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Mitten in der Woche auf dem Höhepunkt der sommerlichen Hauptsaison wimmelte es in den Parks und auf den Boulevards von Boston nur so vor Menschen. Nahverkehrszüge brachten in kurzen Abständen Bewohner der Vorstädte in die Stadt, sie strömten zu ihren Arbeitsplätzen, zu den Museen sowie zu den zahllosen anderen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Mit Kameras bewaffnete Leute kletterten in Ausflugsbusse und Kutschen, um die Stadt zu besichtigen; andere stellten sich in Schlangen an, um an überteuerten, überfüllten Touren teilzunehmen, die sie zu Hunderten nach Cape Cod hinaustransportieren würden.

Unter dem bunten, geschäftigen Treiben auf der Straße lag eine andere Welt verborgen. Etwa neunzig Meter unter der Erde, unter einem stark gesicherten großen Haus, beugte sich Lucan Thorne im Hauptquartier der Krieger des Stammes über einen Flachbildschirm und murmelte einen deftigen Fluch. Das Vampir-Identifizierungsprogramm lief mit der Geschwindigkeit von Maschinengewehrsalven über das Display des Monitors, während ein Computerprogramm eine riesige internationale Datenbank nach Gegenstücken der Fotos durchsuchte, die Gabrielle Maxwell gemacht hatte.

„Noch nichts?“, fragte er und warf Gideon, der den Computer bediente, einen ungeduldigen Blick zu.

„Bisher rein gar nichts. Aber mein Suchlauf läuft noch. IID hat ein paar Millionen Unterlagen, die durchsucht werden müssen.“ Die scharfen blauen Augen des Vampirs blitzten über dem Rand einer eleganten silbernen Sonnenbrille auf. „Ich werde deine Scheißkerle schon erwischen, mach dir keine Sorgen.“

„Ich mache mir nie Sorgen“, erwiderte Lucan, und er meinte es wirklich so. Gideon besaß einen außergewöhnlich hohen Intelligenzquotienten, dazu kam verstärkend eine weitere Eigenschaft: eine unglaubliche Hartnäckigkeit. Der Vampir war ein ebenso unnachgiebiger Bluthund wie ein ausgesprochenes Genie, und Lucan war verdammt glücklich, ihn auf seiner Seite zu haben. „Wenn du sie nicht auftreiben kannst, Gideon, dann kann es niemand.“

Unter seinem Schopf aus kurzem, stacheligem blondem Haar zeigte der Computerguru des Stammes ein großspuriges, selbstsicheres Grinsen. „Und das ist der Grund, warum ich die große Kohle verdiene.“

„Ja, so was in der Art“, meinte Lucan und riss sich von den unaufhörlich weiterlaufenden Abfragen auf dem Bildschirm los.

Keiner der Stammeskrieger, die sich dazu verpflichteten, das Volk vor der Geißel der Rogues zu beschützen, tat das, weil er irgendeine Art von Belohnung dafür erhielt. Das hatte es noch nie gegeben, in der ganzen Zeit von der Gründung ihres Bündnisses – etwa zurzeit des Mittelalters der Menschen – bis heute nicht. Jeder Krieger hatte seine Gründe, sich in diese Gefahr zu begeben – zugegebenermaßen waren einige von ihnen edler als andere. Gideon zum Beispiel hatte sich, nachdem die Rogues seine Zwillingsbrüder, beinahe noch Kinder, außerhalb des Dunklen Hafens von London getötet hatten, als Einzelgänger auf die Jagd nach den Rogues gemacht, bis er auf Lucan getroffen war. Das war nun drei Jahrhunderte her, vielleicht einige Jahrzehnte mehr oder weniger.

Auch seine Fähigkeiten im Umgang mit dem Schwert waren damals außergewöhnlich, wurden nur übertroffen von seinem messerscharfen Verstand. Er hatte zahlreiche Rogues zur Strecke gebracht, doch gab er später seiner Stammesgefährtin Savannah zuliebe den direkten Kampf Mann gegen Mann auf und widmete sich fortan der technischen Seite des Kampfes gegen die Rogues.

Und der Vampir war verdammt gut darin.

Jeder der sechs Krieger, die aktuell an Lucans Seite kämpften, verfügte über seine ganz eigenen persönlichen Talente. Auch hatte jeder von ihnen mit seinen eigenen persönlichen Dämonen zu kämpfen, auch wenn niemand von ihnen übertrieben emotional war. Einige Angelegenheiten blieben einfach besser im Dunkeln. Derjenige unter ihnen, der wahrscheinlich noch mehr so empfand als Lucan selbst, war Dante.

Lucan bemerkte den jungen Vampir, als er aus einem der zahlreichen Zimmer des Hauptquartiers ins Techniklabor kam. Dante war mit seiner üblichen einfachen schwarzen Montur bekleidet, einem Motorradoutfit aus Leder und einem passenden Trägerhemd, das seine auffälligen, farbigen Tätowierungen und Symbole des Stammes zur Schau stellte. Sein beeindruckender Bizeps war rundherum mit komplizierten Bildern bedeckt, die für menschliche Augen seltsam abstrakt wirken würden, eine Reihe aus ineinander verwobenen Symbolen und geometrischen Mustern aus dunklen Hennafarben. Vampiraugen würden die Symbole als das sehen, was sie in Wirklichkeit auch waren: Dermaglyphen, angeborene Male, ererbt von den Vorfahren des Stammes, deren haarlose Haut von veränderlichen, tarnenden Pigmenten bedeckt gewesen war.

Normalerweise waren Glyphen eine Quelle des Stolzes für den Stamm, einzigartige Hinweise auf Abstammung und sozialen Rang. Gen-Eins-Angehörige wie Lucan trugen mehr und farbintensivere Male als die anderen Vampire. Seine eigenen Dermaglyphen bedeckten Vorder- und Rückseite seines Rumpfes und erstreckten sich bis hin zu den Schenkeln und den Oberarmen, überzogen seinen Nacken bis hin zu seiner Kopfhaut. Wie lebende Tätowierungen veränderten die Glyphen ihre Farbe entsprechend dem Gemütszustand eines Vampirs.

Die von Dante leuchteten im Augenblick in einem tiefen, gelbbraunen Bronzeton. Es konnte also noch nicht lange her sein, dass er Nahrung zu sich genommen hatte. Zweifellos hatte Dante, nachdem er und Lucan sich in der vorigen Nacht nach der Jagd auf die Rogues getrennt hatten, sich auf den Weg in das Bett – und zu der reifen, saftigen Ader – einer willigen weiblichen Blutwirtin aus der Menschenwelt gemacht.

„Wie läuft es?“, fragte er, ließ sich auf einen Stuhl fallen und legte einen großen gestiefelten Fuß auf den Schreibtisch vor ihm. „Ich dachte, du hättest diese Scheißkerle schon für uns in der Tasche, Gid.“

In Dantes Stimme war noch der Anflug des Akzents seiner Heimat zu erkennen, das Italien des achtzehnten Jahrhunderts, aber heute klang seine Stimme etwas rau, sicheres Anzeichen seiner inneren Unruhe und seines Wunsches nach Aktion. Wie um das zu unterstreichen, zog er eine seiner gebogenen Klingen aus einer Scheide an seiner Hüfte und begann träge mit der glänzenden Stahlklaue zu spielen.

Malebranche nannte er die gebogenen Klingen in Anspielung auf Dämonen, die einen der neun Kreise der Hölle bewohnten. Manchmal übernahm Dante die Bezeichnung aber auch ironisch als seinen Nachnamen, dann, wenn er sich unter Menschen aufhielt. Das war aber auch der einzig poetische Zug, den seine Seele aufwies; alles andere in seinem Inneren war ungerührte, kalte, düstere Bedrohung.

Das bewunderte Lucan an ihm und musste zugeben, dass eine besondere Schönheit von Dantes Kampfkunst in seinem Umgang mit diesen erbarmungslosen Klingen lag.

„Gute Arbeit, letzte Nacht“, sagte Lucan, sich dessen wohl bewusst, dass Lob – auch ein verdientes Lob – aus seinem Munde selten vorkam. „Du hast mir da draußen den Arsch gerettet.“

Er meinte nicht den Kampf mit den Rogues, sondern das, was nachher geschehen war. Lucan hatte schon zu lange keine Nahrung mehr zu sich genommen. Unterernährung war für seine Art fast so gefährlich wie die süchtig machende Blutgier der Rogues. Dantes Blick ließ erkennen, dass er die Bedeutung von Lucans Worten verstanden hatte, doch überging er Lucans Lob gewohnt lässig.

„Scheiße“, entgegnete er, indem er das Wort so in die Länge zog, dass es ein tiefes Kichern enthielt. „Nach all den Malen, in denen du mir den Rücken gedeckt hast? Vergiss es, Mann. Ich revanchiere mich nur.“

Die Glastüren des Labors glitten mit einem leisen Geräusch auf, als zwei weitere von Lucans Vampirbrüdern hereinkamen. Sie waren ein bemerkenswertes Paar. Nikolai war groß und athletisch, mit sandfarbenem Haar, auffallend kantigen Gesichtszügen und durchdringenden blauen Augen, die eine Nuance kälter waren als der Winter in seinem sibirischen Heimatland. Als bei Weitem Jüngster der Gruppe war Niko zurzeit des sogenannten Kalten Krieges der Menschen aufgewachsen. Er war schon immer von Technik besessen gewesen und war ständig auf der Suche nach dem nächsten Nervenkitzel. Daher stand er beim Stamm in vorderster Front, wenn es um Dinge wie Schusswaffen, technische Geräte und so weiter ging.

Conlan dagegen war freundlich, sanft und ernsthaft, ein perfekter Taktiker. Neben Niko mit seiner dreisten Angeberei wirkte er so geschmeidig wie eine Raubkatze – eine Mauer aus massigen Muskeln, sein kupferfarbenes Haar kurz geschoren. Er war ein Angehöriger einer jüngeren Generation – nach Lucans Maßstäben ein Jugendlicher –, und seine menschliche Mutter war die Tochter eines schottischen Clanoberhauptes gewesen. Conlans Haltung, sein ganzes Gebaren strahlten eine durchaus majestätische Würde aus.

Zum Teufel, selbst seine geliebte Stammesgefährtin Danika bezeichnete den Highlander sehr oft liebevoll als Mylord – und die ein Meter achtzig große Frau war alles andere als unterwürfig.

„Rio ist unterwegs“, verkündete Nikolai, und sein Mund verzog sich zu einem verschmitzten Grinsen, das zwei Grübchen in seinen schmalen Wangen zum Vorschein kommen ließ. Er nickte Lucan zu. „Eva meinte, ich soll dir sagen, dass wir ihren Mann haben können, wenn sie mit ihm fertig ist.“

„Wenn dann noch was übrig ist“, meinte Dante gedehnt und streckte seine Hand aus, um die anderen zu begrüßen, indem er seine Handfläche über ihre zog und anschließend mit seinen Fingerknöcheln kurz gegen ihre stieß.

Lucan grüßte Niko und Conlan mit ähnlichem Respekt, aber er verspürte leichten Ärger über Rios Verspätung. Er gönnte jedem Vampir seine erwählte Stammesgefährtin, aber Lucan persönlich sah keinen Sinn darin, sich den Forderungen und der Verantwortung zu unterjochen, die es mit sich brachte, wenn man mit einer Frau im Blut verbunden war. Von dem Durchschnittsvolk des Stammes wurde erwartet, dass sie sich eine Frau nahmen, sich mit ihr verbanden und die nächste Generation hervorbrachten, aber für die Klasse der Krieger, die wenigen auserwählten Männer, die die Zuflucht der Dunklen Häfen bereitwillig mieden und ihr Leben dem Kampf widmeten, sah Lucan die Blutsverbindung bestenfalls als sentimental an.

Schlimmstenfalls war es der Beginn großen Unheils, dann nämlich, wenn ein Krieger in Versuchung geriet, die Gefühle für seine Gefährtin über seine Verpflichtung gegenüber dem Stamm zu stellen.

„Wo ist Tegan?“, fragte er, als sich seine Gedanken dem Letzten ihrer Gruppe zuwandten.

„Noch nicht zurück“, antwortete Conlan.

„Hat er seinen Aufenthaltsort angegeben?“

Conlan wechselte einen Blick mit Niko, der leicht den Kopf schüttelte. „Kein Wort.“

„So lange war er noch nie verschwunden“, bemerkte Dante in die Runde hinein und ließ seinen Daumen über die geschwungene Schneide seiner Klinge gleiten. „Wie lange ist das jetzt her – drei, vier Tage?“

Es waren vier Tage, und bald würden es fünf sein.

Aber wer zum Teufel zählte mit?

Antwort: Sie alle, aber niemand äußerte laut die Besorgnis, die in letzter Zeit unter den Mitgliedern ihrer Gruppe herrschte. Und Lucan selbst musste sich zwingen, die Gehässigkeit, die ihn überkam, wenn er an Tegan dachte, zu unterdrücken. Tegan war der größte Einzelgänger unter ihnen, ein wahrer Einsiedler.

Er hatte es schon immer vorgezogen, alleine auf die Jagd zu gehen, aber seine Verschlossenheit begann die anderen mehr und mehr zu nerven. In letzter Zeit war er immer unberechenbarer geworden, und um ganz ehrlich zu sein, fiel es Lucan schwer, ihm zu vertrauen – nicht dass er ihm je völlig über den Weg getraut hätte. Zwischen ihnen beiden herrschte ohne Zweifel eine gewisse Feindschaft, aber die Ursache dafür gehörte der Vergangenheit an. Musste ihr auch angehören, denn der Krieg, dem sie sich beide vor so langer Zeit verpflichtet hatten, war wichtiger als ihre feindseligen Gefühle füreinander.

Dennoch beobachtete der Vampir ihn genau. Lucan kannte Tegans Schwächen besser als jeder andere. Und er würde nicht zögern, Maßnahmen zu ergreifen, wenn Tegan die Grenze auch nur mit einer Zehenspitze überschritt.

Die Labortüren gingen erneut auf, und herein kam, endlich, Rio, der eben den losen Zipfel eines eleganten weißen Designerhemdes in eine maßgeschneiderte schwarze Hose steckte. Einige der Knöpfe fehlten, aber Rio trug seine durch das Schäferstündchen mit seiner Gefährtin leicht derangierte Erscheinung mit der gleichen Lässigkeit zur Schau, die ihn in allem umgab, was er tat. Unter den Strähnen seines dichten schwarzen Haars, die in seine Stirn hingen, tanzten die topasfarbenen Augen des Spaniers. Als er lächelte, schimmerten die Spitzen seiner Fangzähne, die nach dem leidenschaftlichen Tête-à-tête mit seiner Gefährtin immer noch ausgefahren waren. „Ich hoffe, ihr habt mir ein paar Rogues übrig gelassen, meine Freunde.“ Er rieb seine Hände gegeneinander. „Ich fühle mich gut – lasst uns loslegen!“

„Setz dich“, sagte Lucan gedehnt. „Und versuche Gideons Computer nicht ganz vollzubluten.“

Rios lange Finger wanderten zu dem karmesinroten Fleck an seiner Kehle, wo Eva ihn offenbar gebissen hatte, um von seinem Blut zu trinken. Obwohl sie eine Stammesgefährtin war, war sie trotzdem genetisch ein Mensch. Auch wenn sie und die anderen Stammesgefährtinnen schon viele Jahre mit ihren Gefährten zusammen waren, wuchsen bei ihnen weder Fangzähne noch nahmen sie andere Eigenschaften der Vampire an. Es war jedoch eine weithin akzeptierte Praktik, dass ein Vampir seine Gefährtin aus einer selbst zugefügten Wunde an seinem Handgelenk oder Unterarm trinken ließ. Die Leidenschaft der Stammeskrieger ebenso wie die der von ihnen erwählten Frauen loderte wild. Sex und Blut waren eine mächtige Kombination – manchmal zu mächtig.

Grinsend und ohne jede Spur von Scham lümmelte sich Rio auf einen der Drehstühle und lehnte sich nach hinten, seine großen nackten Füße auf die Plexiglaskonsole aufgestützt. Er und die anderen Krieger begannen, über die Ausbeute der vorigen Nacht zu sprechen, lachten gemeinsam, als sie einander mit ihren Taten zu übertrumpfen versuchten, und diskutierten über spezielle Techniken ihres Berufs.

Während die Jagd auf die Feinde einigen Mitgliedern des Stammes Vergnügen bereitete, war Lucans eigene Motivation schlicht und einfach Hass. Er verachtete die Rogues zutiefst und hatte vor langer Zeit geschworen, ihre gesamte Art auszulöschen – oder aber bei dem Versuch, das zu tun, zu sterben. An manchen Tagen spielte es für ihn keine Rolle, was davon zuerst kam.

„Jetzt geht es los“, sagte Gideon schließlich, als die Aufzeichnungen, die über seinen Bildschirm rollten, stoppten. „Sieht aus, als seien wir auf eine Goldader gestoßen.“

„Was hast du gefunden?“

Lucan und die anderen richteten ihre Aufmerksamkeit auf einen überdimensionalen Flachbildschirm über der Mikroprozessorenreihe des Labors. Die Gesichter der vier Rogues, die Lucan in der Nähe des Nachtclubs getötet hatte, erschienen auf dem Display, außerdem eines der Bilder von Gabrielles Handy, die sie von ihnen gemacht hatte.

„Die IID-Aufzeichnungen haben sie alle als vermisste Personen vermerkt. Zwei letzten Monat aus dem Dunklen Hafen von Connecticut, ein anderer aus Fall River, und der Letzte hier aus dem Ort. Sie gehören alle zu der gegenwärtigen Generation; der Jüngste war nicht mal dreißig Jahre alt.“

„Scheiße“, meinte Rio mit einem leisen Pfiff. „Dumme Kinder.“

Lucan schwieg. Er empfand nichts angesichts dieser Vergeudung junger Leben, die zu Rogues geworden waren. Sie waren nicht die Ersten, und todsicher würden sie auch nicht die Letzten sein. In den Dunklen Häfen zu leben konnte einem unreifen Jungen, der das Gefühl hatte, sich beweisen zu müssen, ziemlich langweilig vorkommen. Der Reiz, den Blut und Eroberung ausüben konnten, saß tief, sogar in den späteren Generationen, die doch am weitesten entfernt von ihren Urahnen waren. Wenn ein Vampir Ärger wollte, insbesondere in einer Stadt von der Größe Bostons, konnte er ihn problemlos haben.

Gideon gab an seiner Computertastatur rasch eine Reihe von Befehlen ein, wodurch noch mehr Fotos aus der Datenbank aufgerufen wurden. „Hier sind die beiden letzten Aufzeichnungen. Dieses erste Individuum ist ein bekannter Rogue, Wiederholungstäter hier in Boston, obwohl er es offenbar geschafft hat, mehr als drei Monate nicht entdeckt zu werden. Das heißt, das war der Fall, bis Lucan ihn am Wochenende in der Gasse in Asche verwandelt hat.“

„Und was ist mit diesem?“, fragte Lucan und beäugte das letzte Bild, das des einzigen Rogue, dem es gelungen war zu entkommen. Sein Foto erschien in Form eines Videostandbildes, das vermutlich während einer Art Verhör aufgenommen worden war, denn der Vampir trug Fesseln und Elektroden. „Wie alt ist dieses Bild?“

„Ungefähr sechs Monate“, antwortete Gideon, nachdem er das Datum aufgerufen hatte. „Stammt von einer der Zweigstellen an der Westküste.“

„L. A.?“

„Seattle. Aber laut der Datei liegt auch in L.A. ein Haftbefehl gegen ihn vor.“

„Haftbefehle“, spottete Dante. „Verdammte Zeitverschwendung.“

Dem musste Lucan zustimmen. Für den größten Teil des Vampirvolkes in den Vereinigten Staaten und im Ausland wurden die Vollstreckung der Gesetze und die Festnahme der Individuen, die zu Rogues geworden waren, durch spezielle Regeln und Vorgehensweisen geregelt. Haftbefehle wurden geschrieben, Verhaftungen wurden vorgenommen, Befragungen wurden durchgeführt, und bei hinreichender Beweislage und in ordnungsgemäßen Verfahren wurden die Urteile verkündet. Das alles war sehr zivilisiert. Und selten effektiv.

Während der Stamm und seine Bevölkerung in den Dunklen Häfen geregelt und nach allen Regeln der Bürokratie zivilisiert lebten, waren seine Feinde unbesonnen und unberechenbar. Und sofern Lucans Bauchgefühl ihn nicht täuschte, bereiteten sich die Rogues nach Jahrhunderten der Anarchie und des allgemeinen Chaos wieder darauf vor, neue Mitglieder zu rekrutieren.

Falls sie nicht schon Monate damit beschäftigt waren.

Lucan starrte auf das Bild, das auf dem Bildschirm zu sehen war. Auf dem Videostandbild war der gefangene Rogue an einen senkrecht stehenden Metalltisch gefesselt. Er war nackt, der Kopf war kahl geschoren worden, damit der Strom, der während der Vernehmung wahrscheinlich durch seinen Schädel gejagt wurde, besser fließen konnte. Lucan hatte kein Mitleid mit der Qual, die er hatte erdulden müssen. Verhöre dieser Art waren oftmals notwendig, und wie Menschen, die unter dem Einfluss von Heroin standen, konnte ein Vampir, der an Blutgier litt, zehnmal so viele Schmerzen ertragen wie seine Stammesbrüder, ohne daran zu zerbrechen.

Dieser Rogue war ein großer Mann mit einer groben Stirn und dummen, primitiven Gesichtszügen. Auf dem Videobild knurrte er, und seine langen Fangzähne glitzerten. Seine hellen Augen um die elliptischen Schlitze seiner starren Pupillen blickten wild. Kabel bedeckten seinen riesigen Kopf und seinen Hals bis hin zu seiner muskulösen Brust und seinen an Hämmer erinnernden Armen.

„Mal angenommen, hässlich zu sein ist kein Verbrechen, wofür hat Seattle ihn festgenommen?“

„Lasst uns mal sehen, was es hier gibt.“ Gideon drehte sich wieder zu seiner Reihe von Computern um und rief auf einem anderen Bildschirm eine Aufzeichnung auf. „Er wurde für Waffenschieberei und Drogenhandel verhaftet – Waffen, Explosivstoffe, chemische Substanzen. Oh, dieser Typ ist ein richtiger Sonnenschein. Hat mit ganz schön ekelhafter Scheiße zu tun.“

„Hast du eine Ahnung, wessen Waffen er geschmuggelt hat?“

„Hier ist nichts aufgeführt. Offenbar sind sie bei ihm nicht weit gekommen. Die Aufzeichnung gibt an, dass er aus der Verwahrung ausgebrochen ist, gleich nachdem diese Bilder aufgenommen worden waren. Er hat während der Flucht zwei seiner Wächter getötet.“

Und jetzt war er schon wieder entkommen, dachte Lucan grimmig und wünschte sich inbrünstig, er hätte den Scheißkerl in jener Nacht beim Club kaltgemacht. Er vertrug Versagen nicht besonders gut, am allerwenigsten bei sich selbst.

Lucan warf Niko einen Blick zu. „Ist dir dieser Typ je begegnet?“

„Nein“, entgegnete der Russe, „aber ich werde ihn mit Hilfe meiner Kontakte überprüfen und sehen, was ich finden kann.“

„Mach dich an die Arbeit.“

Nikolai nickte kurz und verließ das Techniklabor, während er bereits mit seinem Handy jemanden anrief.

„Das sind eindeutige Bilder“, sagte Conlan, der Gideon über die Schulter spähte, den Blick auf einen anderen Monitor gerichtet, der alle Fotos zeigte, die Gabrielle während des Mordes beim Nachtclub aufgenommen hatte. Der Krieger ließ einen Fluch entweichen. „Schlimm genug, dass im Lauf der Jahre Menschen einige dieser Blutbestienmorde mit angesehen haben, aber jetzt halten sie schon an, um ein paar Schnappschüsse zu machen?“

Dante ließ seine Füße mit einem dumpfen Knall auf den Boden fallen und begann herumzulaufen, als ob ihn die Untätigkeit dieses Treffens zunehmend in Unruhe versetzte. „Auf der ganzen Welt da draußen denken die Menschen, sie seien verdammte Paparazzi.“

„Der Kerl, der diese Aufnahmen gemacht hat, hat sich bestimmt ganz schön in die Hose gepisst, als er einen neunzig Kilo schweren Stammeskrieger gesehen hat, der ihn im Visier hatte“, fügte Rio hinzu. Grinsend sah er Lucan an. „Hast du dir die Mühe gemacht, zuerst seine Erinnerung auszulöschen, oder hast du den Dummkopf einfach an Ort und Stelle unschädlich gemacht?“

„Der Mensch, der den Angriff in dieser Nacht gesehen hat, war weiblich.“ Lucan starrte in die Gesichter seiner Brüder, verbarg aber seine Gefühle bezüglich der Neuigkeit, die er ihnen gleich mitteilen würde. „Es hat sich herausgestellt, dass sie eine Stammesgefährtin ist.“

„Madre de Dios“, fluchte Rio und strich sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar. „Eine Stammesgefährtin – bist du sicher?“

„Sie trägt das Mal. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“

„Was hast du mit ihr gemacht? Oh Gott, du hast doch nicht …“

„Nein“, entgegnete Lucan scharf, aufgebracht durch die stille Frage, die in dem Zögern des Spaniers steckte. „Ich habe der Frau nichts getan. Da gibt es eine Grenze, die selbst ich nicht überschreite.“

Außerdem hatte er Gabrielle nicht für sich beansprucht, obwohl er in jener Nacht in ihrer Wohnung verdammt nahe dran gewesen war, das zu tun. Lucan biss die Zähne zusammen, und eine Woge düsteren Hungers überrollte ihn, wenn er daran dachte, wie verführerisch Gabrielle ausgesehen hatte, zusammengerollt und träumend in ihrem Bett. Wie verdammt süß sie auf seiner Zunge geschmeckt hatte …

„Was wirst du mit ihr machen, Lucan?“ Dieses Mal war es Gideon, der seiner Besorgnis Ausdruck verlieh. „Wir können sie wohl kaum auf der Oberfläche lassen, sodass die Rogues sie finden. Sie hat ganz sicher ihre Aufmerksamkeit erregt, als sie diese Bilder aufgenommen hat.“

„Und sollten die Rogues merken, dass sie eine Stammesgefährtin ist …“, fügte Dante hinzu. Die anderen Krieger nickten grimmig.

„Am sichersten wird sie hier sein“, meinte Gideon, „unter der Aufsicht des Stammes. Noch besser wäre es, wenn sie offiziell einem der Dunklen Häfen zugewiesen wird.“

„Ich kenne das Protokoll“, knurrte Lucan. Die Wut, die er empfand, wenn er daran dachte, dass Gabrielle den Rogues in die Hände fallen könnte – oder auch in diejenigen eines anderen Stammesmitglieds, falls er das Richtige tat und sie in einen der Dunklen Häfen des Volkes schickte – war viel zu groß. Keine dieser Möglichkeiten schien ihm im Augenblick akzeptabel, eine ungeheure Besitzgier loderte plötzlich und ungewollt in ihm auf.

Er starrte seine Kriegerbrüder kalt an. „Die Frau fällt in meinen Verantwortungsbereich. Ich werde entscheiden, wie in der Sache am besten vorgegangen wird.“

Keiner der anderen erhob Widerspruch gegen seine Worte, was er auch nicht angenommen hatte. Als Gen-Eins gehörte er hier zu den Ältesten; als Begründer der Klasse der Krieger innerhalb des Stammes war er der Erfahrenste. Sein Wort war Gesetz, und alle Anwesenden würden das respektieren.

Dante stand auf, drehte seine Malebranche-Klinge zwischen seinen langen, flinken Fingern und steckte sie mit einer fließenden Bewegung wieder in die Scheide. „Vier Stunden bis Sonnenuntergang. Ich bin weg.“ Er blickte schelmisch zu Rio und Conlan hinüber. „Hat jemand Lust auf ein kleines Spielchen, bevor die Angelegenheiten auf der Oberfläche interessant werden?“

Beide Männer erhoben sich, begeistert von der Idee, und mit respektvollem Nicken in Lucans Richtung verließen die drei großen Krieger das Techniklabor und betraten den Gang, der zum Waffenübungsbereich des Quartiers führte.

„Hast du noch mehr über diesen Rogue aus Seattle?“, fragte Lucan Gideon, als sich die Glastüren schlossen und nur noch sie beide im Labor waren.

„Momentan mache ich einen Abgleich sämtlicher Unterlagen. Wird nur eine Minute dauern, so oder so.“ Die Tasten klapperten, als er rasch etwas in die Tastatur eingab. Dann sagte er: „Bingo. Ich habe einen Treffer bei einem GPS an der Westküste. Sieh mal.“

Der Bildschirm füllte sich mit einer Reihe von nächtlichen Satellitenbildern von einer Landestelle der gewerblichen Fischerei vor dem Pugetsund. Das Überwachungssystem stellte sich auf eine lange, schwarze Limousine ein, die mit laufendem Motor hinter einem verfallenen Gebäude am Ende der Docks stand. Jemand beugte sich auf der Beifahrerseite durch das Fenster des Autos. Es war der Rogue, dem es vor ein paar Tagen gelungen war, Lucan zu entkommen. Gideon scrollte die nächsten Bilder durch, die ein offensichtlich längeres Gespräch zwischen dem Rogue und der Person hinter den verdunkelten Fenstern des Fahrzeugs, wer auch immer das war, zeigten. Im chronologischen Verlauf der Bilder zeigte sich, wie sich die Hecktür von innen öffnete, um den Rogue einsteigen zu lassen.

„Warte“, sagte Lucan und kniff die Augen zusammen, um die Hand des verborgenen Passagiers genauer zu betrachten. „Kannst du dieses Bild schärfer machen? Zoom auf die offene Autotür.“

„Ich versuche es.“

Das Bild vergrößerte sich stufenweise, auch wenn Lucan kaum besseres Bildmaterial benötigte, das ihm noch einmal eine Bestätigung für das lieferte, was er sah. Es war kaum wahrnehmbar, aber es war da. In dem Stück der bloßen Haut zwischen der großen Hand des Passagiers und der doppelten Manschette seines langärmeligen Hemdes befanden sich zahlreiche Gen-Eins-Dermaglyphen.

Nun sah Gideon sie ebenfalls. „Nicht zu glauben, jetzt sieh dir das an“, sagte er und starrte auf den Monitor. „Unser Mistkerl aus Seattle war in interessanter Begleitung.“

„Und ist es vielleicht noch“, erwiderte Lucan.

Nichts war härter und gefährlicher als ein Rogue vom Blut der Vampire der ersten Generation. Gen-Eins-Angehörige verfielen der Blutgier schneller und hartnäckiger als die späteren Generationen; sie wurden zu ungeheuer bösartigen Feinden. Wenn einer von ihnen die Absicht hegte, die Rogues in einen Aufstand zu führen, würde das der Beginn eines höllischen Krieges sein. Lucan hatte vor langer Zeit einmal in dieser Schlacht gekämpft. Er hegte nicht den Wunsch, das erneut zu tun.

„Drucke alles aus, was du hast, einschließlich einiger Zooms dieser Glyphen.“

„Schon in Arbeit.“

„Und bring mir alles, was du sonst noch über die beiden herausfindest. Ich kümmere mich persönlich darum.“

Gideon nickte, aber der Blick, den er Lucan über seine silberne Sonnenbrille hinweg zuwarf, war zögernd. „Du kannst nicht erwarten, sie alle ohne Hilfe außer Gefecht zu setzen, weißt du.“

Lucan bedachte ihn mit einem düsteren Blick. „Wer sagt das?“

Zweifellos lag dem blonden Vampir eine gelehrte Abhandlung über die Wahrscheinlichkeit und das Gesetz der Serie auf seiner genialen Zunge, aber Lucan war nicht in der Stimmung, sie sich anzuhören. Die Nacht würde bald anbrechen und damit eine weitere Chance, seine Feinde zu jagen. Er brauchte die übrigen Stunden, um einen klaren Kopf zu bekommen, seine Waffen vorzubereiten und eine Entscheidung darüber zu treffen, wo am besten zugeschlagen werden sollte. Das Raubtier in ihm war nervös und hungrig, aber nicht nach dem Kampf mit den Rogues, den er eigentlich herbeisehnen müsste.

Stattdessen stellte Lucan fest, dass seine Gedanken zu einer stillen Wohnung in Beacon Hill drifteten, zurück zu einem mitternächtlichen Besuch, der niemals hätte stattfinden sollen. Wie ihr Jasminduft hüllte ihn auch die Erinnerung an Gabrielles weiche Haut und ihren warmen, willigen Körper ein. Sofort war er angespannt, und sein Geschlecht regte sich allein bei dem Gedanken an sie.

Verdammt.

Das war der Grund, warum er sie nicht schon unter den Schutz des Stammes, hier auf dem Gelände, gestellt hatte. Aus der Distanz lenkte sie ihn ab. In seiner Nähe würde sie sich als verdammte Katastrophe erweisen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Gideon, der sich auf seinem Stuhl herumgedreht hatte, sodass er Lucan ins Gesicht sehen konnte. „Du hast ja eine ganz schöne Mordswut im Bauch, alter Freund.“

Lucan riss sich aus seinen düsteren Grübeleien und bemerkte, dass sich seine Fangzähne in seinem Mund zu verlängern begonnen hatten und sein Sehvermögen durch seine geschlitzten Pupillen geschärft war. Aber es war keine Wut, die ihn so verändert hatte. Es war schlicht und einfach Lust, und er würde sie befriedigen – lieber früher als später.

Mit diesem Gedanken, der in seinen Adern loderte, nahm Lucan Gabrielles Mobiltelefon von dem Plexiglasschreibtisch und marschierte aus dem Labor.