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Gabrielles Tour durch das labyrinthische Quartier der Krieger führte sie durch Privatquartiere, Versammlungseinrichtungen, einen Trainingsraum, der mit einer erstaunlichen Sammlung von Waffen und Kampfausrüstung ausgestattet war, einen Bankettsaal, eine Art Kapelle und zahllose andere verborgene Räume, die diversen Zwecken dienten. Schon längst verschwamm alles in ihrem Kopf zu einem unübersichtlichen Gewirr.

Sie hatte auch Eva getroffen, die genauso war, wie Savannah gesagt hatte. Rios Stammesgefährtin, temperamentvoll, charmant und so schön wie ein Mannequin, hatte darauf bestanden, alles über Gabrielle und ihr Leben an der Oberfläche zu erfahren. Eva stammte aus Spanien und sprach davon, dass sie eines Tages mit Rio dahin zurückkehren wollte, wo die beiden zur richtigen Zeit eine Familie gründen wollten. Es war eine angenehme neue Bekanntschaft, und ihr angeregtes Gespräch wurde erst durch die Ankunft von Rio unterbrochen. Sobald er eintraf, wandte Eva sich ganz ihrem Mann zu, und Savannah führte Gabrielle weiter und zeigte ihr noch andere Teile des Quartiers.

Es war beeindruckend, wie riesengroß, aber dennoch durchorganisiert dieser Ort war. Wenn Gabrielle je die Vorstellung gehabt hatte, dass Vampire in höhlenartigen, muffigen, alten Grüften lebten, so waren alle solchen Bilder wie weggeblasen, nachdem Gabrielle und Savannah ihren Bummel beendet hatten.

Die Krieger und ihre Partnerinnen lebten hochmodern inmitten von Hightech-Ausstattung und verfügten praktisch über jede Art von Luxus, den man sich nur wünschen konnte. Aber am allermeisten faszinierte Gabrielle der Raum, in dem sie und Savannah sich nun aufhielten. Bücherschränke, die vom Boden bis zur Decke reichten, waren in die hohen Wände des Zimmers eingelassen, wobei das glänzende dunkle Holz gut und gern Tausende von Büchern enthielt. Zweifellos handelte es sich bei den meisten um seltene Ausgaben. Aufwendig gepunzte Ledereinbände säumten die Mehrzahl der Borde, und das sanfte Licht der Bibliothek ließ die goldenen Einlegearbeiten auf ihren Rücken schimmern.

„Wow“, keuchte Gabrielle. Sie stand in der Mitte des Raumes und drehte sich, um die unglaubliche Büchersammlung zu bewundern.

„Gefällt es Ihnen?“, fragte Savannah, die im Türeingang stehen geblieben war.

Gabrielle nickte nur. Sie war zu sehr damit beschäftigt, das alles aufzunehmen, um zu sprechen. Als sie sich umdrehte, blieb ihr Blick an einem großartigen Wandteppich hängen, der die Rückwand bedeckte. Es handelte sich um eine nächtliche Darstellung von einem riesigen Ritter in schwarzer Kleidung mit einem silbernen Kettenhemd, der auf einem dunklen, sich aufbäumenden Pferd saß. Der Kopf des Ritters war unbedeckt, sodass sein langes, ebenholzschwarzes Haar frei im Wind wehen konnte wie die flatternden Wimpel an der Spitze seiner blutigen Lanze und auf der Brüstung der düsteren Burg, die im Hintergrund auf einem Hügel dräute.

Die Handarbeit war so gekonnt und präzise ausgeführt, dass Gabrielle die durchdringenden, blassgrauen Augen und die kräftigen hohen Wangenknochen des Mannes erkennen konnte. Sein zynisch, beinahe verächtlich verzogener Mund hatte etwas Vertrautes.

„O mein Gott“, murmelte sie. „Ist das etwa –“

Savannah antwortete mit einem Achselzucken und einem amüsierten kleinen Lachen. „Möchten Sie eine Weile hier bleiben? Ich muss nach Danika sehen, aber das bedeutet nicht, dass Sie gehen müssen, wenn Sie lieber –“

„Soll das ein Scherz sein? Klar. Ja. Es würde mir wahnsinnig gut gefallen, hier eine Weile zu bleiben. Bitte, lassen Sie sich Zeit, und machen Sie sich keine Gedanken um mich.“

Savannah lächelte. „Ich komme bald wieder, dann können wir uns darum kümmern, ein Gästezimmer für Sie herzurichten.“

„Vielen Dank“, entgegnete Gabrielle, die es überhaupt nicht eilig hatte, dieses unerwartete Refugium zu verlassen.

Als die andere Frau verschwunden war, wusste Gabrielle nicht, was sie sich zuerst ansehen sollte: die Literaturgoldgrube oder das mittelalterliche Kunstwerk mit Lucan Thorne in der Hauptrolle, das aussah, als stammte es etwa aus dem vierzehnten Jahrhundert.

Beides, entschied sie. Sie zog einen wunderschönen Band französischer Dichtung – vermutlich eine Erstausgabe – aus dem Regal und nahm ihn mit zu einem ledernen alten Lesesessel, der unter dem Wandteppich aufgestellt war. Das Buch legte sie auf einen zierlichen antiken Tisch. Dann konnte sie nicht anders, als minutenlang zu Lucans Abbild hinaufzustarren, das so meisterhaft in die Seidenfäden eingewoben war. Sie streckte die Hand aus, aber sie wagte nicht, das Kunstwerk zu berühren, das Museumsqualität besaß.

Mein Gott, dachte sie ehrfürchtig, als ihr die unglaubliche Realität dieser fremdartigen anderen Welt allmählich bewusst wurde.

Die ganze Zeit hatten diese Leute neben der menschlichen Welt existiert.

Unfassbar.

Und wie klein sich ihre eigene Welt angesichts dieses neuen Wissens anfühlte. Alles, was sie über das Leben zu wissen geglaubt hatte, war in wenigen Stunden durch die lange Geschichte von Lucan und dem Rest seiner Art in den Schatten gestellt worden.

Eine unvermittelte leichte Bewegung der Luft versetzte Gabrielles Körper sofort in Alarmzustand. Sie wirbelte herum und erschrak, da der wirkliche Lucan aus Fleisch und Blut hinter ihr auf der Türschwelle stand, eine breite Schulter gegen den Türpfosten gelehnt. Sein Haar war kürzer als das des Ritters, und in seinen Augen stand inzwischen ein leicht gequälter Ausdruck – sein Blick war nicht mehr so gnadenlos erwartungsvoll, wie ihn die Nadel des Künstlers dargestellt hatte.

Lucan leibhaftig war wesentlich anziehender, fand sie, und er strahlte eine innere Kraft aus, selbst wenn er nur ruhig dastand. Sogar wenn er sie finster anstarrte, so wie jetzt.

Gabrielles Herzschlag beschleunigte sich mit einer Mischung aus Erwartung und Angst, als er sich vom Türrahmen abstieß und den Raum betrat. Sie sah ihn an, sah ihn wirklich an. Sie sah ihn als das, was er war: alterslose Stärke, wilde Schönheit, unergründliche Macht.

Ein düsteres Rätsel, so verführerisch wie gefährlich.

„Was machst du hier?“ In seiner Stimme lag ein leichter Vorwurf.

„Gar nichts“, antwortete sie schnell. „Nein, um ehrlich zu sein, ich bestaune alle diese wunderschönen Sachen hier. Savannah hat mir das Quartier gezeigt.“

Er knurrte, und sein finsterer Blick veränderte sich nicht, als er sich fest in den Nasenrücken kniff.

„Wir haben Tee getrunken und uns ein bisschen unterhalten“, fügte Gabrielle hinzu. „Eva hat uns ebenfalls Gesellschaft geleistet. Sie sind beide sehr nett. Und dieser Ort ist wirklich beeindruckend. Wie lange lebt ihr schon hier, du und die anderen Krieger?“

Sie bemerkte, dass er wenig Interesse an einer Unterhaltung hatte, aber er beantwortete ihre Frage, indem er lässig eine kräftige Schulter hob. „Gideon und ich haben diesen Standort 1898 begründet, und zwar als Hauptquartier für die Jagd auf die Rogues, die in diese Region gezogen waren. Dann haben wir ein Team aus den besten Kriegern rekrutiert, die an unserer Seite kämpfen sollten. Dante und Conlan waren die ersten. Nikolai und Rio kamen später hinzu. Und Tegan.“

Diesen letzten Namen kannte Gabrielle nicht. „Tegan?“, fragte sie. „Savannah hat ihn nicht erwähnt. Und er war auch nicht da, als du mich den anderen vorgestellt hast.“

„Nein, das war er nicht.“

Als er seine Worte nicht näher erklärte, gewann Gabrielles Neugier die Oberhand. „Handelt es sich bei ihm um einen, den ihr verloren habt, wie Conlan?“

„Nein. Nicht auf diese Art.“ Lucans Worte klangen harsch, als er über dieses letzte Mitglied seines Kaders sprach, als wäre dies eine alte Wunde, die er lieber nicht aufreißen wollte.

Er starrte sie noch immer unverwandt an, und noch immer stand er so nah vor ihr, dass sie das Heben und Senken seiner Brust sehen konnte, die Wülste seiner harten Muskeln, die sich unter seinem maßgeschneiderten schwarzen Hemd ausdehnten und zusammenzogen. Sie glaubte sogar die Wärme seines Körpers zu spüren, die in Wellen von ihm ausging.

Hinter ihm starrte sein gewebtes Konterfei mit glühender Zielstrebigkeit vom Wandbildteppich herab. Der junge Ritter trug einen grimmig entschlossenen Ausdruck zur Schau. Er war überzeugt, jede Beute zu erobern, die er aufs Korn nahm. Gabrielle erblickte jetzt eine dunklere Schattierung dieser Entschlossenheit, als der lebendige Lucan sie langsam von Kopf bis Fuß musterte.

„Diese Webarbeit ist unglaublich gut.“

„Sie ist sehr alt“, er trat näher und starrte Gabrielle an. „Aber ich nehme an, das weißt du mittlerweile.“

„Sie ist wunderschön. Und du siehst so wild aus, als wärst du bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen.“

„Das war ich auch.“ Er warf einen Blick auf den Wandteppich und schmunzelte. „Ich ließ das Werk ein paar Monate nach dem Tod meiner Eltern anfertigen. Das Schloss, das im Hintergrund brennt, gehörte meinem Vater. Ich habe es dem Erdboden gleichgemacht, nachdem ich ihm den Kopf abgeschlagen hatte, weil er meine Mutter in einem Anfall von Blutgier getötet hat.“

Gabrielle keuchte auf. Etwas Derartiges hatte sie nicht erwartet. „Mein Gott. Lucan …“

„Ich fand sie in einer Blutlache in unserer Halle, die Kehle aufgerissen. Er versuchte nicht einmal, gegen mich zu kämpfen. Er wusste, was er getan hatte. Er hatte sie geliebt, so sehr, wie einer von seiner Art das konnte, aber sein Durst war stärker. Er konnte seine Natur nicht verleugnen.“ Lucan zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihm einen Gefallen getan, indem ich seiner Existenz ein Ende setzte.“

Gabrielle nahm seinen kühlen Gesichtsausdruck wahr. Sie fühlte sich genauso betroffen von dem, was sie soeben gehört hatte, wie von dem gleichgültigen Ton, in dem er es berichtet hatte. Jeder romantische Reiz, den sie noch vor einer Minute in dem Wandbildteppich gesehen hatte, verschwand unter dem Schatten der Tragödie, die er in Wahrheit wiedergab.

„Warum wolltest du etwas so Schönes als Erinnerungshilfe an so eine grauenhafte Begebenheit?“

„Grauenhaft?“ Er schüttelte den Kopf. „Mein Leben begann in jener Nacht. Ich hatte nie ein richtiges Ziel gehabt, bis ich bis zu den Knöcheln im Blut meiner Familie watete und mir klar wurde, dass ich etwas ändern musste – für mich selbst und für den Rest meines Volkes. In dieser Nacht erklärte ich den letzten verbliebenen Alten der Alienrasse meines Vaters den Krieg. Und ebenso allen Angehörigen des Stammes, die ihnen als Rogues dienten.“

„Das ist eine lange Zeit für einen Krieg.“

„Ich hätte viel früher damit anfangen sollen.“ Lucan bedachte Gabrielle mit einem stählernen Blick. Und warf ihr dann ein kaltes Lächeln zu. „Ich werde niemals aufhören. Das ist das, wofür ich lebe – der Tod ist mein Gewerbe.“

„Eines Tages wirst du siegen, Lucan. Dann wird die ganze Gewalt endlich vorbei sein.“

„Das meinst du, ja?“, erwiderte er gedehnt, und in seiner Stimme lag eine Spur Hohn. „Und worauf gründet sich diese Zuversicht? Auf siebenundzwanzig kurze Lebensjahre?“

„Sie gründet sich zunächst einmal auf Hoffnung. Auf Vertrauen. Ich muss einfach glauben, dass das Gute immer siegen wird. Du nicht? Ist das nicht der Grund, warum ihr tut, was ihr tut – du und die anderen, die hier bei dir sind –, weil ihr die Hoffnung habt, dass ihr die Welt besser machen könnt?“

Er lachte. Er blickte ihr tatsächlich direkt in die Augen und lachte. „Ich töte Rogues, weil ich das genieße. Ich bin verdammt gut darin. Zu den Motiven der anderen kann ich nichts sagen.“

„Was ist mit dir los, Lucan? Du wirkst so …“ – Stinksauer? Streitlustig? Ein bisschen psychotisch? – „Du benimmst dich hier anders als früher, wenn du mit mir zusammen warst.“

Er durchbohrte sie mit einem vernichtenden Blick. „Für den Fall, dass du es noch nicht bemerkt hast, meine Süße, du befindest dich jetzt in meiner Domäne. Die Dinge laufen hier anders.“

Die Abgebrühtheit, die er an den Tag legte, erstaunte sie, aber was Gabrielle wirklich nervös machte, war die Wut, die in seinen Augen brannte. Sie waren zu hell und hart wie Kristalle. Seine Haut war gerötet und spannte sich zu straff über seinen Wangenknochen. Und als sie jetzt genauer hinsah, erblickte sie einen dünnen Schweißfilm auf seiner Stirn.

Reine, rasende Wut entströmte ihm in Wellen. Er wirkte, als ob er irgendetwas mit bloßen Händen zerreißen wollte.

Und wie es der Zufall wollte, war sie im Augenblick das Einzige, was ihm über den Weg lief.

Schweigend schritt er an ihr vorbei und ging auf eine geschlossene Tür neben einem der großen Bücherschränke zu. Sie öffnete sich, ohne dass er sie berührte. Im Inneren war es so dunkel, dass Gabrielle erst annahm, es sei nur ein Wandschrank. Aber dann trat Lucan in die Dunkelheit, und sie hörte seine schweren Schritte auf einem Hartholzboden hallen. Offensichtlich handelte es sich um einen verborgenen Geheimgang des Quartiers.

Gabrielle stand still da und hatte das Gefühl, nur knapp einem gewaltigen Sturm entgangen zu sein, der imstande war, alles zu zermalmen. Sie ließ den Atem entweichen, den sie angehalten hatte. Vielleicht sollte sie ihn einfach in Ruhe lassen. Sich glücklich schätzen, ihm im Moment nicht in die Quere kommen zu müssen. Er wollte ihre Gesellschaft eindeutig nicht, und sie war sich auch überhaupt nicht sicher, dass sie ihn in ihrer Nähe haben wollte, wenn er so war.

Aber irgendetwas war mit ihm los – etwas stimmte entschieden nicht mit ihm. Sie musste herausfinden, was das war.

Sie schluckte ihren eigenen Anflug von Angst herunter und folgte ihm.

„Lucan?“ Auf der anderen Seite der Tür gab es überhaupt kein Licht. Da war nichts als Schwärze und das stetige Hallen von Lucans Stiefelabsätzen. „Gott, es ist so dunkel hier. Lucan, warte einen Moment. Rede mit mir.“

Sein zügiger Schritt vor ihr veränderte sich nicht. Lucan schien sie mit Bedacht hinter sich zu lassen. Vielleicht wollte er unbedingt von ihr weg.

Gabrielle bahnte sich ihren Weg durch die Dunkelheit, so gut sie konnte, die Hände zu beiden Seiten ausgestreckt, um dem gewundenen Gang besser folgen zu können.

„Wohin gehst du?“

„Raus.“

„Warum?“

„Ich habe es dir gesagt.“ In der Gegend, aus der Lucans Stimme erklang, öffnete sich mit einem Klicken ein Riegel. „Ich habe eine Aufgabe zu erledigen. In letzter Zeit war ich darin sehr nachlässig.“

Ihretwegen.

Er sprach es nicht aus, aber ihr war klar, was er meinte.

„Ich muss hier raus“, knurrte er kurz angebunden. „Höchste Zeit, dass ich meiner Strichliste noch ein paar Kerben verschaffe.“

„Die Nacht ist schon halb vorbei. Vielleicht solltest du dich lieber etwas ausruhen. Du wirkst auf mich nicht so, als ob es dir gut ginge, Lucan.“

„Ich muss kämpfen.“

Seine Schritte hatten aufgehört, dafür vernahm sie irgendwo vor sich in der Dunkelheit ein Rascheln wie von Stoff. Anscheinend war er stehen geblieben und legte seine Kleidung ab. Gabrielle schob sich weiter auf die Geräusche zu, die er verursachte. Sie hielt die Hände ausgestreckt, um sich in der scheinbar endlosen pechschwarzen Dunkelheit zu orientieren. Ihrem Gefühl nach befanden sie sich nun in einem anderen Raum; zu ihrer Rechten war eine Mauer. Gabrielle nutzte sie als Führung, als sie sich mit vorsichtigen Schritten weitertastete.

„In dem anderen Raum eben sah dein Gesicht ganz rot aus. Und deine Stimme klingt … merkwürdig.“

„Ich muss Nahrung zu mir nehmen.“ Die Worte waren leise und klangen tödlich, eine unverkennbare Drohung.

Spürte er, dass Gabrielle zurückschreckte? Offenbar ja, denn er lachte leise und kalt auf, mit sarkastischem Humor, als amüsiere ihn ihr Unbehagen.

„Aber du hast schon Nahrung zu dir genommen“, erinnerte sie ihn. „Erst letzte Nacht. Hast du nicht genug Blut getrunken, als du diesen Lakaien getötet hast? Ich dachte, ihr müsstet nur alle paar Tage Nahrung aufnehmen?“

„Du bist schon Expertin auf dem Gebiet, ja? Ich bin beeindruckt.“

Stiefel fielen mit einem dumpfen Aufprall zu Boden, einer nach dem anderen.

„Können wir hier ein Licht anmachen? Ich kann dich nicht sehen –“

„Kein Licht“, fuhr er sie an. „Ich kann dich sehr gut sehen. Ich kann deine Angst riechen.“

Sie hatte tatsächlich Angst, aber im Augenblick nicht so sehr um sich selbst, sondern mehr um ihn. Er war mehr als gereizt. Die Luft um ihn herum schien vor roher Wut zu pulsieren. Die Wellen davon trafen Gabrielle in der Dunkelheit, eine unsichtbare Macht, die sie zurückdrängte.

„Habe ich irgendwas falsch gemacht, Lucan? Sollte ich nicht hier in eurem Quartier sein? Falls du diesbezüglich deine Meinung geändert hast, muss ich dir sagen, dass ich selber auch nicht sicher bin, ob es eine gute Idee war, dass ich mitgekommen bin –“

„Für dich gibt es im Augenblick keinen anderen Ort.“

„Ich will nach Hause in meine Wohnung.“

Sie empfand schlagartig ein Gefühl von Hitze, das von ihren Armen nach oben glitt, als habe er ihr soeben einen tödlichen Blick zugeworfen. „Du bist gerade erst hergekommen. Und du kannst nicht zurück. Du bleibst, bis ich anders entscheide.“

„Das klingt aber verdammt nach einem Befehl.“

„Das ist es auch.“

Okay, jetzt war er nicht mehr der Einzige, der vor Zorn bebte. „Ich will mein Handy zurück, Lucan. Ich muss meine Freunde anrufen und mich überzeugen, dass es allen gut geht. Dann werde ich mir ein Taxi rufen, nach Hause fahren und versuchen, das Durcheinander zu ordnen, das aus meinem Leben geworden ist.“

„Das kommt nicht in Frage.“ Gabrielle hörte das metallische Klirren von Waffen und das raue Schaben einer Schublade, die geöffnet wurde. „Du befindest dich jetzt in meiner Welt, Gabrielle. Hier bin ich das Gesetz. Und du stehst unter meinem Schutz, bis ich es als sicher erachte, dich davon zu befreien.“

Sie unterdrückte den Fluch, der ihr auf der Zunge lag. Ganz knapp. „Hör mal, deine Position als wohlwollender Herrscher reichte früher möglicherweise sehr viel weiter, aber du darfst nicht denken, dass du das auf mich anwenden kannst –“

Das wütende Knurren, das ihm in der Dunkelheit entwich, ließ ihr die Haare im Nacken zu Berge stehen. „Du würdest dort draußen ohne mich keine Nacht überleben, verstehst du? Wenn ich nicht wäre, hättest du dein gottverdammtes erstes Lebensjahr nicht überlebt!“

Gabrielle stand in der Dunkelheit und wurde ganz still. „Was hast du gesagt?“

Sie erhielt nichts als ein langes Schweigen zur Antwort.

„Was meinst du damit? Ich hätte nicht überlebt …“

Er fluchte durch zusammengebissene Zähne. „Ich war da, Gabrielle. Vor siebenundzwanzig Jahren, als eine hilflose junge Mutter an einem Busbahnhof in Boston von einem Rogue angegriffen wurde, da war ich dabei.“

„Meine Mutter“, murmelte sie, und ihr Herz hämmerte dumpf in ihrer Brust. Sie tastete nach der Mauer hinter ihr, lehnte sich mit dem Rücken dagegen, denn sie hatte das Gefühl, Halt zu brauchen.

„Sie war bereits gebissen worden. Er war dabei, sie auszusaugen, als ich das Blut roch und draußen vor dem Bahnhofsgebäude auf sie stieß. Er hätte sie umgebracht. Und er hätte auch dich getötet.“

Gabrielle konnte kaum glauben, was sie hörte. „Du hast uns gerettet?“

„Ich schritt ein und gab deiner Mutter die Möglichkeit zu fliehen. Sie war durch den Biss dem Tod schon zu nahe. Nichts konnte sie mehr retten. Aber sie wollte dich retten. Sie ist mit dir in ihren Armen weggerannt.“

„Nein. Ich war ihr gleichgültig. Sie hat mich verlassen. Sie hat mich in einen Mülleimer gesteckt“, flüsterte Gabrielle. Ihre Kehle brannte, als sie diese Worte aussprach, und sie spürte den alten Schmerz, verlassen worden zu sein.

„Der Biss hat sie wohl in einen Schockzustand versetzt. Wahrscheinlich war sie verwirrt und wollte dich irgendwohin legen, wo du in Sicherheit warst. Wo du vor der Gefahr geschützt warst.“

Gott, wie lange hatte sie sich Fragen über die junge Frau gestellt, die sie zur Welt gebracht hatte? Wie viele Szenarien hatte sie sich ausgedacht, um zumindest sich selbst zu erklären, was wohl in der Nacht geschehen war, in der sie als Säugling auf der Straße gefunden wurde? Niemals wäre sie auf so etwas gekommen.

„Wie hieß sie?“

„Ich weiß es nicht. Es war mir gleichgültig. Sie war nur ein weiteres Opfer der Rogues. Ich habe nicht mehr an die ganze Geschichte gedacht, bis du vorhin in deiner Wohnung deine Mutter erwähnt hast.“

„Und ich?“, fragte sie im Versuch, alle Stücke des Puzzles zusammenzusetzen. „Als du mich das erste Mal besucht hast, nach dem Mord, den ich gesehen hatte, wusstest du da, dass ich das Baby war, das du gerettet hattest?“

Er ließ ein trockenes Lachen ertönen. „Ich hatte keine Ahnung. Ich kam zu dir, weil ich beim Nachtclub deinen Jasminduft gerochen habe und dich wollte. Ich musste wissen, ob dein Blut so süß schmeckte, wie der Rest von dir roch.“

Diese Worte ließen sie an all den Genuss denken, den Lucan ihr mit seinem Körper bereitet hatte. Nun fragte sie sich, wie es sich angefühlt hätte, ihn an ihrem Hals saugen zu lassen, während er in sie eindrang. Schockiert stellte sie fest, dass sie darauf mehr als nur neugierig war. „Aber das hast du nicht getan. Du hast nicht …“

„Und das werde ich auch nicht“, entgegnete er knapp. Ein weiterer Fluch drang aus der Dunkelheit zu ihr herüber. Diesmal war es mehr ein gequältes Fauchen. „Ich hätte dich nie angerührt, wenn ich gewusst hätte …“

„Wenn du was gewusst hättest?“

„Nichts, vergiss es. Es ist nur … o Gott, mein Schädel pocht zu sehr, als dass ich reden könnte. Verschwinde einfach. Lass mich jetzt allein.“

Gabrielle blieb, wo sie war. Sie hörte, wie er sich wieder bewegte, mit einem steifen Schlurfen seiner Füße. Und dann ein erneutes grollendes, animalisches Knurren.

„Lucan? Geht es dir gut?“

„Alles okay“, knurrte er. Es klang allerdings überhaupt nicht danach. „Ich brauche … äh, verdammt.“ Sein Atem ging nun schwer und stoßweise, fast keuchte er. „Verschwinde, Gabrielle. Ich muss … allein sein.“

Etwas Schweres fiel mit einem dumpfen Knall auf den mit Teppich belegten Fußboden. Lucan stieß einen Fluch aus und stöhnte.

„Ich glaube nicht, dass du jetzt allein sein musst. Ich glaube, dass du Hilfe brauchst. Und ich kann nicht die ganze Zeit im Dunkeln mit dir reden.“ Gabrielle tastete mit der Hand an der Wand entlang und suchte blind nach einer Lichtquelle. „Ich kann nichts sehen –“

Ihre Finger ertasteten einen Lichtschalter und knipsten ihn an.

„O mein Gott.“

Lucan lag verkrümmt neben einem Kingsize-Bett auf dem Boden. Sein Hemd und seine Stiefel waren ausgezogen, und er wand sich, als habe er starke Schmerzen. Die Male auf seinem nackten Rücken und seinem Torso waren grell verfärbt. Die komplizierten Wirbel und Bögen wechselten von tiefem Violett über Rottöne bis ins Schwarze, während er sich in Krämpfen krümmte und seinen Unterleib umklammerte.

Gabrielle eilte hin und kniete sich neben ihn. Lucans Körper zog sich brutal zusammen, sodass er sich zu einer festen Kugel zusammenrollte.

„Lucan! Was ist los?“

„Verschwinde.“ Er fauchte, als sie ihn zu berühren versuchte, knurrte wild und schlug um sich wie ein verwundetes Tier. „Weg! Das … geht dich nichts an.“

„Vergiss es!“

„Verschw… aaah!“ Ein neuer Krampf schüttelte ihn, schlimmer als beim letzten Mal. „Halt dich von mir fern.“

Panik schüttelte sie, als sie sah, wie er vor Schmerzen um sich schlug. „Was passiert mit dir? Sag mir, was ich tun soll!“

Er warf sich auf den Rücken, als hätten ihn unsichtbare Hände herumgeschleudert. Die Sehnen an seinem Hals waren so straff gespannt wie Kabel. Venen und Arterien wölbten sich an seinen Bizepsen und Unterarmen. Seine Lippen waren zu einer zähnefletschenden Grimasse verzogen und entblößten die scharfen weißen Fänge. „Gabrielle, verschwinde, verdammt noch mal!“

Sie zog sich ein Stückchen zurück, um ihm etwas Platz zu lassen, aber sie hatte nicht die Absicht, ihn hier allein ohne Hilfe leiden zu lassen. „Soll ich dir jemanden holen? Ich kann gehen und Gideon Bescheid sagen –“

„Nein! Nichts sagen … geht nicht. Niemandem.“ Als er Gabrielle kurz anblickte, sah sie, dass seine Pupillen nur noch dünne schwarze Schlitze waren, halb verschlungen von Seen aus glühendem Goldgelb. Dieser wilde Raubtierblick fiel auf ihren Hals. Und heftete sich auf die Stelle, an der sie ihren eigenen Puls hämmern fühlte. Dann schauderte Lucan und presste seine Augen fest zu. „Es geht vorbei. Das tut es immer … irgendwann.“

Wie zum Beweis begann er sich langsam aufzurappeln. Es sah sehr mühsam und schwerfällig aus. Aber als sie ihm zu helfen versuchte, überzeugte sie das Knurren, das er in ihre Richtung schickte, und sie ließ hastig von ihm ab. Mit wahnsinniger Willenskraft stemmte er sich hoch und fiel dann auf der Bettkante auf den Bauch. Er keuchte schwer, und sein Körper war noch immer völlig verkrampft.

„Gibt es irgendwas, was ich tun kann?“

„Geh.“ Er stieß das Wort mit hörbaren Qualen hervor. „Geh … weg.“

Sie blieb, wo sie war, und wagte es sogar, ihn leicht an der Schulter zu berühren. „Deine Haut glüht. Du hast hohes Fieber.“

Er antwortete nicht. Vielleicht, dachte sie, war er nicht in der Lage zu sprechen, weil er seine ganze Energie darauf richten musste, sich zu ankern und von dem zu befreien, was auch immer es war, das ihn so erbarmungslos in der Gewalt hatte. Er hatte ihr gesagt, dass er heute Nacht Nahrung zu sich nehmen müsse, aber dies schien tiefer zu gehen als einfacher Hunger. Das war Leiden, so schlimm, wie sie es noch nie gesehen hatte.

Ein erschreckender Gedanke schoss ihr durch den Kopf, ausgelöst von einem Ausdruck, den Lucan vorhin gebraucht hatte.

Blutgier.

Das war die Sucht, die er als Kennzeichen der Rogues beschrieben hatte. Alles, was den Stamm von seinen gesetzlosen Rogues-Brüdern unterschied. Als sie ihn jetzt ansah, fragte sie sich unwillkürlich, wie es sein mochte, einen Hunger zu stillen, der einen auch vernichten konnte.

Und wenn die Blutgier einen erst an der Gurgel gepackt hielt, wie viel Zeit blieb einem dann noch, bis sie einen völlig in der Gewalt hatte?

Gabrielle atmete tief durch. „Bald geht es dir wieder gut“, sagte sie sanft und streichelte sein dunkles Haar. „Entspann dich einfach. Ich werde mich um dich kümmern, Lucan.“