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Das Klagegeschrei einer Frau drang an Lucans Ohr, sobald er aus dem Fahrstuhl trat, der zu den unterirdischen Tiefen des Quartiers führte. Es waren herzzerreißende Schreie tiefster Qual. Die Totenklage der Stammesgefährtin, rau und verstörend, war das einzig Hörbare in der Stille des langen Korridors.

Es griff Lucan ans Herz, diese entsetzliche Wucht des Verlustes.

Noch wusste er nicht, welcher Stammeskrieger in dieser Nacht umgekommen war. Er hielt sich nicht mit Spekulationen auf. Schnellen Schrittes eilte er in Richtung der Krankenzimmer, von wo aus Gideon ihn erst vor wenigen Minuten angerufen hatte. Als er um die Ecke kam, sah er gerade noch, wie Savannah eine untröstliche, weinende Danika aus einem der Räume führte.

Eine Schockwelle traf ihn.

Also war Conlan der Tote. Der große Highlander mit seinem ungezwungenen Lachen und dem tiefen, unerschütterlichen Ehrgefühl … tot. Bald würde er zu Staub zerfallen sein.

Himmel, er konnte die harte Wahrheit kaum fassen.

Lucan blieb stehen und verbeugte sich mit tiefem Respekt vor der Witwe des Kriegers, als sie an ihm vorbeiging. Danika klammerte sich an Savannah. Deren starke, mokkafarbene Arme schienen alles, was Conlans große blonde Stammesgefährtin vor dem Zusammenbruch bewahrte.

Savannah sah Lucan an, ihr weinender Schützling war dazu außerstande. „Sie erwarten dich drinnen“, sagte sie sanft zu ihm, und in ihren dunkelbraunen Augen glitzerten Tränen. „Sie werden deine Stärke und Führung brauchen.“

Lucan nickte Gideons Frau ernst zu, dann wandte er sich ab und erreichte mit wenigen schnellen Schritten die Krankenstation.

Leise trat er ein, um ja nicht die Besinnung dieser kurzen Zeitspanne zu zerstören, die er und seine Brüder noch mit Conlan verbringen konnten. Der Krieger hatte erschütternd schwere Verletzungen abbekommen. Schon beim Betreten des Raumes konnte Lucan den schrecklichen Blutverlust riechen. Dann stieg ihm die ganze üble Mischung aus Schießpulver, elektrischen Verbrennungen, verbogenen Metallsplittern und versengtem Fleisch in die Nase.

Es hatte eine Explosion gegeben, und Conlan war mittendrin gewesen.

Conlans Überreste lagen auf einem mit einem Leichentuch bedeckten Untersuchungstisch. Sein Körper war entkleidet bis auf den breiten Streifen aus bestickter weißer Seide, der seine Lenden bedeckte. In der kurzen Zeit, seit man ihn hergebracht hatte, war Conlans Haut gereinigt und mit einem Duftöl eingerieben worden. Das gehörte zur Vorbereitung auf die Begräbnisriten, die beim nächsten Sonnenaufgang stattfinden würden, das war noch etliche Stunden hin.

Um den Tisch, auf dem der Krieger lag, hatten sich die anderen versammelt: Dante, starr bei seiner stoischen Betrachtung des Todes. Rio mit tief gesenktem Kopf, einen Rosenkranz in den Fingern, während seine Lippen stumm Worte aus der menschlichen Religion seiner Mutter rezitierten. Gideon, ein Tuch in der Hand, betupfte behutsam eine der zahllosen grässlichen Wunden, die beinahe jeden Zentimeter von Conlans Haut bedeckten. Und Nikolai, der in dieser Nacht mit Conlan auf Patrouille gewesen war. Sein Gesicht war bleicher, als Lucan es je gesehen hatte, der Blick trostlos und leer, die Haut entstellt von Ruß, Asche und kleinen, blutenden Schnittwunden.

Sogar Tegan war da und erwies Conlan die letzte Ehre, auch wenn der Vampir sich etwas abseits des Kreises hielt, seine Augen verschattet, düster in seiner Einsamkeit.

Lucan trat an den Tisch, um seinen Platz unter seinen Brüdern einzunehmen. Er schloss die Augen und betete in der anhaltenden Stille für Conlan. Erst nach längerer Zeit brach Nikolai das Schweigen im Raum.

„Er hat mir heute Nacht da draußen das Leben gerettet. Wir hatten ein paar Arschlöcher am Green-Line-Bahnhof eingeäschert und waren schon auf dem Rückweg, da sah ich diesen Kerl aus dem Zug steigen. Ich weiß nicht, warum er mir ins Auge fiel, aber dann grinste er uns so feist und überheblich an, als ob er uns herausforderte, ihn zu verfolgen. Er hatte eine Art Schießpulver bei sich. Danach stank er auch und nach irgendeinem anderen Mist, den ich so schnell nicht zuordnen konnte.“

„TATP“, sagte Lucan. Er konnte das beißende Zeug auf Nikos Kleidung jetzt noch riechen.

„Dann wurde klar, dass der Scheißkerl einen Gürtel mit Sprengstoff um den Körper trug. Er sprang aus dem Zug, als der gerade anfahren wollte, und rannte los, eine der alten Gleisstrecken entlang. Wir verfolgten ihn, und Conlan trieb ihn in die Enge. In dem Moment sahen wir die Bomben. Sie hingen an einem Sechzig-Sekunden-Zünder, und der stand schon unter zehn. Ich hörte Conlan brüllen, ich sollte in Deckung gehen, dann stürzte er sich auf den Kerl.“

„Gott“, Dante fuhr sich mit der Hand durch das schwarze Haar.

„Das war ein Lakai?“, fragte Lucan. Es schien ihm eine plausible Schlussfolgerung.

Die Rogues hatten keinerlei Skrupel, das Leben von Menschen wie Staub zu verschwenden, wenn es um ihre kleinlichen Territorialkriege oder auch um persönliche Vergeltungsmaßnahmen ging. Lange Zeit hatten nicht nur religiöse Fanatiker die Willensschwachen als billige, entbehrliche, aber doch wirkungsvolle Werkzeuge des Terrors eingesetzt.

Aber das machte die hässliche Realität dessen, was Conlan widerfahren war, nicht einfacher zu verdauen.

„Das war kein Lakai“, entgegnete Niko mit einem Kopfschütteln. „Es war ein Rogue mit genügend TATP am Leib, um einen halben Wohnblock auszulöschen, wenn man danach geht, wie es aussah und roch.“

Lucan war nicht der Einzige im Raum, der bei dieser beunruhigenden Neuigkeit einen wilden Fluch ausstieß.

„Also begnügen sie sich nicht mehr damit, nur Lakaien als Bauernopfer zu bringen?“, bemerkte Rio. „Fahren die Rogues jetzt größere Geschütze auf?“

„Es sind trotzdem Bauernopfer“, meinte Gideon.

Lucan warf dem schnell denkenden Vampir einen Blick zu und verstand, worauf er hinauswollte. „Die Schachfiguren haben sich nicht verändert. Aber die Regeln. Das hier ist eine neue Art Kriegsführung, nicht mehr die kleineren Feuerwehreinsätze, mit denen wir es in der Vergangenheit zu tun hatten. Jemand in den Reihen der Rogues bringt ein gewisses Maß an Ordnung in die Anarchie. Wir werden belagert.“

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Conlan zu, dem ersten Opfer in einer, wie er fürchtete, neuen dunklen Ära, die nun anbrach. In seinen uralten Knochen spürte er, wie die Gewalt einer lange vergangenen Vorzeit sich von Neuem erhob, um die Geschichte zu wiederholen. Erneut braute sich ein Krieg zusammen, und wenn die Rogues Anstalten machten, sich zu organisieren, zum Angriff überzugehen, dann würde das gesamte Vampirvolk sich an den Frontlinien wiederfinden. Und auch die Menschen.

„Wir besprechen das noch genauer, aber nicht jetzt. Diese Zeit gehört Conlan. Lasst uns ihn ehren.“

„Ich habe mich schon verabschiedet“, murrte Tegan. „Conlan weiß, dass ich im Leben höllischen Respekt vor ihm hatte, und so bleibt es im Tod. Nichts wird sich je daran ändern.“

Mit spürbar angespannter Beklommenheit warteten alle im Raum, wie Lucan auf Tegans schroffen Abgang reagieren würde. Aber Lucan ließ sich nichts anmerken. Er gönnte dem Vampir nicht die Genugtuung, ihn verärgert zu haben, auch wenn das der Fall war. Ruhig wartete er, bis Tegans schwere Schritte durch den Gang verklungen waren, dann nickte er den Kriegern zu, das Ritual wieder aufzunehmen.

Lucan und die vier anderen sanken nacheinander auf die Knie, um Conlan die letzte Ehre zu erweisen. Sie sprachen ein Gebet, dann erhoben sie sich gemeinsam. Die Krieger zogen sich zurück, bis die große Schlusszeremonie anstand, die ihren gefallenen Kameraden zur Ruhe geleiten sollte.

„Ich bin der, der ihn nach oben trägt“, kündigte Lucan an, als die anderen hinausgingen.

Er sah, wie sie Blicke wechselten, und wusste, was das hieß. Die Älteren der Vampirrasse – insbesondere Gen-Eins-Angehörige – wurden niemals gebeten, die Last der Toten zu tragen. Diese Pflicht oblag den Angehörigen späterer Generationen, die weiter von der reinen Blutlinie der Alten entfernt waren. Denn dadurch konnten sie den brennenden Strahlen der aufgehenden Sonne so lange widerstehen, wie man brauchte, um einen Vampir anständig zur Ruhe zu betten.

Für einen Gen-Eins-Angehörigen wie Lucan bedeuteten die Begräbnisriten, in denen er der Sonne ausgesetzt war, acht Minuten Folterqualen.

Lucan starrte die leblose Gestalt auf dem Tisch an. Er wollte sich nicht von den Verletzungen abwenden, die Conlan erlitten hatte.

An seiner Stelle erlitten hatte, dachte Lucan. Das Wissen, dass eigentlich er selbst mit Niko auf Patrouille hätte sein sollen, machte ihn ganz elend. Hätte er den Highlander nicht in letzter Minute als Ersatz für sich losgeschickt, dann läge jetzt Lucan auf dieser kalten Metallplatte, Glieder, Gesicht und Rumpf verkohlt vom höllischen Feuer, den Bauch von Metallsplittern aufgerissen.

Lucans Verlangen, Gabrielle zu besuchen, war stärker gewesen als seine Verpflichtung gegenüber dem Stamm, und Conlan – wie auch seine trauernde Witwe – hatte den allerhöchsten Preis dafür bezahlt.

„Ich bringe ihn an die Oberfläche“, wiederholte er entschlossen. Er warf Gideon einen düsteren Blick zu. „Ruf mich, wenn die Vorbereitungen abgeschlossen sind.“

Der Vampir neigte den Kopf, womit er Lucan mehr Respekt zollte, als ihm in diesem Moment eigentlich zustand. „Natürlich. Es wird nicht lange dauern.“

 

Lucan verbrachte die nächsten Stunden allein in seinem Privatquartier. Er kniete in der Mitte des Raums, den Kopf tief gesenkt, betete und brütete vor sich hin. Dann erschien wie versprochen Gideon an der Tür und nickte ihm zu. Es war an der Zeit, Conlan wegzubringen und ihn den Toten zu übergeben.

„Sie ist schwanger“, sagte Gideon grimmig, als Lucan aufstand. „Danika ist im dritten Monat schwanger. Savannah hat es mir vor Kurzem erzählt, nachdem sie mit Danika geredet hatte. Conlan hat den Mut aufzubringen versucht, dir mitzuteilen, dass er den Orden verlassen will, wenn das Baby kommt. Er und Danika planten, einen der Dunklen Häfen aufzusuchen, um ihr Kind großzuziehen.“

„Mein Gott“, stieß Lucan hervor. Er fühlte sich noch elender, als ihm klar wurde, wie grausam Conlan und Danika um ihre glückliche Zukunft geprellt worden waren und dass ihr Sohn den mutigen und ehrenhaften Mann, der sein Vater war, nie kennenlernen würde. „Ist alles für das Ritual vorbereitet?“

Gideon neigte den Kopf.

„Dann lass uns anfangen.“

Lucan schritt voran. Seine Füße und sein Kopf waren nackt, auch sonst trug er nichts unter der langen schwarzen Robe. Gideon hatte die formelle Tunika des Ordens mit Gürtel angelegt. So waren auch die anderen Vampire gekleidet. Sie warteten in dem Gemach, das ausschließlich für Stammesrituale bestimmt war – von Hochzeiten und Geburten bis hin zu Begräbnissen wie diesem. Die drei Frauen des Quartiers waren ebenfalls anwesend. Savannah und Eva trugen zeremonielle schwarze Mäntel mit Kapuzen. Danikas Mantel war ähnlich geschnitten, aber von einem sehr dunklen Scharlachrot, das ihre heilige Blutsverbindung mit dem Verstorbenen anzeigte.

Vor der Versammlung lag Conlan auf einem prunkvollen Altar, umhüllt von einem dicken, schneeweißen Leichentuch.

„Wir fangen an“, verkündete Gideon schlicht.

Lucans Herz war schwer, als er lauschte. Die Totenmesse unterstrich die Symbolik von Unendlichkeit in jedem einzelnen Ritus der Zeremonie.

Acht Unzen Duftöl, um die Haut zu salben.

Acht Schichten weißer Seide, die den Körper des Gefallenen einhüllten.

Acht Minuten stummer Wacht bei Tagesanbruch durch ein Mitglied des Stammes, bevor der tote Krieger in die verbrennenden Strahlen der Sonne entlassen wurde. Dann würden sein Körper und seine Seele sich als Asche in alle Winde zerstreuen und er für immer Teil der Elemente sein.

Als Gideon innehielt, trat Danika vor.

Sie drehte sich um, um die Versammlung anzusehen, hob das Kinn und sprach mit heiserer Stimme, aber voller Stolz. „Dieser Mann war der Meine, so wie ich die Seine war. Sein Blut hat mich am Leben erhalten. Seine Stärke hat mich beschützt. Seine Liebe hat mich in jeder Hinsicht erfüllt. Er war mein Geliebter, mein einziger, und er wird bis in alle Ewigkeit in meinem Herzen weiterleben.“

„Du ehrst ihn gut“, kam die gedämpfte, einstimmige Erwiderung von Lucan und den anderen.

Danika wandte sich Gideon zu, die Hände ausgestreckt, die Handflächen nach oben. Er zog einen schmalen goldenen Dolch aus der Scheide und überreichte ihn ihr. Danikas Kopf mit der Kapuze neigte sich zustimmend. Dann wandte sie sich ab und beugte sich über Conlans verhüllte weiße Gestalt. Sie murmelte sanfte, persönliche Worte, die nur für sie beide bestimmt waren, dann hob sie die Hände an ihr Gesicht. Lucan wusste, dass die verwitwete Stammesgefährtin jetzt mit der Klinge in ihre Unterlippe schnitt, um Blut fließen zu lassen und ihren Mund durch das Leichentuch auf den von Conlan zu drücken, wenn sie ihn ein letztes Mal küsste.

Danika neigte sich über ihren Geliebten und verharrte lange so. Die Gewalt ihrer tiefen Trauer ließ ihren Körper heftig zucken. Dann löste sie sich von ihm und erstickte ihr Schluchzen mit dem Handrücken. Ihr scharlachroter Kuss leuchtete auf Conlans Mund, eine dunkle Blume im Weiß seiner Verhüllung. Savannah und Eva schlossen sie gemeinsam in die Arme und führten sie vom Altar weg. Nun konnte Lucan mit der einen Aufgabe fortfahren, die noch blieb.

Er schritt auf Gideon zu, der vor der Versammlung stand, und versprach dafür zu sorgen, dass Conlan mit all der Ehre schied, die ihm zustand. Dieses Gelübde taten alle Angehörigen des Stammes, die den Weg gingen, den Lucan nun vor sich hatte.

Gideon trat beiseite, um Lucan Zugang zu dem Leichnam zu gewähren. Lucan nahm den riesigen Krieger auf die Arme, drehte sich um und schaute die anderen an, wie es sich gehörte.

„Du ehrst ihn gut“, raunte der leise Chor.

Langsam und feierlich schritt Lucan durch das Zeremoniengemach zu dem Treppenschacht, der nach oben führte. All die langen Treppen, und jede der Hunderte von Stufen, die er mit dem Gewicht seines gefallenen Bruders auf den Armen erklomm, bedeuteten einen Schmerz, den er ohne Klagen hinnahm.

Denn dies war der leichteste Teil seiner Aufgabe.

Sollte er zusammenbrechen, dann in einigen Minuten auf der anderen Seite der Außentür, die jetzt ein Dutzend Schritte vor ihm aufragte.

Lucan stemmte die Stahltür mit der Schulter auf und sog kühle Luft in seine Lungen, als er zu dem Platz ging, wo er Conlan zur Ruhe betten würde. Auf einem Flecken frischen grünen Grases ließ er sich vorsichtig auf die Knie nieder und senkte langsam die Arme, um Conlans Körper auf dem festen Erdboden abzulegen. Er flüsterte die Gebete des Begräbnisrituals, Worte, die er im Laufe vergangener Jahrhunderte nur wenige Male gehört hatte, aber dennoch auswendig kannte.

Während er sprach, begann der Himmel zu glühen. Die Dämmerung nahte.

In demütigem Schweigen ertrug er stumm das Licht, konzentrierte all seine Gedanken auf Conlan und die Ehre, die sein langes Leben ausmachte. Die Sonne stieg über den Horizont, noch ehe er die Hälfte des Rituals hinter sich hatte. Lucan senkte den Kopf und verbiss den Schmerz, wie Conlan es gewiss für jeden Angehörigen des Stammes getan hätte, der an seiner Seite gekämpft hatte. Sengende Hitze überrollte ihn, als nun der Tag anbrach, wurde stärker und stärker.

Lucans Ohren füllten sich mit den wieder und wieder gesprochenen Worten der alten Gebete und bald auch mit dem leisen Zischen und Knistern seines brennenden Fleisches.