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Sie redeten und redeten, und jedes »Vielleicht« oder »Möglicherweise« oder »Wahrscheinlich« oder »Andererseits« machte Sperber noch nervöser. Es war ohnehin alles bloße Spekulation, ein nutzloses Ratespiel, wobei sich alles im Kreise drehte, ohne irgendwohin zu führen.

Sperber saß ein wenig abseits von den anderen und hielt die fast weißblonde Locke Ehlanas in der Hand. Das Haar fühlte sich seltsam lebendig an und schien sich wie von selbst zärtlich um seine Finger zu wickeln.

Natürlich war es seine Schuld. Er hätte nie zulassen dürfen, daß Ehlana nach Tamuli reiste. Es ging sogar noch weiter. Ihr Leben lang hatte Ehlana sich in Gefahr befunden, und immer nur seinetwegen – weil er Anakha war. Xanetia hatte gesagt, Anakha sei unbesiegbar; aber das erwies sich nun als Irrtum. Anakha war verwundbar wie jeder Ehemann. Indem er sich mit Ehlana vermählte, hatte er sie in Gefahr gebracht – eine Gefahr, der sie ihr Leben lang ausgesetzt sein würde. Er hätte Ehlana niemals heiraten dürfen. Natürlich liebte er sie – aber war es ein Beweis der Liebe, sie solcher Bedrängnis auszusetzen? Lautlos verfluchte er seine Schwäche, diese lächerliche Idee auch nur in Erwägung gezogen zu haben, als Ehlana das Thema Ehe zum erstenmal zur Sprache brachte. Er war Soldat, und Soldaten sollten niemals heiraten – schon gar nicht von Narben gezeichnete, ramponierte alte Veteranen mit zu vielen Jahren auf dem Buckel, zu vielen Schlachten hinter und noch zu vielen Feinden um sich. War er ein selbstsüchtiger alter Narr gewesen? Ein verachtenswerter, halb seniler Lüstling, dem es nur darum ging, sich in der Verliebtheit eines törichten jungen Mädchens zu sonnen? Ehlana hatte in ihrer Unreife beteuert, daß sie sterben würde, wenn er sie nicht zur Frau nahm. Doch er wußte, was von solchen Behauptungen zu halten war. Menschen starben von einem Schwertstoß in den Leib oder an Altersschwäche, aber gewiß nicht an unerwiderter Liebe. Er hätte Ehlana ins Gesicht grinsen und ihren lächerlichen Befehl einfach nicht beachten sollen. Dann hätte er eine passende Vermählung für sie in die Wege leiten können – mit einem gutaussehenden jungen Edelmann aus bestem Hause mit erstklassigen Manieren und einem Beruf, der keine Gefahren barg. Hätte er so gehandelt, befände sie sich nun in Cimmura, in Sicherheit, statt in den Händen von Verrückten, verderbten Zauberern und fremden Göttern, denen Ehlanas Leben nicht das geringste bedeutete.

Doch alle redeten und redeten. Als ob es in dieser Sache überhaupt eine Wahl gäbe! Nein, Sperber würde den Anweisungen folgen, weil Ehlanas Leben davon abhing. Natürlich würden die anderen ihn umzustimmen versuchen, doch ihre Argumente würden ihn nur noch mehr in Wut versetzen. Das beste wäre, sich mit Bhelliom und Khalad klammheimlich aus Matherion zu stehlen, ohne den anderen noch länger die Chance zu geben, ihn, Sperber, mit ihrem sinnlosen Gerede verrückt zu machen. Der Hauch eines frühlingshaften Lüftchens an seiner Wange und ein sanftes Stupsen an seiner Hand rissen ihn aus seinen düsteren Überlegungen.

»Es lag nicht in meiner Absicht, Euch in Euren Gedanken zu stören, Herr Ritter«, entschuldigte sich das weiße Reh, »aber meine Herrin möchte mit Euch sprechen.« Sperber riß überrascht den Kopf herum. Er saß nicht mehr im blauen Salon in Matherion, und die Stimmen der anderen waren dem sanften Plätschern von Wellen an einem goldenen Sandstrand gewichen. Sperbers Sessel stand plötzlich auf dem Marmorboden von Aphraels Tempel auf der kleinen grünen Insel, die sich smaragdgleich aus der See erhob. Unter dem regenbogenfarbenen Himmel säuselte der Wind im Laub der uralten Eichen, die den Alabastertempel umstanden. »Ihr habt mich vergessen«, klagte das weiße Reh, und Bedauern sprach aus den sanften Augen.

»Nie!« versicherte er ihm. »Ich werde mich immer an dich erinnern, teures Wesen; denn ich liebe dich noch immer so sehr wie bei unserer ersten Begegnung.« Die Worte kamen wie von selbst über Sperbers Lippen.

Das Reh seufzte glücklich und legte den schneeweißen Kopf auf seinen Schoß. Er streichelte den Hals des Tieres und blickte um sich.

Die Kindgöttin Aphrael, ganz in Weiß gewandet und von einem leuchtenden Strahlenkranz umgeben, saß auf einem Ast einer der Eichen ganz in der Nähe. Sie hob ihre Syrinx und spielte eine fast spöttische, trillernde Melodie.

»Was führst du jetzt im Schilde, Aphrael?« rief Sperber zu ihr hinauf und verdrängte mit voller Absicht die blumige Sprache, die ihm über die Lippen wollte.

»Ich dachte, du möchtest dich vielleicht unterhalten«, antwortete sie und senkte die Flöte. »Wolltest du wirklich noch länger in Selbstmitleid schwelgen? Bist du ein Mönch, der sich kasteien will? Soll ich dir eine Peitsche geben, damit du dich geißeln kannst? Nimm dir ruhig so viel Zeit, wie du willst, Vater. Dieser Augenblick, jetzt und hier, wird so lange dauern, wie es mir beliebt.« Sie streckte ein grasfleckiges Füßchen aus, stellte es in die Leere und stieg gelassen eine unsichtbare Treppe zu dem marmornen Fußboden des Tempels hinunter. Dort ließ sie sich anmutig nieder, überkreuzte die Beine an den Fußgelenken und hob ihre Syrinx wieder an die Lippen. »Stört es deine düsteren Grübeleien sehr, wenn ich spiele?« »Was bildest du dir eigentlich ein?« rief er heftig.

Sie zuckte die Schultern. »Offenbar hast du dieses merkwürdige Bedürfnis nach irgendeiner Buße. Aber dafür ist keine Zeit! Ich würde als Göttin nicht viel taugen, könnte ich nicht beide Bedürfnisse gleichzeitig stillen, nicht wahr?« Sie tippte auf ihre Syrinx. »Hast du irgendwelche Lieblingsweisen, die du gern hören möchtest?«
»Du meinst es ernst, oder?«
»Ja.« Sie blies einen kurzen Triller.

Für einen Moment funkelte er sie finster an; dann gab er es auf. »Können wir uns darüber unterhalten?« »Du bist zu Verstand gekommen? So schnell? Erstaunlich!«

Sperber ließ den Blick über die Insel schweifen. »Wo liegt dieser Ort?« fragte er neugierig.

Die Kindgöttin zuckte die Schultern. »Wo immer ich es möchte. Ich nehme ihn überallhin mit. Ist es dir wirklich ernst? Ich meine, was du gerade gedacht hast? Wolltest du tatsächlich Bhelliom nehmen, Khalad am Schlafittchen packen, dich auf Farans Rücken schwingen und versuchen, in drei verschiedene Richtungen gleichzeitig zu reiten?«

»Vanion und die anderen tun nichts als reden, reden und nochmals reden, Aphrael, und ihr Gerede führt zu nichts!« »Hast du mit Bhelliom über dein Vorhaben gesprochen?«

»Es ist meine Entscheidung, Aphrael. Ehlana ist meine Frau!«

»Wie mutig du bist, Sperber. Du triffst eine Entscheidung, die Bhelliom anbelangt, ohne dich mit ihm zu beraten. Laß dich nicht von seiner scheinbaren Höflichkeit täuschen, Vater. Sie ist nur Teil seines archaischen Verhaltens. Er wird nichts tun, wenn er weiß, daß es falsch ist – egal, wie sehr du dich bemitleidest. Doch wenn du ihm zu eigensinnig wirst, läßt er vielleicht ganz einfach eine neue Sonne entstehen – etwa sechs Zoll von deinem Herzen entfernt.«

»Ich habe die Ringe, Aphrael. Noch immer bin ich es, der hier die Befehle erteilt!« Sie lachte ihn aus.

»Glaubst du wirklich, die Ringe würden irgend etwas bedeuten, Sperber? Sie haben keinerlei Macht über Bhelliom. Sie dienten lediglich zur Tarnung! Sie sollten verschleiern, daß Bhelliom ein eigenständiges Bewußtsein hat – und sowohl einen eigenen Willen wie ein eigenes Ziel, das er verfolgt. Er kann die Kraft der Ringe brechen, wann immer er will.« »Warum brauchte er mich dann?«

»Weil du notwendig bist – wie der Wind oder die Gezeiten oder der Regen. Du bist so notwendig wie Klæl oder Bhelliom oder ich. Eines Tages werden wir hierher zurückkommen und uns lange und eingehend über Notwendigkeiten unterhalten. Aber erst, wenn du das Gefühl hast, dir die Zeit dafür nehmen zu können. Im Augenblick scheinst du sehr ungeduldig zu sein.«

»Und war die gekonnte Vorstellung, die du gestern für uns gegeben hast, ebenfalls eine Notwendigkeit? Wäre die Welt untergegangen, hättest du nicht dieses öffentliche Gespräch mit dir selbst geführt?«

»Was ich gestern getan habe, war nützlich, Vater, aber nicht notwendig. Ich bin, wer ich bin; das kann ich nicht ändern. Wenn es zu einer meiner Doppelexistenzen kommt, sind für gewöhnlich Menschen zugegen, die beide kleinen Mädchen kennen und denen somit die Ähnlichkeit auffällt. Deshalb sorge ich dafür, daß die Mädchen einander in aller Öffentlichkeit begegnen. Das verhindert lästige Fragen und zerstreut jeden möglichen Verdacht.« »Du hast Murr ganz schön erschreckt, weißt du?«

Sie nickte. »Ich werde es wieder gutmachen. Das war übrigens schon immer ein Problem. Tiere lassen sich nicht täuschen. Sie sehen uns nicht so, wie wir einander sehen.« Sperber seufzte. »Was soll ich tun, Aphrael?«

»Ich hatte gehofft, ein Besuch hier würde dich wieder zur Vernunft bringen. Ein kurzer Abstecher in die Wirklichkeit hat normalerweise diese Wirkung.«

Sperber blickte zu ihrem ganz persönlichen regenbogenfarbenen Himmel empor.
»Das ist deine Vorstellung von Wirklichkeit?«
»Gefällt dir meine Wirklichkeit nicht?«

»Sie ist wundervoll.« Er streichelte abwesend den Hals des weißen Rehs. »Aber das alles ist ein Traum!«

»Bist du so sicher, Sperber? Bist du wirklich sicher, daß dies nicht die Wirklichkeit und jener andere Ort der Traum ist?«

»Hör auf damit! Es bereitet mir Kopfschmerzen. Was soll ich tun?«

»Ich würde sagen, du solltest dich als erstes eingehend mit Bhelliom beraten. Dein Trübsalblasen und deine Grübelei über eigenmächtige Entscheidungen machen ihm ziemliche Sorgen.«
»Also gut. Und was dann?«

»So weit bin ich noch nicht.« Sie grinste ihn schelmisch an und ahmte Caalador nach: »Aber ich arbeite daran, Schätzchen.«

»Sie kommen unbeschadet wieder frei, Kalten!« versicherte Sperber seinem verzweifelten Freund und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter.

Hoffnungsloses Leid sprach aus Kaltens Augen, als er zu ihm aufblickte. »Bist du sicher, Sperber?«

»Ganz bestimmt, sofern wir klaren Kopf behalten. Ehlana befand sich in viel größerer Gefahr, als ich aus Rendor zurückkehrte. Damals haben wir das auch in Ordnung gebracht, nicht wahr?«

»Vermutlich hast du recht.« Kalten richtete sich in seinem Sessel auf und strich sein blaues Wams glatt. Sein Gesicht war finster. »Ich glaube, ich werde mir ein paar Leute vorknöpfen und ihnen die Hölle heiß machen.«
»Hättest du was dagegen, wenn ich mitkomme?«

»Du kannst helfen, wenn du möchtest.« Kalten rieb sich über eine Wange. »Ich habe nachgedacht«, fuhr er dann fort. »Falls du die Anweisungen in Kragers Brief befolgst, kann er dich ein ganzes Jahr und länger von einem Ende Tamulis zum anderen schicken. Das ist dir doch klar?«

»Habe ich eine Wahl? Sie werden mich nicht aus den Augen lassen.«

»Sollen sie doch! Erinnerst du dich, wie wir Berit kennenlernten?«

»Er war Novize im Ordenshaus in Cimmura.« Sperber zuckte die Schultern. »Nicht, als ich ihm zum erstenmal begegnete. Ich war auf dem Rückweg aus dem Exil in Lamorkand und bin in eine Schenke vor Cimmura eingekehrt. Berit war dort mit Kurik zusammen, und er trug deine Rüstung. Wir sind miteinander aufgewachsen – trotzdem habe sogar ich ihn mit dir verwechselt. Und wenn ich mich täuschen ließ, wird es Kragers Spitzel nicht anders ergehen. Also, wenn schon jemand von einem Ort zum anderen reisen muß, dann Übertrag diese Aufgabe doch Berit. Du und ich, wir haben Wichtigeres zu tun.«

Sperber starrte ihn an. »Das ist die beste Idee, die ich seit langem gehört habe!« Er blickte zu den anderen Gefährten hinüber. »Dürfte ich um eure Aufmerksamkeit bitten?«
Alle blickten ihn verdutzt an.

»Es ist an der Zeit, daß wir handeln«, sagte er. »Kalten hat mich daran erinnert, daß wir früher einmal Berit zur Täuschung als Doppelgänger für mich einsetzten. Er und ich haben in etwa die gleiche Statur, mein Plattenpanzer paßt ihm mehr oder weniger, und bei geschlossenem Visier kann niemand sein Gesicht erkennen. Wenn wir ihn dazu überreden können, wieder den narbigen alten Veteranen zu spielen, gelingt es uns vielleicht, mit ein paar Überraschungen für Krager und seine Kumpane aufzuwarten.«

»Es ist gar nicht nötig, mich zu überreden. Ihr braucht mich nicht einmal darum zu bitten, Sperber«, versicherte Berit.

»Informiere dich erst einmal, was du tun sollst, bevor du dich als Freiwilliger meldest, Berit«, riet Khalad seinem Freund.

»Dein Vater pflegte fast genau das gleiche zu sagen«, erinnerte sich Berit. »Warum hast du dann nicht auf ihn gehört?«

»Das ist ein interessanter Plan, Prinz Sperber«, meldete Oscagne sich zu Wort. »Aber ist er nicht außerordentlich gefährlich?«

»Ich habe keine Angst, Exzellenz!« rief Berit, und seine Stimme klang beinahe entrüstet.

»Ich dachte dabei nicht an die Gefahr für Euch, Ritter Berit, sondern für Königin Ehlana. Sobald jemand Eure Maskerade durchschaut …« Oscagne spreizte die Hände.

»Dann müssen wir eben dafür sorgen, daß seine Maskerade auf keinen Fall durchschaut werden kann!« warf Sephrenia ein.

»Er kann sein Visier nicht immer geschlossen halten, Sephrenia!« gab Sarabian zu bedenken.

»Das wird auch nicht erforderlich sein«, erwiderte Sephrenia. Sie blickte Xanetia nachdenklich an. »Vertrauen wir einander genug, daß wir zusammenarbeiten können, Anarae? Bei einer Sache, die ein wenig weitergeht als alles Bisherige.« »Ich werde Eurem Vorschlag aufmerksam lauschen, meine Schwester.«

»Delphaeische Magie beeinflußt hauptsächlich den Geist und die Seele, nicht wahr?«
Xanetia nickte.

»Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, daß niemand sie hören oder fühlen kann. Styrische Magie ist das genaue Gegenteil. Wir ändern die Dinge um uns; unsere Magie wirkt also nach außen. Nun, in diesem Fall wäre weder die delphaeische, noch die styrische Magie allein ausreichend, aber wenn wir sie verbinden …« »Ein interessanter Gedanke«, meinte Aphrael nachdenklich. »Ich fürchte, ich verstehe nicht«, gestand Vanion.

»Die Anarae und ich werden ein bißchen experimentieren müssen«, erklärte Sephrenia ihm. »Und wenn mein Plan funktioniert, müßten wir bewerkstelligen können, daß Berit Sperber so ähnlich sieht, daß die beiden einander als Rasierspiegel benutzen können.«

»Solange wir beide genau wissen, was der andere tut, ist es nicht zu schwierig, Sperber«, versicherte Sephrenia ihm später, als er und Berit sich ihr, Vanion und der Anarae in dem Gemach anschlossen, das Sephrenia mit Vanion teilte. »Wird es wirklich funktionieren?« fragte er sie zweifelnd.

»Für eine Generalprobe war noch keine Zeit, Sperber«, erwiderte Vanion, »deshalb können wir natürlich nicht völlig sicher sein.«

»Das hört sich aber gar nicht vielversprechend an. Mein Gesicht ist zwar nichts Besonderes, aber es ist mein einziges.«

»Es besteht keine Gefahr für Euch oder den jungen Ritter Berit, Anakha«, beruhigte Xanetia ihn. »In früheren Zeiten war es häufig erforderlich, daß unsere Leute unser Tal verlassen und sich in anderen Gegenden als Einheimische ausgeben mußten. Auf diese Weise haben wir versucht, unsere wahre Identität zu verbergen.« »Es funktioniert in etwa so, Sperber«, erklärte Sephrenia. »Xanetia wirkt einen delphaeischen Zauber, der normalerweise Eure Züge auf ihr Gesicht prägen würde. Aber genau in dem Moment, wenn sie ihren Zauber freigibt, gebe ich einen styrischen frei, der den ihren ablenkt und ihn statt auf sie selbst auf Berit überträgt.« »Wird denn nicht jeder Styriker in Matherion fühlen, wenn Ihr Euren Zauber wirkt?« fragte Sperber.

»Das ist ja das Schöne daran, Sperber«, rief Aphrael. »Der eigentliche Zauber kommt von Xanetia – und andere können delphaeische Zauber weder hören noch fühlen. Selbst wenn Cyrgon höchstpersönlich sich im angrenzenden Zimmer aufhielte, könnte er ihn nicht hören!«
»Du bist sicher, es funktioniert?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das festzustellen.«

Natürlich spürte Sperber nicht das geringste; er war schließlich nur das Modell. Doch es brachte ihn leicht aus der Fassung, als er beobachtete, wie Berit sich allmählich veränderte.

Nach Beendigung des kombinierten Zaubers begutachtete Sperber seinen jungen Freund sorgfältig. »Sehe ich von der Seite tatsächlich so aus?« fragte er Vanion ein wenig betroffen.
»Ich kann euch zwei nicht auseinanderhalten.«
»Die Nase ist ganz schön krumm, nicht wahr?«
»Wir dachten, das wüßtet Ihr.«

»So habe ich mich noch nie von der Seite angesehen.« Sperber blickte prüfend in Berits Augen. »Vielleicht solltest du hin und wieder ein bißchen blinzeln«, schlug er vor. »Meine Augen sind nicht mehr so gut, wie sie mal waren. Aber damit muß man halt rechnen, wenn man älter wird.«

Berit nickte. »Ich werde mich bemühen, daran zu denken.« Sogar seine Stimme klang anders.

»Höre ich mich wirklich so an?« Sperber war sichtlich bestürzt.

Vanion nickte.

Sperber schüttelte den Kopf. »Jetzt, da ich weiß, wie andere mich sehen und hören, habe ich keine allzu hohe Meinung mehr von mir«, gestand er. Wieder blickte er Berit an. »Ich habe nichts gespürt. Und du?«
Berit nickte und schluckte.
»Wie war es?«

»Ich möchte lieber nicht darüber reden.« Berit betastete mit offenbar widerstrebenden Fingerspitzen sein neues Gesicht und zuckte dabei zusammen. »Ich kann sie immer noch nicht unterscheiden!« Staunend starrte Kalten erst Berit, dann Sperber an.

»Das ist ja auch der Zweck der Übung«, erinnerte Sperber ihn.
»Welcher von euch beiden bist du?«
»Versuch bitte, ernst zu sein!« rügte Sperber.

»Jetzt, da wir wissen, wie es gemacht wird, können wir noch einige andere Veränderungen vornehmen«, erklärte Sephrenia. »Wir werden euch allen andere Gesichter geben, damit ihr euch frei bewegen könnt – und wir werden Männer mit euren Gesichtern hier in der Burg postieren. Wir müssen damit rechnen, daß wir alle beobachtet werden, sogar jetzt noch, nach dem Erntedankfest. Aber unser Zauber sollte dieses Problem beheben.«

»Genauere Pläne können wir später noch ausarbeiten«, meinte Vanion. »Sehen wir erst mal zu, daß Berit und Khalad sich auf den Weg machen. Was ist die übliche Route, wenn man von hier nach Beresa reisen will?« Er entrollte seine Karte und breitete sie auf dem Tisch aus.

»Die meisten fahren mit dem Schiff«, antwortete Oscagne. »Wer das nicht will, überquert für gewöhnlich die Halbinsel bis Micae und nimmt von dort ein Schiff über die Bucht zum Festland.«

Vanion studierte stirnrunzelnd die Karte. »Offenbar gibt es dort keine Straßen!« »Es ist ein verhältnismäßig menschenleeres Gebiet, Hochmeister Vanion …« Oscagne zuckte die Schultern. »… hauptsächlich Salzsümpfe und dergleichen. Die wenigen Wege, die hindurchführen, sind gewiß auf keiner Karte eingezeichnet.« »Macht es, so gut ihr könnt«, wandte Vanion sich an die beiden jungen Männer. »Sobald ihr an den Tamulischen Bergen vorüber seid, stoßt ihr auf die Straße, die um die Westseite des Urwalds herumführt.«

»Ich würde mich vor diesen Bergen hüten, Berit«, mahnte Ulath. »Dort hausen jetzt Trolle!«
Berit nickte.

»Und Ihr solltet ein ernstes Wort mit Faran reden, Sperber«, riet Khalad. »Ich glaube nicht, daß er sich täuschen läßt, nur weil Berit jetzt aussieht wie Ihr. Doch Berit muß Faran reiten, wenn die Täuschung vollkommen sein soll.« »Daran hatte ich gar nicht gedacht«, gestand Sperber. »Das war mir völlig klar.«

»Also gut«, fuhr Vanion mit seinen Anweisungen für die beiden jungen Männer fort. »Folgt diesem Weg bis Lydros. Dann nehmt die Straße, die um die Südspitze Arjunas herum nach Beresa führt. Das ist die naheliegendste Route. Wahrscheinlich rechnet man damit, daß ihr sie nehmt.«

»Wir werden ziemlich viel Zeit dafür brauchen, Hochmeister Vanion!« gab Khalad zu bedenken.

»Ich weiß. Aber genau das wollen Krager und seine Kumpane offenbar. Hätten sie es eilig, hätten sie Sperber angewiesen, ein Schiff zu nehmen.« »Gib Berit den Ring deiner Gemahlin, Sperber«, befahl Flöte. »Wa-as?«

»Zalasta kann die Ringe spüren. Und wenn er es kann, kann Cyrgon es erst recht – und Klæl vermag es ohne Zweifel! Wenn du Berit den Ring nicht gibst, war die Verwandlung seines Gesichts pure Zeitvergeudung.«

»Du setzt Berit und Khalad großer Gefahr aus!« sagte Sephrenia mißbilligend. »Dafür werden wir bezahlt, kleine Mutter.« Khalad zuckte die Schultern.

»Ich werde über sie wachen«, beruhigte Aphrael ihre Schwester. Sie blickte Berit prüfend an. »Ruf mich!« befahl sie.
»Göttin?«

»Wirk den Zauber, Berit!« forderte sie ihn mit scheinbar erzwungener Geduld auf. »Ich möchte sichergehen, daß du es richtig tust.«

»Oh!« Sorgfältig sprach Berit den Zauber, wobei er die Hände auf verwirrende Weise bewegte.

»Du hast das Wort kajerasticon falsch ausgesprochen!« verbesserte sie ihn.

Sephrenia bemühte sich, ein Lachen zu unterdrücken, war aber nicht gerade erfolgreich.

»Was ist daran so komisch?« erkundigte Talen sich neugierig.

»Vergiß, was er gesagt hat!« ermahnte Flöte ihn streng. »Wir sind nicht hier, um unfeine Witze über den Unterschied zwischen Knaben und Mädchen zu wiederholen. Üb den Spruch noch ein wenig, Berit! Und nun versuch die geheime Anrufung!« »Was ist das?« flüsterte Itagne Vanion zu.

»Man bedient sich ihrer, um Botschaften weiterzuleiten, Exzellenz«, erklärte Vanion. »Sie beschwört die Aufmerksamkeit der Kindgöttin, nicht jedoch ihre Gegenwart. Damit können wir ihr eine Nachricht zuleiten, die sie weiter übermittelt.«

»Ist das nicht ziemlich erniedrigend für die Kindgöttin? Laßt Ihr sie wirklich auf diese Weise Nachrichten übermitteln und in gewisser Weise Botengänge für euch machen?«

»Das ist keine Kränkung für mich, Itagne.« Aphrael lächelte. »Schließlich leben wir doch nur, um denen zu dienen, die wir lieben, nicht wahr?«

Berits Aussprache der zweiten Zauberformel trug ihm keine Rüge ein.

»Das ist der Zauber, den Ihr hauptsächlich benutzen werdet, Berit«, sagte Vanion. »Krager warnte Sperber, sich der Magie zu bedienen, also bemüht Euch, nicht zu auffällig zu sein. Doch falls Ihr unterwegs neue Anweisungen erhaltet, befolgt sie unübersehbar. Aber gebt Aphrael sogleich Bescheid!«

»Eigentlich ist es jetzt gar nicht mehr erforderlich, Berit in Sperbers Panzer zu stecken, meint Ihr nicht auch, Hochmeister Vanion?« fragte Khalad.

»Gut mitgedacht«, lobte Vanion. »Ein Kettenhemd müßte genügen, Berit. Jetzt wollen wir ja, daß sie Euer Gesicht sehen.«
»Jawohl, Eminenz.«

»Und jetzt seht zu, daß ihr zwei euch gründlich ausschlaft. Ihr werdet morgen in aller Frühe aufbrechen.«

»Bloß nicht zu früh!« warf Caalador rasch ein. »Wir möchten ja nicht, daß die Spitzel euren Aufbruch verschlafen. Was bringt ein neues Gesicht, wenn man keine Gelegenheit hat, es herzuzeigen, nicht wahr?«

Am Morgen war es kalt und feucht im Burghof, und ein feiner Herbstnebel lag über der schimmernden Stadt. Sperber führte Faran aus der Stallung. »Seid vorsichtig«, ermahnte er die zwei jungen Männer in Kettenhemden und Reiseumhängen. »Das habt Ihr bereits gesagt!« erwiderte Khalad. »Berit und ich sind nicht taub, wißt Ihr?«

»Du solltest diesen Namen schnell vergessen, Khalad!« rügte Sperber ihn. »Fang endlich an, deinen jungen Freund hier als mich zu betrachten. Ein kleiner Ausrutscher am falschen Ort könnte alles verraten.«
»Ich werde daran denken.«
»Braucht ihr Geld?«
»Ich hab' schon befürchtet, Ihr würdet das nie fragen!«

»Du bist genauso schlimm, wie dein Vater es war.« Sperber zog einen Beutel unter seinem Gürtel hervor und reichte ihn seinem Knappen. Dann trat er vor Faran hin und blickte eindringlich in die Augen des mächtigen Fuchshengstes. »Ich möchte, daß du eine Reise mit Berit machst, Faran. Benimm dich ihm gegenüber genauso, als wäre er ich!« Faran zuckte mit den Ohren und wandte den Blick ab.

»Hör gefälligst zu, wenn ich mit dir rede!« sagte Sperber scharf. »Es ist wichtig!«

Faran seufzte.

»Er weiß sehr wohl, wovon Ihr sprecht, Sperber«, warf Khalad ein. »Er ist nicht dumm – bloß schlecht gelaunt.«

Sperber reichte Berit die Zügel. Da fiel ihm noch etwas ein. »Wir brauchen ein Kennwort! Jeder von uns wird ein anderes Gesicht bekommen. Infolgedessen würdet Ihr uns nicht erkennen, wenn wir uns persönlich mit euch in Verbindung setzen müssen. Überlegt euch etwas ganz Normales!« Alle dachten nach.

»Wie wäre es mit Widderhorn?« schlug Berit vor. »Es dürfte nicht zu schwierig sein, dieses Wort in einer ganz gewöhnlichen Unterhaltung unterzubringen – und wir haben es schon einmal benutzt.«

Sperber erinnerte sich plötzlich an Ulesim, des heiligen Arashams angeblichen Lieblingsjünger, wie er auf einem Trümmerhaufen stand, wobei Kuriks Armbrustpfeil ihm aus der Stirn ragte. Das letzte Wort, das Ulesim ausgestoßen hatte, ehe er starb, lautete Widderhorn. »Sehr gut, Berit – äh – Ritter Sperber, wollte ich sagen. Das ist in der Tat ein Wort, an das wir uns alle erinnern. Jetzt solltet Ihr Euch aber wirklich auf den Weg machen.« Die beiden nickten und schwangen sich in die Sättel. »Viel Glück!« wünschte Sperber. »Euch ebenfalls, Ritter Sperber«, dankte Khalad.

Die zwei jungen Männer wendeten die Pferde in Richtung Zugbrücke und ritten langsam darauf zu.

»Unser einziger wirklicher Anhaltspunkt ist der Name Beresa«, sagte Sarabian etwas später nachdenklich. »In Kragers Brief steht, daß Sperber dort weitere Anweisungen erhalten wird.«

»Wer weiß, ob das nicht eine List ist, Majestät«, gab Itagne zu bedenken. »Tatsächlich wäre es durchaus möglich, daß der Austausch irgendwann – und irgendwo – stattfindet. Das könnte der Grund für den Befehl sein, den Landweg zu nehmen.«

»Stimmt«, pflichtete Caalador ihm bei. »Vielleicht warten Scarpa und Zalasta an der Westküste der Bucht von Micae, um dort den Austausch vorzunehmen.«

»Wir machen uns hier so viel Mühe!« sagte Talen. »Warum läßt Sperber die Königin nicht einfach durch Bhelliom befreien? Er könnte sie hierher versetzen, ehe Scarpa überhaupt bemerkt, daß sie verschwunden ist.«

»Nein.« Aphrael schüttelte den Kopf. »Das kann Bhelliom ebensowenig wie ich.« »Warum nicht?«

»Weil wir nicht wissen, wo sie ist – und wir können sie nicht suchen, weil der Feind das spüren würde.«
»Oh! Das wußte ich nicht.«
Aphrael verdrehte die Augen. »Männer!« Sie seufzte.

»Es war sehr listig von Ehlana, Melidere ihren Ring zuzustecken«, sagte Sephrenia, »aber wenn sie ihn bei sich behalten hätte, wäre es viel einfacher, sie aufzuspüren.« Vanion war da anderer Meinung. »Das bezweifle ich, Liebes«, widersprach er. »Gerade Zalasta weiß, daß man zu orten vermag, wo die Ringe sich befinden. Hätte Ehlana ihren Ring noch getragen, hätte Scarpa als erstes Krager oder Elron damit in die entgegengesetzte Richtung geschickt.«

»Du setzt voraus, daß Zalasta mit der Sache zu tun hat«, widersprach Sephrenia. »Aber es ist durchaus möglich, daß Scarpa auf eigene Faust handelt, weißt du.« »Es ist stets besser, das Schlimmste anzunehmen.« Er zuckte die Schultern. »Unsere Lage ist viel gefährlicher, wenn Zalasta und Cyrgon mit der Geschichte zu tun haben. Steckt jedoch nur Scarpa dahinter, wird es verhältnismäßig leicht sein, sich seiner zu entledigen.«

»Aber erst, nachdem Ehlana und Alean in Sicherheit sind!« warf Sperber ein. »Das bedarf keiner Erwähnung, Sperber!«

»Dann hängt also alles vom Augenblick des Austausches ab, nicht wahr?« bemerkte Sarabian. »Wir können zwar einige Vorbereitungen treffen, bis zu diesem Zeitpunkt aber nichts Wesentliches unternehmen.«

»Und das bedeutet, daß wir uns nahe an Berit und Khalad halten müssen«, fügte Tynian hinzu.

»Nein!« Aphrael schüttelte den Kopf. »Es würde unser ganzes Vorhaben zunichte machen, wenn ihr alle euch auf die beiden konzentriert. Überlaßt es mir, mich in ihrer Nähe zu halten. Ich trage keine Rüstung, also riecht mich auch niemand aus tausend Schritt Entfernung. Itagne hat recht. Der Austausch könnte jederzeit stattfinden. Ich werde Sperber in dem Moment Bescheid geben, in dem Scarpa mit Ehlana und Alean erscheint. Dann kann Bhelliom Sperber direkt über ihnen absetzen. Wir werden die Damen wieder bekommen und mehr oder weniger Herr der Lage sein.« »Und das bringt uns zur rein militärischen Lage zurück«, sagte Patriarch Emban nachdenklich. »Ich glaube, wir sollten Komier und Bersten benachrichtigen. Wir werden die Ordensritter in Cynesga und Arjuna brauchen, nicht in Edom oder Astel – oder hier in Matherion. Sobald sie aus dem Zemochischen Gebirge kommen, sollen sie nach Südosten reiten. Dann haben wir die Ataner in Sarna, die Ostpeloi und Ordensritter in Samar, die Trolle in den Tamulischen Bergen und Komier sowie Bersten an der Westseite der Wüste von Cynesga. Zu diesem Zeitpunkt werden wir das Land der Cyrgai wie eine weiche Frucht zerquetschen können.«

»Und feststellen, welche Art von Samen herausspringt«, fügte Kalten düster hinzu. Patriarch Emban, der erste Sekretär der Kirche von Chyrellos, liebte Tabellen und Aufstellungen. Bei jedem Thema, das zur Sprache kam, legte der fette kleine Kirchenherr sofort eine Liste an. Bei den meisten Diskussionen – wenn alles geklärt ist – gehen die Teilnehmer noch einmal die verschiedenen Punkte durch. Das war dann unweigerlich der Zeitpunkt für Embans großen Auftritt. Er brachte seine Liste zum Vorschein. »Also dann«, begann er in einem Tonfall, der unmißverständlich besagte, daß er nun alle Einzelheiten zusammenzufassen beabsichtigte. »Sperber wird mit Durchlaucht Stragen und unserem jungen Herrn Talen per Schiff nach Beresa reisen, richtig?«

»Auf diese Weise wird er an Ort und Stelle sein, falls Berit und Khalad tatsächlich den ganzen Weg bis dorthin zurücklegen müssen, Eminenz«, bestätigte Vanion. »Und da Stragen und Talen in Beresa Verbindungen haben, werden sie wahrscheinlich erfahren, wer sich sonst noch von auswärts in der Stadt aufhält.« Emban hakte diesen Punkt ab. »Als nächstes: Ritter Kalten, Ritter Bevier und Meister Caalador werden mit einem anderen Schiff reisen und sich in den Urwald von Arjuna begeben.«

Caalador nickte. »Ich habe einen Freund in Delo, der gute Kontakte zu den Räuberbanden in diesen Urwäldern besitzt. Wir werden uns einer dieser Banden anschließen, damit wir Natayos im Auge behalten und Bescheid geben können, sobald Scarpas Armee sich in Marsch setzt.«

»Gut.« Emban hakte auch das ab. »Als nächstes: Ritter Ulath und Ritter Tynian werden zu den Tamulischen Bergen reiten und Verbindung zu den Trollen halten.« Er runzelte die Stirn. »Weshalb Tynian? Er spricht kein Trollisch!«

»Tynian und ich verstehen uns gut«, brummte Ulath. »Ich würde mich schrecklich einsam fühlen, wenn niemand in der Nähe ist, mit dem ich mich unterhalten kann – von den Trollen einmal abgesehen. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie schwermütig es einen stimmen kann, wenn man nur Trolle um sich hat, Eminenz.« »Tut, was Ihr für richtig haltet, Ritter Ulath.« Emban zuckte die Schultern. »Also weiter: Sephrenia und Anarae Xanetia werden nach Delphaeus reisen, um Anari Cedon über diese neue Entwicklung in Kenntnis zu setzen und zu erklären, was wir vorhaben.«

»Und um zu sehen, ob wir Frieden zwischen Styrikum und den Delphae schließen können«, fügte Sephrenia hinzu.

Emban hakte einen weiteren Punkt ab. »Hochmeister Vanion, Königin Betuana, Botschafter Itagne und Domi Kring werden die fünftausend Ritter nach Westtamuli führen, damit sie sich ihren Streitkräften anschließen, die bereits in Sarna und Samar eingesetzt sind.«

»Wo ist Domi Kring überhaupt?« Königin Betuana blickte sich suchend nach dem kleinen Mann um.

»Er wacht über Mirtai«, antwortete Prinzessin Danae. »Er hat immer noch ein bißchen Angst, daß sie versuchen könnte, sich umzubringen.«

»Das könnte zum Problem werden«, meinte Bevier. »Unter diesen Umständen ist Kring vielleicht nicht bereit, Matherion zu verlassen.«

»Wir kommen auch ohne ihn zurecht, wenn es sein muß«, meinte Vanion, »ich kann mich direkt mit Tikume in Verbindung setzen. Mit Kring wäre es einfacher, doch es geht auch ohne ihn, falls er wirklich glaubt, Mirtai könnte eine Dummheit anstellen.« Emban nickte. »Weiter: Kaiser Sarabian, Minister Oscagne und ich bleiben hier in Matherion – sozusagen, um die Stellung zu halten. Die Kindgöttin wird uns auf dem laufenden halten, dafür sorgen, daß wir miteinander in Verbindung bleiben. Habe ich irgend etwas ausgelassen?« »Und was soll ich tun, Emban?« fragte Danae.

»Du bleibst bei uns in Matherion, königliche Hoheit«, antwortete Emban, »um unsere düsteren Tage und Nächte mit deinem Lächeln zu erhellen.«
»Machst du dich über mich lustig, Emban?«
»Natürlich nicht, Prinzessin.«

Mirtai als todunglücklich zu bezeichnen, wäre eine kaum zu übertreffende Untertreibung gewesen. Sie war gekettet, als Kring sie mit trostloser Miene zur Ratskammer brachte.

»Was ich ihr auch sage, sie hört auf nichts«, erklärte der Domi. »Ich glaube, sie hat sogar vergessen, daß wir einander versprochen sind.«

Die bronzehäutige Riesin blickte stumpf vor sich hin und ließ sich sogleich in hoffnungslosem Elend auf den Boden sinken.

»Sie hat ihre Pflicht gegenüber ihrer Besitzerin vernachlässigt«, sagte Betuana schulterzuckend. »Sie muß Ehlana entweder rächen oder sterben.«

»O nein, Majestät!« sagte Sperbers Tochter mit fester Stimme. Sie rutschte vom Sessel in der Ecke hinunter, von dem aus sie die Besprechung verfolgt hatte, setzte Rollo in der einen und Murr in der anderen Sesselecke ab und ging mit geschäftsmäßiger Miene zu Mirtai hinüber. »Atana Mirtai«, befahl sie scharf, »steh auf!«

Mirtai blickte sie stumpf an; dann erhob sie sich langsam und mit klirrender Kette.
»In Abwesenheit meiner Mutter bin ich die Königin!« erklärte Danae.
Sperber blinzelte.
»Du bist nicht Ehlana«, sagte Mirtai.
»Das behaupte ich auch nicht. Ich stelle lediglich eine nicht zu widerlegende Tatsache fest. Sarabian, ist es nicht so? Geht die Macht meiner Mutter nicht auf mich über, solange sie fort ist?«
»Nun – formalrechtlich gesehen, ja, glaube ich.«

»Formalrechtlich? Daß ich nicht lache! Ich bin Königin Ehlanas Thronerbin. Ich übernehme ihr Amt, bis sie zurückkehrt. Das wiederum bedeutet, daß bis zu ihrer Rückkehr alles mir gehört, was ihr Eigentum ist – ihr Thron, ihre Krone, ihr Geschmeide und ihre persönliche Sklavin.«

»Ich würde nicht gern vor Gericht gegen sie antreten müssen«, gestand Emban.
»Danke, Eminenz«, sagte Danae. »Also dann, Atana Mirtai, du hast es gehört. Du bist jetzt mein Eigentum!«
Mirtai funkelte sie finster an.

»Laß das!« fauchte Danae. »Und hör gut zu! Ich bin deine Besitzerin, und ich verbiete dir, dich selbst zu töten. Ebenso verbiete ich dir, wegzulaufen. Ich brauche dich hier. Du wirst bei Melidere und mir bleiben, und du wirst uns beschützen. Du hast bei meiner Mutter versagt. Versage nicht auch bei mir.«

Mirtai erstarrte; dann sprengte sie mit einer heftigen Drehung der Arme ihre Kette. »Ich werde gehorchen, Majestät«, stieß sie hervor, und ihre Augen blitzten. Mit selbstzufriedenem Lächeln blickte Danae in die Gesichter der anderen. »Na, seht ihr? So schwierig war das doch gar nicht.«