinnerung daran, wie er den Lakaien ausgesaugt hatte, schoss ihr durch den Kopf, aber nun hatte sie einen anderen Zusammenhang. Es erschien ihr nicht mehr als der widerwärtige Akt, nach dem es oberflächlich ausgesehen hatte, sondern als Mittel, um zu überleben. Alles bekam einen anderen Zusammenhang, seit sie Lucan kennengelernt hatte.

Am Anfang hatte sie den Krieg zwischen dem Stamm und seinen Feinden nur als einen Kampf zwischen Böse und noch Böser angesehen, aber mittlerweile hatte sie das Gefühl, dass es sich dabei auch um ihre Schlacht handelte. Sie hatte Anteil an ihrem Ergebnis, und das nicht nur, weil ihre Zukunft offenbar mit dieser fremdartigen Welt verknüpft war. Es war ihr wichtig, dass Lucan gewann – nicht nur den Krieg gegen die Rogues, sondern auch den ebenso verheerenden, sehr persönlichen Krieg, den er insgeheim austrug.

Sie machte sich Sorgen um ihn und konnte die nagende Angst nicht aus ihren Gedanken verbannen, die ihr eine Gänsehaut verursachte, seit er und die anderen Krieger das Quartier verlassen hatten, um ihren Angriff durchzuführen.

„Sie lieben ihn sehr, nicht wahr?“, fragte Danika, als Gabrielles besorgtes Schweigen sich zwischen ihnen ausdehnte.

„Ja, das tue ich.“ Sie begegnete dem Blick der anderen Frau und sah keinen Grund, die Wahrheit zu verbergen, zumal sie ihr wahrscheinlich ins Gesicht geschrieben stand. „Kann ich Ihnen etwas sagen, Danika? Ich habe so ein schreckliches Gefühl wegen dieses Vorhabens heute Nacht. Um es noch schlimmer zu machen, sagte Tegan zu mir, er glaubt nicht, dass Lucan noch lange leben wird. Je länger ich hier unwissend herumsitze, desto mehr Angst habe ich, dass er recht haben könnte.“

Danika runzelte die Stirn. „Sie haben mit Tegan gesprochen?“

„Ich bin ihm – buchstäblich – vorhin in die Arme gelaufen. Er hat mir gesagt, ich soll mich nicht zu sehr an Lucan hängen.“

„Weil er denkt, Lucan wird sterben?“ Danika atmete tief aus und schüttelte den Kopf. „Dieser Kerl scheint es zu genießen, andere Leute nervös zu machen. Wahrscheinlich hat er das nur gesagt, weil er wusste, dass es Sie aufregen würde.“

„Lucan hat erwähnt, dass es zwischen ihnen böses Blut gibt. Denken Sie, Tegan ist vertrauenswürdig?“

Die blonde Stammesgefährtin schien einen Moment darüber nachzudenken. „Ich kann Ihnen sagen, dass Loyalität einen Großteil des Kodex der Krieger ausmacht. Er bedeutet diesen Männern alles, jedem von ihnen. Nichts auf der Welt könnte sie dazu bringen, gegen diese heilige Pflicht zu verstoßen.“ Danika erhob sich und nahm Gabrielles Hand in ihre. „Kommen Sie. Lassen Sie uns Eva und Savannah finden. Das Warten geht für uns alle schneller vorbei, wenn wir die Zeit nicht alleine verbringen.“