16

Er sollte sie gehen lassen.

Diese Geschichte hatte er so gründlich versaut, dass heute Nacht ganz bestimmt kein vernünftiges Gespräch mit Gabrielle mehr möglich war. Vielleicht überhaupt nie mehr.

Vom gegenüberliegenden Gehsteig sah er zu, wie sie mit langen Schritten die Straße hinunterrannte. Keine Ahnung, wohin sie unterwegs war. Sie sah kreidebleich und fassungslos aus, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen.

Und das hatte sie auch, wie er sich düster eingestand.

Vielleicht war es das Beste, wenn er sie in dem Glauben weglaufen ließ, er wäre ein Lügner und ein gefährlicher Irrer. Diese Annahme war schließlich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Aber ihre Meinung über ihn war hier nicht entscheidend. Eine Stammesgefährtin in Sicherheit zu bringen hingegen schon.

Er konnte sie nach Hause gehen lassen und ihr ein paar Tage Zeit geben, damit sie sich beruhigte und mit seinem Täuschungsmanöver abfand. Dann konnte er Gideon wieder losschicken, damit der die Sache in Ordnung brachte und Gabrielle ohne Panik unter den Schutz des Stammes stellte, wohin sie gehörte. Gabrielle konnte sich ein neues Leben in einem der Dunklen Häfen aussuchen, die überall auf der Welt verborgen lagen. Sie konnte glücklich und sicher leben und einen Mann finden, der ihr ein wahrer Gefährte sein würde.

Sie würde Lucan nicht einmal Wiedersehen müssen.

Ja, dachte er, das wäre jetzt wohl die beste Vorgehensweise.

Nichtsdestoweniger stellte er fest, dass er vom Gehsteig auf die Straße getreten war und ihr hinterherlief. Er war einfach nicht fähig, Gabrielle jetzt zu verlassen, selbst wenn es das war, was sie am dringendsten brauchte.

Als er die Straße überquerte, auf der nur wenig Abendverkehr unterwegs war, weckte das Quietschen von Reifen seine Aufmerksamkeit, und er wandte rasch den Kopf. Aus einer Seitengasse in der Nähe der Polizeiwache kam eine alte amerikanische Schrottkiste angeschossen und raste mitten auf die Straße. Der Motor heulte auf, und die Räder drehten durch, als der Fahrer Gas gab und die Schnauze der röhrenden Bestie auf sein Ziel ausrichtete, das sich ein Stück vor ihm auf der Straße befand.

Gabrielle.

Verdammte Scheiße.

Lucan rannte los, als gelte es sein Leben. Seine Stiefel fraßen den Asphalt, er beschleunigte auf Höchstgeschwindigkeit.

Wenige Meter vor Gabrielle schoss das Auto auf den Gehsteig, um ihr den Weg abzuschneiden. Sie kam schlingernd zum Stehen. Ein leiser Befehl wurde durch das offene Autofenster an sie gelichtet. Sie schüttelte heftig den Kopf. Ihr Gesicht wurde starr und sie fing an zu schreien, als sich die Tür des Fahrzeugs öffnete und ein Mensch heraussprang.

„Verdammt. Gabrielle!“, brüllte Lucan. Er versuchte mit seinem Geist die Kontrolle über Gabrielles Angreifer zu erlangen, aber er stieß ins Leere – was er vorfand, war nichts als ungreifbare, tote Luft.

Ein Lakai, wie er voller Verachtung begriff. Nur der Rogue-Meister, dem dieser Mensch gehörte, konnte seine Gedanken beherrschen. Aber die geistige Anstrengung seines vergeblichen Versuchs hatte Lucan körperlich langsamer gemacht. Es kostete ihn nur wenige Sekunden, aber das war verdammt noch mal zu viel.

Gabrielle brach schnell nach links aus und raste über einen leeren Kinderspielplatz. Ihr Verfolger blieb ihr dicht auf den Fersen.

Lucan hörte sie aufschreien und sah, wie die Hand des Mannes plötzlich nach vorn stieß und den Pferdeschwanz packte, der hinter ihr her schwang.

Der Scheißkerl zerrte sie zu Boden. Zog eine Pistole aus dem Bund seiner Khakihose.

Stieß Gabrielle den Lauf der Waffe ins Gesicht.

„Nein!“, brüllte Lucan, erreichte sie endlich und verpasste dem Menschen einen heftigen Stiefeltritt, der ihn von ihr weg und in die Luft schleuderte.

Die Waffe ging los, als der Kerl aufschlug, ein ungezielter Schuss, der eine Baumkrone traf. Aber Lucan roch Blut. Der metallische Geruch davon haftete an beiden, an Gabrielle und ihrem Angreifer. Es war nicht ihres, stellte er rasch und erleichtert fest, da dem Blut Gabrielles einzigartiger Jasminduft fehlte.

Das Blut vorn auf dem Hemd des Lakaien war ganz frisch, und in dem tödlichen Teil von Lucan, der noch immer unterernährt war und zu heilen versuchte, flammte neuer Hunger auf. In seinem Mund pochte es, als der Fresstrieb erwachte, aber noch heißer brannte der Zorn bei dem Gedanken, dass Gabrielle von diesem Abschaum hätte verletzt werden können. Lucan heftete den Blick in tödlicher Absicht auf den Lakaien und reichte Gabrielle eine Hand, um ihr aufzuhelfen.

„Hat er dir was getan?“

Sie schüttelte den Kopf. Ein kleiner Laut drang erstickt aus ihrer Kehle, halb Schluchzen, halb hysterisches Stöhnen. „Das ist er, Lucan – der Kerl, der mich neulich im Park beobachtet hat!“

„Es ist ein Lakai“, knurrte Lucan mit zusammengebissenen Zähnen. Es war ihm gleichgültig, wer der Mensch war. In ein paar Minuten würde er sowieso Geschichte sein.

„Gabrielle, du musst hier weg, Süße.“

„W-was? Und dich mit ihm allein lassen? Lucan, er hat eine Waffe.“

„Geh jetzt, Liebling. Sieh zu, dass du schnell nach Hause kommst. Ich werde mich darum kümmern, dass du dort in Sicherheit bist.“

Der Lakai krümmte sich am Boden, umklammerte die Handfeuerwaffe, hustete und rang nach Atem, den Lucan ihm mit seinem Tritt aus den Lungen getrieben hatte. Er spuckte Blut, und Lucans Augen wurden schmal beim Anblick der karmesinroten Spritzer, die in der Erde versickerten. Sein Zahnfleisch drückte, als seine Fangzähne länger wurden.

„Lucan –“

„Verdammt noch mal, Gabrielle, verschwinde!“

Der Befehl drang ihm in einem wilden Knurren über die Lippen. Er konnte die Bestie in seinem Inneren kaum noch bändigen. Gleich würde er wieder töten – seine Wut war so unkontrollierbar mächtig, dass er es einfach musste – und er wollte nicht, dass sie dabei zusah.

„Lauf, Gabrielle. Los!“

 

Sie lief los.

Gabrielle, in deren Kopf sich alles drehte und deren Herz sich anfühlte, als müsste es zerspringen, lief davon, als Lucan seinen Befehl brüllte.

Aber sie würde nicht nach Hause laufen, wie er befohlen hatte, und ihn allein lassen. Sie flüchtete von dem Spielplatz und hoffte, die Straße und die Wache voller bewaffneter Polizisten schnell genug zu erreichen. Ein Teil von ihr weigerte sich, Lucan überhaupt zu verlassen, aber ein anderer Teil von ihr – ein Teil, der unbedingt alles tun wollte, um ihm irgendwie zu helfen – ließ ihre Beine förmlich fliegen.

Ganz gleich, wie wütend sie über seinen Betrug war, und sosehr sie sich auch vor allem fürchtete, was sie an ihm nicht verstand –, sie musste sicherstellen, dass ihm nichts geschah.

Wenn ihm etwas zustieße –

Der Gedanke riss ab, als in der Dunkelheit hinter ihr Schüsse krachten.

Sie erstarrte. Ihr Atem entwich ihren Lungen.

Sie hörte ein seltsames, raubtierhaftes Aufbrühen.

Noch zwei Schüsse schnell hintereinander, dann … nichts mehr.

Nur anhaltende, lastende Stille.

O Gott.

„Lucan?“, schrie sie. Panik schnürte ihr die Kehle zu. „Lucan!“

Wieder rannte sie. Nicht in Richtung Straße, sondern dahin zurück, von wo sie gekommen war. Wo, wie sie fürchtete, ihr Herz in eine Million Stücke zerbrechen würde, wenn Lucan dort nicht unverletzt stand.

Mit verschwommener Besorgnis dachte sie daran, dass der junge Mann aus der Polizeiwache – Lakai, so hatte ihn Lucan seltsamerweise bezeichnet – ihr womöglich auflauerte oder vielleicht schon nachsetzte, um sie ebenfalls zu erledigen. Aber sie schob die Sorge um ihre eigene Sicherheit beiseite, als sie sich dem kleinen Fleck des vom Mondlicht erleuchteten Spielplatzes näherte.

Sie musste sicherstellen, dass es Lucan gut ging.

Wichtiger als alles andere war jetzt, dass sie bei ihm war.

Sie erblickte die Silhouette einer dunklen Gestalt auf dem grasbewachsenen Platz – Lucan. Breitbeinig stand er da, die Arme drohend ausgestreckt. Vor ihm hockte der Angreifer auf dem Hintern und versuchte aus Lucans Reichweite zu krabbeln.

„Gott sei Dank“, flüsterte Gabrielle erleichtert.

Lucan war unversehrt, nun sollten sich die Behörden um den gefährlichen Irren kümmern, der sie beide hätte töten können.

Sie ging ein Stück näher heran.

„Lucan“, rief sie, aber er schien sie nicht zu hören.

Er starrte auf den Mann zu seinen Füßen herab, dann beugte er sich vor. Gabrielles Ohren vernahmen einen merkwürdig erstickt klingenden Laut, und sie erkannte schockiert, dass Lucan den Mann an der Kehle gepackt hielt.

Er hob ihn mit einer Hand in die Höhe.

Ihre Schritte wurden langsamer, als ihr Verstand darum kämpfte, sich einen Reim auf das zu machen, was sie vor sich sah.

Lucan war stark, daran bestand kein Zweifel, und der Typ von der Wache wog wahrscheinlich höchstens zwanzig Kilo mehr als sie, aber ihn mit einer Hand hochzuheben … das war nahezu undenkbar.

Seltsam distanziert schaute sie zu, wie Lucan sein Opfer höher hob. Der junge Mann wand sich und wehrte sich vergeblich gegen den Klammergriff, der ihm allmählich die Luft abschnitt. Ein grauenhafter Heulton drang an ihre Ohren und steigerte sich langsam, bis er alles andere übertönte.

Im Mondlicht sah sie Lucans Mund. Er stand offen, die Zähne waren gefletscht. Der Mund, aus dem dieses grässliche, unwirkliche Geräusch kam.

„Hör auf“, stammelte sie, den Blick auf ihn geheftet und plötzlich krank vor Angst. „Bitte … Lucan, hör auf.“

Dann hörte das durchdringende Heulen auf und machte neuem Grauen Platz, als Lucan sich den zuckenden Körper vors Gesicht hielt und gemächlich seine Zähne in das Halsfleisch des Mannes grub. Ein Blutschwall spritzte aus der tiefen Wunde, das Rot tiefschwarz in der nächtlichen Dunkelheit des grauenhaften Szenarios. Lucan stand reglos da und hielt die Wunde, aus der das Blut schoss, an seinen Mund.

Er trank daraus.

„O mein Gott“, stöhnte Gabrielle und hielt sich die zitternden Hände vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. „Nein, nein, nein, nein … oh, Lucan … nein!“

Sein Kopf fuhr hoch, als habe er ihre leise Not gehört. Oder vielleicht hatte er plötzlich ihre Anwesenheit gespürt, keine hundert Meter weg von da, wo er stand, wild und Grauen erregend. Sie hatte noch nie zuvor etwas Derartiges gesehen.

Stimmt nicht, widersprach ihr gemarterter Verstand.

Sie hatte schon einmal solche Gewalt zu sehen bekommen. Damals hatte ihr gesunder Menschenverstand sich dagegen gewehrt, den Horror beim Namen zu nennen, doch nun stieg er wie ein kalter, rauer Wind in ihr auf.

„Vampir“, flüsterte sie und starrte Lucan in das blutverschmierte Gesicht und die wilden, glühenden Augen.