8

Edaemus als gekränkt zu bezeichnen, wäre eine maßlose Untertreibung gewesen. Das verschwommene weiße Licht, als das der Gott der Delphae zu sehen war, flackerte an den Rändern in einem wilden, verwirrenden roten Farbenspiel, und von dem feinen Pulverschnee in der kleinen Mulde oberhalb des Tales der Delphae stiegen Dampfschwaden auf, als der göttliche Zorn ihn zum Schmelzen brachte. »Nein!« rief Edaemus unerbittlich. »Kommt nicht in Frage!«

»Aber Vetter, sei doch vernünftig«, versuchte Aphrael ihn umzustimmen. »Die Lage hat sich geändert! Du klammerst dich da an etwas, das längst jeglichen Sinnes entbehrt! ›Ewige Feindschaft‹ mag ja früher gerechtfertigt erschienen sein, und ich gebe zu, daß meine Familie sich während des Krieges mit den Cyrgai nicht gerade anständig benommen hat, aber das ist doch schon so lange her! Jetzt noch an deinen verletzten Gefühlen festzuhalten, ist kindisch!«

»Wie konntest du nur, Xanetia?« rief Edaemus anklagend. »Wie konntest du das tun?«

»Es war zu unserem Besten, Geliebter«, antwortete sie. Sephrenia war verblüfft über diese enge persönliche Beziehung Xanetias zu ihrem Gott. »Du selbst hast mir befohlen, Anakha zu unterstützen. Da er Sephrenia zutiefst verehrt, mußte ich zu einer Übereinstimmung mit ihm kommen. Als Sephrenia und ich die Mauer der Feindschaft durchbrochen hatten, die zwischen uns stand, und als wir uns einander vertrauensvoll näherten, milderten Respekt und ein gemeinsames Ziel unseren traditionellen gegenseitigen Haß, der sich fast wie von selbst in tiefe Zuneigung verwandelte. In meinem Herzen ist sie nun meine teure Schwester.«

»Das ist ungeheuerlich! In meinem Beisein wirst du nie wieder so von dieser Styrikerin sprechen!«

»Wie du befiehlst, Geliebter.« Sie senkte ergeben den Kopf; dann aber riß sie das Kinn hoch, und ihr inneres Licht war nun von blendender Helligkeit. »Aber tief in meinem Herzen werde ich stets so denken!«

»Bist du jetzt endlich bereit, zuzuhören, Edaemus?« fragte Aphrael. »Oder möchtest du dich erst noch ein Jahrhundert lang einem kindischen Tobsuchtsanfall hingeben?«
»Du bist sehr keck, Aphrael!« rügte er.

»Ja, ich weiß. Das ist eine der Eigenschaften, die man an mir so entzückend findet. Aber du weißt doch, daß Cyrgon versucht, Bhelliom in seine Gewalt zu bekommen, nicht wahr? Oder warst du zu beschäftigt, mit den Sternen Bockspringen zu spielen, daß du über die Geschehnisse hier nicht auf dem laufenden bist?« »Benimm dich!« tadelte Sephrenia scharf.

»Er macht mich rasend! Seit zehntausend Jahren hegt und pflegt er seinen Haß, und wenn man ihm etwas sagt, benimmt er sich wie eine Mimose.« Die Kindgöttin musterte kritisch die leuchtende Erscheinung des Gottes der Delphae. »Deine Lichterspiele imponieren mir nicht, Edaemus. Wenn ich mir die Mühe machen würde, könnte ich das auch.«

Edaemus' Licht flackerte noch greller, und sein rötlicher Strahlenkranz wurde rußig. »Wie langweilig!« Aphrael seufzte. »Tut mir leid, Xanetia, aber wir vergeuden hier nur unsere Zeit. Ich sehe schon – Bhelliom und ich müssen allein mit Klæl fertig werden. Dein schwerfälliger Gott wäre ohnedies keine Hilfe.« »Klæl!« krächzte Edaemus.

»Ah! Spitzt du doch endlich die Ohren?« Sie verzog das Gesicht. »Bist du nun bereit, mir zuzuhören?«

»Wer hat das getan? Wer hat Klæl wieder auf die Erde losgelassen?«

»Also, ich bestimmt nicht! Zuerst haben alle nach Cyrgons Pfeife getanzt, doch plötzlich dreht Anakha den Spieß um. Du weißt doch, daß Cyrgon sich mit Niederlagen nicht abfinden kann, also bricht er einfach die Regeln. Was ist? Wirst du uns jetzt helfen, oder möchtest du lieber noch ein paar Millionen Jahre schmollend herumsitzen? Rasch, Edaemus, entscheide dich! Ich will keine Zeit vergeuden!«


»Wie kommt Ihr darauf, daß ich mehr Männer brauche?« fragte Narstil heftig. Er war ein dünner, ja, fast skelettdürrer Arjuner mit knochigen Armen und eingefallenen Wangen. Er saß an einem Tisch unter einer breiten Baumkrone inmitten seines Lagers tief im arjunischen Dschungel.

»Euer Geschäft ist nicht gerade ungefährlich.« Caalador zuckte die Schultern und schaute sich in dem vollgestopften Lager um. »Ihr stehlt Möbelstücke und Teppiche und Wandbehänge. Das bedeutet, daß Ihr ganze Ortschaften ausgeplündert und abgelegene Landhäuser überfallen habt. Die Betroffenen wehren sich, und das geht nicht ohne Verluste ab. Etwa die Hälfte Eurer Männer tragen Verbände, und zweifellos bleiben bei jedem Eurer Plünderzüge einige Eurer Leute tot zurück. Ihr braucht Verstärkung, daran besteht kein Zweifel.« »Ich habe derzeit keinen Bedarf.«

»Ich kann dafür sorgen, daß sich das rasch ändert«, brummte Bevier drohend und zog melodramatisch den Daumen über die Schneide seiner Lochaberaxt.

»Hört zu, Narstil«, sagte Caalador nun in etwas freundlicherem Tonfall, »wir haben Eure Männer gesehen. Seid ehrlich! Ihr habt da eine Meute mißratener Bürschchen aus der Gegend um Euch geschart, die in Schwierigkeiten geraten waren, weil sie Hühner geklaut oder die Ziegen anderer verschachert hatten. Profis habt Ihr nur wenige, und wir sind Profis! Eure bösen Buben prahlen bloß und geben sich alle Mühe, einander zu beeindrucken, indem sie gefährlich und verschlagen dreinschauen, aber es liegt ihnen nicht, jemanden kaltblütig zu töten; deshalb bekommen gerade sie etwas ab, wenn es zum Kampf kommt. Uns macht das Töten nichts aus. Wir sind es gewöhnt. Eure jungen Heißsporne dagegen müssen einander beweisen, wie tüchtig sie sind. Wir nicht. Orden weiß, wer wir sind. Sonst hätte er Euch diese Empfehlung nicht geschickt.« Er kniff die Augen leicht zusammen. »Glaubt mir, Narstil, das Leben wird für uns alle viel leichter, wenn wir mit Euch arbeiten, statt hier selbst etwas aufzuziehen.«

Mit einemmal wirkte Narstil gar nicht mehr so selbstsicher. »Ich werde es mir überlegen«, versprach er.

»Tut das. Und kommt gar nicht erst auf den Gedanken, mögliche Konkurrenz im vorhinein verhindern zu wollen. Eure bösen Jungs könnten uns nicht das Wasser reichen, und wir sähen uns gezwungen, es sehr persönlich zu nehmen.«


»Hör auf damit!« warnte Sephrenia ihre Schwester, als sie zu viert durch die engen, korridorähnlichen Straßen von Delphaeus zum Haus Cedons unterwegs waren, dem Anari von Xanetias Volk.
»Edaemus tut es auch«, konterte Aphrael.
»Es ist seine Stadt und sein Volk! Du aber bist Gast hier, und da gehört es sich nicht.«
Xanetia blickte die beiden verwirrt an.
»Meine Schwester prahlt schon wieder«, erklärte Sephrenia.
»Ist gar nicht wahr!« protestierte Aphrael.
»O doch! Das wissen wir beide ganz genau. Es ist ja auch nicht das erste Mal. Also, hör auf!«
»Ich verstehe wirklich nicht«, gestand Xanetia.

»Das liegt daran, liebe Schwester, daß Ihr an Aphraels Gesellschaft gewöhnt seid«, erklärte Sephrenia müde. »Sie soll in Gegenwart von Anbetern anderer Gottheiten nicht auf diese Weise mit ihrer eigenen Göttlichkeit prahlen, das zeugt von den allerschlechtesten Manieren, und das weiß sie. Sie tut es nur, um Edaemus zu ärgern. Erstaunlich, daß sie mit dieser übertriebenen Zurschaustellung ihrer göttlichen Persönlichkeit nicht bereits die ganze Stadt dem Erdboden gleichgemacht oder zumindest das Stroh auf den Dächern angezündet hat.«

»Das sind gehässige Worte, Sephrenia!« beschwerte sich Aphrael.
»Dann benimm dich!«
»Nur, wenn Edaemus sich ebenfalls benimmt!«
Sephrenia seufzte und verdrehte die Augen himmelwärts.

Sie betraten den Südflügel des weitläufigen Gebäudes, das die Stadt Delphaeus war, und folgten einem dämmrigen Gang zu Cedons Tür. Der Anari wartete auf sie; Staunen sprach aus seinem Greisengesicht. Er fiel auf die Knie, als sich ihm das Licht näherte, das Edaemus verkörperte.

Der Gott dämpfte das Leuchten, nahm menschliche Gestalt an und half Cedon sogleich sanft auf die Füße. »Das ist nicht nötig, mein alter Freund«, versicherte er dem Greis.

»Aber Edaemus«, rief Aphrael. »Du siehst ja richtig gut aus! Du solltest dich nicht hinter diesem blendenden Licht vor uns verstecken.«

Ein schwaches Lächeln huschte über das ewig junge Antlitz des delphaeischen Gottes. »Versuche nicht, mich mit Schmeicheleien zu betören, Aphrael. Ich kenne dich und weiß, wozu du fähig bist. So leicht wirst du mich nicht umgarnen.« »Ach, wirklich? Du bist bereits umgarnt, Edaemus. Ich spiele jetzt nur mit dir. Meine Hand liegt schon um dein Herz. Bald werde ich sie darum schließen und dich zu meinem Eigen machen.« Ihr Lachen klang wie Silberglöckchen.

»Aber das ist eine Sache zwischen dir und mir, Vetter. Momentan haben wir anderes zu tun.«

Xanetia umarmte den greisen Cedon voller Zuneigung. »Wie du mühelos erkennst, mein lieber alter Freund, brechen gewaltige Veränderungen über uns herein – eine tödliche Gefahr, die unsere ganze Welt verändert. Widmen wir uns als erstes dieser Bedrohung; dann können wir uns in Ruhe die Zeit nehmen, den Wandel der Dinge zu bestaunen.«

Cedon führte seine Besucher die drei abgetretenen Stufen hinunter in sein niedriges Gemach mit den nach innen gewölbten, weiß getünchten Wänden, der gemütlichen Einrichtung und dem wohltuenden, offenen Feuer.

»Erzähl ihnen, was sich zugetragen hat, Xanetia«, bat Aphrael und setzte sich auf Sephrenias Schoß. »Das erklärt vielleicht, weshalb ich alle Regeln außer acht lassen und hierher kommen mußte.« Sie warf Edaemus einen schelmischen Blick zu. »Egal, was du jetzt vielleicht denkst, Vetter, aber ich habe durchaus gute Manieren, und wir befinden uns in einem Notfall.«

Sephrenia lehnte sich in ihrem Sessel zurück, als Xanetia über die Ereignisse der vergangenen Monate zu berichten begann. Von Delphaeus ging ein Friede aus, eine wohltuende Ruhe, die Sephrenia bei ihrem letzten Besuch nicht bemerkt hatte. Ihr Herz und ihre Gedanken waren damals so von Haß besessen gewesen, daß sie kaum Notiz von ihrer Umgebung genommen hatte. Die Delphae hatten Sperber angefleht, ihr Tal vom Rest der Welt abzuschließen, aber das erschien Sephrenia unnötig. Die Delphae gehörten gar nicht mehr zur wirklichen Welt; sie schienen nicht einmal mehr menschlich zu sein. Insgeheim und gegen ihr besseres Wissen beneidete Sephrenia sie um ihre … ihre … ihr fiel das Wort nicht mehr ein. »Ärgerlich, nicht wahr?« murmelte die Kindgöttin. »Das Wort, nach dem du suchst, ist Serenität.«

»Und du tust alles, was in deiner Macht steht, diese Serenität zu stören, nicht wahr?« »Die Delphae sind nach wie vor Teil dieser Welt, Sephrenia – zumindest noch eine Zeitlang. Ich erinnere sie lediglich daran, daß wir anderen noch hier sind.« »Du benimmst dich Edaemus gegenüber ausgesprochen mies!«

»Ich versuche nur, ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen. Er war die letzten hundert Jahrhunderte allein und hat vergessen, wie es ist, uns andere um sich zu haben. Daran erinnere ich ihn. Es ist zu seinem Besten, glaub mir. Er hatte bereits eine gewisse … Selbstgefälligkeit entwickelt.« Sie rutschte vom Schoß ihrer Schwester. »Wird Zeit, daß ich ihm eine weitere Lektion erteile.« Sie durchquerte das Gemach, stellte sich vor Edaemus und blickte ihm mit ihren großen, dunklen Augen flehend ins Gesicht.

Der Gott der Delphae war so gefangen von Xanetias Bericht, daß er Aphrael kaum bemerkte, und als sie ihm die Arme entgegenstreckte, hob er sie geistesabwesend auf den Schoß.
Sephrenia lächelte.

»Und vor kurzem«, beendete Xanetia ihren Bericht, »erhielt Ritter Berit weitere Anweisungen. Er soll nunmehr einen anderen Weg einschlagen und sich zur Stadt Sopal am Binnenmeer von Arjun begeben. Er hat die Kindgöttin über diese Richtungsänderung in Kenntnis gesetzt, und sie hat ihrerseits uns anderen Bescheid gegeben. Die Trollgötter haben die Absicht, die Ritter Ulath und Tynian nach Sopal zu bringen und sie dort in der ›Nichtzeit‹, wie sie es nennen, zu verstecken. Sobald unsere Feinde mit Königin Ehlana erscheinen, um sie gegen Bhelliom auszutauschen, wollen sie aus ihrem Versteck springen und sie befreien.« »›Nichtzeit‹?« fragte Cedon verwirrt.

»Ein vorübergehendes Anhalten der Zeit«, erklärte Aphrael. »Trolle sind Jäger, und ihre Götter haben eine neue Art von Versteck für sie gefunden, damit sie sich unbemerkt an ihre Beute heranpirschen können. Ziemlich schlau, aber nicht ohne Nachteile.«

Edaemus fragte sie irgend etwas in der Sprache, die Sephrenia mehrmals vergeblich zu lernen versucht hatte. Aphrael antwortete rasch in sachlichem Tonfall und begleitete ihre Worte mit verwirrenden Gesten.

»Ah!« sagte Edaemus schließlich und bediente sich wieder des Tamulischen, während seine Miene verriet, daß er verstanden hatte. »Es ist eine eigenartige Vorstellung.«

Aphrael verzog das Gesicht. »Ach, du weißt ja, wie die Trollgötter sind.«

»Und sie sind wirklich auf deine unverschämten Bedingungen eingegangen?« »Ich hatte etwas, das sie haben wollten.« Aphrael zuckte die Schultern. »Seit dreihundert Jahrhunderten haben sie versucht, eine Möglichkeit zu finden, Bhelliom zu entkommen. Natürlich haben meine Bedingungen ihnen gar nicht gefallen, aber sie hatten kaum eine Wahl.« »Du bist grausam, Aphrael.«

»Eigentlich nicht. Mein Motiv war dringende Notwendigkeit, und Notwendigkeit ist weder grausam noch nötig. Sie ist ganz einfach. Als ich die Trollgötter vor einigen Tagen kurz besuchte, habe ich jedem ein paar Küsse gegeben. Danach fühlten sie sich besser – jedenfalls, als sie erkannt hatten, daß ich nicht die Absicht hatte, ein Stück Fleisch aus ihnen herauszubeißen.« »Das hast du doch nicht wirklich getan!«

»So übel sind sie gar nicht«, rechtfertigte Aphrael sich. »Na ja, vielleicht hätte ich sie statt der Küsse hinter den Ohren kraulen können, aber das hätte sie möglicherweise gekränkt; also hab' ich sie geküßt.« Sie lächelte. »Ein paar Küsse mehr, und sie hätten mir wie Hündchen die Finger geleckt.«

Edaemus richtete sich auf. Plötzlich blinzelte er, als würde ihm jetzt erst bewußt, wo Aphrael saß.

Sie bedachte ihn mit einem neuerlichen geheimnisvollen Lächeln und tätschelte seine Wange. »Ist schon gut, Vetter. Auch du wirst dich damit abfinden müssen. Irgendwann tun sie das alle.« Sie rutschte von seinem Schoß hinunter und kehrte zu ihrer Schwester zurück.


»Das ist mein Platz!« knurrte ein fetter Bursche unbestimmbarer Rasse drohend, als Kalten seine Sattelbeutel und die Deckenrolle auf eine freie Stelle unter einem großen Baum warf.
»Das war er vielleicht«, brummte Kalten.

»Du kannst nicht einfach hierher spazieren und einem anderen den Platz wegnehmen!«

»Ach? Verstößt das etwa gegen das Gesetz oder so was?« Kalten richtete sich auf. Er war mindestens einen Kopf größer als der andere und wirkte in seinem Kettenhemd ziemlich einschüchternd. »Meine Freunde und ich haben die Absicht, hier zu nächtigen«, erklärte er mit frostiger Stimme. »Also nimm dein Bettzeug und den ganzen anderen Kram und leg dich woanders hin!«

»Ich bin's nicht gewohnt, mich von Eleniern herumkommandieren zu lassen!« »Dein Pech! Verschwinde jetzt, ich hab' zu tun.« Kalten war alles andere als guter Laune. Aleans gefährliche Lage machte ihm unaufhörlich zu schaffen, und schon der geringste Anlaß ließ ihn aus der Haut fahren. Offenbar war seine Gereiztheit in seinem Gesicht abzulesen, denn der Dicke wich ein paar Schritte zurück. »Weiter!« befahl Kalten drohend.

»Ich komme wieder!« plusterte der Kerl sich auf und wich noch ein paar Schritte zurück. »Mit allen meinen Freunden!«

»Ich kann's kaum erwarten.« Kalten drehte dem Mann, den er verjagt hatte, abfällig den Rücken zu.

Caalador und Bevier kamen zu ihrem Freund. »Schwierigkeiten?« fragte Caalador. »So würde ich es nicht nennen.« Kalten zuckte die Schultern. »Ich habe dem Burschen nur klargemacht, wer das Sagen hat. Jedesmal, wenn sich eine neue, schwer einzuschätzende Situation ergibt, muß man ein paar Leute herumschubsen, damit alle anderen erkennen, daß man nicht die Absicht hat, sich irgendwas gefallen zu lassen. Machen wir's uns gemütlich.«

Sie hatten ihr Zelt aufgeschlagen und trugen Laub und Moos für das Nachtlager zusammen, als Narstil bei ihnen vorbeischaute. »Wie ich sehe, richtet ihr euch ein, Ezek«, wandte er sich an Caalador. Sein Tonfall war versöhnlich, wenn auch nicht gerade herzlich.

»Nur noch ein paar Handgriffe, dann haben wir's«, erklärte Caalador. »Ich bin froh, daß du vorbeigekommen bist, Narstil. Wir haben gehört, daß nicht weit von hier eine Armee lagert. Macht sie euch zu schaffen?«

»Wir haben eine Abmachung«, erwiderte Narstil. »Wir stehlen den Soldaten nichts, und sie kümmern sich nicht um uns. Das in Natayos ist jedoch keine richtige Armee, eher eine riesige Schar Rebellen. Sie wollen die Regierung stürzen.« »Will das nicht jeder?«

Narstil lachte. »Ehrlich gesagt, ist diese Meute in Natayos sehr gut für mein Geschäft. Schon daß diese Burschen hier sind, hält die Polizei von diesem Teil des Dschungels fern. Und ein Grund, daß sie uns dulden, ist der, daß wir Reisende berauben – das hält Neugierige davon ab, in Natayos herumzuschnüffeln. Wir machen gute Geschäfte mit den Rebellen. Sie kaufen so gut wie alles, was wir stehlen.« »Wie weit liegt dieses Natayos von hier entfernt?«

»Etwa zehn Meilen. Es ist eine alte Ruine. Scarpa – der Anführer dort – ist vor zwei Jahren mit seinen Rebellen dahingezogen. Er hat die Ruine befestigt und bringt von Tag zu Tag weitere seiner Anhänger herbei. Ich kann ihn nicht ausstehen, aber Geschäft ist Geschäft.« »Wie ist er denn so?«

»Irrsinnig. An manchen Tagen ist er so verrückt, daß er den Mond anheult. Er ist überzeugt, daß er eines Tages Kaiser sein wird. Ich nehme an, es dauert nicht mehr lange, dann setzt er seine Meute in Marsch. In diesem Dschungel ist er ziemlich sicher, aber sobald er sich auf freies Gelände wagt, werden die Ataner ihn an Ort und Stelle zu Hundefutter zerhacken.« »Sollen wir uns deshalb Sorgen machen?« fragte Bevier.

»Mir persönlich könnte nichts gleichgültiger sein«, versicherte Narstil dem scheinbar einäugigen Schurken. »Aber die Geschäfte, die ich mit Scarpa mache, würden mir sehr fehlen.«

»Kann jeder Natayos nach Belieben betreten und verlassen?« fragte Kalten, als würde es ihn nur beiläufig interessieren.

»Wenn du ein mit Essen und Trinken vollbepacktes Maultier dabeihast, werden sie dich mit offenen Armen aufnehmen. Ich schicke alle paar Tage einen Ochsenkarren mit Bierfässern hinunter. Ihr wißt ja, wie gern Soldaten Bier saufen.«

»O ja!« bestätigte Kalten. »Ich hab' im Lauf der Zeit so einige Soldaten kennengelernt. Für sie bleibt die ganze Welt stehen, wenn jemand ein Bierfaß anzapft.«


»Es ist eine unserer besonderen Fähigkeiten, das Licht zu beherrschen, das aus uns strahlt«, erklärte Cedon. »Wir können es hell leuchten lassen oder beinahe zum Erlöschen bringen. Nur ist die Tarnung nicht vollkommen. Ein leichtes Schimmern ist durchaus möglich, und wir müssen auf der Hut sein, daß unser Schatten unsere Anwesenheit nicht verrät. Aber mit großer Achtsamkeit können wir so gut wie unsichtbar werden.«

»Also, da gibt es wirklich fesselnde Gegensätze«, stellte Aphrael fest. »Die Trollgötter beeinflussen die Zeit, ihr das Licht, und ich die Aufmerksamkeit der Personen, von denen ich nicht bemerkt werden möchte. Aber letztendlich ist alles ein Versuch, sich so gut wie möglich unsichtbar zu machen.«

»Kennt Ihr irgend jemanden, der wirklich unsichtbar sein kann, Göttin?« fragte Xanetia.
»Ich nicht. Du, Vetter?«
Edaemus schüttelte den Kopf.

»Aber wir können uns fast unsichtbar machen«, sagte die Kindgöttin. »Echte Unsichtbarkeit hätte wahrscheinlich Nachteile. Es ist eine sehr gute Idee, Anari Cedon, aber ich möchte nicht, daß Xanetia sich auf irgendeine Weise in Gefahr bringt. Dazu liebe ich sie viel zu sehr.«

Xanetia errötete leicht; dann blickte sie Edaemus beinahe schuldbewußt an. Sephrenia lachte. »Ich muß dich ernsthaft warnen, Edaemus. Achte gut auf deine Anbeter. Meine Göttin ist offenkundig eine Diebin. Sie stiehlt Gedanken.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Es könnte sehr nützlich sein, wenn Xanetia sich unbemerkt nach Sopal begibt. Ihre Fähigkeit, in das Gedächtnis anderer einzudringen, würde es ihr ermöglichen, rasch herauszufinden, ob sich Ehlana dort befindet oder nicht. Wenn ja, können wir die erforderlichen Schritte unternehmen. Wenn nicht, wissen wir, daß Sopal nur eine weitere Ablenkung war.«

Cedon blickte Edaemus an. »Ich fürchte, Geliebter, daß wir uns intensiver und in weiterem Umkreis mit der Welt um uns herum befassen müssen, als wir ursprünglich vorhatten. Anakhas Besorgnis um die Sicherheit seiner Gemahlin hat für ihn Vorrang vor allem anderen, und die Erfüllung des Versprechens, das er gegeben hat, ist gefährdet, solange Ehlana nicht heil und gesund bei ihm zurück ist.«

Edaemus seufzte. »So wie du sagst, mein Anari, mag es sehr wohl sein. Obgleich es mir nicht gefällt, scheint mir, daß wir unsere Abneigung verdrängen und uns an der Suche nach Anakhas Gemahlin beteiligen müssen, indem wir ihm alle Hilfe angedeihen lassen, die in unserer Macht steht.«

»Bist du wirklich sicher, daß du damit zu tun haben willst, Edaemus?« fragte Aphrael.
»Wirklich sicher?«
»Ich habe mich entschieden, Aphrael.«

»Interessiert es dich denn kein bißchen, warum mich das Schicksal eines elenischen Paares so sehr berührt? Immerhin haben Elenier ihren eigenen Gott, wie du weißt.

Warum, meinst du, bin ich dann so interessiert an ihnen?«

»Weshalb mußt du immer nur so weitschweifig reden und kommst nicht gleich zum Kern der Sache, Aphrael?«

»Weil ich andere gern überrasche«, antwortete sie fröhlich. »Ich möchte dir ehrlich für deine Besorgnis um das Wohlergehen meiner Mutter und meines Vaters danken, Vetter. Du hast mich tief ins Herz gerührt.«

Er starrte sie bestürzt an. »Du hast doch nicht …?« stieß er hervor.

»Jemand mußte es tun.« Sie zuckte die Schultern. »Einer von uns muß ein Auge auf Bhelliom haben. Anakha ist Bhellioms Geschöpf, doch solange ich meine Hand um sein Herz habe, kann ich sein Handeln mehr oder weniger lenken.« »Aber sie sind Elenier!«

»Werde endlich erwachsen, Edaemus! Elenier, Styriker, Delphae – was macht das für einen Unterschied? Sie sind alle liebenswert, wenn man sein Herz nicht verschließt.«
»Aber sie essen Schweine!«

»Ich weiß.« Aphrael schauderte. »Glaub mir, das weiß ich. Aber ich arbeite schon daran.«


Senga war ein gutmütiger Räuber von so gemischtem rassischen Ursprung, daß niemand genau zu sagen vermochte, was er denn nun eigentlich war. Er grinste ununterbrochen, war laut und fröhlich und hatte ein ansteckendes Lachen. Kalten mochte ihn, und Senga hatte in dem elenischen Geächteten offenbar einen Gleichgesinnten gefunden, den er als Col kannte. Er lachte, während er quer durch Narstils unordentliches Lager schritt, wo Möbelstücke und anderer Haushaltsbedarf in wirren Stapeln auf dem kahlen Boden lagen. »He, Col!« brüllte er, als er sich dem Baum näherte, unter dem Kalten, Caalador und Bevier ihr Zelt aufgeschlagen hatten. »Du hättest mitkommen sollen. Ein Ochsenkarren voll Bierfässer öffnet in Natayos jede Tür!«

»Armeen machen mich nervös, Senga«, erwiderte Kalten. »Die Offiziere versuchen ständig, einen zu rekrutieren – für gewöhnlich, indem sie das Schwert auf einen gerichtet halten. Und mehr als zwei Generäle an einem Ort sind meist zu moralistisch für meinen Geschmack. Aus irgendeinem Grund bringt der Begriff ›Kriegsrecht‹ mein Blut zum Stocken.«

»Scarpa ist in einer Kaschemme aufgewachsen, mein Freund«, erklärte Senga ihm. »Und seine Mutter war eine Hure. Deshalb ist er an die verworfenere Seite des menschlichen Charakters gewöhnt.«

»Und hast du ein gutes Geschäft gemacht?« erkundigte sich Kalten.

Senga grinste, verdrehte die Augen und zeigte ihnen einen prallen Säckel. »Und ob! Ich denke sogar darüber nach, ob ich das Schurkenleben nicht aufgeben und eine eigene Brauerei betreiben sollte. Das einzige Problem ist allerdings, daß unsere Freunde wohl nicht mehr allzu lange in Natayos bleiben werden. Würde ich wirklich Brauer, und meine Kunden marschierten allesamt los, um sich von den Atanern umbringen zu lassen, müßte ich mein ganzes Bier allein trinken, und so durstig ist niemand!«

»Ach? Wie kommst du auf die Idee, daß diese Rebellen weiterziehen wollen?« »Ich weiß nicht, es ist nur so ein Gefühl.« Senga legte sich auf den Boden und bot Kalten seinen Weinbeutel an. »Scarpa ist bereits seit mehreren Wochen unterwegs. Er und zwei oder drei Elenier haben Natayos im vergangenen Monat verlassen. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, aber keiner hatte eine Ahnung, warum Scarpa weg ist oder wohin.«

Kalten bemühte sich, eine gleichmütige Miene beizubehalten. »Ich hab' gehört, er ist nicht ganz richtig im Kopf, und Verrückte brauchen keinen Grund für ihr Tun.« »Scarpa mag ja wirklich verrückt sein, aber er versteht es, seine Rebellen zu begeistern. Wenn er beschließt, eine Rede zu halten, sollte man sich tunlichst ein bequemes Plätzchen suchen, denn weniger als sechs Stunden dauern seine Reden nie. Wie dem auch sei – vor einer Weile ist er verschwunden, und seine Armee hatte sich für den Winter eingerichtet. Doch seit er zurück ist, sieht alles ganz anders aus.« Kalten horchte auf. »Er ist zurück?«

»O ja, mein Freund. Komm, laß mich trinken.« Senga nahm seinen Beutel zurück und spritzte den Wein in seinen weit geöffneten Mund. Dann wischte er sich das Kinn mit dem Handrücken ab. »Er und seine elenischen Freunde kamen vor knapp vier Tagen nach Natayos zurückgeritten. Sie brachten zwei Frauen mit, wie ich hörte.« Kalten setzte sich zu Boden und tat hastig so, als wollte er seinen Schwertgürtel enger schnallen, um seine plötzliche Erregung zu verbergen. »Ich dachte, Scarpa mag Frauen nicht.«

»Das stimmt auch, mein Freund. Aber nach allem, was man sich erzählt, sind diese beiden Frauen nicht irgendwelche Dirnen, die er unterwegs aufgelesen hat. Hätte Scarpa sich sonst die Mühe gemacht, die Frauen nach Natayos zu bringen? Hätte er ihnen sonst die Hände gefesselt? Und der Bursche, mit dem ich sprach, sagte mir, daß die Frauen zwar ziemlich mitgenommen waren, aber nicht wie Schankmaiden aussahen. Genauer betrachten konnte er sie allerdings nicht, denn Scarpa drängte sie sofort in ein Haus, das offenbar für jemand Besonderes hergerichtet worden war – vornehme Möbel und Teppiche und dergleichen.«

»War irgend etwas Ungewöhnliches an den Frauen?« fragte Kalten und hielt beinahe den Atem an.

Senga zuckte die Schultern und genehmigte sich einen weiteren Schluck. »Offenbar wurden sie nicht wie gewöhnliche Weiber behandelt, aber das war auch schon alles.« Er kratzte sich am Kopf. »Nein, halt. Dieser Bursche hatte noch etwas gesagt … aber was?« Diesmal hielt Kalten wirklich den Atem an.

»Ach, ja«, rief Senga. »Jetzt erinnere ich mich. Der Kerl sagte, daß diese zwei Frauen Elenierinnen sind. Ist das nicht merkwürdig?«