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„Komm schon, komm schon. Geh auf, verdammt!“

Gabrielle saß hinter dem Steuer eines schwarzen BMW-Coupes und wartete ungeduldig darauf, dass das riesige Tor des Anwesens aufglitt und sie hinausließ. Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass sie gezwungen gewesen war, den Wagen der Fahrzeugflotte ohne Erlaubnis zu nehmen, aber nach dem, was mit Lucan passiert war, musste sie dringend hier weg. Da das gesamte Grundstück mit einem Hochspannungszaun umgeben war, blieb bloß eine einzige Alternative.

Sie würde sich eine Möglichkeit ausdenken, den BMW zurückzubringen, sobald sie zu Hause war.

Sobald sie wieder da war, wo sie wirklich hingehörte.

Sie hatte Lucan heute Nacht alles gegeben, was sie konnte, aber es hatte nicht gereicht. Sie war darauf vorbereitet gewesen, dass er sie zurückwies und ihrem Angebot, ihn zu lieben, widerstand, aber es gab nichts, was sie tun konnte, wenn er sie aus seinem Leben ausschloss. Wie er es heute Nacht getan hatte.

Sie hatte ihm ihr Blut, ihren Körper und ihr Herz gegeben, und er hatte sie zurückgewiesen.

Jetzt hatte sie alle Energie aufgebraucht.

Allen Kampfgeist.

Wenn er so entschlossen war, allein zu sein, wer war sie, dass sie ihn dazu bringen wollte, sich zu ändern? Wenn er sich umbringen wollte, hatte sie todsicher nicht die Absicht, herumzusitzen und darauf zu warten, dass es passierte.

Sie fuhr jetzt nach Hause.

Die schweren Eisentore öffneten sich endlich weit genug, um sie hinauszulassen. Gabrielle gab Gas und brauste auf die ruhige, dunkle Straße hinaus. Sie hatte keine genaue Vorstellung davon, wo sie sich befand, bis sie ein paar Kilometer gefahren war und auf eine vertraute Kreuzung stieß. Dort bog sie nach links auf die Charles Street ein und fuhr benommen wie sie war Richtung Beacon Hill.

Ihr Häuserblock wirkte auf sie, als sie den Wagen am Straßenrand vor ihrer Wohnung parkte, viel kleiner als früher. Die Lampen ihrer Nachbarn brannten, aber trotz des gelben Lichtscheins erschien ihr das Backsteingebäude irgendwie düster.

Gabrielle stieg die kurze Vordertreppe hinauf und fischte ihren Schlüssel aus ihrer Handtasche. Ihre Hand stieß an einen kleinen Dolch, den sie aus Lucans Waffenschrank genommen hatte – eine kleine Absicherung für den Fall, dass sie auf dem Heimweg in irgendwelche Schwierigkeiten geriet.

Das Telefon in der Wohnung klingelte, als sie die Wohnung betrat und das Licht im Vorraum einschaltete. Sie wartete darauf, dass sich der Anrufbeantworter einschaltete, und drehte sich um, um alle Schlösser und Riegel an der Tür zu verschließen.

Aus der Küche hörte sie Kendras abgehackt klingende Stimme aus dem Gerät.

„Es ist sehr unhöflich von dir, mich so zu ignorieren, Gabby.“ Ihre Freundin klang seltsam schrill. Stocksauer. „Ich muss dich sehen. Es ist wichtig. Wir müssen unbedingt miteinander reden, du und ich.“

Gabrielle wanderte durch das Wohnzimmer und bemerkte die leeren Stellen an den Wänden, an denen Lucan einige ihrer gerahmten Fotografien abgenommen hatte. Es schien ihr ewig her, dass er in ihre Wohnung gekommen war und ihr die unfassbare Wahrheit über sich selbst und die Schlacht, die von ihm und seinesgleichen geführt wurde, erzählt hatte.

Vampire, dachte sie und stellte überrascht fest, dass dieses Wort sie nicht länger erschreckte.

Wahrscheinlich konnte sie momentan nicht mehr vieles erschrecken.

Und sie hatte keine Angst mehr, wie ihre Mutter den Verstand zu verlieren. Selbst diese tragische Geschichte hatte nun eine neue Bedeutung bekommen. Ihre Mutter war gar nicht verrückt gewesen. Sie war eine verängstigte junge Frau, die eine Gewalt erlebt hatte, die nur wenige Menschen mit dem Verstand erfassen konnten.

Gabrielle hatte nicht vor, sich von dieser Gewalt vernichten zu lassen. Sie war zu Hause, gewissermaßen, und sie würde sich einen Weg überlegen, um sich wieder in ihr altes Leben einzufinden. Sie ließ ihre Handtasche auf die Küchentheke fallen und ging zum Anrufbeantworter hinüber. Die Nachrichtenanzeige zeigte die Zahl 18.

„Das ist doch wohl nicht euer Ernst“, murmelte sie und drückte den Abspielknopf.

Während das Gerät seine Arbeit machte, ging Gabrielle ins Badezimmer, um ihren Hals zu untersuchen. Die Wunden von Lucans Biss glühten dunkelrot unter ihrem Ohr, direkt neben der Träne und dem zunehmenden Mond, die sie als Stammesgefährtin kennzeichneten. Sie untersuchte die beiden Löcher und die leuchtenden blauen Flecken, die Lucan auf ihrem Körper hinterlassen hatte, stellte aber fest, dass es nicht wehtat. Der dumpfe, leere Schmerz zwischen ihren Beinen tat mehr weh, aber auch er verblasste neben dem Schmerz, der seit Lucans Zurückweichen vor ihr heute Nacht, so als ob sie Gift wäre, ihr Herz erfasst hatte. Er war aus dem Raum gestolpert, als hätte er nicht schnell genug von ihr wegkommen können.

Gabrielle drehte den Wasserhahn auf und wusch sich, wobei sie die Nachrichten, die in der Küche abgespielt wurden, nur am Rande mitbekam. Als der Anrufbeantworter zur vierten oder fünften Nachricht kam, fiel ihr etwas Merkwürdiges auf.

Alle Nachrichten stammten von Kendra, und alle waren innerhalb von vierundzwanzig Stunden aufgezeichnet worden. Manchmal lagen kaum fünf Minuten zwischen den einzelnen Anrufen.

Und Kendras Tonfall war bei den letzten Nachrichten deutlich angesäuerter als in der ersten Nachricht. Da hatte ihre Stimme scherzhaft und lässig geklungen, sie hatte Gabrielle zum Essen, auf einen Drink oder zu etwas ähnlich Nettem einladen wollen. Dann wurde der Ton der Einladung etwas nachdrücklicher, und Kendra erklärte, dass sie ein Problem hätte und Gabrielles Rat bräuchte.

Die letzten Nachrichten waren scharf klingende Befehle, Kendra erwartete bald von ihr zu hören.

Als Gabrielle zu ihrer Handtasche lief und die Voicemail ihres Mobiltelefons überprüfte, fand sie noch weitere solcher Nachrichten vor.

Kendras wiederholte Anrufe.

Der seltsam scharfe Klang ihrer Stimme.

Ein Kältegefühl überkam Gabrielle, als sie an Lucans Warnung wegen Kendra dachte. Dass sie, falls sie den Rogues zum Opfer gefallen war, nicht mehr ihre Freundin war. Dass sie dann so gut wie tot war.

Das Telefon in der Küche fing erneut an zu läuten.

„Oh mein Gott“, keuchte sie, ergriffen von einer immer größer werdenden Angst.

Sie musste hier raus.

Ein Hotel, dachte sie. Irgendwo weit weg. Irgendwo, wo sie sich eine Weile verstecken konnte, um zu entscheiden, was sie tun sollte.

Gabrielle griff nach ihrer Handtasche und den Autoschlüsseln und rannte beinahe zur Haustür. Sie schloss hastig die Schlösser auf und drehte den Türknauf. Als die Tür aufschwang, starrte sie in ein vertrautes Gesicht, das früher einmal einer Freundin gehört hatte.

Jetzt war sie sicher, dass es das Gesicht einer Lakaiin war.

„Bist du irgendwohin unterwegs, Gabby?“ Kendra nahm ihr Handy vom Ohr und klappte es zu. Das Klingeln in der Wohnung hörte auf. Kendra lächelte dünn, und ihr Kopf war in einem merkwürdigen Winkel geneigt. „Du bist in letzter Zeit furchtbar schlecht zu erreichen.“

Gabrielle zuckte zusammen, als sie den verlorenen, ausdruckslosen Blick in diesen starren Augen sah. „Lass mich vorbei, Kendra. Bitte.“

Die brünette Frau lachte, ein lautes Glucksen mit offenem Mund, das sich dann in ein luftloses Zischen verwandelte. „Tut mir leid, Süße. Geht nicht.“

„Du gehörst zu ihnen, oder?“, fragte Gabrielle, erschüttert, als sie es nun mit eigenen Augen sah. „Du gehörst zu den Rogues. Mein Gott, Kendra – was haben sie dir angetan?“

„Pst“, erwiderte Kendra und hob den Finger an die Lippen, während sie den Kopf schüttelte. „Nicht mehr reden. Wir müssen jetzt gehen.“

Als Kendra nach ihr griff, zuckte Gabrielle zurück. Sie dachte an den Dolch in ihrer Handtasche und fragte sich, ob sie die Klinge herausholen konnte, ohne dass Kendra es bemerkte. Und falls sie es konnte, wäre sie dann wohl in der Lage, sie gegen ihre Freundin einzusetzen?

„Fass mich nicht an“, sagte sie und bewegte ihre Finger langsam unter die Lederklappe ihrer Tasche. „Ich gehe mit dir nirgendwohin.“

Kendra fletschte die Zähne – eine schreckliche Parodie eines Lächelns. „Oh, ich denke, das solltest du aber tun, Gabby. Schließlich hängt Jamies Leben davon ab.“

Kalte Furcht durchdrang Gabrielles Herz. „Was?“

Kendra drehte den Kopf in Richtung der wartenden Limousine. Ein getöntes Seitenfenster glitt herunter, und da saß Jamie auf dem Rücksitz zwischen zwei riesigen Schlägertypen.

„Gabrielle?“, rief er aus, und in seinen Augen war Panik zu erkennen.

„Oh nein. Nicht Jamie. Kendra, bitte lass es nicht zu, dass ihm jemand etwas tut.“

„Das liegt ganz in deiner Hand“, entgegnete Kendra höflich. Sie nahm Gabrielle ihre Handtasche aus der Hand. „Du wirst hier nichts brauchen.“

Sie forderte Gabrielle durch einen Wink auf, zu dem im Leerlauf haltenden Wagen voranzugehen. „Sollen wir?“

 

Lucan legte zwei C4-Päckchen unter die riesigen Warmwasserbereiter in dem Kesselraum der Nervenheilanstalt. Dahinter kauernd, platzierte er den elektronischen Zünder und sprach dann in sein Mikro, um Bericht zu erstatten.

„Der Kesselraum kann abgehakt werden“, teilte er Niko am anderen Ende mit. „Ich habe noch drei weitere Einheiten zu legen und dann bin ich hier weg …“

Er erstarrte, als er draußen vor der geschlossenen Tür schlurfende Schritte hörte.

„Lucan?“

„Scheiße. Ich bekomme Besuch“, murmelte er leise, während er seinen Platz verließ und in die Nähe der Tür schlich, um sich auf den Angriff vorzubereiten.

Er legte seine behandschuhte Hand um den Griff einer gefährlichen, gezackten Stichwaffe, die in einer an seinem Oberkörper befestigten Scheide steckte. Zwar hatte er auch eine Schusswaffe dabei, aber sie waren sich alle einig gewesen, dass bei dieser Mission keine Feuerwaffen benutzt werden sollten. Es war nicht nötig, dass die Rogues etwas von ihrer Anwesenheit mitbekamen, und da Niko draußen die Hauptleitung manipulierte und Gas ins Gebäude strömen ließ, war die Gefahr groß, dass durch den Funken einer abgefeuerten Kugel der ganze Laden vorzeitig in die Luft ging –

Der Türknauf des Kesselraumes wurde gedreht.

Lucan nahm den Gestank eines Rogue und den unverkennbaren Kupfergeruch von menschlichem Blut wahr. Gedämpftes animalisches Grunzen vermischte sich mit dem feuchten Schmatzen und dem schwachen Wimmern eines Opfers, das ausgetrunken wurde. Die Tür öffnete sich und ließ einen Schwall fauliger Luft herein, als der Rogue begann, sein sterbendes Spielzeug in die dunkle Nische zu zerren.

Lucan wartete hinter der Tür, bis sich der große Kopf des Rogue direkt vor ihm befand. Das Arschloch war zu sehr mit seiner Beute beschäftigt, um die Bedrohung zu bemerken. Lucan stieß hart mit seiner Hand nach oben und vergrub die Klinge in dem Brustkorb des Rogue. Er brüllte auf. Der riesige Kiefer öffnete sich weit, und gelbe Augen traten hervor, als das Titan durch sein Blutsystem schoss.

Der Mensch sackte zu Boden und verkrampfte sich im Todeskampf, während der Rogue, der von ihm getrunken hatte, zu zischen und sich zu schütteln begann. Es bildeten sich Blasen, als wäre er mit Säure übergossen worden.

Kaum war er zusammengebrochen und hatte sich aufgelöst, als auch schon ein weiterer Rogue durch den Gang gestampft kam. Lucan sprang auf, um sich dem neuen Angriff zu stellen, aber bevor er den ersten Stoß landen konnte, wurde das Arschloch von hinten von einem schwarz gekleideten Arm von den Beinen gerissen.

Eine scharfe Klinge blitzte auf, wurde quer über die Kehle des Rogue gezogen und trennte den großen Kopf mit einem sauberen Schnitt vom Körper.

Der riesige Körper fiel wie Müll auf den Boden. Tegan stand da, von seiner Klinge tropfte Blut, und seine grünen Augen waren ganz ruhig. Er war eine Tötungsmaschine, und der grimmige Ausdruck seines Mundes schien sein Versprechen von vorhin zu wiederholen, dass Tegan, sollte die Blutgier je die Oberhand über Lucan gewinnen, sicherstellen würde, dass Lucan selbst den Zorn des Titans zu spüren bekommen würde.

Wenn er den Krieger jetzt ansah, hatte Lucan keinen Zweifel daran, dass, sollte Tegan je kommen, um ihn zu töten, es für ihn vorbei sein würde, bevor er überhaupt wusste, dass sich der Vampir im Raum befand.

Er erwiderte diesen kühlen, tödlichen Blick und nickte zum Zeichen seiner Dankbarkeit.

„Sprich mit mir“, drang Nikos Stimme Lucan ins Ohr. „Alles okay da drin?“

„Ja. Die Luft ist rein.“ Er säuberte seinen Dolch an dem Hemd des Menschen und steckte ihn dann wieder in die Scheide. Als er aufblickte, war Tegan bereits verschwunden, hatte sich in Luft aufgelöst wie der Geist des Todes, der er war.

„Ich mache mich jetzt auf den Weg zu den nördlichen Eingängen, um den Rest der Mitbringsel anzubringen“, teilte er Nikolai mit, während er den Kesselraum verließ und in einem leeren Gangabschnitt verschwand.