15

Es schneite in Sarna, als Sperber am nächsten Morgen erwachte. Dichte, schwere Flocken wirbelten und tanzten im Wind, der aus den Bergen Atans herbeipfiff. Sperber blickte verärgert durchs Fenster seiner Kasernenunterkunft; dann zog er sich an und machte sich auf den Weg, nach den anderen zu schauen.

Mit einem Stoß Papieren auf dem Schoß saß Itagne neben dem Ofen in der Kriegskammer. »Gibt's etwas Wichtiges?« Sperber blickte beim Eintreten auf die Unterlagen.

»Wohl kaum.« Itagne schnitt eine Grimasse und legte die Papiere auf den Tisch. »Im vergangenen Frühjahr beging ich einen schlimmen Fehler, ehe Oscagne mich aus meinem friedlichen Leben riß und nach Cynestra schickte. Ich hielt auf der Universität einen Vortrag über Außenpolitik, und mir entglitten unbedacht die schrecklichen Worte: ›Schreibt eine Arbeit darüber.‹. Jetzt habe ich eine ganze Wagenladung dieser geistigen Ergüsse, durch die ich mich hindurchackern muß.« Er schüttelte sich. »Schlimm?«

»Unbeschreiblich. Studenten der unteren Semester sollte man verbieten, einen Federkiel auch bloß in die Hand zu nehmen. Bis jetzt habe ich fünfzehn nur leicht unterschiedliche Versionen meiner Rede zu Gesicht bekommen – allesamt in diesem gräßlichen Stil von Möchtegern-Gelehrten zusammengestoppelt, den man als Zeitgeist bezeichnet.« »Wo ist Vanion?«

»Er schaut nach seinen Verwundeten. Habt Ihr Aphrael heute schon gesehen?« Sperber schüttelte den Kopf. »Sie kann überall sein!« »Hat sie Euch tatsächlich von Dirgis hierher geflogen?«

»O ja. Und zuvor von Beresa nach Dirgis. Es ist ein ungewöhnliches Erlebnis, und es beginnt jedesmal mit der gleichen Diskussion.«
Itagne blickte ihn fragend an.

»Bevor es losgeht, muß Aphrael sich in ihre richtige Gestalt zurückverwandeln.« »Grelles Licht? Glorienschein und das ganze wunderbare Repertoire?«

»Nein, nichts dergleichen. Es ist nur, daß sie sich uns stets als kleines Mädchen zeigt, obwohl sie in Wahrheit eine junge Frau ist.«
»Und um was geht es dann bei dieser Diskussion?«

»Ich muß sie jedesmal dazu überreden, Kleidung zu tragen. Offenbar brauchen Götter keine, und der Begriff Sittsamkeit ist ihnen immer noch nicht so recht verständlich. Es kann einen ganz schön verwirren, wenn Aphrael so plötzlich in ihrer Nacktheit erscheint.« »Das kann ich mir vorstellen.«

Die Tür schwang auf. Vanion trat ein und bürstete sich den Schnee von seinem Umhang. »Wie geht es den Männern?« erkundigte sich Sperber.

»Nicht besonders gut«, antwortete der Hochmeister düster. »Ich wünschte, wir hätten mehr über Klæls Soldaten gewußt, ehe wir in den Kampf mit ihnen verstrickt wurden. Ich habe dabei unnötigerweise sehr viele gute Ritter verloren. Hätte ich logische Schlußfolgerungen gezogen, müßte ich Verdacht geschöpft haben, als sie uns bei unserem Rückzug nicht verfolgten!« »Wie lange dauerte der Angriff?«

»Es kam uns zwar wie Stunden vor, aber wahrscheinlich waren es kaum mehr als zehn Minuten.«

»Sobald ihr nach Samar kommt, solltet Ihr mit Kring und Tikume reden. Es wäre gut, wenn wir wüßten, wie lange diese Krieger sich in unserer Luft aufhalten können, bevor sie die Kräfte verlassen.«
Vanion nickte.

An diesem Vormittag gab es für die Gefährten nichts zu tun, und so zogen die Stunden sich schleppend dahin.

Kurz bevor die Sonne den höchsten Punkt am Himmel erreichte, kam Betuana in ihrer hautengen Otterfellkleidung aus dem wirbelnden Schnee gelaufen. Beinahe neiderfüllt konstatierten die erschöpften Männer das übermenschliche Durchhaltevermögen dieser Frau. Sie war weder außer Atem, noch schien ihr Gesicht gerötet, als sie das Gemach betrat, in dem die Gefährten warteten. »Erfrischend!« murmelte sie abwesend, während sie aus ihrer Oberbekleidung schlüpfte. Sie griff nach einer Strähne ihres triefnassen nachtschwarzen Haares, um sie mißbilligend zu betrachten. »Hat jemand einen Kamm bei sich?« erkundigte sie sich.

Alle fuhren zusammen, als am hinteren Ende des Gemachs plötzlich Fanfaren schmetterten. Als sie herumwirbelten, sahen sie die Kindgöttin, von fast blendendem Licht umgeben, heiter und zufrieden mitten in der Luft sitzen. Sie blickte Sperber an. »Ist es das, was du dir vorgestellt hast?« fragte sie.

Er verdrehte die Augen. »Muß das sein?« stöhnte er. Dann bannte ihr lächelndes Gesicht seine Augen. »Ich gebe auf, Aphrael. Du hast gewonnen.«

»Natürlich. Ich gewinne immer.« Sie ließ sich sanft auf den Boden sinken, und ihr Glorienschein erlosch. »Komm her, Betuana. Ich bringe dein Haar in Ordnung.« Sie streckte die Hände aus. Sogleich erschien in einer Hand ein Kamm und in der anderen ein Badetuch. Die Königin der Ataner ließ sich in einem der Sessel nieder.

»Was hat er gesagt?« fragte Aphrael, während sie Betuanas langes Haar trocknete. »Beim ersten Mal sagte er nein«, antwortete die Königin, »genau wie beim zweiten und dritten Mal. Doch beim zwölften Mal, wenn ich mich recht entsinne, gab er nach.«

»Ich wußte es!« Aphrael lächelte, ohne mit dem Trocknen von Betuanas Haar innezuhalten.

»Gibt es da etwas, von dem wir nichts wissen?« fragte Vanion.

»Die Ataner rufen ihren Gott so selten an, daß er völlig überfordert ist, wenn ihn mal jemand um etwas bittet. Wahrscheinlich war er mit etwas anderem beschäftigt, und jedesmal, wenn Betuana ihn anrief, mußte er es beiseite legen, um nachzusehen, was sie wollte. Es fällt ihm schwer, zwei Dinge gleichzeitig zu tun.«

»Ich war sehr höflich.« Betuana lächelte. »Aber ich bat ihn immer wieder. Er hat Angst vor Euch, Göttin.«

»Ich weiß.« Aphrael legte das Badetuch nieder und griff nach dem Kamm. »Er glaubt, ich würde seine Seele stehlen oder so was Ähnliches. Er geht mir in weitem Bogen aus dem Weg.«

»Ich erklärte ihm, daß ich ihn anrufen würde, bis er mir endlich die Erlaubnis erteilte«, fuhr Betuana fort. »Und schließlich ließ er sich erweichen.«

»So ist es bei allen männlichen Wesen.« Aphrael zuckte die Schultern. »Wenn sie oft genug darum bittet, bekommt eine Frau letztendlich doch, was sie will.«

»Das nennt man ›auf die Nerven gehen‹, Göttin«, rügte Sperber.

»Du hast wohl Lust, dir ein paar Tage pausenloses Fanfarengeschmetter anzuhören, Sperber?« »Äh – nein, danke. Aber nett von dir, es mir anzubieten.«

»Er hat seine Erlaubnis eindeutig gegeben?« fragte Aphrael die Königin.

Betuana lächelte. »Durchaus. Ich wiederhole seine Worte: ›Sag ihr, sie kann tun, was sie will! Nur laß mich endlich in Frieden.‹«

»Gut. Dann bringe ich Engessa sogleich zur Insel.« Aphrael schürzte die Lippen. »Du solltest einen Läufer zu deinem Gemahl schicken und ihm wegen Klæls Soldaten Bescheid geben. Und da ich deinen Gemahl kenne, halte ich es für angebracht, daß du ihm sofort befiehlst, nicht anzugreifen. Vor ihm bin ich noch nie einem Sterblichen begegnet, der so unfähig ist wie er, einer bewaffneten Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Er scheint solche Schwierigkeiten direkt anzuziehen.«

»Ich werde versuchen, es ihm zu erklären«, entgegnete Betuana zweifelnd. »Viel Glück. Da hast du.« Aphrael gab ihr den Kamm. »Ich schaffe Engessa jetzt auf die Insel, taue ihn auf und nehme mich seiner an.«


Ulath ließ am Stadtrand anhalten, und Bhlokw rief Ghnomb herbei. Als der Trollgott des Essens erschien, hielt er das halb gefressene Hinterteil eines großen Tieres in einer Riesenpranke.

»Wir haben den Ort erreicht, an den der Mann mit Namen Berit befohlen wurde«, erklärte Ulath dem riesigen Trollgott. »Es wäre gut, wenn wir jetzt aus der Nichtzeit in die Zeit der unterbrochenen Augenblicke wechselten.«
Ghnomb starrte ihn verständnislos an.

»U-lat und Tin-in jagen Gedanken«, erklärte Bhlokw. »Die Menschendinge haben Bäuche ebenso in ihrem Kopf wie die Bäuche in ihren Bäuchen. Sie müssen beide Bäuche füllen. Ihre Bauch-Bäuche sind jetzt voll. Darum bitten sie um das. Es ist ihr Wunsch, jetzt ihre Kopf-Bäuche zu füllen.«

Auf Ghnombs viehischem Gesicht zeichnete sich allmähliches Begreifen ab. »Warum hast du das nicht gleich gesagt, Ulath-von-Thalesien?« Ulath suchte nach einer Antwort.

»Es war Bhlokw, der herausgefunden hat, daß wir Kopf-Bäuche haben«, warf nun Tynian ein. »Wir wußten das nicht. Wir wußten nur, daß unsere Köpfe hungrig waren. Es ist gut, daß Ghworg uns Bhlokw zum Jagen mitgegeben hat. Bhlokw ist ein sehr guter Jäger.« Bhlokw strahlte.

Ulath beeilte sich, die Metapher noch verständlicher zu machen »Unsere KopfBäuche hungern nach Gedanken über die Verruchten. Wir können diesen Gedanken in den Vogelgeräuschen folgen, welche die Menschendinge machen, wenn sie sprechen. Wir werden auf einer Seite des unterbrochenen Augenblicks stehen, wo sie uns nicht sehen können, und ihren Vogelgeräuschen lauschen. Dann folgen wir diesen Spuren zu jenen, die wir jagen, und sie werden nicht wissen, daß wir da sind. Danach lauschen wir den Vogelgeräuschen, die sie machen und erfahren, wo sie Anakhas Gefährtin versteckt haben.«

»Ihr jagt gut«, lobte Ghnomb. »An diese Art von Jagd hatte ich noch nicht gedacht. Es ist fast so gut wie die Jagd auf Dinge-zu-Essen. Ich werde euch bei der Jagd helfen.«

»Wir sind dir sehr dankbar dafür«, versicherte Tynian dem Troll.

Arjun war die Metropole des Königreichs Arjuna, eine große Stadt am Südufer des Sees. Das Königsschloß und die Paläste der Edlen lagen in den Bergen am Südrand der Stadt, deren Handelszentrum sich nahe dem Ufer befand.

Ulath und Tynian versteckten ihre Pferde und begaben sich zu Fuß durch das graue Zwielicht von Ghnombs unterbrochenen Augenblicken in die Stadt. Dann trennten sie sich, um nach der Nahrung zu suchen, die ihre Kopfbäuche ersehnten. Bhlokw hielt derweil nach Hunden Ausschau.

Es war schon fast Abend, als Ulath aus einer weiteren der vielen heruntergekommenen Schenken in der Hafengegend trat. »Wenn wir so weitermachen, brauchen wir einen Monat«, brummte er vor sich hin. Der Name Scarpa war in mehreren Gesprächen erwähnt worden, und jedesmal war Ulath neugierig näher herangerückt, um zu lauschen. Doch Scarpa und seine Armee waren hier bedauerlicherweise alltägliche Themen, und Ulath hatte nichts Brauchbares aufschnappen können.

»Marsch, aus dem Weg!« erklang eine barsche, gebieterische Stimme. Ulath drehte sich um, neugierig, wer da so herrisch und arrogant war.

Auf einem edlen Rappen saß ein prächtig gekleideter Daziter, dessen Gesicht deutliche Spuren wüster Ausschweifungen und tiefer Verderbtheit zeigte.

Obwohl er den Kerl noch nie zuvor gesehen hatte, erkannte ihn Ulath sofort. Talens Bleistift hatte dieses Gesicht beinahe perfekt wiedergegeben. Ulath lächelte. »So ist es schon ein bißchen besser.« Er trat auf die Straße hinaus und folgte dem tänzelnden Pferd.

Ihr Ziel war einer der Prunkbauten unweit des Königsschlosses. Ein Lakai eilte aus dem Haus, um den Elenier zu begrüßen. »Ihr werdet sehnsüchtig erwartet, edler Herr.« Er verbeugte sich tief.

»Hol jemand, der sich um mein Pferd kümmert«, befahl der Elenier, ehe er absaß.

»Sind alle hier?« »Jawohl, Baron Parok.«

»Erstaunlich. Steh nicht so herum, Tölpel! Führe mich sofort zu ihnen!«
»Jawohl, edler Herr.«
Wieder lächelte Ulath und folgte ihnen ins Haus.

Das Gemach, zu dem der Lakai ihnen vorausging, war offenbar ein Studierzimmer. An den Wänden befanden sich Bücherschränke; doch die Bände sahen aus, als wären sie noch nie aufgeschlagen worden. Etwa ein Dutzend Männer hielten sich in diesem Raum auf: einige Elenier, einige Arjuner und sogar ein Styriker.

»Kommen wir zur Sache.« Achtlos warf Baron Parok seinen Hut mit dem Federbusch und seine Handschuhe auf den Tisch. »Was habt ihr zu berichten?«

»Prinz Sperber ist in Tiana angekommen, Baron Parok«, meldete der Styriker. »Das haben wir erwartet.«

»Aber wir haben nicht damit gerechnet, daß er meinen Vetter so behandeln würde! Er und sein unverschämter Knappe folgten unserem Boten und überfielen ihn. Sie rissen ihm die Kleider vom Leibe und drehten seine Taschen von innen nach außen.«

Parok lachte barsch. »Ich habe Euren Vetter kennengelernt, Zorek, und ich bin sicher, daß er so etwas weidlich verdient hat. Was hat er denn zu dem Prinzen gesagt, daß der ihm diese Behandlung angedeihen ließ?«

»Er übergab ihm die Botschaft, Euer Gnaden, aber dieser Grobian von Knappe schien von der Aussicht einer Zwanzigtagereise zu Pferd nicht begeistert zu sein. Das kränkte meinen Vetter, und er erklärte ihnen, daß sie es in diesem Fall eben in vierzehn Tagen schaffen müßten, die Reise hinter sich zu bringen!«

»Das gehörte nicht zu unseren Anweisungen!« schnaubte Parok. »Hat Sperber ihn getötet?«
»Nein, Euer Gnaden«, antwortete Zorek mürrisch.

»Wie bedauerlich«, knurrte Parok. »Jetzt muß ich das selbst in die Hand nehmen. Sobald ich Zeit habe, werde ich mir Euren Vetter vorknöpfen und seine Eingeweide zur Abschreckung für alle anderen an einen Zaun hängen. Ihr werdet nicht dafür bezahlt, selbstherrlich zu handeln, sondern um Befehle auszuführen.« Er schaute sich um. »Wer hat die nächste Nachricht?« »Ich, Euer Gnaden«, rief ein offenbar wohlhabender Edomer.

»Dann wartet besser, ehe Ihr sie übergebt. Durch seine Dummheit hat Zoreks Vetter unseren Zeitplan über den Haufen geworfen. Lassen wir Sperber hier erst einmal eine Woche zappeln. Dann gebt ihm das Schreiben, in dem er aufgefordert wird, sich nach Derel zu begeben. Freiherr Scarpa will seine Armee erst gen Norden in Marsch setzen, bevor wir Sperber zum Austausch nach Natayos senden.«

»Baron Parok«, warf ein Arjuner hochnäsig ein. Der Mann hatte dicke Tränensäcke und war in ein Brokatwams gekleidet. »Diese eine Woche könnte für meinen König eine echte Gefahr bedeuten. Sperber ist für seine Unvernunft bekannt und in der jetzigen Situation zu allem fähig. Außerdem hat er diesen Stein der Macht immer noch in seinem Besitz. Seine Majestät möchte auf keinen Fall, daß dieser elenische Barbar tagelang hier in Arjun herumlungert und auf schlimme Gedanken kommt. Schickt ihn sofort nach Derel. Wenn Sperber schon eine Stadt vernichtet, dann lieber Derel statt Arjun.«

»Ihr habt erstaunlich scharfe Ohren, Herzog Milanis«, sagte Parok spöttisch. »Könnt Ihr wahrhaftig hören, was König Rakya sagt, wenn Ihr Euch eine Meile von seinem Schloß entfernt aufhaltet?«

»Ich bin hier, um die Interessen Seiner Majestät zu vertreten, Baron. Ich habe das uneingeschränkte Recht, für ihn zu reden. Das Bündnis Seiner Majestät mit Freiherr Scarpa ist nicht in einen Diamanten geschnitten. Schickt Prinz Sperber weiter. Wir wollen ihn nicht hier in Arjun!« »Und wenn ich es nicht tue?«

Milanis zuckte die Schultern. »Dann wird Seine Majestät das Bündnis außer Kraft setzen und dem tamulischen Botschafter einen vollständigen Bericht übergeben, in dem alles steht, was Ihr zu tun beabsichtigt.«

»Ich sehe schon – die alte Weisheit, daß es eine Dummheit ist, einem Arjuner zu trauen, stimmt immer noch.«

»Tut einfach, was man Euch sagt, Parok!« schnaubte Milanis. »Langweilt mich nicht mit Euren ermüdenden Protesten und rassischen Verunglimpfungen. Der Bericht Seiner Majestät an den Botschafter ist bereits geschrieben. Und ich glaube, nun gibt es auch einen guten Grund, ihn zu überbringen.«

Ein Lakai trat mit einem Tablett ein, auf dem eine Karaffe und Weingläser standen. Als die Tür geöffnet wurde, nutzte Ulath die Gelegenheit, aus dem Gemach zu schleichen. Es würde eine Weile dauern, bis er Tynian und Bhlokw gefunden hatte, und dann mußten sie sofort eine ausführliche Nachricht an Aphrael verfassen. Nachdem Ulath sich aus dem Haus geschlichen hatte, klatschte er triumphierend in die Hände und tat mit einem Begeisterungsschrei einen Luftsprung. Dann riß er sich zusammen und machte sich daran, seine Gefährten zu suchen.


Ritter Heldin in seiner schwarzen Panzerrüstung kehrte zu Patriarch Bergsten an der Spitze der Kolonne zurück.
»Hattet Ihr Glück?« fragte Bergsten.

Heldin schüttelte den Kopf. »Ritter Tynian hätte nicht sorgfältiger sein können«, polterte er mit seiner Baßstimme. »Da war kein einziger Pandioner, den er sich nicht persönlich vornahm. Ich glaube, er hat jeden rekrutiert, der styrische Worte auch nur aussprechen kann.« »Ihr kennt doch die Zaubersprüche!«

»Das schon, aber Aphrael kann mich nicht hören. Meine Stimme ist zu tief für ihre Ohren.«

»Das läßt einige sehr interessante theologische Schlußfolgerungen zu«, murmelte Bergsten nachdenklich.

»Könnten wir zu einem anderen Zeitpunkt darauf zurückkommen, Eminenz? Wir müssen jetzt unbedingt eine Möglichkeit finden, Sperber und Vanion über das Geschehnis in Zemoch zu informieren. Der Krieg könnte längst beendet sein, bis Botschafter Fontans Boten sie erreichen.« »Sprecht mit den anderen Orden, Heldin«, riet Bergsten.

»Das dürfte wohl keinen Sinn haben, Eminenz. Jeder Orden wirkt durch den persönlichen Gott des Styrikers, der seine Ritter in die Geheimnisse einwies. Wir müssen Aphrael Bescheid geben. Sie ist direkt mit Sperber verbunden.«

»Heldin, Ihr habt Euch während Eures Noviziats zu sehr mit Waffenübungen beschäftigt. Theologie hat einen Zweck.«

»Jawohl, Eminenz.« Heldin rollte seufzend die Augen himmelwärts und wappnete sich gegen eine Predigt.

»Laßt das!« rügte Bergsten. »Ich spreche nicht von elenischer Theologie, sondern vom Irrglauben der Styriker. Wie viele styrische Götter gibt es?«

»Tausend, Eminenz!« antwortete Heldin, ohne lange überlegen zu müssen. »Sephrenia hat das immer wieder betont.«

»Existieren diese tausend Jüngeren Götter unabhängig voneinander?«

»Soviel ich weiß, sind sie miteinander verwandt – wie eine große Familie.«
»Erstaunlich. Ihr habt wahrhaftig zugehört, wenn Sephrenia Euch unterrichtete. Ihr Pandioner betet Aphrael an, nicht wahr?«
»Anbeten ist ein irreführender Begriff, Eminenz.«

»Ich habe so allerlei Geschichten über Aphrael gehört, Heldin.« Bergsten lächelte. »Sie hat ihre eigene Agende und versucht, die gesamte Menschheit für sich zu gewinnen. Ich bin Angehöriger des genidianischen Ordens.« Er machte eine Pause. »Ich war es«, verbesserte er sich. »Wir rufen Hankaan, die Cyriniker Romalic, und die Alzioner Setras. Könnt Ihr Euch vorstellen, daß diese styrischen Götter sich in ihrem dunstigen Himmel irgendwo über den Wolken hin und wieder miteinander unterhalten?«

»Ich bitte Euch, hört auf! Das ist ja die reinste Haarspalterei, Bergsten. Ich habe etwas übersehen, das ist alles. Ich bin nicht dumm.«

»Das habe ich auch niemals behauptet, alter Junge.« Bergsten lächelte. »Ihr habt lediglich ein wenig spirituelle Anleitung gebraucht. Und vor allem dafür ist unsere Heilige Mutter nun einmal da. Kommt mit Euren spirituellen Problemen zu mir, mein Sohn. Ich werde Euch behutsam führen – und wenn das nicht genügt, nehme ich meine Axt und treib' Euch an.«

»Ich sehe schon, daß Eure Eminenz die Ansichten der Kirche mit Worten und Waffen vertritt«, entgegnete Heldin säuerlich.

»Das ist mein spirituelles Problem, mein Sohn, nicht Eures. Geht jetzt und sucht einen Alzioner. Aphrael und Setras sollen einander besonders nahestehen. Ich glaube, wir können uns darauf verlassen, daß Setras seiner diebischen kleinen Base alles ausrichten wird.« »Eminenz!« entrüstete sich Heldin.

»Die Kirche hat seit Jahrhunderten ihr Auge auf Aphrael. Wir wissen alles über eure niedliche Kindgöttin und ihre Kniffe. Laßt Euch nicht von ihr küssen, mein Freund – denn wenn sie das tut, stiehlt sie Euch die Seele, ohne daß Ihr es merkt.«


Diesmal waren es zwölf wacklige Ochsenkarren, allesamt mit Bierfässern beladen. Mehrere Dutzend von Narstils Gesetzlosen halfen Senga, das Bier zu bewachen und auszuschenken, darunter Caalador und Bevier, die geschickt in die Meute eingeschleust worden waren.

»Ich bin immer noch der Meinung, daß du einen Fehler machst, Senga«, sagte Kalten zu seinem gutmütigen Arbeitgeber, während ihr klappriger Karren über den Dschungelpfad nach Natayos holperte. »Du beherrschst den Markt, warum willst du da die Preise senken?«

»Hör zu, Col«, erklärte Senga geduldig. »Als ich einst hierher kam, hatte ich nur eine einzige Karrenladung Bier. Ich konnte jeden Preis dafür verlangen, weil Bier so rar war.«
»Verständlich.«
»Jetzt aber kann ich unbegrenzt viel heranschaffen. Und nun mache ich meinen Gewinn an der Menge, statt am Preis.«
»Das verstehe ich nicht.«

»Dann werde ich's anders ausdrücken. Was würdest du lieber tun – einem Mann zehn Kronen stehlen oder zehntausend Mann je ein Kupferstück?«

Kalten rechnete es schnell mit den Fingern aus. »Oh!« sagte er. »Jetzt verstehe ich, was du meinst. Sehr schlau, Senga.«

Senga plusterte sich ein wenig auf. »Es schadet nie, ein wenig vorauszudenken, Col. Meine echte Sorge gilt der Tatsache, daß es gar nicht so schwierig ist, Bier zu brauen. Wenn irgendein schlauer Bursche an ein Rezept herankäme, könnte er hier seine eigene Brauerei errichten. Ich möchte mich aber gar nicht gern mit Konkurrenten herumschlagen und in einen Preiskrieg verwickelt werden, nachdem gerade alles so gut für mich zu laufen angefangen hat.«

Sie hatten Narstils Lager im Morgengrauen verlassen, und es war früher Vormittag, als sie sich Natayos näherten. Ohne aufgehalten zu werden, fuhren sie durchs Tor, rumpelten an dem Haus mit den vergitterten Fenstern vorbei und schenkten ihr Bier auf demselben Platz aus wie beim letzten Mal. Als Sengas bester Mitarbeiter war Kalten nun für die Sicherheit verantwortlich. Der Ruf, den er sich gleich zu Anfang in Narstils Lager erworben hatte – daß mit ihm nicht gut Kirschen essen sei – sorgte dafür, daß keiner der Gesetzlosen sich seinen Befehlen widersetzte, und die Anwesenheit von Bevier, der mit seiner Augenklappe und der bedrohlichen Lochaberaxt furchteinflößend aussah, verlieh Senga zusätzlich Autorität.

»Wir werden hier nicht allzuviel erreichen, Col«, murmelte Caalador, als er neben Kalten bei einem der von unzähligen Durstigen belagerten Bierkarren Wache stand. »Der alte Senga ist so besorgt, daß irgendein Kerl sich drücken könnte, ohne bezahlt zu haben, daß wir wie Hofhunde an der kurzen Kette angeleint sind.«

»Warte bis später, Ezek«, beruhigte Kalten ihn. »Sobald alle angetrunken sind, können wir uns freier bewegen.«

Seine kurzschäftige Lochaber in der Hand, schlurfte Bevier zu ihnen herüber. Unwillkürlich machten ihm alle Platz. »Mir ist da eben etwas eingefallen«, sagte er. »Du möchtest jemanden erschlagen?« fragte Kalten.

»Laß deine Späßchen, Col. Wie wär's, wenn du deinen Freund Senga zur Seite nimmst und ihm vorschlägst, daß er hier in Natayos einen ständigen Bierverkauf einrichtet? Das wäre doch naheliegend, und es würde uns dreien einen guten Grund verschaffen, hierzubleiben. Wenn wir eine von diesen Ruinen zu einer Schenke umbauen, könnten wir uns hier als Schankwirte betätigen. Das ist doch vernünftiger, als Bier auf der Ladefläche eines Ochsenkarrens auszuschenken.«

»Da hat er recht, Col«, stimmte Caalador zu. »Der olle Shallag sieht zwar aus, als würde er Blut zum Frühstück saufen, aber sein Hirn hinter dieser Augenklappe funktioniert noch recht gut.«

Kalten dachte nach. »Wir könnten uns so richtig in Natayos einrichten und alles im Auge behalten.« Er schaute sich um. »Senga macht sich ein wenig Sorgen, ihm könnte hier irgend jemand Konkurrenz machen«, sagte er so, daß die Soldaten in der Nähe es hören mußten. »Wenn wir drei aber hier sind, könnten wir vermutlich jeden, der es versucht, davon überzeugen, daß es gesünder für ihn ist, sich ein anderes Steckenpferd zu suchen. Ich geh' und rede mit Senga. Dann werden wir ja sehen, was er davon hält.«

Er fand seinen gutmütigen Freund an einem behelfsmäßigen Tisch hinter einem der Ochsenkarren. Der Gesetzlose zählte mit fast verträumter Miene die bisherigen Einnahmen. »Oh, das ist einfach großartig, Col!« sagte er erfreut.
»Es sind doch bloß Kupferstücke!«
»Das schon, aber es sind so viele!«
»Shallag hat eine Idee.«

»Er möchte die Reihen lichten, indem er jedem dritten Kerl in der Schlange den Kopf abhackt?«
»Also, so schlimm ist Shallag nun auch wieder nicht!«

»Sagst du! Jeder im Lager hat schon Alpträume wegen dem Burschen.«

»Seit er in Arjun angekommen ist, hat er noch keinen einzigen Mann getötet!« »Er spart sie sich auf. Er wartet bloß, bis er ein paar Dutzend beisammen hat, um sie dann alle auf einmal abzuschlachten!«

»Willst du nun seine Idee hören, oder bist du mit deinen dummen Witzen noch nicht zu Ende?«
»Entschuldige. Also, sprich.«

»Er meint, wir sollten eine von diesen leeren Ruinen zu einer Schenke umbauen.« »Du meinst, eine richtige Schankstube? Mit Theke und Tischen und Stühlen und was sonst noch dazugehört?«

»Warum nicht? Jetzt, wo dein Brauer Tag und Nacht arbeitet, kann das Bier in Strömen fließen. Und schließlich sind deine Kunden hier. Wenn du hier eine Schenke errichtest, kannst du jeden Tag von morgens bis abends Bier verkaufen, nicht bloß einmal in der Woche, wozu du dann auch noch extra herkommen mußt. Außerdem würden deine Kunden sich in überschaubarer Zahl einstellen, statt gleich regimentweise.«

»Daran hatte ich noch nie gedacht«, gestand Senga. »Ich glaubte, ich könnte hier schnellen Gewinn machen und mich dann über die Grenze verziehen. Dabei kann ich hier eine richtige Schenke führen, Col – ein richtiges, ehrliches Geschäft. Ich bräuchte nie wieder zu stehlen!«

»Ich kenne deine Preisliste, Senga. Mach dir nichts vor. Du stiehlst immer noch!« Senga achtete gar nicht auf ihn. »Vielleicht könnte ich sie ›Sengas Palast‹ nennen«, meinte er verträumt. Er runzelte die Stirn. »Nein, das wäre etwas zu großspurig für eine Schenke. Ich glaube, ich nenne sie einfach nur ›Bei Senga‹. Das wäre doch ein dauerhafteres Andenken als ein Grabpfosten, in den lediglich der Tag eingekerbt ist, an dem man mich aufgehängt hat.« Dann schüttelte er den Kopf und seufzte. »Es geht doch nicht, Col«, sagte er bedauernd. »Würde ich dich und meine anderen Wachen wieder mitnehmen, würden Scarpas Soldaten einfach in die Schenke marschieren und all mein Bier saufen, ohne zu bezahlen.«

»Du brauchst uns ja nicht mitzunehmen. Wir können hierbleiben und dafür sorgen, daß die Kerle auch bezahlen, was sie saufen.«

»Ich glaube nicht, daß es Narstil gefallen würde, wenn wir abends nicht zurück im Lager wären.«

»Senga«, sagte Kalten sanft, »brauchst du Narstil denn überhaupt noch? Du bist jetzt ein ehrbarer Geschäftsmann, da solltest du gar nicht mit Banditen verkehren.« Senga lachte. »Du gehst das ein bißchen zu schnell für mich an, Col. Gib mir ein wenig Zeit, das alles zu verdauen.« Dann fluchte er plötzlich. »Was ist los?«

»Es ist eine großartige Idee, Col, aber sie läßt sich nicht verwirklichen.« »Warum nicht?«

»Weil ich Scarpas Genehmigung brauche, wenn ich hier eine Schenke eröffne. Und ich werde mich ganz bestimmt nicht in seine Nähe begeben, um ihn darum zu ersuchen.«

»Ich glaube, das mußt du auch gar nicht, mein Freund. Ich habe gestern in diesem Plunderhaufen in Narstils Lager herumgestöbert – und rate mal, was ich gefunden habe!« »Was denn?«

»Ein kunstvoll silberbeschlagenes Faß mit arzischem Rotwein. Es hat sogar einen silbernen Zapfhahn. Der Kerl, der es geklaut hat, kannte seinen Wert nicht – er ist Biertrinker. Ich konnte es ihm um eine halbe Krone abluchsen. Ich verkaufe es dir, und du kannst es diesem Krager verehren. Überlaß es einfach ihm, Scarpa zu überreden, daß er dir die Erlaubnis erteilt, hier eine Schenke zu eröffnen.« »Col, du bist ein Genie! Wieviel verlangst du für das Faß arzischen Roten?« »Oh – fünf Kronen, würde ich sagen.«

»Fünf Kronen? Zehnmal soviel, wie du dafür bezahlt hast? Das ist Raub!«

»Du mußt es ja wissen, Senga. Du bist mein Freund, aber Geschäft ist Geschäft.« Sie fanden Krager mit trüben Augen auf einem halbzerfallenen Mauerstück sitzen, von wo aus er die Meute durstiger Soldaten ohne großes Interesse beobachtete. Er hielt einen Zinnbecher in der Hand, aus dem er hin und wieder mit sichtlichem Abscheu einen Schluck trank.

»Ah, da seid Ihr ja, Meister Krager«, begrüßte Senga ihn jovial. »Wie wär's, wenn Ihr Euren Becher ausleert und einen Schluck hiervon probiert?« Er tätschelte das silberverzierte kleine Weinfaß, das er sich unter den Arm geklemmt hatte. »Ist das auch ein hiesiges Gesöff?« fragte Krager.

»Versucht es und sagt, was Ihr davon haltet«, erwiderte Senga.

Krager goß den Wein auf den Boden und streckte seinen Zinnbecher aus. Senga drehte den silbernen Zapfhahn auf und füllte den Becher etwa zur Hälfte.

Krager schaute blinzelnd hinein und roch mißtrauisch daran. Dann verdrehte er verzückt die Augen. »Oh, welch eine Wonne!« hauchte er ehrfürchtig. Er nahm einen winzigen Schluck und schien vor Seligkeit zu erbeben.

»Ich dachte mir, daß er Euch schmeckt«, sagte Senga. »Nun, da ich Eure Aufmerksamkeit habe, würde ich Euch gern einen Vorschlag machen. Ich möchte hier in Natayos eine Schenke eröffnen, doch dazu brauche ich eine Genehmigung. Ich würde es als großen Gefallen betrachten, wenn Ihr bei Freiherr Scarpa ein gutes Wort für mich einlegt. Ich bin auch gern bereit, mich erkenntlich zu zeigen, falls Ihr mir seine Erlaubnis beschafft.« »Wie erkenntlich?« erkundigte Krager sich rasch.

»Zum Beispiel so.« Senga tätschelte das silberverzierte Faß. »Versichert Freiherr Scarpa, daß ihm und seinen Leuten durch die Schenke keine Schwierigkeiten erwachsen. Ich werde mir eins von den leeren Häusern aussuchen, die sich ein Stück außerhalb des Hauptlagers befinden, es säubern und das Dach dafür selbst anfertigen. Ich bringe mein eigenes Sicherheitspersonal und sorge dafür, daß sich keine seiner Soldaten zu sehr besaufen.«

»Fangt schon damit an, Meister Senga«, riet Krager ihm, ohne den Blick vom Faß zu nehmen. »Ihr habt mein persönliches Versprechen, daß Ihr Freiherr Scarpas Erlaubnis bekommt.« Er langte nach dem Faß.

Senga wich einen Schritt zurück. »Nachher, Meister Krager«, sagte er fest. »Seid im Augenblick meiner Wertschätzung versichert. Meine Dankbarkeit ist Euer, sobald ich Freiherr Scarpas Genehmigung zur Errichtung der Schenke habe.«

Da kam Elron über den geschäftigen Platz gerannt. »Krager!« rief er mit schriller Stimme. »Kommt sofort! Freiherr Scarpa ist außer sich vor Wut! Er hat uns alle ins Hauptquartier befohlen! Auf der Stelle!«
Krager erhob sich. »Was ist denn los?«

»Cyzada ist soeben von Cynesga angekommen. Er hat Zalasta und Freiherr Scarpa erzählt, daß Klæl sich den Burschen angeschaut hat, dem wir die ganze Zeit folgten. Er ist nicht Sperber, Krager! Wer immer er ist – er sieht zwar so aus wie Sperber, aber Klæl erkannte sofort, daß er jemand anderes ist!«