21

„Ich hoffe, der Tee ist nicht zu stark. Wenn Sie etwas Milch möchten, kann ich welche aus der Küche holen.“

Gabrielle lächelte. Die Gastfreundschaft von Gideons Partnerin wärmte ihr das Herz. „Der Tee ist prima, vielen Dank.“

Sie war überrascht, dass es im Quartier noch andere Frauen gab. In der schönen Savannah schien sie sofort eine Freundin gefunden zu haben. Von dem Moment an, als sie auf Lucans Befehl hin Gabrielle abholen kam, hatte Savannah keine Mühe gescheut, dafür zu sorgen, dass Gabrielle es entspannt und behaglich hatte.

Zumindest so entspannt, wie das möglich war, wenn man umgeben von schwer bewaffneten Vampiren in einem Hochsicherheitsbunker etwa hundert Meter unter der Erde saß.

Das allerdings war hier überhaupt nicht zu merken. Sie saß Savannah gegenüber an einem langen Tisch aus dunklem Kirschholz in einem geschmackvoll ausgestatteten Esszimmer und trank exotischen, würzigen Tee aus einer feinen Porzellantasse, während im Hintergrund sanfte Musik erklang.

Das Zimmer und die angrenzenden großzügigen Wohnräume gehörten Gideon und Savannah. Allem Anschein nach lebten sie wie ein normales Paar hier im Quartier, in einem behaglichen Wohnbereich mit luxuriösen Möbeln, zahllosen Büchern und wunderschönen Kunstgegenständen. Alles war von feinster Qualität, und alles perfekt gepflegt, nicht anders, als man es in einem vornehmen und teuren Sandsteinhaus in Back Bay erwarten würde. Hätten nicht die Fenster gefehlt, dann wäre diese Bleibe ein Traum. Und selbst dieser Mangel wurde ein Stück weit ausgeglichen durch eine atemberaubende Sammlung von Gemälden und Fotografien, die fast jede Wand schmückten.

„Haben Sie keinen Hunger?“

Savannah deutete einladend auf das Silbertablett mit Gebäck und Keksen zwischen ihnen auf dem Tisch. Daneben stand noch ein glänzender Teller mit appetitlichen kleinen Sandwiches und aromatischen Soßen. Alles sah wundervoll aus und roch auch so, aber Gabrielles Appetit war ziemlich angeschlagen, seit sie gesehen hatte, wie Lucan die Kehle des Lakaien zerfleischt und sein Blut getrunken hatte.

„Nein, vielen Dank“, antwortete sie. „Das ist im Augenblick mehr als genug für mich.“ Sie war fast erstaunt, dass es ihr überhaupt gelang, irgendetwas im Magen zu behalten, aber der Tee war heiß und beruhigend, und seine Wärme tat ihr wohl.

Savannah sah von der anderen Seite des Tisches schweigend zu, wie sie trank. In ihren dunklen Augen lag tiefe Freundlichkeit, und ihre schmalen schwarzen Brauen waren mitfühlend zusammengezogen. Sie trug ihre dichten Locken kurz geschnitten, sodass ihr wohlgeformter Schädel zur Geltung kam, aber in Verbindung mit ihren markanten Gesichtszügen und ihren hübschen, femininen Kurven wirkte der sportliche Haarschnitt eher mondän als jungenhaft. Sie besaß das gleiche offene, zugewandte Verhalten wie Gideon, was Gabrielle besonders zu schätzen wusste, nachdem sie die vergangenen Stunden mit Lucan und seiner dominanten Attitüde zu tun gehabt hatte.

„Na ja, vielleicht können Sie der Versuchung widerstehen“, sagte Savannah und griff nach einem der knusprigen süßen Pastetchen, „aber ich kann es nicht.“

Sie gab einen Klecks dicker Sahne auf das Gebäckstück, dann brach sie ein Stück ab und seufzte befriedigt auf, als sie sich den Bissen in den Mund schob. Gabrielle wusste, dass sie Savannah anstarrte, aber sie konnte einfach nicht anders.

„Sie essen richtiges Essen“, sagte sie. Es war eher eine Frage als die Aussage, nach der es klang.

Nickend betupfte Savannah ihre Mundwinkel mit einer Serviette. „Ja. Klar doch. Ein Mädchen muss essen.“

„Aber ich dachte – Sie und Gideon … Sind Sie nicht – wie er?“

Savannah runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Mensch, genau wie Sie. Hat Lucan Ihnen nichts erklärt?“

„Doch, ein bisschen.“ Gabrielle zuckte mit den Schultern. „Es hat dazu gereicht, dass mir der Kopf schwirrt, aber ich habe immer noch eine Menge Fragen.“

„Natürlich. Die hat jede von uns, wenn wir in diese neue, andere Welt eingeführt werden.“ Sie streckte ihre Hand aus und drückte die von Gabrielle sanft. „Sie können mich alles fragen. Ich gehöre selbst zu den neueren Frauen.“

Diese Enthüllung ließ Gabrielle aufhorchen. Ihr Interesse war geweckt. „Wie lange sind Sie schon hier?“

Savannah richtete die Augen einen Moment zur Decke, als ob sie die Jahre zählte. „Ich habe mein altes Leben 1974 verlassen. In dem Jahr habe ich Gideon kennengelernt und mich bis über beide Ohren in ihn verliebt.“

„Vor mehr als dreißig Jahren“, sagte Gabrielle überrascht, während sie die jugendlichen Gesichtszüge, die schimmernde Mokkahaut und die jugendlich leuchtenden Augen von Gideons Frau betrachtete. „Für mich sehen Sie aus, als seien Sie nicht mal zwanzig.“

Savannah schmunzelte. „Ich war achtzehn, als Gideon mich zu seiner Gefährtin nahm. Er hat mir buchstäblich das Leben gerettet, indem er mich aus einer schlimmen Situation befreite. Und solange wir verbunden sind, werde ich so bleiben, wie ich jetzt bin. Sehe ich für Sie wirklich so jung aus?“

„Ja. Sie sind wunderschön.“

Savannah kicherte leise, während sie noch einen Bissen von ihrem Pastetchen nahm.

„Und wie …“, begann Gabrielle. Sie hoffte, es war nicht zu unhöflich, Savannah auszufragen, aber sie war so neugierig und erstaunt, dass sie nicht anders konnte, als ihre Fragen hervorzusprudeln. „Wenn Sie ein Mensch sind, und wenn sie uns nicht in … das verwandeln können, was sie sind … wie kann das dann sein? Wie kann es sein, dass Sie nicht gealtert sind?“

„Ich bin eine Stammesgefährtin“, antwortete Savannah, als ob das alles erklären würde. Als Gabrielle verwirrt die Stirn runzelte, sprach Savannah weiter. „Gideon und ich sind verbunden, ein Paar. Sein Blut hält mich jung, aber ich bin trotzdem noch immer hundertprozentig ein Mensch. Das ändert sich nie, auch wenn wir mit einem von ihnen verbunden sind. Uns wachsen keine Fangzähne, und wir benötigen nicht auf die gleiche Weise Blut wie sie, um zu überleben.“

„Aber Sie haben alles aufgegeben, um auf diese Weise mit ihm zusammen zu sein?“

„Was habe ich aufgegeben? Ich verbringe mein Leben mit einem Mann, den ich abgöttisch liebe und der mich genauso sehr liebt. Wir sind beide gesund, glücklich, umgeben von anderen wie uns, unserer Familie. Abgesehen von der Bedrohung durch die Rogues haben wir hier keine Sorgen. Wenn ich irgendwas geopfert habe, dann verblasst es neben dem, was ich mit Gideon habe.“

„Und was ist mit dem Sonnenlicht? Vermissen Sie es nicht, wenn Sie hier unten leben?“

„Niemand von uns ist gezwungen, die ganze Zeit auf dem Areal zu bleiben. Ich verbringe tagsüber eine Menge Zeit in den Gärten des Anwesens, wenn ich möchte. Das Grundstück ist sehr gut gesichert, und desgleichen das Herrenhaus, das riesig ist. Ich habe wohl drei Wochen damit verbracht, es zu erkunden, als ich hergekommen bin.“

Schon nach dem kurzen Blick, den Gabrielle bisher auf diesen Ort erhascht hatte, konnte sie sich gut vorstellen, dass es einige Zeit dauern konnte, sich mit allem vertraut zu machen.

„Manchmal verlassen wir das Quartier auch während des Tages – allerdings nicht sehr oft. Alles, was wir brauchen, kann per Internet bestellt und hierher geliefert werden.“ Sie lächelte und zuckte leicht mit den Schultern. „Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe Besuche im Schönheitssalon und Einkaufen genauso wie jedes Mädchen von nebenan, aber es bedeutet immer ein Risiko, sich ohne den Schutz unserer Gefährten vom Gelände zu wagen. Und sie machen sich Sorgen, wenn wir irgendwo sind, wo sie sich nicht um uns kümmern können. Ich nehme an, dass Frauen, die in den Dunklen Häfen leben, tagsüber etwas mehr Freiheit haben als diejenigen von uns, die mit Angehörigen der Kriegerklasse verbunden sind. Aber nicht dass Sie von irgendeiner von uns eine Beschwerde hören werden.“

„Leben hier noch mehr Stammesgefährtinnen?“

„Hier gibt es außer mir noch zwei andere. Eva ist mit Rio verbunden. Sie werden die beiden mögen – sie bringen jede Party in Schwung. Und Danika ist einer der liebsten Menschen, denen Sie je begegnen werden. Sie war Conlans Stammesgefährtin. Er wurde vor kurzem getötet, in einem Kampf mit einem Rogue.“

Gabrielle nickte ernst. „Ja, ich habe davon gehört, kurz bevor Sie kamen, um mich abzuholen. Es tut mir leid.“

„Ohne ihn ist es anders hier, stiller. Ich bin mir nicht sicher, wie Danika zurechtkommen wird, um ganz ehrlich zu sein. Sie waren viele, viele Jahre zusammen. Conlan war ein guter Krieger, aber ein noch besserer Mann. Außerdem war er eines der ältesten Mitglieder in diesem Quartier.“

„Wie alt werden sie?“

„Oh, ich weiß es nicht. Nach unseren Maßstäben jedenfalls sehr alt. Conlan war der Sohn der Tochter eines schottischen Clanoberhauptes, so um die Zeit von Kolumbus herum. Sein Vater war vor fünfhundert Jahren ein Stammesvampir der damaligen Generation.“

„Sie wollen damit sagen, dass Conlan fünfhundert Jahre alt war?“

Savannah hob eine schlanke Schulter. „Mehr oder weniger, ja. Ein paar von ihnen sind viel jünger, wie Rio und Nikolai, die beide im letzten Jahrhundert geboren wurden, aber niemand von ihnen ist so langlebig wie Lucan. Er gehört zur ersten Generation, er ist ein Sohn der ursprünglichen Alten und der ersten Reihe von Stammesgefährtinnen, die deren Aliensamen austrugen. Ich habe gehört, dass der Überlieferung zufolge diese ersten Stammesnachkommen erst viele Jahrhunderte später zur Welt kamen – lange, nachdem die Alten hier eingetroffen waren. Die Gen-Eins-Angehörigen wurden unabsichtlich gezeugt und auf unangenehme Weise. Sie waren ein Produkt der Massenvergewaltigungen der Vampire. Es gab nicht viele Menschenfrauen, deren einzigartige Bluteigenschaften und DNS stark genug waren, um eine Hybridschwangerschaft durchzustehen.“

Gabrielle stand sofort ein entsetzliches Bild der brutalen Gewaltakte vor Augen, die sich damals abgespielt haben mussten. „Nach Ihrer Beschreibung klingt es, als wären die Alten wilde Tiere gewesen.“

„Das waren sie auch. Die Rogues gehen in vieler Hinsicht auf die gleiche Art vor, und mit der gleichen Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben. Wenn Lucan, Gideon und die wenigen anderen Mitglieder des Ordens nicht wären, die die Rogues überall auf der Welt bekämpfen und außer Gefecht setzen, wäre unser Leben – das Leben aller Menschen – sehr düster.“

„Und was ist mit Lucan?“, fragte Gabrielle sanft. „Wie alt macht ihn das alles?“

„Oh, er ist eine Rarität, schon wegen seiner Abstammung. Von seiner Generation sind nur wenige übrig.“ Savannahs Miene drückte eine Spur Ehrfurcht und mehr als nur ein wenig Respekt aus. „Lucan kann nicht weniger als neunhundert Jahre alt sein, wahrscheinlich aber noch älter.“

„O mein Gott.“ Gabrielle sank gegen die Stuhllehne. Sie lachte über die Absurdität dieser Vorstellung, wobei ihr gleichzeitig bewusst war, dass endlich alles zusammenzupassen begann. „Wissen Sie, als ich ihn zum ersten Mal sah, dachte ich, er sieht aus, als ob er auf den Rücken eines Pferdes gehört, ein Schwert schwingend und eine Armee von Rittern in die Schlacht führend. Er hat einfach dieses Auftreten an sich. Als ob ihm die Welt gehört und er so vieles gesehen hat, dass nichts ihn mehr überraschen kann. Jetzt weiß ich, woher das kommt.“

Savannah warf ihr mit geneigtem Kopf einen wissenden Blick zu. „Ich glaube, Sie waren eine Überraschung für ihn.“

„Ich? Was meinen Sie damit?“

„Er hat Sie hierher gebracht, in unser Quartier. So etwas hat er noch nie getan. Nicht in all der Zeit, die ich ihn kenne, und auch vorher nicht, wenn ich danach gehe, was mir Gideon erzählt hat.“

„Lucan hat gesagt, dass er mich zu meinem Schutz hierher gebracht hat, weil mich jetzt die Rogues verfolgen. Gott, ich wollte ihm das erst nicht glauben – nichts von alledem – aber das ist alles wahr, oder?“

Savannahs Lächeln war warm und mitfühlend. „Ja, es ist wahr.“

„Ich habe gestern Nacht gesehen, wie er jemanden getötet hat – einen Lakaien. Er tat es, um mich zu beschützen, das weiß ich, aber es war so gewalttätig. Es war grausam.“ Ein Schauder rieselte über ihren Körper, als sie sich die grässliche Szene ins Gedächtnis rief, die auf dem Kinderspielplatz stattgefunden hatte. „Lucan hat den Mann in die Kehle gebissen und von ihm getrunken wie eine Art …“

„Vampir“, ergänzte Savannah sanft, ohne jede Spur von Vorwurf oder Verurteilung in der Stimme. „Das sind sie, Gabrielle, so wurden sie geboren. Es ist kein Fluch und keine Krankheit. Es ist einfach die Art, wie sie leben, eine andere Art von Ernährung als die, die wir Menschen heutzutage als normal ansehen. Und Vampire töten nicht immer, um sich zu ernähren. Tatsächlich kommt das sogar selten vor, zumindest in der allgemeinen Stammesbevölkerung, einschließlich der Kriegerklasse. Und völlig undenkbar ist das bei im Blut verbundenen Vampiren wie Gideon oder Rio, da ihre regelmäßige Ernährung durch ihre Stammesgefährtinnen gewährleistet ist.“

„Bei Ihnen klingt das so normal“, meinte Gabrielle stirnrunzelnd, während sie ihren Finger über den Rand der Teetasse gleiten ließ. Sie wusste, dass in dem, was Savannah ihr erzählte, trotz aller Unwirklichkeit eine gewisse Logik lag, aber es zu akzeptieren würde nicht leicht sein. „Es erschreckt mich, darüber nachzudenken, was er wirklich ist, wie er lebt. Ich sollte ihn dafür verachten, Savannah.“

„Aber das tun Sie nicht.“

„Nein“, gestand sie leise.

„Er bedeutet Ihnen etwas, nicht wahr?“

Gabrielle nickte. Es widerstrebte ihr, die Worte auszusprechen.

„Und Sie haben eine intime Beziehung mit ihm.“

„Ja.“ Gabrielle seufzte und schüttelte den Kopf. „Und das ist wirklich verdammt dumm, oder? Ich weiß nicht, was es ist, was mich dazu bringt, ihn so zu wollen, wie ich es tue. Ich meine, er hat mich belogen und getäuscht, so oft, dass ich es kaum zählen kann, aber trotzdem – schon wenn ich nur an ihn denke, bekomme ich weiche Knie. Ich habe diese Art von Verlangen bisher mit keinem anderen Mann erlebt.“

Savannah lächelte sie über den Rand ihrer Tasse hinweg an. „Sie sind mehr als Männer, unsere Krieger.“

Gabrielle nahm einen Schluck von ihrem Tee und dachte, dass es wahrscheinlich nicht weise war, Lucan als ihren Was auch immer anzusehen, wenn sie nicht die Absicht hatte, ihr Herz unter die Absätze seiner Stiefel zu legen und zuzusehen, wie er es zu Staub zermalmte.

„Diese Männer sind leidenschaftlich in allem, was sie tun“, erklärte Savannah ruhig. „Und nichts ist mit dem Geben und Nehmen der Blutsverbindung zu vergleichen, insbesondere beim Liebesakt.“

Gabrielle zuckte die Achseln. „Also, der Sex ist toll, ich würde nicht mal versuchen, das zu bestreiten. Aber ich bin mit Lucan keinerlei Blutsverbindung eingegangen.“

Savannahs Lächeln geriet leicht ins Wanken. „Er hat Sie nicht gebissen?“

„Nein. Gott, nein.“ Gabrielle schüttelte den Kopf und fragte sich, ob sie nicht viel entsetzter sein müsste, als sie es tatsächlich war. „Er hat nicht mal versucht, mein Blut zu trinken, soweit ich weiß. Erst heute Nacht hat er mir geschworen, dass er das niemals tun wird.“

„Oh.“ Savannah stellte vorsichtig ihre Teetasse auf den Tisch.

„Warum? Meinen Sie, dass er es doch tun wird?“

Gideons Gefährtin schien einen Moment darüber nachzudenken und schüttelte dann langsam den Kopf. „Lucan hat noch nie leichtfertig ein Versprechen gegeben, und das würde er bei so etwas auch niemals tun. Ich bin sicher, dass er jedes Wort ernst gemeint hat, das er zu Ihnen gesagt hat.“

Gabrielle nickte erleichtert. Dennoch fand sie es eigenartig, dass die Beteuerung der schönen Frau fast wie Beileid klang.

„Kommen Sie“, sagte Savannah jetzt, erhob sich und winkte Gabrielle, ihr zu folgen. „Ich zeige Ihnen den Rest des Quartiers.“

 

„Gibt es schon was Neues über diese Glyphen, die wir an unserem Objekt an der Westküste entdeckt haben?“, fragte Lucan und warf seine Lederjacke über einen der Stühle neben Gideon.

Inzwischen waren die beiden allein in dem Labor, da die anderen Krieger verschwunden waren, um sich ein paar Stunden auszuruhen, bevor Lucan die Anweisungen für die nächtliche Suchaktion in der Stadt erteilte. Er war froh über die relative Privatsphäre. Sein Kopf begann unter einem neuen Ansturm von heftigen Kopfschmerzen zu pochen.

„Ich habe noch gar nichts aufgetan, tut mir leid. Bei der Durchsuchung der Verbrecherkartei kam nichts heraus, und die Recherche beim Statistischen Bundesamt hat auch nichts ergeben. Offenbar ist unser Knabe nicht im System verzeichnet, aber das ist nicht so ungewöhnlich. Die IID-Akten sind sehr umfangreich, aber weit davon entfernt, vollständig zu sein, insbesondere, wenn es um euch Gen-Eins-Angehörige geht. Es gibt nur noch einige wenige von euch, und aus unterschiedlichen Gründen haben die meisten sich noch nie freiwillig vorladen oder katalogisieren lassen – dich eingeschlossen.“

„Scheiße“, zischte Lucan und kniff sich in den Nasenrücken, aber er empfand keine Erleichterung von dem Druck, der sich in seinem Kopf aufbaute.

„Geht es dir gut, Mann?“

„Es ist nichts.“ Er sah Gideon nicht an, aber er konnte spüren, dass der andere Vampir ihn mit Besorgnis beobachtete. „Ich komme schon klar.“

„Ich, äh … ich habe gehört, was neulich zwischen dir und Tegan passiert ist. Die Jungs haben erzählt, du wärst nach einer Jagd zurückgekommen und hättest ein wenig geschlaucht ausgesehen. Dein Körper erholt sich noch immer von diesen Sonnenverbrennungen, weißt du. Du musst dich schonen, die Heilung wirken lassen –“

„Ich habe gesagt, mir geht es gut“, fauchte Lucan. Er spürte, wie seine Augen wütend aufblitzten und er knurrend die Zähne fletschte.

Mit der Beute, die er auf der Straße gemacht hatte, und dem Lakaien, den er im Park ausgetrunken hatte, hatte er mehr als genug Blut zu sich genommen, um während seiner Erholungszeit davon leben zu können. Tatsache war, dass er sich trotz seiner physischen Sättigung immer noch nach mehr sehnte.

Er bewegte sich auf verdammt unsicherem Pflaster, und das wusste er.

Die Blutgier war nur einen unvorsichtigen Fehltritt weit entfernt.

Die ganze Zeit seine Schwäche unter strenger Kontrolle zu halten wurde immer schwerer.

„Ich habe ein Geschenk für dich“, sagte er, bestrebt, das Thema zu wechseln. Er warf die beiden Speicherstifte auf den Plexiglasschreibtisch vor Gideon. „Lade sie hoch.“

„Wirklich? Ein Geschenk für mich? Liebling, das hättest du doch nicht tun sollen“, meinte Gideon, der wieder ganz zu seinem heiteren Selbst zurückgefunden hatte. Er war bereits damit beschäftigt, einen der Speicherstifte in den USB-Port des Geräts zu schieben, das ihm am nächsten stand. Ein Ordner öffnete sich auf dem Bildschirm und zeigte eine lange Liste von Dateinamen. Gideon drehte den Kopf und warf Lucan einen nachdenklichen Blick zu. „Das sind Bilddateien. Hui, eine ganz schöne Menge.“

Lucan nickte leicht. Er konnte nicht aufhören, im Raum umherzulaufen, da in dem hellen Licht des Zimmers alle seine Sinne gereizt wurden. Außerdem war ihm zu warm. „Du musst sie alle durchgehen und mit jedem bekannten Rogues-Aufenthaltsort in der Stadt abgleichen – mit den früheren, mit den gegenwärtigen und auch mit den unsicheren, wo wir nur einen Verdacht haben.“

Gideon klickte wahllos auf eins der Bilder und ließ ein lautes Pfeifen ertönen. „Da, das ist das Rogues-Versteck, das wir letzten Monat vernichtet haben.“ Er öffnete zwei weitere und ordnete sie nebeneinander auf dem Display des Monitors an. „Und das Lagerhaus, das wir seit ein paar Wochen beobachten … Mein Gott, ist das hier eine Aufnahme des Gebäudes, das dem Dunklen Hafen von Quincy gegenüberliegt?“

„Da gibt es noch mehr.“

„Ach du Scheiße. Die meisten Bilder zeigen Vampiraufenthaltsorte – sowohl von Rogues als auch vom Stamm.“ Gideon scrollte ein Dutzend weiterer Fotos durch. „Hat sie all die Bilder gemacht?“

„Ja.“ Lucan hielt inne, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen. Er zeigte auf eine Anzahl von Dateien mit dem Datum der aktuellen Woche. „Geh mal auf diese Gruppe.“

Gideon rief die Bilder mit einer Reihe schneller Klicks auf. „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Sie war auch draußen bei der Nervenheilanstalt? Da könnten Hunderte von diesen Mistkerlen leben.“

Lucans Magen zog sich bei diesem Gedanken zusammen – Angst mischte sich mit dem brennenden Schmerz, der sowieso schon in seiner Magengrube rumorte. Seine Innereien verkrampften sich von dem Bedürfnis, Nahrung zu sich zu nehmen. Er unterdrückte den Hunger gewaltsam, aber seine Hände zitterten, und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen.

„Ein Lakai hat sie entdeckt und vom Grundstück gejagt“, erklärte er. Seine Stimme klang rau, und das nicht nur, weil sein Körper so angegriffen war. „Sie hat verdammtes Glück gehabt, dass sie entkommen ist.“

„Das kann man wohl sagen. Wie ist sie auf diesen Ort gekommen? Wie hat sie überhaupt all diese Orte gefunden?“

„Sie hat gesagt, dass sie nicht weiß, was sie daran anzieht. Es ist ein einzigartiger Instinkt. Ein Teil der gleichen Stammesgefährtinnenfähigkeit, die sie von der vampirischen Bewusstseinskontrolle befreit und befähigt, unsere Bewegungen zu sehen, während andere Menschen das nicht können.“

„Nenne es, wie du willst; Fähigkeiten wie ihre könnten für uns verdammt nützlich sein –“

„Vergiss es. Wir werden Gabrielle nicht noch tiefer hineinziehen. Sie gehört nicht zu uns, und ich bringe sie nicht noch weiter in Gefahr. Sie bleibt sowieso nicht lange hier.“

„Glaubst du nicht, dass wir sie beschützen können?“

„Ich will nicht, dass sie sich an der vordersten Front aufhält, während sich direkt vor unseren Toren ein Krieg zusammenbraut. Was für eine Art von Leben ist das?“

Gideon zuckte die Achseln. „Scheint für Savannah und Eva ganz gut zu funktionieren.“

„Klar, und auch Danika amüsiert sich fantastisch, gerade in letzter Zeit.“ Lucan schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will nicht, dass Gabrielle in die Nähe dieser Gewalt kommt. Sie verschwindet in einem der Dunklen Häfen, und zwar so bald wie möglich. Irgendwohin, wo sie weit weg ist und die Rogues nicht an sie herankommen.“

Und wo sie vor ihm in Sicherheit war. In Sicherheit vor der Bestie, die sich auch jetzt gerade in ihm aufbäumte. Wenn die Blutgier ihn schließlich überwältigte – und in letzter Zeit hatte er zunehmend das Gefühl, die Frage war eher, wann es passierte, nicht ob –, dann wollte er Gabrielle so weit wie möglich von den Konsequenzen entfernt wissen.

Gideon war sehr still, als er Lucan ansah. „Sie bedeutet dir etwas.“

Lucan funkelte ihn wütend an und hatte das Bedürfnis, etwas zu zerschlagen. „Mach dich nicht lächerlich.“

„Ich meine, sie ist schön, und offensichtlich ist sie so mutig wie kreativ, also ist es nicht schwer zu verstehen, dass jemand sich von ihr angezogen fühlt. Aber … verdammt. Sie bedeutet dir wirklich etwas, oder?“ Offenbar wusste der Vampir nicht, wann er aufhören musste. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich je den Tag erleben würde, an dem dir eine Frau so unter die Haut geht –“

„Sehe ich aus, als wollte ich der gleichen Gefühlsduselei anheimfallen wie du und Rio? Oder auch Conlan, dessen vaterloser Welpe gerade unterwegs ist? Glaub mir, ich habe kein Interesse, mich an diese Frau zu binden, oder an irgendeine andere.“ Er stieß einen heftigen Fluch aus. „Ich bin ein Krieger. Meine oberste – meine einzige Verpflichtung gilt dem Stamm. Da gab es noch nie Platz für irgendwas anderes. Sobald ich ihr eine Bleibe in einem der Dunklen Häfen verschafft habe, ist Gabrielle Maxwell verschwunden. Vergessen. Ende der Geschichte.“

Gideon schwieg eine Weile und sah nur zu, wie Lucan umherlief, vor Wut schäumte und mit einem uncharakteristischen Mangel an Selbstbeherrschung herumbrüllte.

Was Lucans Wut noch weiter schürte.

„Willst du noch was hinzufügen, oder können wir das Thema jetzt ad acta legen? Es ist für mich erledigt.“

Die klugen blauen Augen des anderen Vampirs starrten ihn aufreizend ruhig und unbeirrt an. „Ich frage mich bloß, wen du unbedingt davon überzeugen musst, dass du diese Frau nicht in deiner Nähe dulden kannst. Mich oder dich selbst?“