17

Ihre königliche Hoheit, Kronprinzessin Danae von Elenien, saß gedankenverloren auf einer abgelegenen Fensterbank in einem oberen Stockwerk der Burg Ihrer Mutter. Das Wetter war wechselhaft, und zur Zeit fegte ein heftiger Windstoß welke Blätter wie huschende braune Mäuse über den Rasen unterhalb des Fensters. Danae streichelte abwesend ihre schnurrende Katze, während sie verschiedene Möglichkeiten überdachte.

Mirtai, die Hand am Schwertgriff, grimmig und unerbittlich in atanischem Harnisch aus poliertem Stahl und schwarzem Leder, stand in mürrischem Gehorsam ein gutes Stück entfernt auf dem Korridor.

»Du bist immer noch böse auf mich, nicht wahr?« fragte Danae die goldene Riesin, ohne sich auch nur umzudrehen.

»Es steht mir nicht zu, das Benehmen meiner Besitzer zu mißbilligen«, antwortete Mirtai stur.
»Hör schon auf damit. Komm her!«
Mirtai marschierte gehorsam zu ihrer kleinen Herrin. »Ja?«

»Ich werde es noch einmal versuchen. Bitte, hör mir diesmal zu!« »Wie Eure Majestät befiehlt.«

»Das wird ausgesprochen lästig, ist dir das klar? Wir lieben dich, Mirtai.« »Spricht Eure Majestät im Pluralis majestatis?«

»So langsam machst du mich wütend! Ich habe einen Namen, den du sehr wohl kennst! Wir alle lieben dich, und es hätte uns das Herz gebrochen, wenn du dich getötet hättest. Ich habe deshalb ein bißchen grob zu dir gesprochen, damit du wieder zur Vernunft kommst.«

»Ich weiß, warum du es getan hast, Danae. Aber mußtest du mich im Beisein der anderen so demütigen?«
»Ich möchte mich dafür entschuldigen.«

»Das kannst du gar nicht. Du bist eine Königin, und Königinnen dürfen sich nicht entschuldigen.«

»Ich schon, wenn ich es will!« Danae machte eine kurze Pause. »Tja, das war's!« fügte sie dann hinzu.

Mirtai lachte, und plötzlich schlang sie die Arme um das kleine Mädchen. »Du wirst nie lernen, eine Königin zu sein, Danae.«

»Oh, das würde ich nicht sagen. Königin zu sein bedeutet nur, daß man bekommt, was man will. Ich bekomme immer, was ich will. Für so was Einfaches brauche ich keine Krone und auch keine Armee.«
»Du bist ein sehr verzogenes Mädchen, Majestät.«
»Ich weiß. Und ich genieße jede Minute.«

Da hörte die Prinzessin ein schwaches, weit entferntes Murmeln – ein Geräusch, das so leise war, daß Mirtai es nicht einmal erahnen konnte.

»Würdest du bitte Melidere zu mir schicken?« bat sie, seufzte und verdrehte die Augen. »Ich bin sicher, sie sucht mich sowieso schon. Wahrscheinlich ist es wieder mal an der Zeit für eine dieser Mädchen-Unterrichtsstunden.«

»Melidere unterweist dich in höfischem Benehmen und den üblichen guten Manieren, Danae«, rügte Mirtai. »Wenn du Königin werden willst, mußt du das beherrschen.« »Was mich angeht, halte ich das alles für lächerlich. Aber geh schon voraus, Mirtai. Ich komme in ein paar Minuten nach.«

Die Riesin eilte den Gang entlang, und Danae fragte leise in die Luft: »Was gibt es, Setras?«

»Du beherrscht das alles doch, Aphrael.« Ihr lockenköpfiger Vetter erschien plötzlich neben ihr. »Warum nimmst du da Unterricht?«

»Weil es Melidere etwas zu tun gibt und verhindert, daß sie auf dumme Gedanken kommt. Ich habe sehr viel Zeit und Mühe darauf verwendet, sie und Stragen zusammenzubringen. Ich möchte nicht, daß Melidere meine Arbeit zunichte macht, indem sie sich aus Langeweile anderswo und vor allem anderswie vergnügt.« »Das ist dir sehr wichtig, nicht wahr?« Die Frage klang verwundert. »Warum interessiert es dich überhaupt, was die Menschen tun, um sich fortzupflanzen?« »Das würdest du nicht verstehen, Setras. Dazu bist du noch zu jung.« »Ich bin so alt wie du!«

»Ja, aber du achtest nicht darauf, was deine Anbeter tun, wenn sie allein zusammen sind.«
»Ich weiß, was sie tun. Es ist lächerlich.«
»Ihnen gefällt es offenbar.«
Er rümpfte die Nase. »Blumen sind da viel schicklicher.«
»Wolltest du darüber mit mir reden?«

»Oh, jetzt hätte ich es fast vergessen. Ich habe eine Nachricht für dich. Es gibt da einen alzionischen Ritter – einen von denen, die mir dienen. Ich glaube, du kennst ihn. Er ist ein mondgesichtiger Bursche namens Tynian.« »Ja.«

»Wie du weißt, kehrte er nach Chyrellos zurück, um Hilfe zu holen. Und dort hat er, wenngleich unbeabsichtigt, sämtliche Pandioner ausgewählt, die geschickt genug sind, Botschaften an dich weiterzuleiten. Er hat sie alle in diesen Teil der Welt mitgebracht, so daß es unter den Ordensrittern keinen einzigen mehr gab, der dir hätte mitteilen können, was in Zemoch passiert ist.«

»Ja, das weiß ich bereits. Anakha wird sich in dieser Sache mit Tynian besprechen. Was ist denn in Zemoch geschehen?«

»Die Ordensritter stießen auf Klæl. Ein Drittel von ihnen verlor dabei das Leben.« Aphrael stieß eine Reihe unfeiner Verwünschungen aus. »Aphrael!« entsetzte sich Setras. »So etwas sagt man nicht!«

»Ich schon! Warum hast du mir das nicht sofort mitgeteilt, Setras?«

»Weil ich wegen dem anderen neugierig war«, gestand er. »Es ist ja nicht so, daß sie alle getötet wurden, Aphrael. Es gibt noch sehr viele von ihnen. In Kürze werden es wieder so viele sein wie zuvor. Sie sind unheimlich fruchtbar, weißt du.«

»Ich liebe sie alle, du Dämlack. Ich will keinen einzigen verlieren!«

»Du bist schrecklich besitzergreifend. Das ist einer deiner Fehler, Kusinchen. Du kannst sie nicht alle behalten.«

»An deiner Stelle würde ich nicht darauf wetten, Setras. Ich fange jetzt erst richtig an.« Sie warf die Hände in die Luft. »Es ist unmöglich! Du verstehst die Botschaft ja nicht einmal, die du mir übermitteln willst. Wo sind die Ordensritter jetzt?«

»Sie überqueren die große Steppe von Mittelastel, um in Cynesga einzufallen.
Wahrscheinlich stoßen sie dort wieder auf Klæl. Ich hoffe, sie werden nicht alle umgebracht.«
»Wer hat den Befehl?«

»Als sie aus Chyrellos losmarschierten, war ein alter Mann namens Abriel der oberste Feldherr, einer von Romalics Dienern. Aber er ist in Zemoch gefallen. Daraufhin hat ein Hohepriester der Kirche des Elenischen Gottes das Kommando übernommen. Ein Thalesier. Er heißt Bergsten.«

»Das hätte ich mir denken können«, murmelte Aphrael. »Zuerst habe ich noch ein paar Dinge zu erledigen, dann suche ich Bergsten auf und lasse mir richtig Bericht erstatten.« »Ich wollte doch nur helfen!« sagte Setras leicht gekränkt.

»Das hast du auch, Vetter«, erwiderte Aphrael nachsichtig. »Du kannst ja nichts dafür, daß du nicht wußtest, was inzwischen hier geschehen ist.«

»Ich muß mich mit wichtigeren Dingen befassen, Aphrael«, stellte er geziert fest. »Besuch mich doch mal in meinem Atelier. Vor ein paar Tagen habe ich einen Sonnenuntergang erschaffen, der wahrscheinlich eines meiner besten Werke bislang ist. Er ist so schön, daß ich beschlossen habe, ihn zu behalten.«

»Setras! Du darfst die Sonne nicht einfach auf diese Weise anhalten!« »Dort lebt niemand, Aphrael! Keiner wird es bemerken.« »O je!« Sie vergrub das Gesicht in den Händen.

»Jetzt bist du enttäuscht von mir, nicht wahr?« Seine Unterlippe zitterte leicht, und seine großen, leuchtenden Augen füllten sich mit plötzlichen Tränen. »Dabei gebe ich mir soviel Mühe, daß du und die anderen stolz auf mich sein können!«

»Enttäuscht von dir? Das wäre ein bißchen dick aufgetragen«, sagte sie. »Wie dem auch sei, ich liebe dich trotzdem.« Sein Gesicht leuchtete auf. »Dann ist alles in Ordnung?«

»Aber natürlich, Setras.« Sie küßte ihn. »Geh jetzt. Ich muß mit diesen anderen reden.«

»Du wirst mich doch in meinem Atelier besuchen und meinen Sonnenuntergang bewundern, nicht wahr?«

»Natürlich, Vetter. So, aber jetzt geh.« Sie hob ihre schlafende Katze auf den Arm und blies ihr ins Ohr. »Wach auf, Murr!«
Die gelben Augen öffneten sich.

»Kehre zu unserem gemeinsamen Schlupfwinkel zurück«, wies die kleine Prinzessin das Tier in der Katzensprache an. »Ich muß etwas erledigen.« Sie stellte Murr auf den Boden. Die Katze machte einen Buckel, bog den Schwanz zu einem geschmeidigen Fragezeichen und gähnte. Dann tapste sie den Korridor entlang. Danae schaute sich um, lauschte und spähte, um sicherzugehen, daß sie hier allein war. In den Räumlichkeiten der Burg hielten sich einige männliche menschliche Wesen auf, und die Erscheinung einer nackten Göttin erregte sie stets. Natürlich war es schmeichelhaft, doch für jemanden, der nicht das geringste Bedürfnis hatte, sich fortzupflanzen, war es auch ein wenig verwirrend. So sehr sie es versucht hatte – es war Aphrael nie gelungen, den unüberlegten, ziellosen Paarungstrieb der menschlichen Männer zu begreifen.

Die Kindgöttin nahm flüchtig ihre wahre Gestalt an; dann wurde sie zu beiden kleinen Mädchen zugleich.
»Du wirst älter, Danae«, stellte Flöte fest.

»Kann man es wirklich schon merken?«

»Ein bißchen. Aber es wird noch eine ganze Weile dauern, ehe du eine erwachsene Frau sein wirst. Bist du sicher, daß du das wirklich auf dich nehmen willst?« »Es könnte uns allen helfen, sie ein bißchen besser zu verstehen. Ich glaube, Setras weiß nicht einmal, daß es einen Mann und eine Frau braucht, um – na, du weißt schon.« Danae errötete.

»Setras ist keine große Leuchte. Darf ich Mirtai ausleihen?« fragte Flöte. »Wozu?«

»Du brauchst sie hier nicht unbedingt, und nach den Geschehnissen in Dirgis hätte ich gern, daß jemand über Sephrenia wacht, dem ich vertrauen kann.«

»Gute Idee. Reden wir mit Sarabian und den anderen. Sie können Boten zu denjenigen schicken, zu denen wir keine Verbindung haben.«

Flöte nickte. »Es wäre sehr viel einfacher, würden sie alle uns gehören.«

Danae lachte. »Ich glaube, Setras hatte recht. Wir sind wirklich besitzergreifend, nicht wahr?«

»Wir lieben sie doch alle, Danae. Ich sehe keinen Grund, weshalb sie uns nicht auch lieben sollten.«

Die beiden kleinen Mädchen trippelten Hand in Hand den Korridor entlang. »Danae«, sagte Flöte, »glaubst du, Mirtai könnte Höhenangst haben?«


»Er sieht wirklich so aus wie auf dem Bild, das Talen gezeichnet hat, findest du nicht?« flüsterte Tynian Ulath zu.

»Ja, sehr«, bestätigte Ulath. »Der Junge hat ein bemerkenswertes Talent.« »Ja, und er kann auch gut zeichnen.«

Ulath lachte. Dann betrachtete er die Männer, die sich um Parok geschart hatten, und zog Tynian ein Stück weiter von ihnen weg. »Parok erteilt hier die Befehle«, flüsterte er. »Aber der Arjuner in dem schreiend bunten Wams spricht für König Rakya.«

»Sarabian wird über den König von Arjuna sehr verärgert sein.«

Ulath nickte. »Es würde mich gar nicht wundern, wenn schon bald ein anderer auf dem arjunischen Thron säße.«

»Was, genau, hat Parok über Natayos gesagt? Du wirst ihn doch nicht etwa mißverstanden haben, oder?«

»Ganz sicher nicht, Tynian. Kurz vor der Auseinandersetzung mit Herzog Milanis meinte Parok, Scarpa wolle seine Armee aus Natayos abziehen, ehe Sperber die letzte Botschaft bekommt. Ich hätte beinahe laut gejubelt, als Parok sagte, sie würden Sperber nach Natayos schicken, um Ehlana dort gegen Bhelliom auszutauschen.«

»Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Es wäre möglich, daß sie Ehlana anderswo festhalten und sie erst in letzter Minute nach Natayos bringen.«

Ulath zuckte die Schultern. »Sobald Xanetia dort ist, werden wir Gewißheit haben.« Die Tür zum Gemach mit den Bücherschränken schwang auf, und ein Lakai stürmte herein.

»Eine wichtige Botschaft ist aus Natayos eingetroffen, Baron«, wandte er sich an Parok. »Der Kurier hat sein Pferd schier zuschanden geritten.« »Pferde sind billig. Schick den Mann herein.«

»Es fällt mir immer leichter, diesen Kerl nicht zu mögen«, murmelte Tynian. »Geht mir genauso«, brummte Ulath und blickte nachdenklich auf. »Wir sind doch gewissermaßen unsichtbar, nicht wahr?«

»Sagt jedenfalls Ghnomb.«

»Kannst du dir Paroks Gesichtsausdruck vorstellen, wenn er plötzlich von einem unsichtbaren Messer aufgeschlitzt würde?« »Und langsam!« fügte Tynian hinzu. »Ganz, ganz langsam!«

Der Bote aus Natayos war ein schäbig gekleideter Daziter, der vor Erschöpfung taumelte, als er ins Gemach schwankte. »Baron!« keuchte er. »Gott sei Dank habe ich Euch gefunden!«
»Sprich, Bursche!«
»Dürfte ich zuvor einen Schluck Wasser haben?«
»Sprich erst, dann darfst du trinken, was du willst.«

»Durchlaucht Scarpa befahl mir, Euch auszurichten, daß der Mann, den Ihr beobachtet, nicht Sperber ist.« »Ah, jetzt hat Scarpa also völlig den Verstand verloren.«

»Nein, Baron. Zalasta hat es bestätigt. Ein gewisser Klæl hat sich den Mann angeschaut, dem Ihr die Schreiben schickt. Sie dachten, Ihr wüßtet, wer dieser Klæl ist. Jedenfalls ließ er ausrichten, daß der Mann mit der gebrochenen Nase zwar aussieht wie Sperber, in Wahrheit aber nicht Sperber ist. Dieser Klæl muß eine Möglichkeit haben, den Unterschied mit Gewißheit zu erkennen.« Parok fluchte wild.

»Das reicht!« knurrte Tynian. »Ich werde Aphrael sofort Bescheid geben. Wir müssen Berit und Khalad umgehend in Sicherheit bringen.«

»Hat Scarpa Sperbers Gemahlin getötet?« fragte Baron Parok den Boten.

»Nein, Euer Gnaden. Er wollte es, aber Zalasta hielt ihn zurück. Ich soll Euch ausrichten, daß Ihr nichts unternehmen sollt, was den Betrüger darauf hinweisen könnte, daß wir ihn durchschaut haben. Zalasta braucht eine gewisse Zeit, die Gefangenen an einen sicheren Ort zu bringen. Er will so weitermachen, als wäre nichts passiert. Nachdem er die beiden Frauen in Sicherheit gebracht hat, wird er Euch Bescheid geben, daß Ihr den Mann töten könnt, der sich als Sperber ausgibt.« »Demnach hat Zalasta wieder volle Befehlsgewalt?«

»Jawohl, Baron Parok. Durchlaucht Scarpa ist ein wenig – äh – verwirrt könnte man wahrscheinlich sagen.«

»Man könnte auch ›total verrückt‹ sagen. Das träfe es wohl besser.« Parok begann hin und her zu stapfen. »Ich hatte mich schon gefragt, wieviel noch fehlt, ehe Scarpa völlig dem Wahnsinn verfällt. Na ja, so ist es wahrscheinlich besser. Zalasta ist zwar Styriker, aber er hat einen klaren Kopf. Reite zurück und richte ihm aus, daß ich seine Botschaft erhalten habe und nichts tun werde, seine Pläne zu gefährden. Laß ihn wissen, daß ich keine echte Zuneigung zu Scarpa empfinde und nur ihm, Zalasta, treu ergeben bin.« »Jawohl, Euer Gnaden!«

Herzog Milanis erhob sich und ging zum Fenster, um es zu schließen. »Woher, in Gottes Namen, kommt dieser gräßliche Gestank?«

Tynian drehte sich um und sah den riesigen Troll unmittelbar hinter ihnen stehen. »Bhlokw«, sagte er, »es ist nicht gut, wenn du auf diese Weise in den Bau von Menschendingen kommst.«

»Khwaj hat mich geschickt, Tin-in«, erklärte Bhlokw. »Khwaj will nicht mehr warten. Er will die Verruchten für immer brennen lassen.«

In diesem Augenblick erschien der ungeheure Gott inmitten Feuer und Rauch. »Eure Jagd dauert zu lange, Ulath-von-Thalesien. Habt ihr schon eines der verruchten Menschendinge gefunden? Wenn ja, dann zeigt es mir. Ich werde es für immer brennen lassen.«

Tynian und Ulath wechselten einen langen Blick. Dann grinste Tynian wölfisch. »Warum nicht?« meinte er.

»Ja, warum nicht?« pflichtete Ulath ihm bei. Er blickte den flackernden Feuergott an. »Unsere Jagd ist erfolgreich, Khwaj«, versicherte er ihm. »Wir haben eines von jenen Menschendingen gefunden, die Anakhas Gefährtin raubten. Du darfst es jetzt für immer brennen lassen.« Er legte eine Pause ein. »Da sind aber noch mehr, hinter denen wir her sind«, fügte er hinzu. »Und wir dürfen sie nicht verscheuchen, damit es nicht schwieriger wird, sie zu jagen. Kann Ghnomb jenes Menschending, das wir hier gefunden haben, in die Nichtzeit versetzen? Dort kannst du deinen Spaß mit ihm haben. Wenn es in der Nichtzeit brennt, können die anderen seiner Herde den Rauch nicht riechen und seine Schmerzensschreie nicht hören – und dann werden sie auch nicht weglaufen.«

»Dein Gedanke ist gut, Ulath-von-Thalesien«, pflichtete Khwaj ihm bei. »Ich werde mit Ghnomb darüber reden. Er wird es so machen, daß das Menschending, welches brennen soll, in der Zeit brennt, die sich nicht bewegt. Welches von denen hier ist es?« »Das da«, antwortete Ulath und zeigte auf Baron Parok.

Herzog Milanis drehte sich gerade vom Fenster um, als er plötzlich innehielt und zu einer in der Bewegung erstarrten Statue wurde.

Baron Parok setzte sein ruheloses Hin und Her fort. »Wir werden zusätzliche Vorkehrungen treffen müssen«, sagte er, ohne zu ahnen, daß die Männer um ihn herum sich nicht mehr rührten. Er drehte sich um und stieß gegen den erschöpften Boten von Natayos. »Aus dem Weg, du Narr!« schnaubte er. Der Mann rührte sich nicht.

»Ich habe dir befohlen, Zalasta eine Botschaft zu überbringen!« tobte Parok. »Wieso bist du immer noch hier?« Er schlug dem Kurier ins Gesicht und schrie vor Schmerzen auf, als seine Hand etwas traf, das härter als Stein war. Entsetzt blickte er sich um. »Was ist los mit euch?« schrie er schrill.

»Was hat das Menschending gesagt?« Khwajs Stimme klang furchterregend. Parok stierte den monströsen Trollgott an, kreischte und stürmte zur Tür.

»Es versteht nicht, daß es jetzt in Nichtzeit ist«, antwortete Ulath auf Trollisch. »Es sollte wissen, warum es bestraft wird!« entschied Khwaj. »Wird es verstehen, wenn du in den Vogelgeräuschen der Menschendinge zu ihm sprichst?« »Ich werde dafür sorgen, daß es versteht«, versprach Ulath. »Gut, sehr gut. Dann sprich zu ihm.« Parok hämmerte hilflos auf die unbewegliche Tür ein.

»Das wird Euch nichts nützen, alter Junge«, versicherte Ulath dem panikerfüllten dazitischen Edelmann höflich. »Die Dinge haben keine gute Wendung für Euch genommen, Baron. Dieser ungeheuerliche Bursche hier, dem Rauch aus den Ohren quillt, ist der Trollgott Khwaj. Es gefällt ihm gar nicht, daß Ihr Königin Ehlana entführt habt.« »Wer seid Ihr?« kreischte Parok. »Was geht hier vor?«

»Man hat Euch zur Bestrafung hierher gebracht, Baron«, erklärte Tynian ihm. »Wie mein Freund Euch eben erklärte, ist Khwaj sehr wütend auf Euch. Trolle sind außerordentlich moralistische Wesen. Untaten, die wir als gegeben hinnehmen – wie Geiselnahme, Giftmorde und Entführungen mit Lösegeldforderungen – erzürnen sie ungeheuerlich. Doch einen kleinen Vorteil hat es für Euch. Ihr werdet das ewige Leben bekommen, Baron Parok. Ihr werdet niemals sterben.«
»Was redet Ihr da?«
»Das werdet Ihr schon sehen.«

»Versteht das Menschending jetzt?« fragte Khwaj ungeduldig. »Wir nehmen es an«, antwortete Ulath auf Trollisch.

»Gut.« Unerbittlich näherte Khwaj sich dem zitternden Daziter, der nicht weiter zurückweichen konnte, und streckte eine gewaltige Pranke aus, die er auf Paroks Kopf fallen ließ. »Brenn!« knurrte er.
Baron Parok schrie gellend.

Sein Gesicht schien sich zu spalten, und weißglühendes Feuer schoß aus seiner Haut. Sein Wams rauchte für einen Augenblick, loderte auf und zerfiel zu Asche. Paroks Gestalt war noch die eines Mannes, jedoch in Flammen gezeichnet. Der Baron brannte, ohne vom Feuer verzehrt zu werden. Er tanzte und heulte in unendlicher Qual.

Khwaj schlug mit einer Riesenpratze auf die Tür. Sie barst in flammenden Stücken nach außen. »Geh!« donnerte er. »Lauf! Lauf für immer und brenn für alle Zeit!« Der lodernde Daziter ergriff kreischend die Flucht.

Die Stadt Arjun war in jenem ewigen Augenblick des immerwährenden Jetzt erstarrt. Regungslos wie Statuen standen Einwohner da. Sie bemerkten den Brennenden nicht, der durch die stillen Straßen rannte. Sie hörten seine furchtbaren Schmerzensschreie nicht. Sie sahen ihn nicht zum See laufen.

Flammend stürmte Baron Parok dahin und zog fetten, schwarzen Rauch hinter sich her. Er gelangte zu den Hafenanlagen und flüchtete lodernd auf eine Landungsbrücke, die sich in das dunkle Wasser des Binnenmeers von Arjun erstreckte. Als Parok das Ende des Piers erreichte, blieb er nicht stehen, sondern sprang sehnsuchtsvoll in das kühlende, löschende Wasser. Doch die Oberfläche des Sees gab nicht nach; sie war hart wie Diamant. Die flammende Erscheinung heulte vor Verzweiflung, kniete sich auf die funkelnde Oberfläche und hämmerte mit beiden Fäusten darauf, flehte das Wasser an, ihn aufzunehmen und in der gesegneten Kühle ertrinken zu lassen. Doch von des Trollgottes furchtbarem Befehl getrieben, sprang Parok auf. Die menschenförmige ewige Flamme rannte, immer noch gellend vor Schmerzen schreiend, auf die kristallene Oberfläche hinaus, bis sie nur noch als heller Funke auf dem nachtdunklen See zu sehen war. Ihr wimmernder Schrei aus schrecklichem Schmerz und unendlicher Einsamkeit hallte an der gleichgültigen Küste wider.


»Ich wünschte, Sperber würde endlich wiederkommen«, murmelte Talen, als er und Stragen die baufällige Stiege zu dem Speicherraum erklommen. »Wir haben ziemlich wichtige Informationen, aber keine Möglichkeit, die anderen davon zu unterrichten.« »Das läßt sich derzeit leider nicht ändern«, entgegnete Stragen. »Schauen wir mal, wie Valash auf die Geschichte reagiert, die du erfunden hast. Laß ihn im Ungewissen, bis wir sicher sein können, woran wir sind.«

»Und werdet Ihr mich dann lehren, wie man die Taschen Ahnungsloser ausräumt?« »Oh, entschuldige.« Stragen seufzte. »Ich gebe ja zu, daß du weißt, was du tust.« »Danke, Vymer! O danke, danke!« rief Talen mit übertriebener Herzlichkeit. »Du hast zu viel Zeit mit Prinzessin Danae verbracht«, brummte Stragen mürrisch. »Ich hoffe, sie heiratet dich wirklich. Du verdienst es!« »Seid still, Stragen! Noch kann ich schneller rennen als sie.«

»Davonrennen hilft nicht immer, Reldin. Auch ich habe geglaubt, ich könnte es, aber dann hat Melidere mir mit einem einzigen Wort den Teppich unter den Füßen weggezogen.«
»Ach. Und was war das für ein Wort?«

»›Profit‹, mein junger Freund. Sie hat mit unbegrenzten Mengen Geld vor meinem Gesicht herumgewedelt.«

»Und da seid Ihr schwach geworden!« sagte Talen anklagend. »Für Geld habt Ihr die Junggesellen dieser Welt verraten!«

»Hättest du das nicht getan? Es ging schließlich nicht um ein paar Kupfermünzen!« »Nein, aber um das Prinzip«, entgegnete Talen von oben herab. »Ich würde mich für Geld jedenfalls nicht verkaufen!«

»Ich glaube nicht, daß Danae es bei dir mit Geld versuchen wird, du Unschuldslamm. Würdest du ihr jetzt, auf der Stelle, davonlaufen, könntest du ihr vielleicht noch entkommen, obwohl ich es bezweifle. Ich kannte deinen Vater und weiß, daß es in eurer Familie eine ganz gewisse Vorliebe gibt. Danae kriegt dich, Talen! Du hast keine Chance!«

»Könnten wir vielleicht über etwas anderes reden? Dieses Thema gefällt mir gar nicht.«

Stragen lachte, und sie traten durch die geflickte Tür am Ende der Treppe. Im schwachen Licht einer einzigen Kerze saß Valash und hörte mit gequältem Gesicht ergeben zu, während Ogerajin wirres Zeug stammelte.

»Sein Zustand hat sich offenbar nicht gebessert«, sagte Stragen leise, als er und Talen sich zu den beiden am Tisch gesellten.

»Er wird auch nicht besser, Vymer.« Valash seufzte. »Ich weiß, wie diese Krankheit verläuft. Kommt ihm nicht zu nahe. Sie ist in diesem Stadium besonders ansteckend.«

»Ich möchte wirklich nicht bekommen, was er hat.« Talen schüttelte sich. »Hast du was für mich?« Valash blickte ihn an.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, Meister Valash«, antwortete Talen vorsichtig. »Die Burschen, von denen ich es hab', sind nicht sehr zuverlässig, glaub' ich. Aber vielleicht solltet Ihr trotzdem Panem-Dea davon in Kenntnis setzen. Es betrifft Eure Freunde dort ziemlich direkt. Könnte sein, daß sie ein paar zusätzliche Vorkehrungen treffen möchten.« »Sprich!« forderte Valash ihn ungeduldig auf.

»Ich hab' in einer Hafenkaschemme zwei arjunische Soldaten belauscht – echte arjunische Soldaten, meine ich, keine Kerle, die Durchlaucht Scarpa rekrutiert hat. Sie unterhielten sich über bestimmte Anordnungen, die kurz zuvor aus der Hauptstadt von Arjuna eingetroffen waren. Soweit ich ihren Worten entnehmen konnte, erhielten die Männer den Befehl, sich auf einen Sturmangriff im Urwald vorzubereiten. Die beiden Soldaten vermuten, daß sie Durchlaucht Scarpas Lager in Panem-Dea angreifen werden.« »Unmöglich!« schnaubte Valash.

»Sie sagten, die Anordnungen seien direkt von König Rakya gekommen. Natürlich wurden die Befehle direkt an die Offiziere gesandt; da könnten diese zwei Soldaten schon ein bißchen was durcheinandergebracht haben. Aber sie waren sicher, daß die arjunische Armee Scarpas überfallen wird. Ich dachte, das solltet Ihr wissen.« »Diese Soldaten waren besoffen, Reldin. König Rakya ist unser Verbündeter!« »Wirklich? Das ist ja erstaunlich. Dann sollte Rakya dies aber auch seine Truppen wissen lassen. Die beiden Soldaten, die ich belauschte, schwärmten schon von der Riesenbeute, die sie in Panem-Dea machen würden.«

»Die Königin kommt nach Panem-Dea«, sang Ogerajin plötzlich heiser zur Melodie eines alten Kinderlieds. »Die Königin kommt nach Panem-Dea.« Dann brach er in schrilles Lachen aus.

Plötzlicher Zorn huschte über Valashs Gesicht. »Beruhigt Euch, Meister Ogerajin«, sagte er mit einem besorgten Blick auf Stragen und Talen.

»Die Königin kommt in einer Kutsche nach Panem-Dea«, sang Ogerajin ungerührt weiter.

»Achtet nicht auf ihn«, sagte Valash ein bißchen zu schnell. »Er plappert nur Unsinn.«
»Sein Verstand läßt wirklich nach«, bemerkte Stragen.

»Sechs weiße Pferde mit silbernem Zaum …«, trällerte Ogerajin weiter.

»Habt Ihr je einen solchen Schwachsinn gehört?« Valash lachte gezwungen.
»Vielleicht ist unsere Anwesenheit daran schuld«, meinte Stragen. »Schläft er später am Abend ein?«
»Meistens.«

»Gut. Von jetzt an werden Reldin und ich erst gegen Mitternacht herkommen, wenn er im Reich der Träume ist.«

»Das wäre nett von euch, Vymer.« Valash blickte die beiden mit immer noch besorgtem Gesicht an. »Er war nicht immer so, wißt Ihr. Es ist die Krankheit.« »Das dachte ich mir schon. Vermutlich weiß er gar nicht, was er daherredet.« »Eben. Genau. Er ist völlig wirr im Kopf. Vergeßt seinen irren Gesang einfach, ja?« Valash riß seinen Beutel vom Gürtel und fischte mehrere Münzen heraus. »Hier! Kommt wieder, wenn er eingeschlafen ist!« Die beiden Diebe verbeugten sich und gingen.

»Er ist ganz schön nervös«, stellte Talen fest, als sie wieder die Treppe hinunterstiegen.

»Und wie! Er hat sich sogar freiwillig von ein paar Münzen getrennt!«
»Wohin?« fragte Talen am Fuß der Stiege.
»Zur Zeit nirgendwohin. Behalte das für dich, Talen.«
»Was?«

Doch Stragen sprach bereits in wohlklingendem Styrisch und fächelte die Finger in kompliziertem Muster in der Luft.

Talen starrte Stragen ungläubig an, als dieser die Hände mit den Handflächen nach oben hob und eine werfende Bewegung machte, so, als würde er eine Brieftaube in die Höhe schleudern. Seine Augen wirkten abwesend, und seine Lippen bewegten sich eine Zeitlang tonlos. Dann lächelte er. »Hab' sie überrascht! So, dann wollen wir.« »Was geht hier vor?« fragte Talen heftig.

»Ich habe Aphrael mitgeteilt, was wir gerade herausgefunden haben.« Stragen zuckte die Schultern.
»Ihr? Wann habt Ihr styrische Magie gelernt?«

»So schwierig ist sie gar nicht, Talen.« Stragen grinste. »Ich habe oft genug gesehen, wie Sperber es macht, und immerhin spreche ich Styrisch. Die Gesten waren ein bißchen kompliziert, doch Aphrael hat sie mir erklärt. Das nächste Mal wird es schon besser gehen.« »Woher wußtet Ihr, daß es funktionieren würde?«

»Sicher war ich mir nicht, aber ich hielt es für an der Zeit, es mal zu versuchen. Aphrael hat mich gelobt.«

»Euch ist doch klar, daß Ihr Euch damit freiwillig in ihren Dienst begeben habt, nicht wahr? Soviel weiß ich jedenfalls über sie. Jetzt seid Ihr ihr Sklave, Stragen! Jetzt gehört Ihr zu Aphrael!«

»Na und?« Stragen zuckte die Schultern. »Es gibt Schlimmeres. Aphrael stiehlt selbst; deshalb bin ich sicher, daß wir gut miteinander auskommen werden.« Er straffte die Schultern. »Also, gehen wir?«