EPILOG

Klar und kalt brach der nächste Morgen an. Die Sonne blitzte auf den Schneefeldern der umliegenden Berge, und der See in der Mitte des verborgenen Tales von Delphaeus dampfte. Natürlich war die Trauung verschoben worden; sie sollte nunmehr am kommenden Abend stattfinden.

Verständlicherweise waren Fragen nicht ausgeblieben, und Sperber hatte sie damit beantwortet, daß alles Bhellioms Werk und er nur sein Werkzeug gewesen sei; also sprach er keine Lüge.

Sie verbrachten den Tag friedlich und kamen wieder zusammen, als die Sonne unterging und die abendlichen Schatten sich im Tal ausbreiteten. Schon den ganzen Tag hatte Sperber einen prickelnde Erwartung verspürt. Irgend etwas würde hier geschehen. Bhelliom hatte ihm ein Wunder versprochen – und das war bestimmt kein Wort, das er leichthin benutzte.

Die Dämmerung nahm zu. Sperber und die anderen Männer geleiteten Vanion zum Ufer des glühenden Sees hinab, um dort auf die Braut und deren Begleitung zu warten, während die Leuchtenden auch jetzt die alte Hymne sangen, die am Abend zuvor so abrupt unterbrochen worden war.

Dann erschien am Tor die Braut mit Königin Ehlana an der Seite und den übrigen Damen dicht hinter ihnen. Die Kindgöttin wirbelte und tanzte vor der Gruppe in der Luft; ihre klare Stimme war im Flötengesang erhoben, und wieder streute sie Blütenblätter auf den Weg zum See.

Sephrenias Gesicht war friedlich und heiter, während sie den Pfad hinabschritt. Als die zierliche styrische Braut sich dem Mann näherte, den zu heiraten ihr zwei der großen Religionen verboten hatten, zeigte ihre persönliche Göttin durch ein allen sichtbares Symbol, daß zumindest sie diese Vereinigung billigte. Die ersten Gestirne strahlten am Firmament, und ein Stern erweckte den Eindruck, als hätte er sich verirrt. Einer Sternschnuppe gleich fiel ein leuchtender Funke auf die strahlende Sephrenia hinab und ließ sich als glühender Kranz Frühlingsblumen sanft auf ihrem Kopf nieder.

Sperber lächelte leicht. Die Ähnlichkeit mit der Bekränzung Mirtais bei ihren Initiationsriten war offensichtlich.
Kritikaster! rügte Aphrael ihn.
Ich hab' doch gar nichts gesagt!
Laß es auch besser!

Als die delphaeische Hymne zum Höhepunkt anschwoll, reichten Sephrenia und Vanion einander die Hände. Und dann schritt die glühende Xanetia in Begleitung von zwei weiteren leuchtenden Gestalten – die eine weiß, die andere blau – über den See. Ein sehnsuchtsvolles Murmeln ging durch die Reihen der Delphae, und alle zugleich sanken auf die Knie.

Die Anarae umarmte ihre styrische Schwester und küßte Vanion züchtig auf die Wange. »Ich habe unseren geliebten Edaemus angefleht, uns die Ehre seiner Anwesenheit zu geben und diese glückliche Vereinigung zu segnen«, wandte sie sich an die Versammelten, »und er brachte diesen weiteren Gast mit, der ebenfalls einiges Interesse an unserer Zeremonie hat.«

»Ist dieser Blaue … ist das nicht …?« flüsterte Kalten Sperber stockend zu. »O ja!« antwortete Sperber. »Jedenfalls ist das die Gestalt, die er in Cyrga annahm, nachdem ich ihn Klæl in den Schlund gestopft hatte. Erinnerst du dich?«

»Ich war zu dem Zeitpunkt ziemlich abgelenkt. Sieht er wirklich so aus? Nachdem man sämtliche Saphirschichten abgeschält hat, meine ich?«

»Das glaube ich eigentlich nicht. Bhelliom ist ein Geist, keine Gestalt. Ich vermute, daß diese Form hier reine Höflichkeit ist – uns gegenüber.«
»Ich dachte, er wäre längst fort.«
»Nein, noch nicht ganz.«

Die glühende Gestalt Edaemus' richtete sich auf. Irgendwie wirkte er verlegen. Xanetias Miene wurde streng, und fast drohend kniff sie die Augen zusammen. »Ich hatte Schlechtes von dir gedacht, Sephrenia von Ylara«, gestand der Gott der Delphae. »Meine Anarae hat mich überzeugt, daß ich irrte. Ich flehe Euch an, mir zu verzeihen.« Offenbar konnte die sanfte Anarae sich sehr wohl durchsetzen, wenn ihr der Sinn danach stand.

Sephrenia lächelte milde. »Natürlich vergebe ich Euch, Gott Edaemus. Ich muß zugeben, daß ich selbst nicht ganz schuldlos daran war.«

»So laßt uns denn beten, jeder zu seinem eigenen Gott, auf daß er die Vereinigung dieses Mannes und dieser Frau segnen möge«, sagte Xanetia in förmlichem Tonfall, »denn mir deucht, sie ist der Vorbote eines neuen Zeitalters von Verständnis und Vertrauen zwischen allen Menschen.«

Sperber war da zwar etwas skeptisch, doch wie die anderen senkte er den Kopf. Allerdings richtete er seine Worte nicht an seinen elenischen Gott. Blaurose, sandte er statt dessen seine Gedanken aus.

Betest du, mein Sohn? Die antwortende Stimme klang leicht amüsiert.

Ich will Rat einholen, Blaurose, berichtigte Sperber. Andere werden unsere Bitte an den elenischen Gott richten, ich aber spüre, daß die Zeit unserer Trennung nicht mehr fern ist.
Wahrlich.

Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, dich um einen Gefallen zu bitten. Nur zu.

Ich habe all deine Macht gesehen, Blaurose – und diese Macht auf gewisse Weise mit dir geteilt. Diese Macht ist grenzenlos. Es wäre nicht ehrlich, würdest du dies leugnen.

Sei nett! murmelte Bhelliom. Er hatte sich diese Phrase angewöhnt und war offenbar sehr davon angetan. Was ist das für ein Gefallen, mein Sohn?

Ich flehe dich an, all meine Macht mit dir zu nehmen, wenn du weiterziehst. Sie ist eine Last, die auf mich zu nehmen ich nicht bereit bin. Ich bin dein Sohn, Blaurose, aber ich bin auch ein Mensch. Ich habe weder die Geduld noch die Weisheit, die Verantwortung dafür zu übernehmen, was du mir zuteil werden ließest. Diese Welt, die du erschaffen hast, hat Götter genug. Sie braucht keinen weiteren!

Überlege gut, mein Sohn! Bedenke, was du aufzugeben beabsichtigst.

Das habe ich bereits, mein Vater. Ich war Anakha; denn die Notwendigkeit erforderte es. Sperber plagte sich, seine Gedanken in die richtigen Worte zu kleiden. Als Anakha trat ich dem Styriker Zalasta gegenüber und empfand eine große innere Ruhe, eine Ruhe, die mich immer noch erfüllt. Mir dünkt, diese Gabe hat mich verändert, hat mich zu mehr – oder weniger – als einem Menschen gemacht. Wenn du die Güte hättest, möchte ich nicht mehr ›Anakha, der Geduldige‹, ›Anakha, der Neugierige‹, ›Anakha, der Unerbittliche‹ sein. Anakhas Aufgabe ist erfüllt. Von ganzem Herzen möchte ich jetzt wieder einfach nur Sperber sein! ›Sperber, der Liebende‹, oder sogar ›Sperber, der Gereizte‹ würde mich viel mehr freuen als diese furchtbare Leere, die Anakha ist!

Eine lange Pause trat ein. Wisse, mein Sohn, daß du mir große Freude bereitest. Stolz lag in der stummen Stimme in Sperbers Kopf. Dieser Augenblick deines Lebens ehrt dich mehr denn je einer zuvor. Lebe wohl, Sperber. Und dann war die Stimme verschwunden.

Die Trauungszeremonie war in mancherlei Hinsicht fremdartig, und auf andere Weise doch sehr vertraut. Die Lobpreisung der Liebe zwischen Vanion und Sephrenia fand statt, doch es fehlte die Predigt, die zum elenischen Ritual gehörte. Zum Schluß legte Xanetia in liebevollem Segen sanft die Hände auf die Köpfe des Paares, das sie soeben zusammengeführt hatte. Diese Geste sollte offenbar verkünden, daß die Zeremonie beendet war. Doch das war sie nicht.

Die zweite der beiden Gestalten, die Xanetia über das leuchtende Wasser des Sees begleitet hatte, trat ganz in glühendem Blau herbei, um ebenfalls ihren Segen zu geben. Sie hob die Hände über den Mann und über die Frau, und für einen flüchtigen Augenblick ward auch ihnen ihr blaues Glühen zuteil.

Als dieses Licht schwand, hatte Sephrenia sich auf subtile Weise verändert. Die Sorgen und Müdigkeit, die ihr Gesicht auf vielerlei, wenn auch kaum merkliche Weise gezeichnet hatten, waren verschwunden, und sie schien nicht älter als Alean zu sein. Die Veränderungen, welche Bhellioms glühende Berührung bei Vanion bewirkt hatte, waren ausgeprägter und sichtbarer. Seine Schultern, die sich im Laufe der Jahre gekrümmt hatten, waren nun wieder gerade. Sein Gesicht war faltenlos, und das Silber seines Kopf- und Barthaares war dem Kastanienbraun gewichen, an das sich Sperber nur vage aus der Zeit seines Noviziats erinnerte. Dies war Bhellioms Abschiedsgeschenk, und nichts hätte Sperber mehr Freude bereiten können. Aphrael klatschte begeistert in die Hände und warf sich in die Arme der zarten glühenden Gestalt, die soeben ihre Schwester und Vanion verjüngt hatte.

Sperber bemühte sich, sein Lächeln zu unterdrücken. Die Kindgöttin hatte Bhelliom endlich in eine Lage manövriert, in der er die überwältigende Wirkung ihrer Küsse erfahren konnte. Die Küsse könnten natürlich reine, überschwengliche Dankbarkeit gewesen sein – aber sie waren es vermutlich nicht.

Die Hochzeit war zu Ende, doch die leuchtenden Delphae kehrten nicht in ihre leere Stadt zurück. Xanetia legte stützend einen Arm um Anari Cedons gebrechliche Schultern und führte ihn auf die glühende Oberfläche des Sees, und die Delphae folgten und stimmten eine andere Hymne an, während Edaemus strahlend über ihnen schwebte. Das Licht des Sees wurde noch heller, und das erdentrückte Leuchten der Delphae schien zu verschmelzen, bis sie nicht mehr als einzelne Gestalten erkennbar waren. Dann schoß Edaemus wie die Spitze eines Speeres himmelwärts, gefolgt von allen seinen Kindern. Als Sperber und seine Gefährten zum ersten Mal nach Delphaeus gekommen waren, hatte Anari Cedon ihnen erzählt, daß die Delphae dem Licht entgegenreisten, und daß sie zu Licht würden, doch daß es auf diesem Weg zur Vollkommenheit Hindernisse gab. Offenbar hatte Bhelliom diese Hindernisse beseitigt. Die Delphae zeichneten sich wie ein Komet vom Sternenhimmel ab, als sie nun gemeinsam den ersten Schritt ihrer unvorstellbaren Reise ins Licht unternahmen.

Das bleiche, klare Glühen des Sees war verschwunden, doch es war nicht dunkel. Ein blauer Funke schwebte darüber, während Bhelliom überdachte, was er getan hatte und fand, daß es gut war. Dann erhob auch er sich von der Erde, um zu den ewigen Sternen zurückzukehren.

Diese Nacht verbrachten sie noch im verlassenen Delphaeus. Sperber erwachte früh wie üblich. Er zog sich leise an, warf noch einen Blick auf seine zerzauste, schlafende Gemahlin und ging ins Freie, um nach dem Wetter zu sehen.

Flöte schloß sich ihm an, als er das Stadttor erreichte. »Warum schlüpfst du nicht in Schuhe?« fragte er, als er bemerkte, daß ihre kleinen nackten Füße mit den Grasflecken immer wieder im Schnee versanken.

»Was sollte ich mit Schuhen, Vater?« Sie streckte die Arme aus, und er hob sie hoch.

»Na, das war vielleicht eine Nacht, nicht wahr?« Er blickte zum wolkigen Himmel empor.
»Warum hast du das getan, Sperber?«
»Was getan?«

»Du weißt schon, was ich meine! Ist dir klar, was du alles zu tun vermocht hättest? Du hättest die Welt in ein Paradies verwandeln können! Aber nein, du mußtest ja alles von dir weisen!«

»Ich glaube nicht, daß es eine gute Idee gewesen wäre, Aphrael. Meine Vorstellung vom Paradies unterscheidet sich wahrscheinlich von der anderer Leute.« Er schnupperte in die kalte Luft. »Ich glaube, wir bekommen ein Unwetter.«

»Wechsle nicht das Thema. Du hattest die vollkommene Macht! Weshalb hast du sie aufgegeben?«

Er seufzte. »Es gefiel mir nicht besonders. Sie war zu mühelos – und wenn einem etwas einfach so in den Schoß fällt, ohne daß man auch nur einen Finger dafür rühren muß, kann man es nicht richtig würdigen. Außerdem gibt es Menschen, die Ansprüche geltend machen könnten.« »Was hat das damit zu tun?«

»Eine Menge! Was hätte ich denn tun können, wäre es Ehlana in den Sinn gekommen, Arzium zu erobern? Oder wenn Dolmant den Entschluß gefaßt hätte, Styrikum zu bekehren – oder ganz Tamuli? Ich muß Vereinbarungen einhalten, und ich habe Verpflichtungen, Aphrael, und deshalb hätte ich früher oder später falsche Entscheidungen treffen müssen. Glaub mir, Aphrael, so jedenfalls habe ich die richtige getroffen!« »Du wirst es noch bereuen!«

»Ich habe schon vieles bereut. Man lernt, damit zu leben. Kannst du uns nach Matherion bringen?« »Du hättest es selbst tun können, das ist dir doch klar.«

»Mußt du darauf herumreiten, Aphrael? Wenn du es nicht tun willst, plagen wir uns eben durch den Schnee. Es wäre ja nicht das erste Mal.«

»Du bist gemein, Sperber! Du weißt genau, daß ich euch das nicht zumuten würde!« »Verstehst du jetzt, was ich mit der Macht von Vereinbarungen und Verpflichtungen meine?«

»Hör auf, mir Lektionen zu erteilen, dazu bin ich nicht in Stimmung! Geh schon und weck die anderen auf, dann gehen wir's an.«
»Wie du meinst, Göttin.«

Sie entdeckten die ziemlich große Gemeinschaftsküche, in der die Delphae ihre sämtlichen Mahlzeiten zubereitet hatten, und die Lagerräume mit den Nahrungsmitteln. Trotz ihrer Äonen langen Feindschaft gab es kaum einen Unterschied zwischen den Eßgewohnheiten von Styrikern und Delphae. Sephrenia war sehr angetan von dem Frühstück, wogegen Kalten eine Menge daran auszusetzen hatte, was ihn allerdings nicht hinderte, sich dreimal zu bedienen. »Was ist eigentlich mit Freund Bhlokw?« erkundigte sich Kring, als er seinen Teller von sich schob. »Mir fällt erst jetzt auf, daß ich ihn nicht mehr gesehen habe, seit Zalasta brennend davonlief.«

»Bhlokw hat sich mit seinen Göttern verabschiedet, Domi«, antwortete Tynian. »Er tat, was sie ihm aufgetragen hatten. Und nun sind er und alle anderen Trolle auf dem Heimweg nach Thalesien. Er wünschte uns noch eine gute Jagd. Das kommt einem Lebewohl so nahe, wie Trolle es nur ausdrücken können.«

»Es hört sich vielleicht ein bißchen merkwürdig an, aber ich mochte ihn«, gestand Kring.

»Er ist ein feiner Rudelgefährte«, sagte Ulath. »Er jagt gut und ist bereit, seine Beute mit den anderen im Rudel zu teilen.«

»O ja«, bestätigte Tynian schaudernd. »Wenn es kein frisch getöteter Hund war, dann der Schenkel eines rohen Cyrgai.«

»Das war nun mal seine Jagdbeute, Tynian«, verteidigte Ulath seinen zottigen Freund, »und er war bereit, sie zu teilen. Kann man mehr verlangen?«

»Ritter Ulath«, sagte Talen. »Ich habe gerade gegessen. Könnten wir uns vielleicht über etwas anderes unterhalten?«
Sie sattelten ihre Pferde und ritten aus Delphaeus.

Beim Verlassen der Stadt zügelte Khalad sein Pferd und schloß das Tor.

»Warum, in aller Welt, hast du das getan?« fragte Talen. »Die Delphae werden nicht zurückkommen.«

»Das gehört sich so«, antwortete Khalad, als er wieder aufsaß. »Das Tor offenzulassen wäre respektlos gewesen.«

Da alle wußten, wer sie wirklich war, machte Flöte gar keine Anstalten, ihre Beeinflussung der Zeit zu verbergen. Die Pferde trotteten dahin, wie Pferde es eben tun, wenn sie nicht zur Eile angetrieben werden, doch alle paar Minuten zuckte der Horizont und veränderte sich. Einmal, ein Stück östlich von Dirgis, stellte Sperber sich in den Steigbügeln auf, um zurückzublicken. Ihre deutlich sichtbaren Spuren erstreckten sich bis zur Mitte einer freien Wiese, wo sie übergangslos endeten, beinahe so, als wären Pferde und Reiter aus dem Himmel gefallen.

Als sich der Abend näherte, erreichten sie die inzwischen vertraute Hügelkuppe oberhalb des schimmernden Matherion und seines Hafens und ritten dankbar zur Stadt hinunter. Sie alle waren lange Zeit unterwegs gewesen und es tat gut, wieder zu Hause zu sein. Hastig berichtigte Sperber diesen Gedanken. Matherion war nicht wirklich ihr Zuhause. Ihr Daheim war eine klamme, häßliche Stadt am Cimmura, eine halbe Welt entfernt.

Am Tor der Schloßanlage ernteten die Gefährten erstaunte Blicke – und noch erstauntere an der Zugbrücke von Ehlanas Burg. Vanion hatte sich geweigert, dem Drängen seiner Gemahlin zu folgen, Kopf und Gesicht unter der Kapuze seines Umhangs zu verbergen; er machte sogar mit voller Absicht darauf aufmerksam, daß – wie auch immer – gut dreißig Jahre von ihm abgefallen waren. Vanion war eben manchmal so.

Auch in der Burg waren einige Veränderungen unübersehbar. Sie fanden Kaiser Sarabian im blauen Salon im ersten Stock. Bei ihm waren Baroneß Melidere, Emban, Oscagne und drei seiner Gemahlinnen: Elysoun, Gahenas und Litatris. Elysoun fiel am meisten auf, da einige ihrer hübschesten Blößen nun bedeckt waren.

»Großer Gott, Vanion!« entfuhr es Emban, als er den pandionischen Hochmeister sah. »Was ist mit Euch geschehen?«

»Ich habe mich verheiratet, Eminenz«, antwortete Vanion. Er strich sein kastanienbraunes Haar zurück. »Das war eines der Hochzeitsgeschenke. Gefällt es Euch?«
»Ihr seht lächerlich aus!«

»Das möchte ich nicht behaupten«, widersprach Sephrenia. »Mir gefällt es!« »Ich schätze, daß Glückwünsche angebracht sind«, sagte Sarabian erfreut. Der tamulische Kaiser hatte sich ebenfalls merklich verändert. Von ihm gingen ein Selbstbewußtsein und eine Autorität aus, die ihm früher gefehlt hatten. »Darf ich in Anbetracht der riesigen religiösen Hindernisse fragen, wer euch getraut hat?« »Xanetia, Majestät«, antwortete Vanion. »Die delphaeische Doktrin ließ sich großzügiger auslegen.« Sarabian blickte sich um. »Wo ist Xanetia denn?«

Sephrenia deutete mit einem Finger in die Höhe. »Dort draußen«, erwiderte sie ein wenig traurig, »mit den anderen Delphae.«
»Wie meint Ihr das?« fragte der Kaiser verwirrt.

»Edaemus nahm sie mit, Sarabian«, erklärte Flöte. »Offenbar haben er und Bhelliom eine Abmachung getroffen.« Sie schaute sich um. »Wo ist Danae?«

»In ihrem Gemach, Göttin Aphrael«, antwortete Baroneß Melidere. »Sie war ein wenig müde und begab sich deshalb früh zu Bett.«

»Dann werde ich sie besuchen und ihr berichten, daß ihre Mutter zurück ist.« Die Kindgöttin ging zu der Tür, die zu den übrigen Räumlichkeiten der Gemächerflucht führte.

»Wir haben sehr viele Meldungen empfangen«, sagte nun Außenminister Oscagne, »aber sie waren sehr allgemein formuliert. ›Der Krieg ist zu Ende, wir haben gesiegt‹ und so ähnlich. Das soll keine Beleidigung sein, Königin Betuana. Eure Ataner sind hervorragende Kuriere, aber es ist schwierig, ihnen Einzelheiten zu entlocken.« Sie zuckte die Schultern. »Das ist vielleicht eine Eigenheit meines Volkes, OscagneExzellenz.« Betuana stand, wie jetzt immer, dicht neben dem schweigsamen Engessa. Offenbar widerstrebte es ihr, ihn zu weit von ihrer Seite zu lassen. »Was mich am meisten verwirrt, ist die etwas unverständliche Nachricht, die ich von meinem Bruder erhielt«, gestand Oscagne.

»Itagne-Botschafters Gefühle sind derzeit in großem Aufruhr«, erklärte Betuana, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ach?«

»Er und Atana Maris wurden sehr enge Freunde, als er im vergangenen Herbst seiner Mission in Cynestra nachging. Er nahm es nicht allzu ernst, ganz im Unterschied zu ihr. Sie suchte ihn. Nachdem sie ihn in Cyrga schließlich gefunden hatte, nahm sie ihn mit sich nach Cynestra zurück.«

»Ach, wirklich?« Auch Oscagnes Miene war unbewegt. Dann zuckte er die Schultern. »Was soll's? Es ist ohnedies an der Zeit, daß Itagne eine Familie gründet. Wenn ich mich recht entsinne, ist Atana Maris eine sehr energische junge Frau.«

»Das stimmt, Oscagne-Exzellenz, und sehr entschlossen! Ich glaube, die Tage Eures schlauen Bruders als Junggeselle sind gezählt.«

»Wie bedauerlich.« Oscagne seufzte. »Entschuldigt mich bitte einen Augenblick.« Er begab sich hastig ins Nebengemach, und sogleich hörten alle von dort unterdrücktes Lachen.

Da kam Danae mit fliegendem schwarzen Haar in den blauen Salon gestürmt und warf sich in die Arme ihrer Mutter.

Sarabians Gesicht verdüsterte sich. »Wer hat Zalasta endlich getötet?« fragte er. »Wenn man es recht bedenkt, war er die Ursache allen Unglücks.«

»Zalasta ist nicht tot«, sagte Sephrenia bedrückt und hob Flöte auf den Schoß. »Nein? Wie ist ihm die Flucht gelungen?« »Wir haben ihn laufen lassen, Majestät«, antwortete Ulath.

»Habt ihr den Verstand verloren? Ihr alle wißt doch, zu was dieser Mann fähig ist!« »Von ihm hat niemand mehr etwas zu befürchten, Majestät«, versicherte Vanion. »Es sei denn, er verursacht einige Steppenbrände.«

»Das kann er nicht, Vanion«, warf Flöte ein. »Es ist ein geistiges Feuer, kein wirkliches.«

»Würde mir bitte jemand erzählen, was passiert ist?« fragte Sarabian ungehalten. »Zalasta ist zu Sephrenias Hochzeit erschienen, Majestät«, berichtete Ulath. »Er hat versucht, Vanion zu töten, doch Sperber verhinderte es. Dann wollte unser Freund sich Zalasta vornehmen, als Khwaj sein Vorrecht anmeldete. Sperber bedachte den politischen Aspekt der Situation und überließ Zalasta dem Trollgott. Daraufhin steckte Khwaj ihn in Brand.«

»Welch grauenvolle Vorstellung!« Sarabian schüttelte sich. Dann blickte er Sephrenia an. »Ihr sagtet doch, er wäre nicht tot? Ulath dagegen erklärt nun, daß er verbrannt ist.«

»Nein, Majestät«, berichtigte Ulath. »Ich sagte, daß Khwaj ihn in Brand steckte. Das gleiche ist übrigens auch Baron Parok passiert.«

»Die trollische Vorstellung von Gerechtigkeit gefällt mir.« Sarabian lächelte finster. »Wie lange werden sie brennen?«

»Für immer, Majestät«, antwortete Tynian ernst. »Das Feuer ist ewig.« »Großer Gott!«

»So weit wäre ich nicht gegangen«, sagte Sperber. »Aber wie Ulath erwähnte, sind da politische Überlegungen im Spiel.«

Sie unterhielten sich bis spät in die Nacht und berichteten Einzelheiten über das gesamte Unternehmen, über Ehlanas und Aleans Befreiung, Bhellioms Erlösung und den Zweikampf zwischen Sperber und Cyrgon. Sperber betonte seine Rolle als Werkzeug beziehungsweise Stellvertreter in dieser Angelegenheit und ließ keinen Zweifel daran, daß er nicht mehr Anakha war. Er wollte dieses Kapitel seines Lebens für immer beendet wissen und machte es allen unmißverständlich klar, daß nichts mehr daran zu ändern war.

Im Laufe dieser ausgedehnten Unterhaltung erzählte Sarabian auch von dem versuchten Anschlag auf sein Leben durch Chacole und Torellia. »Wäre Elysoun nicht gewesen, hätten sie wahrscheinlich sogar Erfolg gehabt«, schloß er und blickte zärtlich auf seine nunmehr sittsame valesianische Gemahlin.

Mirtai blickte Elysoun mit einer fragend hochgezogenen Braue an. »Warum diese ungewohnte Kleidung?« fragte sie unverblümt.

Elysoun zuckte die Schultern. »Ich bin guter Hoffnung. Meine Zeit wechselnder Liebschaften ist vorbei.« Sie bemerkte Mirtais verwunderte Miene. »Es ist eine valesianische Sitte«, erklärte sie. »Uns sind in bestimmtem Umfang persönliche Freiheiten erlaubt – bis zu unserer ersten Schwangerschaft. Danach erwartet man Sittsamkeit von uns.« Sie lächelte. »Ich hatte die Möglichkeiten der Schloßanlage ohnedies bereits so gut wie erschöpft. Jetzt ist es an der Zeit, zu mir zu finden – und mich richtig auszuschlafen.«

»Hat jemand von Stragen und Caalador gehört?« erkundigte sich Talen.

»Vicomte Stragen und Herzog Caalador sind vor einer Woche in Matherion eingetroffen«, berichtete Sarabian.
»Neue Titel?« fragte Ehlana ein wenig überrascht.

»Belohnungen für geleistete Dienste, Ehlana.« Sarabian lächelte. »Sie schienen mir angemessen. Herzog Caalador nahm einen Posten im Innenministerium an und hat sich deshalb nach Lebas zurückbegeben, um seine Angelegenheiten zu ordnen.« »Und Stragen?«

»Er ist auf dem Weg nach Astel, Majestät«, antwortete Baroneß Melidere mit düsterem Lächeln. »Er sagte, er habe ein ernstes Wort mit Elron zu reden.« »Ist es Elron denn gelungen, lebend aus Natayos rauszukommen?« fragte Kalten staunend. »Ekrasios sagte, die Leuchtenden hätten die Ruinenstadt restlos zerstört.« »Caalador erfuhr, daß Elron sich irgendwie versteckt hatte, als die Leuchtenden Scarpa und Cyzada auflösten. Nachdem sie weitergezogen waren, kroch er aus der Ruine und floh nach Hause. Stragen wird ihn dort aufsuchen.« Die Baroneß blickte Khalad an. »Krager ist ebenfalls entkommen. Caalador fand heraus, daß er nach Zenga in Ostcammorien unterwegs ist. Etwas solltest du aber noch über Krager wissen.« »Ja?« »Erinnerst du dich, auf welche Weise König Wargon starb?«

»Seine Leber hat irgendwann nicht mehr mitgespielt, nicht wahr?«

Sie nickte. »Das gleiche passiert jetzt Krager. Caalador hat sich in Delo mit einem Mann namens Orden unterhalten. Krager war nicht mehr zurechnungsfähig, als sie ihn an Bord eines nach Zenga segelnden Schiffes brachten.« »Aber er lebt noch?« fragte Khalad.

»Wenn man es so nennen kann.« Sie seufzte. »Vergiß es, Khalad. Er würde es nicht einmal spüren, wenn du ihm dein Schwert durch die Brust stichst. Er würde nicht wissen, wer du bist oder weshalb du ihn tötest.«

»Danke, Baroneß«, sagte Khalad. »Aber ich glaube, daß Berit und ich einen Abstecher nach Zenga machen werden, sobald wir in Eosien zurück sind, nur um sicherzugehen. Krager ist uns viel zu oft entwischt, als daß wir noch irgendwelche Risiken eingehen wollen. Ich will ihn im Grab sehen!«
»Darf ich mitkommen?« bat Talen aufgeregt.
»Nein«, antwortete Khalad.
»Was heißt nein?«

»Daß es für dich an der Zeit ist, mit deinem Noviziat zu beginnen.« »Das kann warten.«

»Nein, kann es nicht! Du bist sowieso schon ein halbes Jahr zu spät dran. Wenn du nicht jetzt anfängst, ist es schon bald zu spät für deine Ausbildung.«

Vanion blickte Sperbers Knappen zufrieden an. »Vergeßt nicht, worüber wir uns unterhalten haben, Sperber. Und übermittle Dolmant meine Empfehlung.«
»Worum geht es?« fragte Khalad.
»Ich erzähle es dir später«, vertröstete Sperber ihn.

»Ach, übrigens, Ehlana«, sagte Sarabian, »da dieses Thema ohnehin zur Sprache kam – wärt Ihr sehr verärgert über mich, wenn ich Eurem niedlichen Singvogel hier einen Titel verleihen würde?« Er blickte Alean herzlich an. »Ich hoffe nicht, meine Liebe, denn ich werde es auf jeden Fall tun – wegen hervorragender Dienste für das Imperium, wenn schon sonst nichts.« »Was für eine wundervolle Idee, Sarabian!« rief Ehlana.

»Zuviel der Ehre. Sie stammt eigentlich nicht von mir«, gestand er bedauernd. »Um ehrlich zu sein, hat Eure Tochter es veranlaßt. Ihre königliche Hoheit ist ein sehr energisches kleines Mädchen und versteht es, ihren Willen durchzusetzen.« Sperber warf einen flüchtigen Blick auf seine Tochter, dann auf Flöte. Ihre Mienen waren völlig identisch und spiegelten absolute Selbstzufriedenheit. Göttin Aphrael sorgte dafür, daß ihrer Kuppelei nichts im Wege stand. Sperber lächelte flüchtig; dann räusperte er sich. »Äh – Majestät«, wandte er sich an den Kaiser. »Es ist schon ziemlich spät, und wir alle sind müde. Ich schlage vor, wir unterhalten uns morgen weiter.« »Selbstverständlich, Prinz Sperber.« Sarabian erhob sich.

»Habt Ihr noch einen Augenblick Zeit für mich, Sperber?« bat Emban, als die anderen den Salon verließen.
»Natürlich.« Sie warteten, bis sie allein waren.

»Was unternehmen wir wegen Vanion und Sephrenia?« fragte Emban. »Ich verstehe nicht ganz, Eminenz.«

»Die sogenannte Heirat wird Dolmant in eine sehr schwierige Lage bringen, wißt Ihr.«

»Es ist keine ›sogenannte Heirat‹, Emban!« entgegnete Sperber ein wenig zornig. »Ihr wißt schon, was ich meine. Die Konservativen in der Hierokratie werden wahrscheinlich versuchen, Sarathis Position zu schwächen.«

»Warum sollte man sie überhaupt darauf aufmerksam machen? Es geht die Herren nichts an. Vieles von dem, was unsere Theologie nicht erklären kann, ist hier in Tamuli geschehen, Eminenz. Das Imperium befindet sich außerhalb der Zuständigkeit der Kirche. Weshalb der Hierokratie etwas davon erzählen?« »Ich kann sie nicht belügen, Sperber!«

»Das habe ich ja auch nicht gesagt. Redet einfach nicht darüber!« »Ich muß es Dolmant berichten.«

»Dagegen ist ja auch nichts einzuwenden. Dolmant ist flexibel.« Sperber überlegte. »Das ist wahrscheinlich sowieso die beste Vorgehensweise für Euch. Wir nehmen Dolmant zur Seite und erzählen ihm alles, was hier passiert ist. Dann lassen wir ihn entscheiden, wieviel die Hierokratie davon erfahren soll.« »Ihr legt ihm da eine schreckliche Bürde auf, Sperber!«

Sperber zuckte die Schultern. »Dafür wird er schließlich bezahlt, oder nicht? – Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, Eminenz. Wir haben da eine Familienwiedervereinigung, an der ich eigentlich teilnehmen sollte.«

Während der nächsten Wochen herrschte eine melancholische Abschiedsstimmung. Sobald das Wetter es gestattete, würde der allgemeine Aufbruch beginnen; das war allen klar. Und alle wußten, daß sie einander wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würden. Sie genossen die Zeit, die ihnen noch blieb, und immer wieder kam es an den unwahrscheinlichsten Orten zu kleinen Treffen zwischen zwei oder drei Gefährten, bei denen sie sich lang und breit über völlig Unwichtiges unterhielten. Doch im Grunde genommen taten sie nichts weiter, als den Versuch zu unternehmen, sich für immer Gesichter, Stimmen und sehr persönliche Eigenheiten einzuprägen, sowie natürlich die Erlebnisse, die sie miteinander verbanden. Eines stürmischen Morgens betrat Sperber den blauen Salon und fand Sarabian und Oscagne Kopf an Kopf über ein größeres Buch mit festem Einband gebeugt. Beider Mienen verrieten Empörung. »Probleme?« erkundigte sich Sperber.

»Politik«, brummte Sarabian verärgert, »macht immer Probleme.«

»Die Fakultät für Zeitgeschichte der Universität von Matherion hat soeben ihre Version der kürzlichen Ereignisse veröffentlicht, Prinz Sperber«, erklärte Oscagne. »Sie hält sich jedoch so gut wie gar nicht an die Wahrheit – vor allem, was Pondia Subat betrifft, unseren ehrenwerten Premierminister, der als großer Held dargestellt wird.«

»Ich hätte Subat gleich absetzen sollen, nachdem ich von seinen Machenschaften erfahren hatte«, brummte Sarabian. »Wer wäre der beste Mann, diesen Schwachsinn richtigzustellen, Oscagne?«

»Mein Bruder, Majestät«, antwortete der Außenminister prompt. »Er gehört der Fakultät an und hat einen gewissen Ruf. Bedauerlicherweise ist er jetzt in Cynestra.« »Schickt nach ihm, Oscagne! Holt ihn hierher, ehe die Kerle von der Zeitgeschichte das Denken ganzer Generationen vergiften.« »Maris wird gewiß mitkommen wollen, Majestät.«

»Gut! Euer Bruder ist ohnehin zu selbstherrlich. Sorgen wir dafür, daß Atana Maris sich stets in seiner unmittelbaren Nähe aufhält. Vielleicht gelingt es ihr, ihn ein wenig Demut zu lehren.«

»Was machen wir mit den Cyrgai, Majestät?« fragte Sperber. »Sephrenia sagt, der Fluch, der sie gefangenhielt, wurde mit Cyrgons Tod aufgehoben. Es ist zwar eigentlich nicht ihre Schuld, aber in der modernen Welt gibt es wirklich keinen geeigneten Platz für sie.«

»Darüber habe ich mir selbst schon den Kopf zerbrochen«, gab der Kaiser zu. »Ich glaube, wir sollten sie von normalen Sterblichen fernhalten. Etwa fünfzehnhundert Meilen östlich von Tega gibt es eine Insel, die verhältnismäßig fruchtbar ist und ein mehr oder weniger erträgliches Klima hat. Da die Cyrgai so sehr von Abgeschiedenheit angetan sind, würde es ihnen dort vermutlich gefallen. Wie lange, meint Ihr, werden sie brauchen, Schiffe zu erfinden?«

»Mehrere tausend Jahre, Majestät. Die Cyrgai sind nicht sehr einfallsreich.« Sarabian grinste ihn an. »Ich würde sagen, das ist genau der richtige Ort für sie!« Sperber grinste zurück. »Hört sich gut an«, pflichtete er ihm bei.

Der Frühling hatte es in diesem Jahr eilig, nach Osttamuli zu kommen. Ein plötzlicher warmer Wind blies vom Tamulischen Meer herbei und schmolz in einer einzigen Nacht den Schnee von den Hängen der nahen Berge. Die Bäche und Flüsse führten dadurch Hochwasser, und so war an den Antritt der Rückreise noch nicht zu denken. Sperbers Ungeduld wuchs mit jedem Tag, den sie bleiben mußten. Das lag nicht so sehr daran, daß er etwas Dringendes erledigen wollte, als daß dieser so lange währende Abschied außerordentlich schmerzvoll war.

Ehlana bestand obendrein zunächst auch noch darauf, daß sie alle nach Atan reisten, um die Hochzeit von Mirtai und Kring zu feiern.

»Ihr seid wirklich wieder einmal vorschnell, Ehlana«, rügte Mirtai sie wie üblich, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Ihr habt schon an anderen Hochzeiten teilgenommen, und Ihr habt ein Reich zu regieren! Kehrt nach Cimmura zurück, wohin Ihr gehört!«

»Möchtet Ihr denn nicht, daß ich dabei bin?« Ehlanas Augen füllten sich mit Tränen. Mirtai umarmte sie. »Ihr werdet dabei sein, Ehlana«, tröstete Mirtai sie. »Ihr seid jetzt für immer in meinem Herzen. Kehrt nach Cimmura zurück. Ich besuche Euch, sobald Kring und ich uns in Pela eingerichtet haben – oder wo immer wir uns zu leben entscheiden.«

Vanion und Sephrenia beschlossen, Königin Betuanas Gruppe bis nach Atana zu begleiten und von dort nach Sarsos weiterzureisen. »Dort zu leben, ist wahrscheinlich das beste für uns«, erklärte Sephrenia Sperber. »Ich genieße dort einen gewissen Status, der es mir ermöglicht, die Fanatiker, denen es nicht gefällt, daß Vanion und ich jetzt verheiratet sind, in ihre Schranken zu weisen.«

»Gut gesagt.« Sperber seufzte. »Ihr werdet mir sehr fehlen, kleine Mutter. Euch ist doch klar, daß Ihr und Vanion nie wieder nach Eosien zurückkommen könnt, nicht wahr?«

»Das glaubt Ihr doch nicht im Ernst, Sperber.« Sie lachte. »Ich habe mich immer und überall hinbegeben, wohin ich wollte, und daran wird sich nichts ändern. Es gibt stets Möglichkeiten, Vanions Gesicht – und das meine – zu verändern, wie Ihr wißt. Wir werden euch also ganz gewiß hin und wieder besuchen. Ich möchte eure Tochter im Auge behalten, wenn schon sonst nichts.« Sie küßte ihn. »Aber geht jetzt, Lieber. Ich muß mit Sarabian über Betuana reden.« »Ach?«

»Sie murmelt irgendwelchen Unsinn von wegen Abdankung, um Engessa heiraten zu können. Die Ataner sind Untertanen des Kaisers; deshalb werde ich Sarabian überreden müssen, daß er sie davon abhält, etwas Törichtes zu tun. Engessa wird einen sehr guten Mitregenten abgeben, und schließlich braucht Sarabian in Atan innere Festigkeit.«

Als die Schneeschmelze endete, das Frühlingswasser zurückging und die aufgeweichten Felder zu trocknen begannen, schaute Sperber sich im Hafen nach Kapitän Sorgi um. Es schaukelten weniger mitgenommene und luxuriösere Schiffe in dem überfüllten Hafen vor Anker, doch Sperber vertraute Sorgi blind; mit ihm heimzusegeln würde er als beruhigenden, aber auch würdigen Abschluß dieses Abenteurers betrachten. Er entdeckte den kraushaarigen Kapitän in einer sauberen, hell beleuchteten Hafenschenke, die offensichtlich von einem elenischen Wirt geführt wurde.

»Wir sind dreizehn Personen, Käpt'n«, sagte Sperber, »und sieben Pferde.« »Das dürfte ziemlich eng werden, Meister Cluff.« Sorgi blickte blinzelnd zur Decke. »Aber ich glaube, es läßt sich machen. Werdet Ihr die Passage selbst bezahlen müssen?«

Sperber grinste. »Der Kaiser hat sich huldvoll erboten, die Kosten zu übernehmen.« Er blickte Sorgi warnend an. »Er ist ein Freund, also treibt ihn nicht in den Bankrott!« Sorgi grinste zurück. »So etwas würde ich doch nie tun, Meister Cluff!« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Es war eine interessante Zeit, und das tamulische Imperium ist ein interessanter Ort; trotzdem freue ich mich darauf, wieder nach Hause zu kommen.«

Sperber nickte bestätigend. »Manchmal habe ich das Gefühl, mein ganzes Leben mit dem Versuch verbracht zu haben, wieder nach Hause zu kommen.«

»Ich werde den Preis für Eure Passage ausrechnen und Euch die genauen Zahlen von meinem Bootsmann zur Burg bringen lassen. Ich hätte ihn unten in Beresa übrigens fast verloren, wißt Ihr.«
»Euren Bootsmann?«

Sorgi nickte. »Zwei Straßenräuber überfielen ihn in einer Gasse. Er kam gerade noch mit dem Leben davon.«

»Nicht zu glauben!« sagte Sperber. Offenbar hatte Valash beim Anwerben der Meuchler genauso gespart wie bei allem anderen. »Wann wollt Ihr denn in See stechen, Meister Cluff?«

»Das wissen wir noch nicht genau – irgendwann in der nächsten Woche. Ich gebe Euch noch rechtzeitig Bescheid. Einige unserer Freunde werden bald auf dem Landweg nach Atan aufbrechen. Es wäre vielleicht das beste, wenn wir am selben Tag ausliefen.«

»Gute Idee.« Sorgi nickte. »Es ist immer anzuraten, das Abschiednehmen nicht zu sehr auszudehnen. Seeleute haben gelernt, schnell Lebewohl zu sagen. Wenn die Zeit zum Aufbruch kommt, müssen wir stets die nächste Flut nehmen, und die wartet nicht.« »Wohl gesprochen, Sorgi.« Sperber lächelte.

Es überraschte niemanden, daß Betuana die Entscheidung traf. »Wir brechen morgen auf«, erklärte sie eine Woche später beim abendlichen Schmaus. »So bald schon?« fragte Sarabian bestürzt.

»Der Schnee ist geschmolzen und die Wiesen sind trocken, Sarabian-Kaiser. Warum sollten wir noch länger warten?«
»Nun …«

»Ihr seid zu sentimental, Sarabian«, sagte sie unverblümt. »Ihr wißt, daß wir nach Hause müssen! Warum es aufschieben? Kommt im Herbst nach Atan, dann gehen wir zusammen auf Wildschweinjagd. Ihr verbringt viel zuviel Zeit hier in Matherion im Schloß!«

»Es ist sehr schwierig für mich, von hier wegzukommen«, sagte er unschlüssig. »Jemand muß schließlich hierbleiben und die Stellung halten.«

»Überlaßt das Oscagne. Er ist ein ehrenwerter Mann und wird nicht allzu viel stehlen.«
»Majestät!« entrüstete sich Oscagne.

Sie lächelte ihn an. »Ich wollte Euch doch nur ein bißchen ärgern, Oscagne. Freunde dürfen das, meint Ihr nicht auch?«

In dieser Nacht gab es für keinen von ihnen viel Schlaf. Natürlich wurde gepackt, und eine Unmenge von Vorbereitungen waren zu treffen, doch den Großteil der Nacht verbrachte man damit, die Korridore mit wichtigen Botschaften auf und ab zu laufen, die im Grunde genommen alle ziemlich gleich lauteten: »Versprecht, daß wir in Verbindung bleiben!«

Und natürlich versprachen es alle, und alle meinten es ehrlich. Es würde auch mindestens ein Jahr, wenn nicht länger dauern, bis dieses Versprechen allmählich in Vergessenheit geriet.

Als sich über dem Tamulischen Meer das erste Grau des Morgens bemerkbar machte, sammelten sie sich im Burghof. Es gab die üblichen Küsse und Umarmungen und festen Händedrücke.

Schließlich war es Khalad, der gute, unerschütterliche, verlaßliche Khalad, der prüfend zum östlichen Horizont blickte, sich räusperte und feststellte: »Wir sollten jetzt wirklich aufbrechen, Sperber. Sorgi wird uns einen Tag mehr berechnen, wenn wir schuld daran sind, daß er nicht mit der ersten Flut auslaufen kann!«

»Stimmt«, bestätigte Sperber. Er hob Ehlana in die offene Karosse, die Sarabian zur Verfügung gestellt hatte und in der bereits Emban, Talen, Alean und Melidere saßen. Dann blickte er sich um und sah, daß Danae und Flöte leise miteinander sprachen. »Danae!« rief er seiner Tochter zu. »Zeit, loszufahren!«

Die Kronprinzessin von Elenien küßte die Kindgöttin von Styrikum ein letztes Mal und kam gehorsam über den Hof zu ihrem Vater.

»Danke, daß Ihr vorbeigekommen seid, Sperber«, sagte Sarabian schlicht und streckte die Hand aus.

Sperber ergriff sie. »Es war mir ein Vergnügen, Sarabian«, erwiderte er. Dann schwang er sich in Farans Sattel und ritt voraus über die Zugbrücke und durch die noch im Dunkeln liegenden Grünanlagen.

Sie benötigten etwa fünfzehn Minuten zum Hafen: dann dauerte es noch ungefähr eine halbe Stunde, die Pferde in den vorderen Laderaum zu bringen. Sperber kehrte an Deck zu den anderen zurück und blickte zum Osthorizont, wo die Sonne noch nicht aufgegangen war.

»Bereit, Meister Cluff?« rief Sorgi vom Achterdeck am Heck des Schiffes.

»Alles bereit, Käpt'n Sorgi«, rief Sperber zurück. »Wir haben erledigt, was wir uns vorgenommen hatten. Bringt uns heim!«

Der wichtigtuerische Bootsmann stolzierte das Deck auf und ab und überwachte unnötigerweise das Loswerfen der Trossen und das Setzen der Segel.

Die Flut war bereits hereingebrochen, und ein guter Rückenwind hatte sich erhoben. Sorgi manövrierte sein arg mitgenommenes Schiff geschickt durch den Hafen aufs offene Meer.

Sperber hob Danae auf einen Arm und legte den anderen um Ehlanas Schultern. So standen sie an der Backbordreling und blickten zurück zur Stadt der Tamuler, die als der Mittelpunkt der Welt bezeichnet wurde. Sorgi schwang die Ruderpinne zum Südostkurs um die Halbinsel herum, und gerade als die Segel sich in der Brise blähten, glitt die Sonne über den Osthorizont.

Matherion war in den Schatten des Morgengrauens bleich gewesen, doch nun, da die Sonne aufging, schienen die opalisierenden Kuppeln Feuer zu fangen, und schillerndes, regenbogenfarbenes Licht spielte über die schimmernden Dächer und Mauern. An der Reling des alten Schiffes blickten Sperber, seine Gemahlin und seine Tochter mit staunenden Augen auf die glühende Stadt, die ihnen ihr eigenes Lebewohl sagte und eine gute und sichere Heimfahrt zu wünschen schien. Hier endet die Geschichte von Sperbers Abenteuern im Tamulischen Imperium.


E N D E