18

„Mehr“, stöhnte die Menschenfrau, wand sich auf seinem Schoß und bog ihren Hals unter seinen Mund. Mit gierigen Händen zog sie an seinem Nacken, und die Augen fielen ihr fast zu, als stünde sie unter Drogen. „Bitte … trink noch mehr von mir. Ich will, dass du alles nimmst!“

„Vielleicht“, versprach er träge. Sein hübsches Spielzeug begann ihn bereits zu langweilen.

K. Delaney, staatlich geprüfte Krankenschwester, hatte sich die ersten Stunden in seinem Privatquartier als ziemlich unterhaltsam erwiesen. Aber wie alle Menschen, wenn sie die Macht des auszehrenden Vampirkusses erfuhren, hatte sie schließlich aufgehört, sich zu wehren, und sehnte nun das Ende ihrer Qualen herbei. Nackt wand sie sich wie eine rollige Katze, rieb sich an ihm, presste ihre bloße Haut an seine Lippen und wimmerte, als er ihr seine Fangzähne vorenthielt.

„Bitte“, sagte sie erneut, jetzt mit weinerlicher Stimme. Allmählich ging sie ihm auf die Nerven.

Er konnte den Genuss nicht leugnen, den sie ihm verschafft hatte, sowohl mit ihrem willigen Körper als auch durch die köstliche, tiefere Erfüllung, als sie seine Blutwirtin wurde und ihm ihre süße, saftige Kehle darbot. Aber damit war er jetzt fertig. Er war fertig mit ihr, abgesehen davon, dass er ihr noch den Rest ihrer Menschlichkeit aussaugen und sie zu einem seiner Lakaien machen würde. Aber jetzt noch nicht. Vielleicht bekam er nochmals Lust, erneut mit ihr zu spielen.

Wenn er sich allerdings ihrem gierigen Klammern nicht bald entzog, geriet er vielleicht in Versuchung, Schwester K. Delaney so weit auszusaugen, dass die heikle Grenzlinie überschritten wurde und sie starb.

Er ließ sie ohne Umschweife von seinem Schoß fallen und stand auf.

„Nein“, klagte sie, „geh nicht weg.“

Er war bereits an der Tür. Die Falten seiner prächtigen Seidenrobe streiften seine Waden, als er das Schlafgemach verließ und sein Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Flurs betrat. Dieser Raum, sein geheimer Zufluchtsort, war mit jedem Luxus ausgestattet, den er sich wünschte: erlesene Einrichtungsgegenstände, unbezahlbare Kunstwerke und Antiquitäten, Teppiche, auf dem Höhepunkt der religiösen Kreuzzüge von persischen Händen gewoben. All das waren Andenken an seine Vergangenheit, Objekte, die er im Laufe zahlloser Zeitalter zu seinem Vergnügen gesammelt hatte. Kürzlich hatte er sie hierher gebracht, in die Basis seiner neu entstehenden Armee in New England.

Es gab noch ein anderes, erst kürzlich erworbenes Objekt.

Das – eine Serie zeitgenössischer Fotografien – bereitete ihm überhaupt kein Vergnügen. Er starrte die Schwarzweißaufnahmen an, die verschiedene Rogues-Verstecke an unterschiedlichen Orten überall in der Stadt zeigten, und konnte ein wütendes Fauchen nicht unterdrücken.

„Hey … die gehören nicht dir …“

Er warf einen irritierten Blick über die Schulter. Die Frau, die offenbar aus dem anderen Raum hinter ihm hergekrochen war, hockte auf dem Palastteppich, ihr Gesicht zu kleinmädchenhaftem Schmollen verzogen. Den Kopf auf die Schulter gelegt, blinzelte sie matt, als könne sie kaum etwas erkennen, aber sie starrte die Fotos an.

„Ach?“, machte er. Er war eigentlich nicht daran interessiert, Spielchen zu spielen, aber doch neugierig genug, um in Erfahrung zu bringen, wie es diese Bilder geschafft hatten, durch die Nebel im Kopf der Frau bis zu ihrem Verstand vorzudringen. „Was denkst du denn, wem sie gehören?“

„Meiner Freundin … das sind ihre.“

Er spürte, wie seine Augenbrauen bei dieser unschuldigen Enthüllung in die Höhe wanderten. „Du kennst die Künstlerin?“

Die junge Frau nickte langsam. „Meine Freundin … Gabby.“

„Gabrielle Maxwell“, sagte er. Er drehte sich um. Seine Aufmerksamkeit war nun wahrhaftig gefesselt. „Erzähl mir von deiner Freundin. Woher kommt das Interesse an diesen Orten, die sie fotografiert?“

Diese Frage trieb ihn um, seit die Frau ihm zum ersten Mal aufgefallen war. Zunächst als lästige Zeugin bei einer Tötung, leichtsinnig veranstaltet von einigen seiner neuen Rekruten. Er war irritiert gewesen, wenn auch nicht beunruhigt, als der Lakai auf der Polizeiwache von der Maxwell-Frau berichtete. Es hatte ihn nicht gerade gefreut, als dann ihr neugieriges Gesicht auf der internen Fernsehüberwachungsanlage der Nervenheilanstalt auftauchte. Aber was eine düstere Faszination in ihm weckte, war ihr offensichtliches Interesse daran, Vampiraufenthaltsorte zu dokumentieren.

Bis jetzt war er mit anderen, bedeutenderen Dingen beschäftigt gewesen, die seine ganze Aufmerksamkeit verlangten. Er war zu sehr auf anderes konzentriert gewesen und hatte sich damit zufriedengegeben, Gabrielle Maxwell unter scharfer Beobachtung zu halten. Vielleicht erforderten ihr Interesse und ihre Aktivitäten eine genauere Überprüfung. Tatsächlich war bei ihr möglicherweise ein hartes Verhör gerechtfertigt. Und auch Folter, wenn es ihm beliebte.

„Lass uns über deine Freundin reden.“

Seine lästige Gespielin warf den Kopf zurück und plumpste dabei auf den Teppich. Sie fuchtelte mit den Armen wie ein bockiges Kind, dem etwas verweigert wird, was es haben will. „Nein … nicht über sie reden“, murmelte sie, und ihre Hüften stießen in die Luft. „Komm her … küss mich zuerst … über mich reden … über uns …“

Er machte einen Schritt auf die Frau zu, aber seine Absicht war kaum entgegenkommend. Seine geschlitzten Pupillen mochten sie fälschlicherweise denken lassen, dass er sie begehrte, aber was durch seinen Körper pulste, war nur Gereiztheit. In seinem harten Griff lag Verachtung, als er sich über sie stellte und sie hochzog, bis sie vor ihm auf den Beinen stand.

„Ja“, seufzte sie, schon fast willenlos unter seiner Kontrolle.

Mit der Handfläche drückte er ihren Kopf beiseite und entblößte ihren blassen Hals, der noch vom letzten Mal blutete, als er von ihr getrunken hatte. Er leckte roh an der Wunde, und seine Fangzähne wurden lang vor Wut.

„Du wirst mir alles sagen, was ich wissen will“, flüsterte er und starrte unerbittlich in ihre trüben Augen. „Von diesem Moment an wirst du, Schwester K. Delaney, alles tun, was ich dir sage.“

Er fletschte die Zähne. Dann biss er zu wie eine Viper und entzog ihr den letzten Rest ihres Gewissens und ihrer schwachen menschlichen Seele mit einem einzigen wilden Schluck.

 

Gabrielle machte einen Rundgang durch ihre Wohnung und stellte sicher, dass alle Schlösser an den Türen und Fenstern fest verriegelt waren. Seit heute Nachmittag war sie wieder zu Hause. Sie hatte Megans Wohnung am Morgen verlassen, nachdem ihr Freund zur Arbeit gefahren war. Meg hatte ihr angeboten, so lange zu bleiben, wie sie wollte, aber Gabrielle konnte sich nicht ewig verstecken. Außerdem war ihr die Vorstellung zuwider, ihre Freundin womöglich noch tiefer in etwas hineinzuziehen, was sich immer entsetzlicher und unerklärlicher entwickelte.

Zuerst vermied sie es, in ihre Wohnung zurückzukehren, kämpfte gegen wachsende Hysterie an und irrte benommen und voller Paranoia in der Stadt umher. All ihre Instinkte ermahnten sie, sich auf einen Kampf vorzubereiten.

Sie ahnte, dass er eher früher als später bevorstand.

Sie hatte Angst davor gehabt, Lucan oder einen seiner blutsaugenden Freunde oder noch Schlimmeres zu Hause anzutreffen. Aber es war helllichter Tag gewesen, als sie schließlich heimkam, nur ihre leere Wohnung wartete auf sie, und alles war, wo es hingehörte.

Nun, da es draußen allmählich dunkel wurde, kehrte ihre Besorgnis zehnfach zurück.

In ihrer Schutzschicht aus übergroßem Pullover und Jeans legte sie die Arme um sich selbst und ging wieder in die Küche, wo auf ihrem Anrufbeantworter zwei neue Nachrichten blinkten. Beide stammten von Megan. Sie hatte in der letzten Stunde mehrmals angerufen. Ihre erste Nachricht handelte von der Leiche, die man auf dem Spielplatz entdeckt hatte, wo Gabrielle in der Nacht zuvor angegriffen worden war.

Megan erzählte hektisch von dem Polizeibericht, den sie über Ray hatte einsehen können. Darin hieß es, dass ihr Angreifer offenbar kurz nach dem Versuch, Gabrielle etwas anzutun, von Tieren angefallen worden war. Und da gab es noch etwas. Ein Wachtmeister war auf dem Revier ermordet worden; und es war seine Waffe, die man bei der übel zugerichteten Leiche sichergestellt hatte, die auf dem Spielplatz gefunden worden war.

„Gabby, bitte ruf mich an, sobald du diese Nachricht abgehört hast. Ich weiß, dass du Angst hast, Süße, aber die Polizei braucht wirklich deine Aussage. Ray sagt, er kann eine Pause einlegen und dich abholen kommen, wenn du dich dann sicherer fühlst –“

Gabrielle drückte den Knopf, der die Nachricht löschte.

Und spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten.

Sie war nicht mehr allein in der Küche.

Ihr Herzschlag stockte und fing dann an, auf Hochtouren zu arbeiten. Sie fuhr herum, um ihren Eindringling ins Auge zu fassen, und war nicht im Geringsten überrascht zu sehen, dass es sich um Lucan handelte. Er stand in der Türöffnung des Wohnzimmers und beobachtete sie schweigend und aufmerksam.

Oder vielleicht war er nur dabei, seine nächste Mahlzeit prüfend abzuschätzen.

Gabrielle merkte, dass ihre Angst vor ihm seltsamerweise weit geringer war als ihr Zorn. Er sah so normal aus, selbst jetzt noch. Da stand er vor ihr in seinem dunklen Trenchcoat, einer maßgeschneiderten schwarzen Hose und einem teuer aussehenden Hemd, ein paar Schattierungen dunkler als die faszinierende silbrige Farbe seiner Augen.

Von dem Ungeheuer, das sie letzte Nacht gesehen hatte, war keine Spur zu erkennen. Alles, was sie sah, war ein Mann. Der geheimnisvolle Liebhaber, von dem sie sich eingebildet hatte, sie würde ihn kennen. Ihr wurde bewusst, dass sie sich fast wünschte, er wäre mit gebleckten Fangzähnen und wild glitzernden, seltsam verwandelten Raubtieraugen bei ihr aufgekreuzt – als das Schreckgespenst, als das er sich letzte Nacht entpuppt hatte. Das wäre fairer gewesen als dieser äußere Anschein von Normalität, der in ihr das Bedürfnis weckte, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Als wäre er tatsächlich Detective Lucan Thorne von der Bostoner Polizei, ein Mann, der geschworen hatte, die Unschuldigen zu schützen und das Gesetz zu achten und zu bewahren.

Ein Mann, in den sie sich hätte verlieben können – wenn sie nicht sogar schon in ihn verliebt war.

Aber alles an ihm war eine Lüge gewesen.

„Ich hatte mir vorgenommen, dass ich heute Abend nicht herkommen würde.“

Gabrielle schluckte hart. „Ich wusste, dass du kommst. Ich wusste auch gestern Nacht, dass du mir gefolgt bist, nachdem ich vor dir weglaufen musste.“

Etwas flackerte in dem durchdringenden Blick, mit dem er sie viel zu intensiv ansah und der zu sehr wie eine Liebkosung wirkte. „Ich hätte dir nicht wehgetan. Und ich will dir auch jetzt nicht wehtun.“

„Dann geh.“

Er schüttelte den Kopf. Und kam einen Schritt auf sie zu. „Nicht, bevor wir geredet haben.“

„Du meinst, nicht, bevor du dafür gesorgt hast, dass ich rede?“, entgegnete sie. Sie versuchte, sich nicht davon einlullen zu lassen, dass er aussah wie der Mann, dem sie vertraut hatte.

Oder davon, dass ihr Körper – und sogar ihr idiotisches Herz – unmittelbar auf ihn reagierte.

„Es gibt Dinge, die du verstehen musst, Gabrielle.“

„Oh, ich verstehe durchaus“, erwiderte sie, verblüfft, dass ihre Stimme nicht zitterte. Sie hob die Hand an den Hals und tastete nach dem Kreuzanhänger, den sie seit ihrer Erstkommunion nicht mehr getragen hatte. Der zarte Talisman schien ihr ein lächerlich schlechter Schutz, nun, da sie vor Lucan stand. Das Einzige, was sie trennte, waren ein paar wenige Schritte seiner langen, muskulösen Beine. „Du musst mir nichts erklären. Es hat eine Weile gedauert, zugegeben, aber ich denke, ich verstehe jetzt alles.“

„Nein. Keineswegs.“ Er kam auf sie zu. Dann hielt er inne und schaute hoch. Über seinem Kopf hing im Türeingang zur Küche ein Bündel aus kreideweißen Knollen. „Knoblauch“, sagte er gedehnt und ließ ein amüsiertes Kichern ertönen.

Gabrielle machte einen Schritt rückwärts, ihre Schuhe quietschten auf den Küchenfliesen. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich erwartet habe.“

Und sie hatte einige Vorbereitungen getroffen, bevor er kam. Wenn er sich umsah, würde er in jedem Raum der Wohnung die gleiche Türdekoration vorfinden, einschließlich der Eingangstür. Nicht dass es ihm etwas auszumachen schien. All ihre Schlösser hatten ihn nicht aufgehalten, und diese zusätzliche Sicherheitsmaßnahme erwies sich ebenfalls als nutzlos. Unbeeindruckt ging er unter Gabrielles hausgemachter Vampirabwehr durch, die Augen dunkel und intensiv auf sie geheftet.

Als er näher kam, wich sie zurück, bis sie an die Küchentheke stieß. Ein Mundwasser-Probefläschchen stand auf dem glänzenden Granit. Inzwischen enthielt es kein Mundwasser mehr, sondern etwas anderes. Heute Morgen auf dem Nachhauseweg hatte sie in der Marienkirche Halt gemacht, um eine längst überfällige Beichte abzulegen. Gabrielle nahm das Plastikfläschchen von der Küchentheke und hielt es vor der Brust.

„Weihwasser?“, fragte Lucan und begegnete kühl ihrem Blick. „Was hast du damit vor – willst du es auf mich spritzen?“

„Wenn es nötig ist.“

Er bewegte sich so schnell, dass sie nur ein verschwommenes Bild vor ihrem Gesicht sah. Er streckte die Hand aus, entriss ihr die kleine Flasche und schüttete sich den Inhalt in die Hände. Dann verteilte er die Flüssigkeit von seinen tropfenden Fingern auf seinem Gesicht und in seinem glänzenden schwarzen Haar.

Nichts geschah.

Er warf das nutzlose Gefäß beiseite und machte noch einen Schritt auf sie zu.

„Ich bin nicht das, was du denkst, Gabrielle.“

Er klang so vernünftig, dass sie ihm fast glaubte. „Ich habe gesehen, was du getan hast. Du hast einen Mann getötet, Lucan.“

Er schüttelte ruhig den Kopf. „Ich habe einen Menschen getötet, der nicht länger ein Mann war – streng genommen war er kaum noch menschlich. Was früher einmal menschlich in ihm war, hat der Vampir ausbluten lassen, der ihn zu einem Lakaien gemacht hat. Er war schon so gut wie tot. Ich habe es nur zu Ende gebracht. Es tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest, aber ich kann mich dafür nicht entschuldigen. Und das werde ich auch nicht. Ich würde jeden töten, der dir Schaden zufügen will, ob menschlich oder nicht.“

„Also hast du entweder eine gefährliche Beschützermacke, oder du bist schlicht und ergreifend ein Psychopath. Ganz zu schweigen davon, dass du diesem Typ die Kehle mit den Zähnen aufgeschlitzt und sein Blut getrunken hast!“

Sie wartete auf eine weitere gefasste Antwort. Auf irgendeine Erklärung, die ihr vielleicht verstehen half, dass sogar etwas so Unglaubliches wie Vampirismus in der realen Welt einen Sinn ergeben – oder überhaupt existieren konnte.

Aber Lucan gab ihr keine solche Antwort.

„Ich wollte nicht, dass die Dinge zwischen uns so laufen, Gabrielle. Gott weiß, du hast Besseres verdient.“ Leise murmelte er etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. „Du solltest sanft und umsichtig eingeführt werden, von jemandem, der die richtigen Worte sagt und die richtigen Dinge für dich tut. Deshalb wollte ich dir Gideon schicken –“ Er strich sich mit einer frustrierten Geste durchs Haar. „Ich bin kein Abgesandter für meine Rasse. Ich bin ein Krieger. Manchmal auch ein fähiger Scharfrichter. Mein Gewerbe ist der Tod, Gabrielle, und ich bin nicht daran gewöhnt, mich bei irgendjemandem für meine Taten zu entschuldigen.“

„Ich bitte dich nicht um Entschuldigungen.“

„Sondern – um die Wahrheit?“ Er lächelte sie bitter an. „Du hast die Wahrheit doch letzte Nacht gesehen, als ich diesen Lakaien getötet und leer getrunken habe. Das war die Wahrheit, Gabrielle. Das bin ich in Wahrheit.“

Sie spürte in ihrem Magen eine heftige Übelkeit, da er nicht einmal versuchte, das Grauen zu leugnen. „Du bist ein Monster, Lucan. Mein Gott, du bist etwas aus einem Albtraum.“

„Menschlichem Aberglauben und Brauchtum zufolge, ja. In den gleichen Geschichten heißt es, man könne meine Art mit Knoblauch oder Weihwasser bekämpfen. Das ist alles Unfug, wie du gerade mit eigenen Augen gesehen hast. Tatsächlich sind unsere Völker eng miteinander verbunden. Wir unterscheiden uns nicht sehr voneinander.“

„Ach, wirklich?“, spottete sie und kämpfte gegen die Hysterie an, als er noch einen Schritt auf sie zukam und sie nötigte, sich noch weiter zurückzuziehen. „Als ich zuletzt nachgesehen habe, stand nichts von Kannibalismus auf meiner Einkaufsliste. Andererseits stand da auch nichts von Sex mit Untoten, was ich in letzter Zeit des Öfteren getan habe.“

Er lachte humorlos auf. „Ich versichere dir, ich bin nicht untot. Ich atme wie du. Ich blute wie du. Ich kann getötet werden, wenn auch nicht so leicht, und ich lebe schon seit langer, langer Zeit, Gabrielle.“ Mit einem letzten Schritt schloss er die Lücke zwischen ihnen. „Ich bin in jeder Hinsicht so lebendig wie du.“

Wie zum Beweis schlossen sich seine warmen Finger um ihre. Er zog ihre Hand hoch und drückte die Handfläche gegen seine Brust. Durch den weichen Stoff seines Hemdes spürte sie seinen kräftigen, regelmäßigen Herzschlag. Sie spürte, wie er ein- und ausatmete und die Wärme seines Körpers sickerte in ihre Fingerspitzen und durchdrang ihre erschöpften Sinne wie ein lindernder Balsam.

„Nein.“ Sie entzog sich ihm. „Nein, verdammt noch mal! Keine Tricks mehr. Ich habe letzte Nacht dein Gesicht gesehen, Lucan. Ich habe deine Vampirzähne gesehen und deine Augen! Du hast gesagt, das bist du in Wirklichkeit, also was soll dann das hier? Was du mir jetzt von dir zeigst – und was ich fühle, wenn ich in deiner Nähe bin – ist das alles Illusion?“

„Ich bin real – ich bin so, wie ich hier vor dir stehe … und so, wie du mich letzte Nacht gesehen hast.“

„Dann zeig es mir. Lass mich noch mal dein anderes Ich sehen. Ich will wissen, womit ich es zu tun habe. Das ist nur fair.“

Er machte ein finsteres Gesicht, als ob ihr Misstrauen ihn kränkte. „Die Verwandlung kann nicht erzwungen werden. Es ist eine physiologische Veränderung, die mit dem Hunger kommt oder durch emotionalen Aufruhr.“

„Also, wie viel Vorsprung kriege ich, wenn du dich entschließt, aufs Ganze zu gehen und mir die Halsschlagader anzuzapfen? Ein paar Minuten? Oder bloß Sekunden?“

Seine Augen blitzten bei dieser Provokation auf, aber seine Stimme blieb ruhig. „Ich werde dir nichts tun, Gabrielle.“

„Warum bist du dann hier? Um mich schnell noch mal zu ficken, bevor du mich in etwas Schreckliches verwandelst, so was wie dich?“

„Verdammt“, stieß er hervor. „So läuft das n–“

„– oder machst du mich zu deiner persönlichen Vampirsklavin, so wie bei dem Kerl, den du letzte Nacht getötet hast?“

„Gabrielle.“ Lucans Kiefer spannte sich, als bisse er die Zähne fest genug zusammen, um Stahl zu durchtrennen. „Ich bin hier, um dich zu beschützen, verdammt noch mal! Ich bin hier, weil ich mich vergewissern wollte, dass du in Sicherheit bist. Vielleicht auch, weil ich einsehe, dass ich Fehler gemacht habe, und weil ich versuchen will, das zwischen uns in Ordnung zu bringen.“

Sie stand bewegungslos da, verdaute seine unerwartete Offenheit und sah, wie die Gefühle über seine harten Züge glitten. Ärger, Frustration, Verlangen, Zweifel … all das las sie in seinem durchdringenden Blick. Großer Gott, sie spürte, wie all das und mehr sich auch in ihrem Inneren wie ein Sturm zusammenbraute.

„Ich will, dass du gehst, Lucan.“

„Nein, das willst du nicht.“

„Ich will dich nie wieder sehen!“, schrie sie, wollte ihn zwingen, es ihr zu glauben. Sie hob die Hand, um ihn zu schlagen, aber er fing sie mit Leichtigkeit ab. „Bitte. Verschwinde einfach, raus hier!“

Lucan ignorierte sie und führte die Hand, mit der sie ihn hatte schlagen wollen, sanft an seinen Mund. Seine Lippen teilten sich langsam, als er ihre Handfläche gegen seinen heißen, sinnlichen Kuss presste. Sie spürte keinen Biss von Vampirzähnen, nur die zärtliche Hitze seines Mundes, die feuchte Liebkosung seiner Zunge, die über die empfindlichen Stellen zwischen ihren Fingern glitt.

In ihrem Kopf drehte sich alles von dem köstlichen Gefühl seiner Lippen auf ihrer Haut.

Ihre Knie wurden weich. Alles an ihr wollte nachgeben – ihr Herz, ihre Gliedmaßen, ihr Widerstand.

„Nein“, sagte sie scharf, zog ihre Hand aus seinem lockeren Griff und schob ihn weg. „Nein. Ich kann nicht zulassen, dass du das mit mir machst, jetzt nicht mehr. Alles zwischen uns hat sich geändert! Alles ist anders.“

„Das Einzige, was anders ist, Gabrielle, ist, dass du mich jetzt mit offenen Augen siehst.“

„Ja.“ Sie zwang sich, seinem festen Blick standzuhalten. „Und mir gefällt nicht, was ich sehe.“

Sein Lächeln zeigte keine Spur von Mitleid. „Du wünschst dir, du könntest das Gleiche über die Gefühle sagen, die ich in dir auslöse.“

Ihr war unklar, wie er das machte – wie er sich in der Zeit, die sie brauchte, um einmal zu blinzeln, so schnell bewegen konnte – aber noch im selben Augenblick strich Lucans Atem über die Stelle direkt unter ihrem Ohr, und seine tiefe Stimme grollte an ihrem Hals, als er seinen Körper gegen ihren presste.

Es war zu viel auf einmal. Diese erschreckende neue Realität, all die Fragen, von denen sie nicht einmal annähernd wusste, wie sie sie stellen sollte. Und dann diese Verwirrung, ausgelöst durch die unwiderstehliche Macht von Lucans Berührung, seiner Stimme, seiner Lippen, die sacht ihre Haut streiften.

„Hör auf damit!“ Sie versuchte ihn wegzustoßen, aber er stand fest wie eine Mauer aus Muskeln und cooler, finsterer Entschlossenheit. Er hielt ihrem Zorn stand, die nutzlosen Schläge, mit denen sie gegen seine Brust trommelte, schienen ihm nicht das Geringste auszumachen. Seine gelassene Miene blieb so reglos wie sein Körper. Sie wich zurück, frustriert und gequält. „Gott, was versuchst du hier zu beweisen, Lucan?“

„Nur dass ich nicht das Monster bin, für das du mich gern halten möchtest. Dein Körper kennt mich. Deine Sinne sagen dir, dass du bei mir in Sicherheit bist. Du musst nur auf sie hören, Gabrielle. Und du musst auf mich hören, wenn ich dir sage, dass ich nicht hier bin, um dir Angst zu machen. Ich werde dich nie angreifen, und ich werde auch niemals dein Blut trinken. Ich schwöre bei meiner Ehre, ich werde dir nie etwas tun.“

Sie lachte halb erstickt auf, eine automatische Reaktion bei der Vorstellung, dass ein Vampir so etwas wie Ehre haben und mit solchem Ernst darauf schwören konnte. Aber Lucans Blick war unerschütterlich und ernst. Vielleicht war sie verrückt, denn je länger sie seinem silbernen Starren standhielt, desto schwächer wurden ihre Zweifel, an denen sie so verzweifelt festzuhalten suchte.

„Ich bin nicht dein Feind, Gabrielle. Seit Jahrhunderten haben meine und deine Art sich gegenseitig gebraucht, um zu überleben.“

„Ihr nährt euch von uns“, flüsterte sie niedergeschlagen, „wie Parasiten.“

Ein Schatten glitt über seine Züge, aber er ließ sich von ihrem abschätzigen Vorwurf nicht provozieren. „Wir haben euch auch beschützt. Und manche von meiner Art haben sogar deinesgleichen geliebt und mit ihnen als im Blut verbundene Paare das Leben geteilt. Nur so kann das Vampirvolk fortbestehen. Ohne menschliche Frauen, die unsere Kinder zur Welt bringen, würden wir irgendwann aussterben. So bin auch ich entstanden, und alle anderen, die wie ich sind.“

„Ich verstehe nicht. Warum könnt ihr euch nicht mit Frauen eurer eigenen Art … verbinden?“

„Weil es keine gibt. Durch ein genetisches Defizit sind alle Nachkommen des Stammes männlich, vom Allerersten der Blutlinie über Hunderte von Generationen bis heute.“

Diese letzte Enthüllung nach all den erstaunlichen Neuigkeiten gab ihr zu denken. „Das bedeutet dann also, dass deine Mutter ein Mensch ist?“

Lucan nickte leicht. „Das war sie.“

„Und dein Vater? War ein …“

Bevor sie das Wort Vampir aussprechen konnte, antwortete Lucan: „Mein Vater und die sieben anderen Alten, die wie er waren, stammten nicht von dieser Welt. Sie waren die ersten Angehörigen meines Volkes, Wesen von einem anderen Ort, der sich von diesem Planeten stark unterschied.“

Es dauerte einen Moment, bis die Bedeutung seiner Aussage zu Gabrielle durchdrang. Es gab schon so viel, was sie im Augenblick verdauen musste. „Was willst du damit sagen – dass sie Aliens waren?“

„Sie waren Forscher. Eigentlich wilde, kriegerische Eroberer, die vor sehr langer Zeit eine Bruchlandung auf der Erde gemacht haben.“

Gabrielle starrte ihn an. „Dein Vater war nicht nur ein Vampir, sondern auch noch ein Außerirdischer? Hast du eine Ahnung, wie irre das klingt?“

„Es ist die Wahrheit. Das Volk meines Vaters nannte sich nicht Vampire, aber nach menschlicher Definition waren sie das. Ihr Verdauungssystem war zu fortgeschritten für das primitive Eiweiß der Erde. Sie konnten die Pflanzen und Tiere nicht verarbeiten, wie es die Menschen taten, also lernten sie, sich von Blut zu ernähren. Sie sättigten sich ohne jede Zurückhaltung und löschten dabei ganze Populationen aus. Von einigen hast du bestimmt schon gehört: Atlantis. Das Königreich der Maya. Und zahllose ungenannte Zivilisationen, von denen nichts überliefert ist und die scheinbar über Nacht verschwanden. Manches Massensterben, das in der Geschichte Seuchen und Hungersnöten zugeschrieben wurde, war in Wirklichkeit etwas anderes.“

Großer Gott.

„Angenommen, irgendwas von dem, was du mir da erzählst, ist ernst zu nehmen, dann sprichst du über ein Jahrtausende währendes Gemetzel.“ Kälte breitete sich in ihrem Körper aus, als er keine Anstalten machte, das abzustreiten. „Ernähren sie sich … ernährst du dich – Gott, ich kann nicht glauben, dass ich dieses Gespräch mit dir führe. Ernähren Vampire sich von allen Lebewesen, vielleicht auch voneinander, oder sind wir Menschen das Hauptgericht?“

Lucans Gesichtsausdruck war ernst. „Nur menschliches Blut enthält die spezifische Kombination von Nährstoffen, die wir brauchen, um zu überleben.“

„Wie oft?“

„Wir müssen alle paar Tage Nahrung aufnehmen, mindestens einmal pro Woche. Mehr, wenn wir verletzt sind und Energie brauchen, um unsere Wunden heilen zu lassen.“

„Und ihr … tötet, wenn ihr Nahrung aufnehmt?“

„Nicht immer, eigentlich eher selten. Der größte Teil des Volkes ernährt sich von willigen menschlichen Blutwirtinnen.“

„Menschen bieten sich wirklich freiwillig an, um sich von euch quälen zu lassen?“, fragte Gabrielle ungläubig.

„Das hat nichts mit Qual zu tun, wenn wir es nicht wollen. Wenn ein Mensch entspannt ist, kann der Biss eines Vampirs sehr angenehm sein. Wenn es vorbei ist, erinnert sich die Blutwirtin an nichts, weil wir ihr keine Erinnerung an uns lassen.“

„Aber manchmal tötet ihr“, sagte sie und gab sich Mühe, sachlich und nicht anklagend zu klingen.

„Manchmal ist es nötig, ein Leben zu nehmen. Der Stamm hat einen Eid geschworen, niemals Jagd auf Unschuldige oder Schwache zu machen.“

Sie lachte. „Wie edel von euch.“

„Es ist edel, Gabrielle. Wenn wir wollten – wenn wir uns dem hingeben würden, was von den Krieg führenden Eroberern unserer Vorfahren noch in uns steckt –, könnten wir die gesamte Menschheit versklaven. Wir könnten Könige sein, und Menschen würden nur als Nahrung oder zu unserer Belustigung existieren. Genau das ist die zentrale Streitfrage eines langen, tödlichen Konflikts zwischen meiner Art und der unserer feindlichen Brüder, der Rogues. Du hast einige von ihnen gesehen, in dieser Nacht vor dem Nachtclub.“

„Du warst da?“

Noch während sie fragte, wusste sie, dass er da gewesen war. Sie erinnerte sich an das markante Gesicht und die mit einer Sonnenbrille bedeckten Augen, die sie durch die Menschenmenge beobachtet hatten. Schon damals hatte sie eine Verbindung zu ihm gespürt, in diesem kurzen Blick, der durch den Rauch und die Dunkelheit des Clubs nach ihr zu greifen schien.

„Ich war den Rogues schon seit einer Stunde gefolgt“, erklärte Lucan. „Ich habe auf eine Gelegenheit zum Zugriff gewartet, um sie auszuschalten.“

„Sie waren zu sechst“, fiel ihr ein. Jetzt hatte sie es wieder deutlich vor Augen, das halbe Dutzend grässlicher Fratzen, ihre glühenden Raubtieraugen und blitzenden Fangzähne. „Wolltest du es allein mit ihnen aufnehmen?“

Sein Achselzucken schien zu sagen, dass es nicht unüblich für ihn war, allein gegen viele anzutreten. „In dieser Nacht hatte ich Hilfe – dich und deine Handykamera. Der Blitz hat sie erschreckt, und da konnte ich zuschlagen.“

„Du hast sie getötet?“

„Alle bis auf einen. Aber den kriege ich auch noch.“

Beim Anblick seiner entschlossenen Miene hatte Gabrielle keinen Zweifel daran. „Die Polizei hat einen Streifenwagen zum Club geschickt, nachdem ich den Mord gemeldet hatte. Sie haben nichts gefunden. Nicht einen Hinweis.“

„Ich habe dafür gesorgt, dass sie nichts finden konnten.“

„Du hast dafür gesorgt, dass ich als Idiotin dastand. Die Polizei dachte, dass ich das Ganze nur erfunden hätte.“

„Das ist immer noch besser, als sie mit der Nase auf die sehr realen Schlachten zu stoßen, die seit Jahrhunderten auf den Straßen toben. Kannst du dir das Ausmaß der Panik vorstellen, wenn Berichte über Vampirangriffe überall auf der Welt in den Nachrichten auftauchen?“

„Ist das wahr? Diese Art von Morden passiert die ganze Zeit und überall?“

„In letzter Zeit häufen sich die Morde. Die Rogues sind Blutjunkies, denen nur ihr nächster ,Schuss‘ wichtig ist. Zumindest war das bis vor kurzem der Stand der Dinge. Jetzt tut sich irgendetwas. Sie bereiten sich vor. Organisieren sich. Noch nie waren sie so gefährlich wie jetzt.“

„Und dank der Bilder, die ich in der Nähe des Clubs gemacht habe, sind diese Rogues-Vampire jetzt hinter mir her.“

„Der Zwischenfall, den du erlebt hast, hat sie zweifellos auf dich aufmerksam gemacht, und jeder Mensch, den sie jagen können, bedeutet für sie ein großes Vergnügen. Aber es sind deine anderen Bilder, die dich wahrscheinlich in die größte Gefahr gebracht haben.“

„Welche anderen Bilder?“

„Zum Beispiel das da.“

Er hob die Hand und zeigte auf eine gerahmte Fotografie, die in Gabrielles Wohnzimmer an der Wand hing. Es war eine Außenaufnahme von einem alten Lagerhaus in einem halb verfallenen Stadtviertel.

„Was hat dich dazu gebracht, dieses Gebäude zu fotografieren?“

„Ich weiß es nicht genau“, erwiderte sie. Sie war sich nicht mal sicher, warum sie sich entschieden hatte, das Bild einzurahmen. Jetzt ließ ihr der Anblick einen leichten Schauder über den Rücken laufen. „Ich hätte nie einen Fuß in diesen Teil der Stadt gesetzt, aber ich erinnere mich, dass ich in dieser Nacht falsch abgebogen bin und mich verirrt habe. Irgendwas lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Lagerhaus. Ich kann es nicht wirklich erklären. Während ich da war, war ich unheimlich nervös, aber ich konnte einfach nicht gehen, ohne ein paar Aufnahmen zu machen.“

Lucans Stimme war sehr ernst. „Ich bin mit ein paar anderen Stammeskriegern, die mit mir zusammenarbeiten, vor anderthalb Monaten dort eingedrungen. Es war ein Rogues-Versteck, das fünfzehn unserer Feinde beherbergte.“

Gabrielle starrte ihn an. „In diesem Gebäude leben Vampire?“

„Jetzt nicht mehr.“ Er ging an ihr vorbei zum Küchentisch, wo andere Aufnahmen lagen, darunter auch die Bilder von der verlassenen Nervenheilanstalt, die Gabrielle erst vor wenigen Tagen gemacht hatte. Er hob eine der Fotografien auf und hielt sie ihr hin. „Diesen Ort haben wir seit Wochen überwacht. Wir vermuten, dass es sich um eine der größten Rogues-Kolonien in New England handelt.“

„O mein Gott.“ Gabrielle starrte das Bild von der Nervenheilanstalt an, und ihre Finger zitterten leicht, als sie es wieder auf den Tisch legte. „Als ich diese Bilder neulich morgens gemacht habe, hat mich ein Mann erwischt. Er hat mich vom Grundstück gescheucht. Denkst du, er war –“

Lucan schüttelte den Kopf. „Es war ein Lakai, kein Vampir, wenn du ihn nach Tagesanbruch gesehen hast. Sonnenlicht ist Gift für uns. Dieser Teil der alten Legenden entspricht der Wahrheit. Unsere Haut brennt schnell, so wie das eure täte, wenn ihr sie mitten am Tag unter ein starkes Vergrößerungsglas halten würdet.“

„Ach, darum sehe ich dich immer nur nachts“, murmelte sie, als sie im Geiste Lucans Besuche durchging, angefangen mit dem ersten Mal, als er sein Täuschungsmanöver begann. „Wie konnte ich nur so blind sein, wo doch alle Hinweise direkt vor meiner Nase waren?“

„Vielleicht wolltest du sie nicht sehen, aber du wusstest es, Gabrielle. Du hast geahnt, dass mehr hinter dem Mord steckte, den du gesehen hast, als dein menschlicher Erfahrungshorizont erklären kann. Fast hättest du das auch zu mir gesagt, damals, als wir uns kennenlernten. Auf irgendeiner Ebene deines Bewusstseins hast du gemerkt, dass es ein Vampirangriff war.“

Sie hatte es wirklich gewusst, damals schon. Aber sie hätte nie vermutet, dass Lucan dazugehörte. Ein Teil von ihr wollte sich noch immer nicht damit abfinden.

„Wie kann das sein?“, stöhnte Gabrielle und ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. Sie starrte auf die Bilder, die vor ihr auf dem Tisch lagen, dann sah sie wieder in Lucans ernstes Gesicht und kämpfte mit den Tränen, die ihr in den Augen brannten. Ein Kloß der verzweifelten Verleugnung steckte in ihrer Kehle. „Das kann nicht real sein. Gott, bitte sag mir, dass das alles nicht wirklich passiert.“