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„Gabrielle, was ist los? Was stimmt nicht mit Kendra? Sie ist zur Galerie gekommen und hat zu mir gesagt, dass du einen Unfall gehabt hättest und dass ich sofort mitkommen sollte. Warum hat sie gelogen?“

Gabrielle wusste nicht, wie sie Jamies besorgte Fragen im Flüsterton beantworten sollte. Er saß neben ihr auf dem Rücksitz der Limousine. Sie rasten weg von Beacon Hill und fuhren auf die Innenstadt zu. Die Wolkenkratzer des Bankenviertels ragten vor ihnen in der Dunkelheit auf, und das Licht aus Bürofenstern funkelte wie Christbaumkugeln. Kendra saß auf dem Vordersitz neben dem Fahrer, einem stiernackigen Rausschmeißertypen mit Sonnenbrille und in dem dunklen Anzug eines Gangsters.

Gabrielle und Jamie hatten hinten ähnliche Begleiter, die sie auf eine Seite der glatten Lederbank drängten. Gabrielle hatte nicht den Eindruck, dass es sich bei ihnen um Rogues handelte. Sie schienen hinter ihren geschlossenen Lippen keine riesigen Fangzähne zu verstecken, und das wenige, das sie über die tödlichen Feinde des Stammes wusste, sagte ihr, dass sie oder Jamie keine Minute überstanden hätten, ohne dass ihnen die Gurgel herausgerissen worden wäre, wenn es sich bei den beiden Männern tatsächlich um blutsüchtige Rogues handelte.

Dann waren es also Lakaien, folgerte sie. Menschliche Bewusstseinssklaven eines mächtigen Vampirmeisters.

So wie Kendra.

„Was werden sie mit uns machen, Gabby?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Sie griff hinüber und drückte Jamies Hand. Auch sie sprach leise, aber sie wusste, dass ihre Entführer jedem Wort lauschten. „Aber alles wird wieder gut. Ich verspreche es dir.“

Sie mussten aus dem Wagen gelangen, bevor sie ihr Ziel erreichten, so viel wusste sie. Das war die grundlegende Regel der Selbstverteidigung: sich niemals zu einem anderen Ort bringen lassen. Denn dann befand man sich im Revier des Angreifers.

Und die Chancen zu überleben, würden gen null sinken.

Sie warf einen Blick auf den Hebel an der Schiebetür neben Jamie. Er beobachtete ihre Augen und zog fragend eine Braue hoch, als sie erst ihn und dann wieder den Türhebel anstarrte. Dann verstand er. Er nickte ihr fast unmerklich zu.

Aber ausgerechnet als er seine Hände zum Hebel bewegte, um die Tür zu öffnen, drehte sich Kendra zu ihnen um und machte sich über sie lustig. „Wir sind fast da, Kinder. Seid ihr aufgeregt? Ich bin es jedenfalls. Ich kann es nicht erwarten, bis mein Meister dich endlich leibhaftig kennenlernt, Gabby. Hm, hmm! Er wird dich einfach verschlingen.“

Jamie lehnte sich nach vorne und spuckte beinahe aus. „Lass sie in Ruhe, du verlogene Schlampe!“

„Jamie, nicht!“ Gabrielle versuchte ihn zurückzuhalten. Angst ergriff sie angesichts der naiven Demonstration seines Beschützerinstinktes. Er hatte keine Ahnung, was er tat, wenn er Kendra oder die anderen beiden Lakaien in dem Auto verärgerte.

Aber er ließ sich nicht aufhalten, sondern ging erneut auf Kendra los. „Egal, wen von uns du anrührst, ich werde dir die Augen auskratzen!“

„Jamie, halt – es ist okay“, sagte Gabrielle und zog ihn wieder zurück auf seinen Sitz. „Beruhige dich bitte. Alles wird wieder gut.“

Kendra hatte kaum mit der Wimper gezuckt. Sie starrte die beiden an und ließ plötzlich ein schrilles Kichern ertönen. „Ach, Jamie. Du warst schon immer Gabbys treuer kleiner Terrier. Wuff! Wuff! Du bist erbärmlich.“

Sehr langsam, offensichtlich sehr von sich eingenommen, drehte sich Kendra wieder um und wandte ihnen den Rücken zu. „Gib nach der Ampel richtig Gas“, sagte sie zu dem Fahrer.

Gabrielle atmete zitternd aus und seufzte leise vor Erleichterung, als sie sich wieder gegen das kalte Leder lehnte. Der vor Wut schäumende Jamie wurde gegen die Autotür gedrängt. Als sich ihre Blicke begegneten, rutschte er ein winziges Stück beiseite und zeigte ihr, dass die Tür jetzt unverschlossen war.

Gabrielles Herz machte einen Satz angesichts seiner Gewitztheit und seines Mutes. Es fiel ihr schwer, ihr hoffnungsvolles Lächeln zu verbergen, als das Fahrzeug wegen der Ampel ein paar Meter vor ihnen langsamer wurde. Die Ampel zeigte Rot, aber wenn Gabrielle die lange Autoschlange vor ihnen betrachtete, würde sie jede Sekunde umspringen.

Das war ihre einzige Chance.

Sie warf Jamie einen Blick zu und wusste, dass er den Plan verstanden hatte.

Gabrielle wartete und beobachtete die Ampel, und die Sekunden schienen wie Stunden zu vergehen. Das rote Licht ging aus, und dann wurde es Grün. Als die Limousine zu beschleunigen begann, drehte sich Jamie herum und packte den Türgriff. Er öffnete die Tür.

Frische Nachtluft strömte herein, und beide stürzten sich kopfüber nach draußen, auf die Freiheit zu. Jamie fiel zuerst aus dem Auto. Er schlug auf dem Asphalt auf und drehte sich augenblicklich herum, um Gabrielle am Arm zu packen und ihr bei der Flucht zu helfen.

„Haltet sie auf!“, schrie Kendra. „Lasst sie nicht entkommen!“

Eine schwere Hand umklammerte Gabrielles Schulter und zerrte sie ins Wageninnere zurück. Sie krachte gegen die riesige Brust des Lakaien. Seine Arme umschlangen sie und hielten sie in einem eisernen Griff gefangen.

„Gabby!“, schrie Jamie.

Ein verzweifeltes Schluchzen drang erstickt aus ihrer Kehle. „Verschwinde von hier! Jamie, lauf!“

„Drück auf die Tube, du Idiot!“, brüllte Kendra dem Fahrer zu, als Jamie nach dem Türgriff angelte, um Gabrielle zu helfen. Der Motor heulte auf und die Reifen quietschten, als der Wagen sich in den Verkehr einordnete.

„Und was ist mit ihm?“

„Lass ihn“, befahl Kendra scharf. Sie lächelte Gabrielle zu, die sich vergeblich auf dem Rücksitz wehrte. „Er hat seinen Zweck bereits erfüllt.“

Der Lakai hielt Gabrielle mit seinem eisenharten Griff umklammert, bis Kendra befahl, das Auto vor einem elegant aussehenden Firmengebäude zu parken. Sie stiegen aus und zwangen Gabrielle auf den gläsernen Eingang zu. Kendra sprach per Handy mit jemandem und schnurrte vor Selbstzufriedenheit.

„Ja, wir haben sie. Wir kommen jetzt rauf.“

Sie steckte das Gerät in ihre Tasche und ging voraus, durch eine leere Vorhalle aus Marmor, auf eine Reihe von Fahrstühlen zu. Als sie in dem Aufzug standen, drückte sie den Knopf zur Penthousesuite.

Gabrielle dachte sofort an die Privatausstellung zurück, die Jamie für ihre Fotografien arrangiert hatte. Als der Fahrstuhl im obersten Stockwerk anhielt und die Spiegeltüren aufglitten, hatte sie das schreckliche Gefühl, dass sie gleich wissen würde, wer der anonyme Käufer war.

Der Schlägertyp, der sie an den Armen gepackt hielt, schob sie in die Suite. Sie stolperte vorwärts, und in wenigen Sekunden wurde Gabrielles Verdacht zur Gewissheit.

Eine große Gestalt mit dunklen Haaren in einem langen schwarzen Mantel und mit Sonnenbrille stand vor der Glaswand. Bostons nächtliche Skyline leuchtete hinter ihm. Er war so groß wie jeder der Krieger, und er strahlte die gleiche Selbstsicherheit aus. Die gleiche kühle Bedrohung.

„Kommen Sie herein“, sagte er, und das Dröhnen seiner tiefen Stimme grollte wie ein Unwetter. „Gabrielle Maxwell, es ist mir ein Vergnügen, Sie endlich kennenzulernen. Ich habe schon so viel über Sie gehört.“

Kendra gesellte sich zu ihm und streichelte ihn voller Bewunderung.

„Sie haben mich aus einem bestimmten Grund herbringen lassen, nehme ich an“, sagte Gabrielle. Sie versuchte, nicht um den Verlust ihrer Freundin zu trauern und das gefährliche Wesen nicht zu fürchten, das Kendra zu dem gemacht hatte, was sie nun war.

„Ich bin ein großer Anhänger Ihrer Arbeit geworden.“ Er lächelte, ohne seine Zähne zu zeigen. Kendra wurde grob weggeschoben. „Sie machen einige interessante Fotografien, Miss Maxwell. Unglücklicherweise müssen Sie damit aufhören. Es ist nicht gut für mein Geschäft.“

Gabrielle versuchte dem ruhigen Blick zu begegnen der, wie sie wusste, hinter der dunklen Brille ein raubtierhaftes Starren war. „Worin besteht Ihr Geschäft? Sie wissen schon, abgesehen davon, ein kranker, blutsaugender Blutegel zu sein.“

Er lachte leise in sich hinein. „Es geht natürlich um die Beherrschung der Welt. Ernsthaft, gibt es irgendetwas anderes, das es wert wäre, dafür zu kämpfen?“

„Mir fallen da ein paar Dinge ein.“

Eine dunkle Augenbraue wölbte sich über dem Band seiner Sonnenbrille. „Oh, Miss Maxwell, wenn Sie Liebe oder Freundschaft sagen, dann werde ich diese nette kleine Vorstellung möglicherweise jetzt sofort beenden müssen.“ Er ließ die Ringe, die auf seinen Fingern steckten, im schwachen Licht funkeln. Gabrielle gefiel die Art nicht, wie er sie anstarrte, sie taxierte. Seine Nasenlöcher blähten sich ein wenig, und dann beugte er sich nach vorn. „Kommen Sie näher.“

Als sie sich nicht rührte, stieß sie der große Lakai hinter ihr an, damit sie sich in Gang setzte. Sie blieb nur eine Armlänge entfernt von dem Vampirmeister stehen.

„Sie riechen köstlich“, zischte er langsam. „Wie eine Blume, aber da gibt es noch etwas … anderes. Jemand hat kürzlich von Ihnen getrunken. Ein Krieger? Machen Sie sich nicht die Mühe, es zu leugnen, denn ich kann ihn an Ihnen riechen.“

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, packte er sie am Handgelenk und zerrte sie zu sich heran. Mit groben Händen drehte er ihren Kopf und strich ihre Haare beiseite, die Lucans Biss und das so verräterische Mal unter ihrem linken Ohr verbargen.

„Eine Stammesgefährtin“, knurrte er und strich mit seiner Fingerspitze über ihre Haut. „Und noch dazu wurde erst vor Kurzem Anspruch auf Sie erhoben. Sie werden von Sekunde zu Sekunde faszinierender, Gabrielle.“

Ihr gefiel die vertrauliche Art, wie er ihren Namen flüsterte, überhaupt nicht.

„Wer hat Sie gebissen, Stammesgefährtin? Welchen der Krieger haben Sie zwischen diese schönen, langen Beine gelassen?“

„Fahren Sie zur Hölle“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

„Erzählen Sie es mir nicht?“ Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte langsam den Kopf. „Das ist in Ordnung. Wir werden es sehr bald herausfinden. Wir können ihn dazu bringen, zu uns zu kommen.“

Endlich zog er sich von ihr zurück und winkte einen der Lakaienwächter herbei. „Bring sie auf das Dach.“

Gabrielle wehrte sich gegen den schmerzhaften Griff ihres Entführers, aber sie war seiner rohen Gewalt nicht gewachsen. Sie wurde in Richtung eines roten Ausgangsschildes auf eine Tür zu gedrängt. Dort hing ein Schild, das besagte, dass es hier zum Hubschrauberlandeplatz ging.

„Halt! Was ist mit mir?“, beschwerte sich Kendra aus dem Inneren der Suite.

„Ach ja. Schwester K. Delaney“, sagte ihr finsterer Meister, als ob er sich erst jetzt wieder an sie erinnerte. „Ich will, dass du auf das Dach kommst, nachdem wir fort sind. Ich weiß, dass du den Ausblick vom Rand so spektakulär findest. Genieße ihn einen Augenblick … und dann springe hinunter.“

Sie blinzelte ihn gleichgültig an und nickte dann mit dem Kopf, völlig in seinem Bann.

„Kendra!“, schrie Gabrielle, die sich inständig wünschte, ihre Freundin irgendwie erreichen zu können. „Kendra, tu es nicht!“

Der Mann in dem schwarzen Mantel und mit der dunklen Brille schritt völlig unbekümmert an Kendra vorbei. „Lasst uns gehen. Ich bin hier fertig.“

 

Als der letzte Block C4 am nördlichen Ende der Nervenheilanstalt angebracht war, bahnte sich Lucan seinen Weg durch einen Belüftungsschacht nach draußen. Er bewegte das gelockerte Gitter und hievte sich nach draußen auf den Boden. Das Gras wurde unter ihm plattgedrückt, als er sich über die Erde wälzte, und die frische Luft fühlte sich in seinem Mund kühl an, als er auf die Beine kam und in Richtung der Umzäunung lief.

„Niko, wie sieht es aus?“

„Alles gut. Tegan ist auf dem Rückweg, und Gideon sollte direkt hinter dir sein.“

„Hervorragend.“

„Hab meinen Finger auf den Sprengzündern“, sagte Nikolai, als seine Stimme beinahe durch das leise Geräusch eines sich nähernden Helikopters übertönt wurde. „Sag Bescheid, Lucan. Ich brenne darauf, diesen Scheißhaufen hochzujagen.“

„Ich auch“, entgegnete Lucan. Er starrte finster in den nächtlichen Himmel und suchte nach dem Helikopter. „Ich höre was, Niko. Klingt wie ein Hubschrauber, der direkt hierher fliegt.“

Sobald er es ausgesprochen hatte, erblickte er die dunkle Silhouette über den Baumwipfeln. Kleine Lichter blitzten auf, während der Helikopter auf das Dach der Nervenheilanstalt zusteuerte und mit seinem Landeanflug begann.

Die Luft wurde durch den sich in einem gleichmäßigen Rhythmus drehenden Rotor aufgewirbelt. Lucan roch Kiefern und Sommerpollen … und einen anderen Duft, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Oh Gott“, keuchte er, als er den schwachen Jasminduft wahrnahm. „Rühr die Sprengzünder nicht an, Niko! Um Himmels willen, was auch immer du tust, spreng das verdammte Gebäude nicht in die Luft!“