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Lucan dachte, er wüsste, was Hunger war. Er dachte, er wüsste, was Wut, Verzweiflung und Verlangen waren, aber jedes armselige Gefühl, das er in seinem ganzen alterslosen Leben je gekannt hatte, zerfiel zu bedeutungslosem Staub, als er in Gabrielles braune Augen blickte.

Seine Sinne waren überwältigt, als er in dem süßen Jasminduft ihres Blutes ertrank, dessen Quelle seinem Mund so gefährlich nahe kam. Glänzend rot und dick wie Honig quoll das karmesinrote Rinnsal aus der kleinen Wunde, die sie sich selbst beigebracht hatte.

„Ich liebe dich, Lucan.“ Ihre sanfte Stimme durchdrang das Pochen seines eigenen Herzens und das wilde Verlangen, das ihn nun verschlang. „Mit oder ohne Blut, das uns verbindet, ich liebe dich.“

Er konnte nicht sprechen, wusste nicht einmal, was er gesagt hätte, wenn seine ausgedörrte Kehle Worte hätte bilden können. Mit einem wilden Knurren stieß er sie weg, zu schwach, um in ihrer Nähe zu sein, wenn die ganze Dunkelheit in ihm ihn bedrängte, sie auf diese endgültige, unwiderrufliche Art zu der Seinen zu machen.

Gabrielle fiel rücklings auf das Bett, und der lose Gürtel ihres Bademantels hielt diesen kaum über ihrem nackten Körper zusammen. Grellrote Tropfen sprenkelten den weißen Ärmel und den Kragenaufschlag. Auch auf ihrem bloßen Schenkel war ein halb verschmierter Blutfleck, leuchtete scharlachrot auf ihrer Pfirsichhaut.

Gott, wie sehr wollte er seinen Mund auf dieses seidige Fleisch pressen, über ihren ganzen Körper wandern lassen. Er wollte nur sie.

„Nein.“

Der Befehl drang trocken wie Asche aus seinem Mund. Sein Bauch fühlte sich an wie in einem Schraubstock, verknotet und gewunden. Es zog ihn zu Boden. Ließ seine Knie unter ihm nachgeben, als er versuchte, sich von ihrem verlockenden Anblick abzuwenden. Ausgestreckt und blutend wie ein Opfer lag sie vor ihm.

Er sackte wie ein willenloser Haufen Knochen und Muskeln auf den Teppich und kämpfte gegen ein Verlangen an, wie er es nie zuvor gekannt hatte. Sie brachte ihn um. Diese Sehnsucht nach ihr – dieses Scherbengefühl in seiner Brust, wenn er daran dachte, dass sie irgendwann mit einem anderen zusammen sein sollte.

Und außerdem war da noch sein Hunger.

Nie war er intensiver, als wenn Gabrielle sich in seiner Nähe befand. Nun, da seine Lungen mit dem Duft ihres Blutes gefüllt waren, brachte er ihn schier um.

„Lucan …“

Er fühlte, wie sie von dem Bett aufstand. Ihre Füße verursachten ein weiches Geräusch auf dem Teppich und kamen dann allmählich in sein Blickfeld, mit rosa lackierten Fußnägeln, die aussahen wie glatte kleine Muschelschalen. Sie kniete sich neben ihn. Sanfte Hände gruben sich in sein Haar. Dann umfasste sie seinen angespannten Kiefer und drehte langsam seinen Kopf, bis er sie ansah.

„Trink von mir.“

Lucan presste die Augen fest zu, aber das war ein schwacher Versuch, sich ihrem Willen zu verweigern. Er hatte nicht die Kraft, gegen den sanften, aber doch unerbittlichen Druck ihrer Arme anzukämpfen, als sie ihn zu sich hochzog.

Er konnte das Blut an ihrem Arm riechen. Aus dieser Nähe sorgte es dafür, dass ein Adrenalinstoß durch seine Adern fuhr. Seine Spucke lief ihm im Mund zusammen, und seine Fangzähne wurden länger und durchbrachen das Zahnfleisch.

Gabrielle zog ihn noch ein Stück höher, bis sich sein Oberkörper vom Boden hob. Mit einer Hand schob sie ihr langes Haar beiseite und entblößte ihren Hals.

Er zuckte zurück, aber sie hielt ihn fest und führte ihn näher heran.

„Trink, Lucan. Nimm, was du brauchst.“

Sie beugte sich nach vorn, bis zwischen seinem schlaffen Mund und dem zarten Puls, der unter der blassen Haut unterhalb ihres Ohrs pochte, nur noch ein papierdünner Hauch von Abstand lag.

„Tu es“, flüsterte sie und zog ihn an sich.

Sie drückte seine Lippen gewaltsam gegen ihren Hals.

Dort hielt sie ihn eine qualvolle Ewigkeit fest. Aber vielleicht dauerte es auch nur einen Sekundenbruchteil, bis sie ihn am Haken hatte. Lucan war sich nicht sicher. Alles, was er noch wusste und kannte, war der warme Druck ihrer Haut unter seiner Zunge, ihr Herzschlag, das schnelle Keuchen ihres Atems. Alles, was er noch wusste und kannte, war das Verlangen, das er für Gabrielle empfand.

Keine Ablehnung mehr.

Er wollte sie – alles von ihr –, und die Bestie hatte schon zu viel Macht gewonnen, um jetzt gnädig zu sein.

Er öffnete den Mund … und versenkte seine Fangzähne in das nachgiebige Fleisch ihres Halses.

Sie keuchte, als sie den Einstich seines Bisses spürte, aber sie ließ ihn nicht los, nicht einmal, als er den ersten gierigen Schluck aus ihrer geöffneten Ader trank.

Blut strömte ihm in den Mund, heiß und erdig-süß, köstlich. Dieser Geschmack ging über alles hinaus, was er sich je hätte vorstellen können.

Nach neunhundert Jahren Leben kostete er den Himmel.

Er trank eilig, in tiefen Schlucken, und das Verlangen überwältigte ihn, als Gabrielles Blut durch seine Kehle floss, in Fleisch, Knochen und Zellen eindrang und seinen Durst löschte. Sein Puls hämmerte mit neuer Kraft, pumpte Blut in ermüdete Glieder und heilte seine neuesten Wunden.

Sein Geschlechtsteil war beim ersten Schluck zum Leben erwacht; nun pochte es schwer und hart zwischen seinen Beinen. Verlangte noch mehr Inbesitznahme.

Gabrielle streichelte sein Haar und hielt ihn fest an sich gedrückt, während er von ihr trank. Sie stöhnte bei jedem harten Ruck seines Mundes auf, ihr Körper schmolz dahin, und ihr Geruch wurde dunkel und feucht vor Begierde.

„Lucan“, keuchte sie und erschauerte. „O Gott …“

Mit einem wortlosen Knurren drückte er sie unter sich zu Boden. Er nahm tiefere Schlucke und verlor sich in der erotischen Hitze des Augenblicks und in einem panischen, verzweifelten Verlangen, das ihm Angst machte.

Mein, dachte er, selbstsüchtig und völlig wild durch den Gedanken.

Es war zu spät, jetzt aufzuhören.

Dieser Kuss hatte sie beide verdammt.

 

Nachdem der erste Biss ein Schock für Gabrielle gewesen war, hatte sich der Augenblick des scharfen Schmerzes rasch in etwas Sinnliches und Berauschendes verwandelt. Lust entflammte in ihrem ganzen Körper, von innen nach außen, als würde jeder lange Zug von Lucans Mund an ihrem Hals einen Strahl aus warmem Licht in sie zurücksenden und bis in ihr Innerstes hinuntergreifen, um ihre Seele zu liebkosen.

Er bedeckte sie mit seinem Körper, und ihre Bademäntel verrutschten, als er Gabrielle mit sich zu Boden riss. Seine Hände waren grob, als sie sich in ihr Haar gruben und ihren Kopf zur Seite gedreht hielten, während er von ihr trank. Ungeachtet der Schmerzen, die seine Verletzungen ihm bereiten mochten, presste er seine nackte Brust gegen ihren Busen. Seine Lippen unterbrachen den Kontakt mit ihrem Hals keine Sekunde. Sie konnte die Intensität seines Verlangens in jedem harten Schluck fühlen.

Aber sie fühlte auch seine Kraft. Sie kam zurück, Stück für Stück, erneuerte sich durch sie, Gabrielle.

„Hör nicht auf“, murmelte sie. Ihre Sprechfähigkeit war verlangsamt durch die wachsende Ekstase, die sich mit jeder pulsierenden Bewegung seines Mundes in ihr aufbaute. „Du wirst mir nicht wehtun, Lucan. Ich vertraue dir.“

Die feuchten, saftigen Geräusche, die durch seinen Hunger verursacht wurden, waren das Erotischste, was sie je gehört hatte. Sie liebte die Hitze seiner Lippen auf ihrer Haut. Das unsanfte Eindringen seiner Fangzähne, als er ihr Blut in seinen Mund sog, war ein so gefährliches wie aufregendes Gefühl.

Gabrielle stand bereits kurz vor einem gewaltigen Orgasmus, als sie die dicke Eichel von Lucans Erektion an ihrer Scham spürte. Sie war nass und voller Sehnsucht nach ihm. Er drang mit einem Stoß tief in sie ein und erfüllte sie vollständig mit harter, explosiver Hitze. Innerhalb eines einzigen Augenblicks brachte er sie zum Explodieren. Gabrielle schrie auf, als er hart und schnell in sie eintauchte, sie fest an sich presste, seine Arme wie einen Käfig um sie geschlungen. Er war blind in seinem Rhythmus, eine Macht aus roher, herrlicher Begierde.

Und noch immer hielt er seinen Mund an ihren Hals gepresst und zog sie in eine glückselige, samtweiche Dunkelheit.

Gabrielle schloss die Augen und ließ es zu, dass sie wegdriftete, auf einen wunderschönen Obsidiannebel zu.

Von irgendeinem entfernten Ort aus spürte sie, wie Lucan über ihr bockte und stieß, wie sein großer Körper unter der Macht seines eigenen Höhepunktes zuckte. Er schrie etwas Raues und wurde dann vollkommen still.

Der köstliche Druck an ihrem Hals ließ plötzlich nach und verschwand, um Kälte zu hinterlassen.

Noch immer schwebend, noch immer überwältigt von dem berauschenden Gefühl von Lucan tief in ihr, hob Gabrielle ihre schweren Augenlider. Lucan kniete über ihr und starrte wie betäubt auf sie herab. Seine Lippen waren leuchtend rot, und das Haar stand ihm wild vom Kopf ab. Seine Raubtieraugen leuchteten so hell, dass sie bernsteinfarbene Funken sprühten. Seine Hautfarbe war jetzt gesünder, und das Netz aus Zeichen auf seinen Schultern und seinem Rumpf glühte dunkel in Karmesinrot und Schwarz.

„Was ist los?“, fragte sie ihn besorgt. „Alles okay?“

Er gab lange keine Antwort.

„Mein Gott.“ Das raue Knurren seiner Stimme zitterte wie Espenlaub, etwas, was sie in seiner Stimme noch nie zuvor gehört hatte. Seine Brust hob und senkte sich. „Ich dachte, du wärst … ich dachte, ich hätte …“

„Nein“, entgegnete sie, indem sie träge und befriedigt den Kopf schüttelte. „Nein, Lucan. Mir geht es gut.“

Sie konnte seinen intensiven Blick nicht deuten, aber er ließ ihr auch nicht viel Gelegenheit dazu. Er wich zurück und glitt aus ihr heraus. In seinen verwandelten Augen lag ein betroffener Ausdruck.

Gabrielles Körper fühlte sich ohne seine Wärme seltsam kühl und leer an. Sie setzte sich auf und rieb ihre Haut, um das Kältegefühl zu vertreiben. „Es ist okay“, versicherte sie ihm. „Alles ist gut.“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf und sprang auf die Füße. „Nein. Das war ein Fehler.“

„Lucan –“

„Ich hätte nie zulassen dürfen, dass das passiert!“, bellte er.

Mit einem wütenden Aufbrüllen wandte er sich zum Fußende des Bettes, wo seine Kleidung lag. Er schlüpfte hastig in die schwarze Tarnhose und das Nylonhemd, griff nach seinen Waffen und Stiefeln und raste in wilder, verzweifelter Wut aus dem Raum.

 

Lucan konnte kaum atmen, so hämmerte sein Herz in seiner Brust.

Als er gespürt hatte, wie Gabrielle unter ihm schlaff wurde, während er von ihr trank, hatte ihn entsetzliche Angst gepackt.

Sie vertraute ihm, das hatte sie gesagt, während er fieberhaft an ihrem Hals trank. Er hatte gefühlt, wie die Stacheln der Blutgier auf ihn einstachen, während Gabrielles Blut in seinen Körper strömte. Ihre Stimme hatte die Schmerzen gelindert. Sie war zärtlich und mitfühlend, ihre Berührung, ihre unverhüllten Gefühle – ihre reine Anwesenheit – hatten ihn geerdet, sonst hätte sein animalischer Teil ihn vielleicht die Kontrolle verlieren lassen.

Sie vertraute fest darauf, dass er ihr nicht wehtat, und dieses Vertrauen gab ihm Stärke.

Aber dann hatte er gespürt, wie sie von ihm weggedriftet war, und er hatte Angst bekommen … Gott, wie groß war seine Angst in diesem Augenblick gewesen.

Noch immer hielt sie ihn gepackt, diese düstere, kalte Angst, dass er Gabrielle Schaden zugefügt haben könnte – sie getötet haben könnte –, wenn er zugelassen hätte, dass es noch weiter ging, als sie sowieso schon gegangen waren.

Denn trotz all seiner Bemühungen, all seiner Verweigerung gehörte er zu ihr, mit Haut und Haaren. Gabrielle besaß ihn, bis tief in seine Seele, und das nicht nur, weil nun ihr Blut ihn nährte, seine Wunden heilte und seinen Körper kräftigte. Er hatte sich schon vor langer Zeit mit ihr verbunden. Aber der unwiderlegbare Beweis dafür war erst in jenem düsteren Augenblick eben erbracht worden, als er befürchtete, er hätte sie verloren.

Er liebte sie.

Bis tief in seinen düstersten, einsamsten Teil liebte er Gabrielle.

Und er wollte sie in seinem Leben haben. Ein selbstsüchtiger und gefährlicher Wunsch. Und doch wünschte er sich nichts mehr, als sie den Rest seiner Tage bei sich zu behalten.

Diese Erkenntnis ließ ihn in dem Gang vor dem Techniklabor im Zickzack laufen, unsicher auf den Beinen. In Wahrheit ließ sie ihn fast auf die Knie sinken.

„Hoppla, ganz ruhig.“ Ohne Vorwarnung trat Dante herbei und packte Lucan am Arm. „Verdammt. Du siehst total beschissen aus.“

Lucan konnte nicht sprechen. Worte überforderten ihn.

Aber Dante benötigte keine Erklärung. Er warf einen Blick auf Lucans Gesicht und Fangzähne, und seine Nasenlöcher blähten sich, als sie den deutlichen Geruch von Blut und Sex aufnahmen. Er pfiff leise, und ein Schimmer trockener Belustigung blitzte in den Augen des Kriegers auf.

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst – eine Stammesgefährtin, Lucan?“ Er lachte leise und schüttelte den Kopf. Dann klopfte er Lucan auf die Schulter. „Scheiße. Besser du als ich, Bruder. Besser du als ich.“