6

Der Himmel blieb bedeckt, doch glücklicherweise hatte es bisher noch nicht geregnet. Der heftige Wind aus der Bucht von Micae jedoch war eisig, und so hatten sie die Umhänge fest um sich geschlungen, um den Unbilden der Witterung zu trotzen. Wenngleich Khalad der Meinung war, daß es für sie von Vorteil sei, sich Zeit zu lassen, wuchs Berits Ungeduld von Stunde zu Stunde. Natürlich wußte er, daß alles, was sie taten, nur ein kleiner Teil der großen Strategie war, doch die Konfrontation war unausbleiblich, und es drängte ihn danach, sie hinter sich zu bringen.

»Wie kannst du nur so geduldig sein?« fragte er Khalad eines Nachmittags, als der Seewind besonders kalt und feucht war.

»Ich bin Bauer«, antwortete Khalad und kratzte sich am kurzen schwarzen Bart. »Die Pflanzen brauchen Zeit, zu wachsen und zu reifen, da erwartet man nicht, daß sich über Nacht etwas daran ändert.«

»Ich habe nie darüber nachgedacht, wie es sein muß, stillzusitzen und auf die Ernte zu warten.«

»Stillsitzen gibt es für einen Bauern nicht«, entgegnete Khalad. »Stets gibt es mehr zu tun, als der Tag Stunden hat. Und sollte man sich wirklich einmal langweilen, kann man ja den Himmel beobachten. Ein plötzlicher Hagelsturm oder anhaltende Trockenheit kann die ganze Arbeit eines Jahres vernichten.«

»Auch daran hab' ich nie gedacht«, erwiderte Berit nachdenklich. »Deshalb kannst du das Wetter so gut vorhersehen, nicht wahr?«
»Es hilft.«

»Aber es ist mehr als bloß das Wetter. Anscheinend weißt du, was um dich herum vorgeht. Als wir uns auf dem Floßausleger befanden, hast du die kleinste Veränderung seiner Bewegungen immer sofort bemerkt.«

»Man muß halt ständig alle Sinne beisammenhaben, Herr Ritter. Die Welt um dich herum schreit pausenlos auf dich ein, aber die meisten Menschen hören es offenbar nicht. Das verwundert mich ehrlich. Ich verstehe nicht, wie Euch so viel entgehen kann.«

Berit war ein wenig gekränkt. »Ach, ja? Und was schreit die Welt dir jetzt zu, das ich nicht hören kann?«

»Sie sagt mir, daß wir für heute nacht einen einigermaßen festen Unterschlupf brauchen. Ein Sturm kommt auf.«
»Woraus schließt du das?«
Khalad wies mit der Hand. »Seht Ihr diese Möwen?«
»Ja. Aber was haben die damit zu tun?«
Khalad seufzte. »Was fressen Möwen?«
»So gut wie alles. Aber hauptsächlich Fisch, nehme ich an.«

»Warum fliegen sie dann landeinwärts? Auf festem Boden werden sie wohl kaum viele Fische finden, stimmt's? Sie haben da draußen in der Bucht irgendwas bemerkt, das ihnen nicht gefällt, und davor fliehen sie. Und Möwen fürchten sich praktisch nur vor einem Sturmwind und hohen Brechern, die damit einhergehen. Da draußen tobt ein Sturm, und er zieht hierher. Das schreit die Welt mir momentan zu.« »Dann ist es im Grunde genommen nur gesunder Menschenverstand, nicht wahr?« »In der Hauptsache, Sperber – gesunder Menschenverstand und Erfahrung.« Khalad lächelte leicht. »Ich kann immer noch fühlen, daß Kragers Styriker uns da draußen beobachtet. Wenn er ebenso wenig hört und sieht wie Ihr, steht ihm eine schlimme Nacht bevor.«

Berit grinste ein wenig boshaft. »Ich kann nicht behaupten, daß es mir leid tut.«


Die Aussiedlung war größer als ein Dorf, aber nicht groß genug, als daß man sie Städtchen hätte nennen können. Es gab drei Straßen und mindestens sechs mehrstöckige Häuser. Die Straßen waren allerdings nicht gepflastert, und die freilaufenden Schweine suhlten sich im Schlamm. Zwischen den aus Holz erbauten und mit Schilfrohr gedeckten Häusern befand sich ein Gasthof, vor dem zwei klapprige Wagen mit mißgelaunten Maultieren standen. Ulath zügelte den müden alten Gaul, den er in dem Fischerdorf erstanden hatte. »Was meinst du?« fragte er seinen Freund.

»Ich dachte schon, du würdest nie auf die Idee kommen«, brummte Tynian. »Gut, dann nehmen wir uns hier ein Zimmer. Es ist ohnehin schon später Nachmittag, und ich bin es leid, auf nacktem Boden zu schlafen. Außerdem brauche ich dringend ein Bad.«

Tynian blickte auf die Gipfel der Tamulischen Berge, die sich im Westen scharf vom dämmernden Himmel abzeichneten. »Ich weiß, daß wir uns und den Pferden ein paar Stunden Ruhe gönnen müssen. Aber ich hasse den Gedanken, die Trolle warten zu lassen, Ulath«, sagte er scheinbar ernst.

»Es ist ja nicht so, als hätten wir einen bestimmten Zeitpunkt mit ihnen vereinbart. Trolle würden es nicht einmal bemerken. Sie haben kein ausgeprägtes Zeitgefühl.« Die Gefährten ritten in den Hof, banden ihre Pferde an ein Geländer vor den Stallungen, und gingen ins Gasthaus.

»Wir brauchen ein Zimmer«, sagte Ulath auf tamulisch mit starkem Akzent. Der Wirt war ein Männchen mit unstetem Blick. Er schätzte die neuen Gäste rasch ab. Sein Gesicht verzog sich abfällig, als er die zusammengestückelte Uniform bemerkte. Aus mehreren guten Gründen waren Soldaten in ländlichen Gegenden für gewöhnlich nicht gern gesehen. »Na ja«, erklärte der Wirt mit winselnder Stimme. »Ich weiß nicht. Es ist unsere Hauptsaison …«

»Spätherbst?« unterbrach Tynian ihn ungläubig. »Das ist Eure Hauptsaison?« »Na ja, da sind die vielen Fuhrleute, von denen ich nie genau weiß, wann sie kommen, versteht Ihr …?«

Ulath blickte über die Schulter des Wirtes in die niedrige, verrauchte Schankstube. »Ich zähle drei Mann!« sagte er finster.

»Jeden Moment können weitere kommen«, rief der Wirt ein bißchen zu hastig. »Natürlich«, sagte Tynian sarkastisch. »Aber wir sind jetzt hier, und wir können bezahlen. Wollt Ihr Euch einen sicheren Verdienst entgehen lassen, nur weil gegen Mitternacht vielleicht irgendein Fuhrwerk hier anhält?«

»Mit zwei ausgemusterten Veteranen will er nichts zu tun haben, Korporal«, sagte Ulath. »Komm, reden wir mit dem hiesigen Armeekommissar. Den wird es bestimmt interessieren, wie dieser Bursche Soldaten seiner kaiserlichen Majestät behandelt!« »Ich bin ein ergebener Untertan seiner kaiserlichen Majestät!« rief der Wirt rasch. »Es wird mir eine Ehre sein, tapfere Veteranen der Armee zu beherbergen, und …« »Wieviel?« unterbrach Tynian den Mann. »Eine halbe Krone?«

»So ganz klar scheint er sich nicht zu sein, oder was meinst du, Sergeant?« brummte Tynian; dann wandte er sich wieder an den nervösen Wirt. »Wir wollen das Zimmer nicht kaufen, Mann! Wir wollen nur eine Nacht darin schlafen!«

Ulath starrte den jetzt verängstigten kleinen Tamuler finster an. »Acht Kupfer!« entgegnete er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Acht?« protestierte der Wirt schrill.

»Nehmt es, oder laßt es bleiben – aber entscheidet Euch schnell. Wir brauchen noch ein wenig Tageslicht, um den Armeekommissar aufzusuchen.« »Ihr seid ein harter Mann, Sergeant!«

»Niemand hat behauptet, daß das Leben leicht ist, nicht wahr?« Ulath zählte ein paar Münzen ab und klimperte damit. »Wollt Ihr sie, oder wollt Ihr sie nicht?«

Nach einem Moment qualvoller Unentschlossenheit griff der Wirt zögernd nach dem Geld.

»Du hast der Sache den ganzen Spaß genommen«, beklagte sich Tynian, als sie auf den Hof zurückkehrten, um ihre Pferde zu versorgen.

»Ich habe Durst.« Ulath zuckte die Schultern. »Außerdem würden Exsoldaten schon im vorhinein wissen, wieviel sie zu zahlen bereit sind.« Er kratzte sich im Gesicht. »Ob es Ritter Gerad wohl etwas ausmachen würde, wenn ich seinen Bart abrasiere? Dieses Gestrüpp juckt wie verrückt!«

»Es ist nicht wirklich Gerads Gesicht, Ulath. Es ist nach wie vor deines. Du bist nur auf eine Weise verändert worden, daß du wie Gerad aussiehst.«

»Ja, aber wenn die Damen unsere Gesichter wieder dorthin zaubern, wo sie waren, werden sie dieses als Modell für Gerad nehmen. Und wenn ich mich rasiere, steht er mit einem nackten Gesicht da. Das wird ihm vielleicht nicht gefallen.«

Sie nahmen ihren Pferden die Sättel ab, führten die Tiere in den Stall und kehrten ins Haus zurück, um sich in die Gaststube zu setzen. Tamulische Schenken waren anders als elenische. Beispielsweise waren die Tische viel niedriger, und statt mit einem offenen Kamin beheizte man die Stube mit einem Porzellanofen, obwohl dieser Ofen nicht weniger rauchte als eine offene Feuerstelle. Der Wein wurde in dünnen kleinen Bechern serviert, das Bier in billigen Zinnkrügen. Die Geruchsmischung in der Schankstube war jedoch nicht viel anders als in elenischen Gasthäusern.

Ulath und Tynian nahmen gerade einen Schluck aus ihrem zweiten Krug Bier, als ein sich übertrieben geschäftig gebender Tamuler in einem Umhang, von dem man die Speisekarte der letzten Wochen ablesen konnte, direkt zu ihrem Tisch marschierte. »Ich möchte eure Entlassungspapiere sehen, wenn ihr nichts dagegen habt«, sagte er von oben herab. »Und wenn doch?« brummte Ulath. Der Beamte blinzelte. »Was?«

»Ihr sagtet, wenn wir nichts dagegen haben. Was ist, wenn doch?« »Ich habe die Befugnis, diese Dokumente zu überprüfen.«

»Warum habt Ihr das dann nicht gleich gesagt?« Ulath langte unter seinen roten Uniformrock und zog ein eselsohriges Stück Papier hervor. »In unserem alten Regiment haben Vorgesetzte nie um irgend etwas gebeten, sondern es befohlen!« Der Tamuler las die Dokumente, die Oscagne als Teil ihrer Tarnung besorgt hatte. »Scheinen in Ordnung zu sein«, sagte er schließlich in etwas versöhnlicherem Tonfall. »Tut mir leid, wenn ich ein wenig unfreundlich war. Aber wir haben den Befehl erhalten, nach Fahnenflüchtigen Ausschau zu halten – wegen der Unruhen, ihr wißt schon. Wie es scheint, dienen manche Männer gar nicht gern in der Armee, weil sie das Gefühl haben, gegen Windmühlen zu kämpfen.« Er blickte die Gefährten fast ein bißchen neidisch an. »Ihr wart also in Matherion stationiert.«

Tynian nickte. »Es war ein ruhiger Posten. Allerdings gab es ziemlich viele Inspektionen, und ständig mußte alles blitzblank sein! Setzt Euch doch, Kommissar.« Der Tamuler lächelte schwach. »Leider nur Unterkommissar, Korporal. Für diesen hinterwäldlerischen Bezirk gibt es keine Kommissar-Planstelle.« Er sank auf einen Stuhl. »Wohin wollt ihr, Männer?« »Nach Hause«, antwortete Ulath. »Nach Verel in Dakonien.«

»Verzeiht meine Offenheit, Sergeant, aber Ihr seht gar nicht wie ein Dakonier aus.« Ulath zuckte die Schultern. »Ich gerate mehr nach meiner Mutter. Sie war Astelerin. Aber verratet mir eines, Unterkommissar – können wir viel Zeit sparen, wenn wir den Weg durch die Berge nach Sopal nehmen? Von dort könnten wir das Binnenmeer von Arjun mit einer Fähre oder einem Handelsschiff bis nach Tiana überqueren und dann nach Saras hinunterreiten. Von dort ist es ja nicht mehr weit nach Verel.«
»Ich kann euch nur raten, euch von den Tamulischen Bergen fernzuhalten, meine Freunde.«
»Schlechtes Wetter?« fragte Tynian.

»Damit ist zu dieser Jahreszeit immer zu rechnen, Korporal; das habe ich nicht gemeint. Man hört so allerlei Erschreckendes aus diesen Bergen. Anscheinend haben die Bären sich ungewöhnlich stark fortgepflanzt und sich wie die Hasen vermehrt. Jeder Reisende, der in den letzten Wochen von dort kam, hat diese Bestien gesehen. Glücklicherweise sind sie bisher alle vor den Menschen geflüchtet.« »Bären, sagtet Ihr?«

Der Tamuler lächelte. »Das ist meine Übersetzung. Die unwissenden Bauern in dieser Gegend benutzen das Wort Ungeheuer. Aber wir wissen ja alle, was eine große, zottige Kreatur ist, die in den Bergen haust, nicht wahr?«

»O ja! Bauern lassen sich leicht ins Bockshorn jagen, stimmt's?« Ulath lachte und leerte seinen Krug. »Wir waren mal auf Manöver, als ein Bauer auf uns zugerannt kam und behauptete, er würde von einem Rudel Wölfe verfolgt. Als wir uns umschauten, entdeckten wir nur einen einsamen Fuchs. Größe und Zahl wilder Tiere, die ein Bauer sieht, erhöhen sich offenbar mit jeder Stunde.« »Oder jedem Krug Bier«, warf Tynian ein.

Sie unterhielten sich noch eine Zeitlang mit dem nun recht umgänglichen Beamten, bis dieser ihnen schließlich eine gute Heimreise wünschte und die Schankstube verließ.

»Gut zu wissen, daß die Trolle es so weit in den Süden geschafft haben«, sagte Ulath erfreut. »Ich hätte keinen gesteigerten Wert darauf gelegt, sie erst suchen zu müssen.«

»Sie werden von ihren Göttern geführt, Ulath«, erinnerte Tynian den Gefährten. »Du kennst die Trollgötter nicht.« Ulath lachte. »Ihr Orientierungssinn läßt ziemlich zu wünschen übrig – wahrscheinlich, weil ihr Kompaß nur zwei Richtungen kennt.« »Ach?«

»Norden und Nichtnorden. Das erschwert es ein wenig, bestimmte Orte zu finden.«


Das Unwetter war einer der kurzen, heftigen Stürme, wie sie im Spätherbst scheinbar aus dem Nichts zu kommen pflegen. Khalad hatte die Möglichkeit ausgeschlossen, im Salzsumpf irgendeine Art von Unterschlupf zu finden, und sich statt dessen dem Strand zugewendet.

Am Ende einer schmalen Bucht entdeckte er genau das, was er gesucht hatte: einen riesigen Haufen angeschwemmten Holzes. Nach etwa zwei Stunden pausenloser Arbeit hatten er und Berit an der windabgekehrten Seite einen brauchbaren, ja, fast gemütlichen Unterschlupf errichtet.

Bei Einbruch der Dunkelheit brach der Sturm los. Er jagte heulend durch den gewaltigen Treibholzhaufen, warf die Brandung donnernd an den Strand und jagte die Wassermassen des Regens horizontal über den Boden.

Doch Khalad und Berit saßen im Warmen und Trockenen. Sie lehnten mit den Rücken an dem riesigen, gebleichten Stamm, der die Rückseite ihres Unterschlupfes bildete, und streckten dem prasselnden Feuer die Füße entgegen.

»Du versetzt mich immer wieder in Erstaunen, Khalad«, gestand Berit. »Wie konntest du wissen, daß sich unter all diesem Treibholz auch Bretter befinden?«

Khalad zuckte die Schultern. »Weil es meist so ist. Wenn so riesige Berge Treibholz angespült werden, ist immer bearbeitetes Bauholz darunter. Schiffe werden aus Balken und Brettern erbaut, und so manches Schiff wird bei einem Unwetter auf See zerrissen. Dann schwimmen die Bretter herum, bis Wind, Strömung und Gezeiten sie an immer die gleichen geschützten Strände treiben, wo sich bereits anderes Treibgut angesammelt hat.« Er streckte die Hand in die Höhe und tätschelte die Decke ihrer behelfsmäßigen Unterkunft. »Daß wir diesen Lukendeckel fanden, ist allerdings ein großes Glück, das dürft Ihr mir glauben.« Er stand auf und ging zur Öffnung ihres Unterschlupfs. »Es stürmt ganz tüchtig«, bemerkte er. Er kehrte zurück, hielt die Hände übers Feuer und fügte hinzu: »Kalt ist es auch. Wahrscheinlich wird der Regen noch vor Mitternacht zu einem ordentlichen Graupelschauer.«

Berit freute sich sichtlich. »Mir tut jeder leid, den der Sturm in einer solchen Nacht im Freien überrascht hat.« Er grinste.

»Mir auch.« Khalad erwiderte Berits Grinsen. Er senkte die Stimme, obwohl es gar nicht nötig war. »Könnt Ihr irgendeinen Sinn in seinen Gedanken erkennen?« Aus Gründen der Sicherheit hatte Khalad beschlossen, den Freund während der ganzen Reise nicht mehr zu duzen.

»Nein, nichts von Bedeutung«, antwortete Berit. »Jedenfalls fühlt er sich ausgesprochen unbehaglich.«
»Der Arme!«
»Da ist allerdings noch etwas. Er will zu uns, um mit uns zu reden. Er hat irgendeine Botschaft für uns.«
»Wird er heute nacht hierher kommen?«

Berit schüttelte den Kopf. »Er hat den Befehl, sich nicht vor morgen früh mit uns in Verbindung zu setzen. Er hat schreckliche Angst vor seinem Auftraggeber; deshalb wird er sich genauestens an die Anweisungen halten. – Ist der Schinken bald durch?«

Khalad hob mit seinem Dolch den Deckel des Eisentopfs, der am Rand des Feuers halb in der Glut eingebettet war. Der herausquellende Dampf roch köstlich. »Er ist bereits durch. Sobald auch die Bohnen weich sind, können wir essen.«

»Falls sich unser Freund da draußen in Windrichtung von uns aufhält, wird der Duft sein Elend noch schlimmer machen«, meinte Berit schadenfroh.

»Das bezweifle ich, Sperber. Er ist Styriker, und Styriker dürfen kein Schweinefleisch essen.«

»Stimmt. Das hatte ich ganz vergessen. Aber er ist ein Abtrünniger. Vielleicht hat er da auch seine Eßgewohnheiten geändert.«

»Das werden wir am Morgen erfahren. Sobald er zu uns kommt, biete ich ihm ein Stück Schinken an. Schneidet doch ein paar Scheiben von dem Brotlaib ab, dann röste ich sie auf dem Topfdeckel hier.«

Bis zum Morgen ließ der Wind ein wenig nach, und auch der Regen trommelte nur noch hin und wieder auf das Lukendeckeldach. Zum Frühstück aßen die Gefährten wieder Schinken und weiße Bohnen; dann machten sie sich daran, ihre Sachen zusammenzupacken. »Was meinst du?« fragte Berit.

»Bleiben wir, bis er zu uns gekommen ist. Es regnet noch; da ist es nicht ungewöhnlich, wenn wir noch ein bißchen warten.« Khalad blickte seinen Freund nachdenklich an. »Würde Euch ein kleiner Rat kränken, Hoheit?« »Natürlich nicht.«

»Ihr seht zwar aus wie Sperber, aber Ihr hört Euch nicht ganz wie er an, ja, Euer ganzes Auftreten stimmt nicht so recht überein. Wenn der Styriker kommt, solltet Ihr ein härteres und kälteres Gesicht machen. Kneift die Augen ein wenig zusammen. Sperber blinzelt ein bißchen. Außerdem solltet Ihr die Stimme etwas leiser und gleichmütiger halten. Sperber spricht sehr ruhig, wenn er verärgert ist – und er nennt Fremde gern ›Nachbar‹. Mit diesem einen Wort kann er eine Menge ausdrücken.« »Du hast recht! Er nennt so gut wie alle Fremden ›Nachbar‹, nicht wahr? Das hatte ich fast vergessen. Du hast die Erlaubnis, mich jederzeit sofort zu verbessern, wenn ich vom echten Sperber abweiche, Khalad.« »Erlaubnis?«

»Oh! Keine gute Wortwahl, fürchte ich.« »Das könnt Ihr laut sagen!«


»In Matherion wurde es ein wenig zu heiß für uns.« Caalador lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blickte durchdringend in das harte Gesicht seines Gegenübers. »Ich nehme an, du verstehst, was ich meine, Orden.«

Der Mann lachte. »O ja!« versicherte er ihm. »Einige Male mußte auch ich schon Hals über Kopf eine Stadt verlassen, weil die Gesetzeshüter Wind von meiner Anwesenheit bekommen hatten.« Orden war ein Elenier aus Vardenaise und betrieb eine Spelunke im Hafenviertel von Delo. Er war ein wohlbeleibter Gauner, der hier ein einträgliches Geschäft machte, weil elenische Gesetzesbrecher sich in der vertrauten Umgebung einer elenischen Schenke wohlfühlten und weil Orden bereit war, ihnen Ware abzukaufen – zu etwa einem Zehntel ihres tatsächlichen Wertes – ohne Fragen zu stellen.

»Was wir wirklich brauchen, ist ein neues Arbeitsfeld, sozusagen.« Caalador zeigte auf Kalten und Bevier, die nun andere Gesichter hatten und grobe, zusammengestückelte Kleidung trugen. »Eine ziemlich hohe Persönlichkeit aus dem Innenministerium war Wortführer der Gruppe von Polizisten, die uns aufhielten und peinliche Fragen stellten.« Er grinste Bevier an, der das Gesicht mit einem ebenfalls cyrinischen Ordensbruder getauscht hatte, einem wahrlich finster aussehenden Ritter, der bei einem Scharmützel in Rendor ein Auge verloren hatte und die leere Höhle mit einer schwarzen Klappe bedeckte. »Meinem einäugigen Freund gefiel das Benehmen dieses Kerls nicht; deshalb hat er ihn mit seinem seltsamen Hackebeil einen Kopf kürzer gemacht.«

Orden blickte auf die Waffe, die Bevier neben seinen Bierkrug auf den Tisch gelegt hatte. »Das ist eine Lochaberstreitaxt, nicht wahr?« fragte er.

Bevier brummte angsteinflößend. Kalten fand die Vorliebe seines Kameraden für dramatische Auftritte übertrieben. Sein jetziges Gesicht und die schwarze Augenklappe hätten schon genügt. Doch daß Bevier als Student begeistertes Mitglied einer Laienbühne gewesen war, schien Grund genug für ihn zu sein, aus jeder Situation eine Art Schmierenkomödie zu machen. Anscheinend wollte er bedrohlich und kampferprobt wirken. Allerdings erreichte er nur, daß er wie ein gemeingefährlicher Irrer aussah.

»Hat eine Lochaber normalerweise nicht einen längeren Schaft?« fragte Orden. »Der würd' nicht unter meinen Kittel passen«, brummte Bevier, »drum hab' ich zwei Fuß vom Griff abgesägt. Aber auch so geht's ganz gut, wenn man nur fest genug hackt. Das Geschrei und das Blut stören mich nicht weiter. Ganz im Gegenteil.« Orden schauderte. Es sah aus, als wäre ihm leicht übel. »Das ist die furchterregendste Waffe, die ich je gesehen habe«, gestand er.

»Das ist wohl auch der Grund, weshalb ich sie so mag«, entgegnete Bevier. Orden blickte Caalador fragend an. »An welches … äh, Arbeitsfeld habt ihr gedacht, du und dein Freund, Ezek?«

»Na ja, wir haben uns überlegt, wir versuchen uns mal als Straßenräuber oder so was Ähnliches«, antwortete Caalador. »Du weißt schon, frische Luft, körperliche Tätigkeit, nahrhaftes Essen, keine Schergen in der Nähe und so weiter. Auf unsere Köpfe sind ziemlich hohe Belohnungen ausgesetzt, und jetzt, wo der Kaiser das Innenministerium aufgelöst hat, wird die ganze Polizeiarbeit von den Atanern erledigt. Hast du gewußt, daß Ataner sich nicht bestechen lassen?«

Orden nickte düster. »O ja. Ein schlimmer Charakterfehler.« Er blickte ›Ezek‹, der wie ein Deiraner mittleren Alters aussah, nachdenklich an. »Wie wär's, wenn du mir Caalador beschreibst, Ezek? Nicht, daß ich an der Wahrheit deiner Worte zweifle, glaub mir! Aber es ist nun mal so, daß zur Zeit alles drunter und drüber geht. Alle Polizisten, die wir bestochen hatten, sitzen im Gefängnis oder sind tot. Da müssen wir alle doppelt vorsichtig sein.«

»Das versteh' ich, und ich nehm's dir nicht übel, Orden«, entgegnete Caalador. »Ich würde niemandem trauen, der in diesen Zeiten nicht vorsichtig ist. Caalador ist ein Cammorier; er hat krauses Haar und ein rotes Gesicht. Ist ein stämmiger Kerl – du weißt schon, breite Schultern, Stiernacken und nicht gerade schlank um die Hüften.« Orden versuchte, ein schlaues Gesicht zu machen. »Was hat er dir gesagt? Wiederhol's wortwörtlich.«

»Aba ja«, erwiderte Caalador mit übertriebenem Dialekt. »Der olle Caalador hat g'sagt, mir soll'n schau'n, daß mir nach Delos komm' und dort zu 'nem Burschn geh'n, der wo Orden heißt – indem daß dieser Bursch weiß, was da in da Untawelt vor sich geht.«

Orden entspannte sich und lachte. »Das ist Caalador, wie er leibt und lebt. Ich wußte schon nach drei Worten, daß du die Wahrheit gesagt hast.«

»Er vergewaltigt die Sprache ganz ordentlich«, pflichtete Caalador ihm bei. »Aber er ist keineswegs so dumm, wie er sich anhört.«
Kalten verbarg sein Lächeln rasch hinter einer Hand.

»Issa sicha nich'.« Auch Orden ahmte kurz den Dialekt nach. »Ich fürchte nur, daß Straßenraub hier nicht viel einbringen wird, Ezek, schon deshalb nicht, weil es nicht sehr viele Straßen gibt. Im Urwald wärt ihr zwar sicher, denn nicht einmal die Ataner können in diesem Dickicht jemanden finden – aber da ist kaum was rauszuholen. Drei Männer allein im Dschungel haben kaum Aussicht auf ein Auskommen. Ich finde, ihr solltet euch einer der Banden da drinnen anschließen. Sie machen sich ein recht gutes Leben, indem sie einsame Herrensitze ausrauben und Ortschaften brandschatzen. Für diesen Beruf werden ziemlich viele Männer gebraucht; deshalb sind die Banden immer auf der Suche nach neuen verläßlichen Mitgliedern.« Er lehnte sich zurück und tippte sich nachdenklich ans Kinn. »Wollt ihr weit weg von der Stadt?« »Je weiter, desto besser«, erwiderte Caalador.

»Narstil hat seine Leute nahe der Ruinen von Natayos. Ich kann euch garantieren, daß die Polizei euch dort bestimmt nicht stört. Ein Kerl namens Scarpa hat eine ganze Armee in den Ruinen einquartiert. Narstil macht allerlei Geschäfte mit ihm, gefährliche Geschäfte zwar, aber offenbar recht einträgliche.«

»Ich glaube, du hast genau das richtige für uns gefunden, Orden!« rief Caalador erfreut.

Kalten stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Ohne viele Worte zu machen, war Orden mit der Lösung gekommen, die sie gesucht hatten. Wenn sie sich dieser Räuberbande anschlossen, würden sie Natayos nahe genug sein, den Rauch aus den Schornsteinen zu riechen, und das war ein größerer Glückstreffer, als sie sich erhofft hatten.

»Was hältst du davon, Ezek, wenn ich einen Brief an Narstil schreibe und euch empfehle?«
»Wir wären dir sehr dankbar, Orden.«

»Doch bevor ich die Tinte und das Papier verschwende, sollten wir uns vielleicht darüber unterhalten, was ihr mir dafür bezahlt, meint ihr nicht?«


Der Styriker war durchnäßt, schmutzig vom Schlamm und vor Kälte fast blaugefroren. Er zitterte so heftig, daß seine Stimme kaum zu verstehen war, als er ihnen beim Näherkommen zurief: »Ich habe eine Nachricht für euch. Also tut nichts Voreiliges.« Er sprach Elenisch – zu Berits großer Erleichterung, denn sein Styrisch war alles andere als gut. Das war die Schwachstelle bei seiner Tarnung.

»Kommt herein, Nachbar«, forderte er den arg mitgenommen aussehenden Burschen auf, der ein Stück den Strand hinauf stand. »Aber haltet Eure Hände so, daß ich sie sehen kann.«

»Kommandiert mich nicht herum, Elenier!« brauste der Styriker auf. »Ich erteile hier die Befehle!«

»Dann bleibt, wo Ihr seid, und teilt uns Eure Botschaft von da aus mit, Nachbar«, erwiderte Berit schroff. »Laßt Euch Zeit, wenn Ihr wollt. Ich hab's trocken und warm in unserem Unterschlupf. Für mich wird es also nicht ungemütlich sein, hier zu warten, bis Ihr Euch entschlossen habt.«

»Es ist eine schriftliche Nachricht«, erwiderte der Mann auf styrisch, falls Berit seine Worte richtig übersetzt hatte.

»Freundchen«, sprang Khalad rasch ein, »wir haben hier eine heikle Situation! Es gibt unzählige Möglichkeiten, daß Mißverständnisse entstehen! Also macht mich nicht nervös, indem Ihr in einer Sprache redet, die ich nicht verstehe. Ritter Sperber mag sie ja beherrschen, aber ich nicht, und mein Messer in Eurem Bauch wird Euch genauso schnell töten wie seines. Hinterher tut's mir vielleicht leid, aber es würde Euch nicht mehr ins Leben zurückrufen!«

»Darf ich in euren Unterschlupf kommen?« fragte der Styriker jetzt wieder auf Elenisch.
»Nur herein, Nachbar«, forderte Berit ihn auf.

Der Bote mit dem grobschlächtigen Gesicht kam nun direkt auf sie zu und blickte sehnsüchtig auf das Feuer.

»Ihr seht wirklich so aus, als wäre es Euch schon mal besser ergangen, alter Junge«, bemerkte Berit. »Ist Euch denn kein Zauber eingefallen, der Euch den Regen hätte vom Leibe halten können?«

Der Styriker beachtete die Bemerkung nicht. »Ich bin beauftragt, Euch dies hier zu geben.« Er langte in eine Tasche seines grobgewebten Kittels und brachte ein in Öltuch gewickeltes Päckchen zum Vorschein.

»Das nächste Mal sagt mir lieber, was Ihr tun wollt, ehe Ihr noch einmal die Hand unter die Kleidung schiebt, Nachbar!« warnte Berit mit leiser Stimme und kniff dabei die Augen zusammen. »Wie mein Freund Euch eben erklärte, gibt es mehr als genug Möglichkeiten, daß Mißverständnisse entstehen. Und falls Ihr mich noch einmal so überrascht, wenn ich Euch so nahe bin, könnte es sich als sehr schädlich für Eure Eingeweide erweisen.«

Der Styriker schluckte schwer und wich sofort einige Schritte zurück, nachdem Berit das Päckchen an sich genommen hatte.

»Hättet Ihr Appetit auf ein Stück Schinken, während Ritter Sperber den Brief liest?« bot Khalad ihm verschmitzt an. »Er ist schön fett! Genau das richtige, Eure Innereien zu schmieren.« Der Styriker schüttelte sich, und sein Gesicht wurde grün.

»Nach ein paar Stück saftigen fetten Schweinefleisches fühlt man sich gleich ganz anders«, erklärte Khalad ihm vergnügt. »Das kommt wohl von dem vielen Abfall und dem halbverrotteten Fraß, den Schweine in sich hineinstopfen.« Der Styriker stieß einen würgenden Laut aus.

»Ihr habt Eure Botschaft übermittelt, Nachbar«, sagte Berit nun kalt. »Ich bin sicher, Ihr habt anderswo noch Wichtiges zu erledigen, und wir möchten Euch um keinen Preis aufhalten.«
»Seid Ihr sicher, daß Ihr die Nachricht versteht?«

»Ich habe sie gelesen. Elenier können sehr gut lesen. Wir sind keine Analphabeten wie ihr Styriker. Die Botschaft stimmt mich nicht gerade froh, also ist es besser für Euch, wenn Ihr Euch nicht länger in meiner Nähe aufhaltet!«

Der styrische Bote wich mit verängstigter Miene zurück. Dann warf er sich herum und ergriff die Flucht.
»Was steht drin?« fragte Khalad.

Sanft hielt Berit die beigelegte Locke seiner Königin in der Hand. »Daß es eine Änderung des ursprünglichen Plans gibt. Wir sollen an den Tamulischen Bergen vorbei südwärts ziehen und dann nach Westen abbiegen. Sie wollen jetzt, daß wir uns nach Sopal begeben.« »Ihr solltet am besten gleich Aphrael benachrichtigen.«

Plötzlich erklang ein vertrautes Trillern. Die beiden jungen Männer wirbelten herum. Die Kindgöttin saß mit überkreuzten Beinen auf Khalads Decken und blies eine klagende styrische Weise auf ihrer Syrinx. »Warum starrt ihr mich so an?« fragte sie. »Ich hatte euch doch gesagt, daß ich euch im Auge behalte.«

»Ist das wirklich klug, Göttin?« fragte Berit. »Dieser Styriker ist noch gar nicht weit fort. Wahrscheinlich kann er spüren, daß Ihr hier seid.«

»Nicht im Augenblick!« Aphrael lächelte. »Zur Zeit ist er viel zu sehr damit beschäftigt, seinen rebellierenden Magen im Zaum zu halten. Dieses ganze Gerede über Schweinefett war wirklich grausam von dir, Khalad.« »Ja, ich weiß.« »Mußtest du eine so bildhafte Darstellung geben?«

»Ich hatte ja keine Ahnung, daß du in der Nähe bist. Was meinst du, sollen wir tun?« »Reitet nach Sopal, wie es im Brief verlangt wird. Ich verständige die anderen.« Sie machte eine Pause. »Was hast du mit diesem Schinken gemacht, Khalad?« fragte sie neugierig. »Der riecht ja beinahe genießbar!«

»Wahrscheinlich liegt es an den Nelken.« Er hob die Schultern. »So versessen auf den Geschmack von Schweinefleisch ist eigentlich kaum jemand, wenn man es genau nimmt. Aber meine Mutter hat mich gelehrt, daß man so gut wie alles appetitlich zubereiten kann, sofern man nur genügend Gewürze verwendet. Vielleicht erinnerst du dich daran, wenn du das nächste Mal die Absicht hast, jemandem Ziegenbraten vorzusetzen.« Aphrael streckte ihm die Zunge heraus und verschwand.