31

Die Westseite des Kaiserinnenflügels lag in tiefen Schatten, als Elysoun, Liatris und Gahenas aus der wenig benutzen Tür traten und durch die Dunkelheit eilten, um in einem Hain kunstvoll geschnittener immergrüner Zierbüsche Schutz zu suchen. »Jetzt kommt der gefährliche Teil«, warnte Liatris flüsternd. »Chacole weiß inzwischen, daß ihre Meuchler Gahenas nicht finden konnten, und bestimmt hat sie ihre Leute ausgesandt, um zu verhindern, daß wir in Ehlanas Burg Zuflucht finden.« Elysoun blickte über den mondbeschienenen Rasen. »Unmöglich«, seufzte sie. »Es ist einfach zu hell. Ein Pfad führt durch diesen Hain und kommt beim Innenministerium heraus.«

»Das ist die falsche Richtung, Elysoun!« wehrte Gahenas ab. »Die elenische Burg ist in der entgegengesetzten!«

»Ja, ich weiß. Aber da haben wir nirgends Sichtschutz. Zwischen hier und der Burg gibt es nur offenen Rasen. Wir müssen uns in den Schatten halten. Wenn wir um die andere Seite des Innenministeriums herum und durch die Anlage des Außenministeriums gehen, sind es nur noch etwa hundertfünfzig Fuß bis zur Zugbrücke der Burg.« »Und wenn die Brücke hochgezogen ist?«

»Darüber machen wir uns Sorgen, wenn wir dort sind, Gahenas. Sehen wir erst einmal zu, daß wir in die Grünanlage des Außenministeriums gelangen.«

»Dann wollen wir mal, meine Damen!« sagte Liatris entschlossen. »Es bringt nichts, wenn wir hier nur herumtrödeln und reden. Finden wir heraus, wie die Dinge stehen!«


»Hier hinten«, flüsterte Talen den Gefährten zu, als er aus der engen Gasse kam. »Die Außenwand des Schlosses reicht bis zu der Stelle, wo sie in die Stadtmauer am Ende der Gasse übergeht. Der rechte Winkel dort ist zum Klettern am besten geeignet.«

»Wirst du das hier brauchen?« Mirtai streckte ihm ihren Enterhaken entgegen. »Nein, ich schaffe es ohne das Ding dort hinauf. Und wer weiß, ob sich nicht Posten in der Nähe aufhalten, die hören könnten, wenn der Haken gegen Stein schlägt.« Er führte die anderen zum Ende der Sackgasse, wo die Schloßwand von der beeindruckend befestigten Mauer aufstieg, welche den oberen Stadtteil vom Rest der Stadt trennte.

»Was meinst du, wie hoch das ist?« fragte Kalten und spähte blinzelnd hinauf. Es war schon ein besonderes Gefühl, nach so langer Zeit der Tarnung Kaltens vertrautes Gesicht wiederzusehen. Sofort strich Sperber mit der Hand über seine Züge und spürte die vertrauten Umrisse der gebrochenen Nase.

»Ungefähr dreißig Fuß«, beantwortete Bevier Kaltens Frage leise.

Mirtai begutachtete den Winkel, der durch das Zusammentreffen der beiden Mauern entstanden war. »Das wird nicht sonderlich schwierig«, flüsterte sie.
»Das Ganze ist eine Fehlkonstruktion«, meinte Bevier.
»Ich klettere als erster hinauf!« erklärte Talen.
»Stell da oben nichts Törichtes an«, warnte Mirtai.

»Verlaßt Euch auf mich.« Talen setzte den Fuß auf einen kleinen Vorsprung der Außenmauer und tastete an der Schloßwand nach Halt für die Hände. Dann stieg er rasch in die Höhe.

»Wir sehen uns nach Wächtern um, sobald wir oben sind«, wandte Mirtai sich leise an die anderen. »Dann lassen wir ein Seil zu euch hinunter.« Sie langte empor und folgte dem jungen Dieb.

Bevier lehnte sich zurück. »Der Mond steht jetzt am Himmel«, sagte er.

»Meint Ihr, er könnte unsere Anwesenheit verraten?« fragte Xanetia.

»Nein, Anarae. Wir klettern an der Nordseite des Turmes hinauf. Deshalb werden wir die ganze Zeit im Schatten sein.«

Sie warteten angespannt und beobachteten mit zurückgelegtem Kopf, wie die beiden Fassadenkletterer vorankamen.

»Jemand nähert sich!« zischte Kalten. »Oben auf dem Wehrgang!«

Talen und Mirtai hielten inne und drückten sich in den Schatten zwischen den zwei Mauern.

»Er hat eine Fackel!« wisperte Kalten. »Wenn er sie über die Brü …« Sperber hielt den Atem an. »Alles in Ordnung!« flüsterte Bevier. »Er ist umgekehrt.«

»Wir sollten uns seiner vielleicht annehmen, sobald wir oben sind«, meinte Kalten. »Nicht, wenn wir es vermeiden können!« widersprach Sperber. »Wir wollen doch nicht, daß jemand ihn suchen kommt!«

Talen hatte derweil die Brustwehr erreicht. Er klammerte sich kurz an die rauhen Steine und lauschte; dann stemmte er sich über die Balustrade und verschwand aus dem Blickfeld der anderen. Kurz darauf folgte ihm Mirtai. Sperber und die anderen warteten in der Dunkelheit. Augenblicke später glitt Mirtais Seil die Wand hinunter.

»Folgen wir ihnen!« sagte Sperber angespannt. »Einer nach dem anderen.« Die Steine waren aus quaderförmig gebrochenem Basalt und roh behauen aneinandergefügt, was das Klettern viel leichter machte, als es von unten den Anschein gehabt hatte. Sperber benutzte nicht einmal das Seil. Oben angekommen, schwang er sich über die Brustwehr. »Patrouillieren die Wachen hier oben in bestimmten Bereichen oder festgelegten zeitlichen Abständen?« fragte er Mirtai. »Wie es aussieht, ist jedem Posten ein bestimmter Abschnitt des Wehrgangs zugeteilt«, erklärte Mirtai. »Der an diesem Ende läßt sich Zeit. Ich schätze, es dürfte mindestens eine Viertelstunde vergehen, ehe er wieder herkommt.«

»Gibt es hier irgendeine Stelle, an der wir uns bis dahin verstecken können?« »In dem ersten Turm dort ist eine Tür.« Talen zeigte auf den gedrungenen Bau, der am Ende der Brustwehr in die Höhe ragte. »Sie führt zu einer Treppe.« »Hast du dir die Außenwand bereits angesehen?«

Talen nickte. »An der Seite gibt es keinen Wehrgang, aber da ist ein etwa zwei Fuß breiter Sims, wo die Außenmauer an die Rückseite des Schlosses anschließt. Wir können dort entlanggehen, bis wir zum Hauptturm kommen. Dann müssen wir wieder klettern.«

»Sieht der Posten sich dort um, wenn er dieses Ende des Wehrgangs erreicht?« »Beim letzten Mal hat er es nicht getan«, antwortete Mirtai.

»Dann erkunden wir jetzt einmal den Treppenaufgang«, entschied Sperber. »Sobald die anderen ebenfalls oben sind, verstecken wir uns dort, bis der Posten dieses Ende erreicht hat und wieder zurückgeht. Das dürfte uns eine halbe Stunde Zeit verschaffen, auf den Sims zum Hauptturm zu klettern. Selbst wenn der Wächter beim nächsten Mal um die Ecke schaut, müßten wir bis dahin außer Sichtweite für ihn sein.«

»Er hat das Unternehmen fest im Griff, nicht wahr?« Talen grinste Mirtai an. »Was ist mit dem Jungen los?« fragte Sperber die bronzehäutige Riesin.

»'s ist ein so wahnsinnig aufregendes Abenteuer, Schätzchen«, antwortete Mirtai. »'s Herz hüpft vor Freud', s' Blut kommt ins Kochen und d' Finger kribbeln.« »›Schätzchen‹?«

»Ein kleiner Spaß unter Freunden, Sperber. Ihr würdet es vermutlich nicht verstehen.«


Vanions Kundschafter kehrten bei Sonnenuntergang zurück und meldeten, daß die Verbindung mit Kring im Süden und mit Königin Betuanas Atanern im Norden hergestellt war. Der Ring aus Stahl um die Verbotenen Berge zog sich unerbittlich zusammen. Als Betuana und Engessa von Vanions rechter Flanke herbeigelaufen und Kring mit Tikume von der linken angeritten kamen, ging über der Wüste der Mond auf.

»Tynian-Ritter wird ebenfalls bald hier sein, Vanion-Hochmeister«, berichtete Engessa. »Er und Ulath-Ritter haben mit Bergsten-Priester zu ihrer Rechten gesprochen. Ulath-Ritter bleibt bei den Trollen, um mögliche Zwischenfälle zu verhindern.« »Zwischenfälle?« fragte Sephrenia.

»Die Trolle sind hungrig. Ulath-Ritter gab ihnen ein Regiment der Klæl-Bestien zu fressen, aber die Trolle mochten deren Geschmack nicht. Ulath-Ritter versuchte sich zu entschuldigen, aber ich bin nicht sicher, daß die Trolle das verstanden.« »Habt Ihr Berit und Khalad schon gesehen, Freund Vanion?« erkundigte sich Kring. »Nein, aber Aphrael sagte, daß sie unmittelbar vor uns sind. Ihr Vetter führte sie zu der Stelle, wo das verborgene Tor sein soll.«

»Wenn sie wissen, wo das Tor ist, könnten wir doch hindurchgehen«, schlug Betuana vor.

»Wir warten besser noch, Liebe«, entgegnete Sephrenia. »Aphrael wird mir Bescheid geben, sobald Sperber Ehlana und Alean befreit hat.«

Tynian kam über den riesigen Totenacker herangeritten. »Bergsten ist in Stellung«, meldete er, als er sich aus dem Sattel schwang. Er blickte Itagne an. »Ich habe eine Botschaft für Euch, Exzellenz.« »Ach? Von wem?« »Atana Maris ist bei Bergsten. Sie möchte mit Euch reden.«

Itagnes Augen weiteten sich. »Was macht sie denn hier?« rief er laut.

»Sie sagte, daß Eure Briefe an sie unterwegs wohl verlorengegangen sein müssen. Kein einziger hat sie erreicht. Ihr habt ihr doch geschrieben, Exzellenz, oder?« »Nun – ich hatte es vor.« Itagne wirkte verlegen. »Aber irgendwie kam ständig was dazwischen.«

»Ich bin sicher, Atana Maris wird das verstehen«, sagte Tynian mit ausdruckslosem Gesicht. »Jedenfalls, nachdem sie Bergsten die Stadt Cynestra übergeben hatte, beschloß sie, Euch aufzusuchen.«

Itagnes Miene verriet nun leichte Besorgnis. »Damit hatte ich nicht gerechnet«, gestand er. »Um was geht es?« erkundigte Betuana sich interessiert.

»Botschafter Itagne und Atana Maris wurden während seines Aufenthalts in Cynestra gute Freunde, Majestät«, erklärte Sephrenia. »Sehr gute Freunde sogar.«

»Ah«, sagte Betuana. »Es ist ein bißchen ungewöhnlich, aber es kommt hin und wieder vor, und Maris war schon immer ein impulsives Mädchen.« Obwohl die atanische Königin auch jetzt noch tiefe Trauer trug, hatte sie doch ihr rituelles Schweigen aufgegeben.

»Einen guten Rat gebe ich Euch, Itagne-Botschafter – falls Ihr ihn hören möchtet.« »Selbstverständlich, Majestät.«

»Es ist sehr unklug, mit der Zuneigung einer Atanerin zu spielen. Auch wenn es vielleicht nicht den Anschein hat, sind wir doch sehr gefühlsbestimmt. Manchmal setzen wir uns über Vorurteile und Standesunterschiede hinweg, um eine Bindung einzugehen.« Sie vermied es, Engessa anzuschauen, als sie sprach. »Doch wie dem auch sei – es sind große, alles überwältigende Gefühle, und wir können kaum etwas dagegen tun.«

»Ich verstehe«, murmelte Itagne. »Ich werde ganz bestimmt darauf achten, Majestät.«

»Möchtet Ihr, daß ich Berit und Khalad suche und hierherbringe, Freund Vanion?« fragte Kring.

Vanion überlegte. »Wir halten uns lieber von diesem Tor fern«, entschied er. »Die Cyrgai könnten uns möglicherweise entdecken. Berit und Khalad sollen dort sein, wir dagegen nicht. Bringen wir nichts ins Rollen, bevor Sperber uns Bescheid gibt, daß seine Gemahlin in Sicherheit ist. Dann begeben wir uns alle in die Stadt. Es gibt da einige Rechnungen, die schon viel zu lange offen sind, und ich glaube, heute ist Zahltag!«

Über den Sims, der die Rückseite des Schlosses entlang verlief, war es kaum mehr als ein bequemer Spaziergang zum Hauptturm. Trotzdem kostete es natürlich Zeit, und Sperber war sich nur allzu bewußt, daß bereits mehr als die halbe Nacht vergangen war. Mirtai und Talen kletterten behende die Turmseite hinauf, während die anderen, sicherheitshalber mit einem Seil verbunden, viel langsamer vorankamen.

Sperber spähte wieder einmal in die Höhe, als Kalten zu ihm aufschloß.

»Sperber, wo ist Aphrael?« fragte der blonde Pandioner leise. »Überall. Hat sie dir das nicht gesagt?«

»Sehr komisch!« Kalten blickte nach Osten. »Werden wir es schaffen, ehe es hell wird?«

»Es könnte knapp werden. Über uns ist so etwas wie ein Balkon, und ich sehe beleuchtete Fenster.«
»Müssen wir einen Bogen um sie herum machen?«

»Ich werde Talen hinaufschicken. Er soll nachsehen. Falls sich nicht zu viele Cyrgai in dem Zimmer dahinter aufhalten, könnten wir unsere Kletterpartie vielleicht im Innern fortsetzen.«

»Gehen wir lieber kein Risiko ein, Sperber! Wenn es sein müßte, würde ich für Alean sogar bis zum Mond klettern. Steig schon weiter!«

»In Ordnung.« Sperber tastete sich weiter in die Höhe. Ein schwacher Wind war aufgekommen und strich kaum merklich über den Basalt. Noch stellte er keine Gefahr dar, doch Sperber hoffte inbrünstig, daß er nicht stärker würde.

»Ihr habt keine Kondition, Sperber!« kritisierte Mirtai, als er unmittelbar unter der Stelle angelangt war, wo sie und Talen sich an die Wand klammerten.

»Niemand ist vollkommen. Könnt ihr schon irgendwelche Einzelheiten dieses Balkons erkennen?«

»Ich wollte mich gerade darüber schwingen und mich umsehen«, antwortete Talen.

Er löste das Seil um seine Taille und arbeitete sich vorsichtig die Wand zum Balkon hinauf.

Du machst mich zornig, Sperber. Aphraels Stimme klang in der Stille seines Bewußtseins sehr laut. Ich habe Pläne mit diesem jungen Mann. Dazu gehört aber nicht, ihn von einer Straße abzukratzen, die fünfhundert Fuß unter ihm liegt. Er weiß, was er tut. Du machst dir zu viele Sorgen. Aber da du gerade hier bist, könntest du mir eigentlich ein paar Einzelheiten über das Obergeschoß dieses Turmes verraten!

Auf dem Dach steht ein Anbau. Möglicherweise wurde er nach Fertigstellung des Turms errichtet. Er enthält drei Räume: eine Wachstube für die Gardisten, die Zelle, in der Mutter und Alean eingesperrt sind, und ein großes Gemach davor. Santheocles verbringt die meiste Zeit darin. Santheocles?

Der König der Cyrgai. Er ist ein Schwachkopf. Das sind sie zwar alle, aber er ist noch schlimmer als die meisten seiner Untertanen.
Gibt es ein Fenster in Ehlanas Zelle?
Ein kleines. Es ist vergittert. Aber selbst ohne die Gitterstäbe könntest du dich nicht hindurchwinden. Dieser Anbau hat eine kleinere Bodenfläche als die Turmgeschosse. Eine Art Brustwehr führt rundherum.
Gehen die Gardisten auf dieser Brustwehr Streife?
Nein, dazu besteht keine Notwendigkeit. Der Anbau ist der höchstgelegene Ort der Stadt, und die Vorstellung, daß jemand den Turm erklimmen könnte, ist den Cyrgai nie gekommen.
Ist Santheocles zur Zeit da oben?

Als ich zuletzt durchs Fenster spähte, war er dort, aber inzwischen könnte er gegangen sein. Zalasta war bei ihm – und Ekatas. Irgendein Treffen stand kurz bevor, an dem sie teilnehmen wollten.

Ein leises Pfeifen erklang, und Sperber blickte zum Balkon. Talen winkte ihm. »Ich werde mich umsehen«, flüsterte Sperber Mirtai zu.

»Laßt Euch nicht zuviel Zeit«, ermahnte sie ihn. »Die Nacht neigt sich bald ihrem Ende zu.« Er brummte etwas und kletterte quer zum Balkon hinauf.


Die Zugbrücke war heruntergelassen, und niemand stand Wache. »Gut für uns«, sagte Elysoun, als sie, Liatris und Gahenas die Brücke zum Burghof überquerten. »Chacole denkt doch wirklich an alles, nicht wahr?«

»Ich dachte, hier sollten Ordensritter postiert sein«, wunderte sich Gahenas. »Chacole könnte doch sie nicht bestechen, oder?«

»Hochmeister Vanion hat die Ritter mitgenommen«, erklärte Liatris. »Die Verantwortung für die Bewachung der Burg wurde einstweilen der kaiserlichen Leibgarde übertragen. Zweifellos ist jetzt irgendein Offizier um vieles reicher, als er gestern noch war. – Ihr kennt Euch hier aus, Elysoun. Wo können wir unseren Gemahl finden?«

»Er hält sich für gewöhnlich im zweiten Stock auf, wo es eine kaiserliche Zimmerflucht gibt.«

»Dann sollten wir uns beeilen, hinauf zu kommen. Dieses unbewachte Brückentor macht mich ganz nervös. Ich bezweifle, daß wir in der gesamten Burg auch nur einen einzigen Leibgardisten finden würden – und das bedeutet, daß Chacoles Meuchler ungehindert zu Sarabian vordringen können.«


Der Balkon schien seit mindestens einer Generation nicht mehr benutzt worden zu sein. Staub lag tief in den Ecken, und die dicke Schicht aus Vogelexkrementen war unberührt. Talen kauerte neben dem Fenster und spähte um die Ecke, als Sperber sich über die steinerne Brüstung schwang. »Jemand in dem Zimmer?« flüsterte der große Pandioner.

»Mehr als genug«, wisperte Talen zurück. »Zalasta ist soeben mit zwei Cyrgai hereingekommen.«

Sperber schloß sich seinem jungen Freund an und blickte nun ebenfalls durch das Fenster.

Der mit Fackeln beleuchtete Raum schien eine Art Thronsaal zu sein. Der Balkon, auf dem Sperber und Talen kauerten, befand sich über dessen Fußbodenhöhe und konnte von diesem Saal aus über eine steinerne Treppe erreicht werden. Am hinteren Saalende stand auf einem Podest ein Thron, der aus einem einzigen Stein gehauen war. Ein muskulöser, gutaussehender Mann in kunstvoll gehämmertem Brustpanzer und einem kurzen Lederkilt saß darauf und blickte majestätisch um sich. Zalasta stand neben ihm, und ein runzliger Mann in festlich verzierter schwarzer Robe hatte vor dem Thronpodest Aufstellung genommen und redete in seiner eigenen, Sperber fremden Zunge. Sperber fluchte und sandte rasch den Zauber aus, der die Kindgöttin auf ihn aufmerksam machen würde. Was ist denn jetzt? hörte er Aphraels Stimme im Kopf. Kannst du für mich übersetzen?

Ich kann noch mehr!

Sperber glaubte ein schwaches Summen zu vernehmen, und für einen Augenblick fühlte er sich schwindelig.

»… schon in diesem Moment umzingeln jene Streitkräfte die heilige Stadt«, sagte der Alte in einer Sprache, die Sperber nun verstand.

Ein Mann mit eisengrauem Haar und strotzenden Armmuskeln löste sich von den anderen vor dem Podest und trat noch näher heran. »Was gibt es da zu befürchten, Ekatas?« grollte er mit tiefer Stimme. »Der mächtige Cyrgon blendet die Augen unserer Feinde, wie bereits seit hundert Jahrhunderten! Sollen sie doch unter den Gebeinen jenseits unseres Tales kauern und vergeblich das Tor der Täuschung suchen. Sie sind blind und keine Gefahr für die Verborgene Stadt!«

Die anderen, die vor dem Thronpodest standen, murmelten zustimmend.

»General Ospados hat recht!« bestätigte ein anderer Mann in Rüstung und trat ebenfalls näher. »Laßt uns diese jämmerlichen Fremden gar nicht beachten! So war es schon immer, und so soll es auch jetzt sein.«

»Schändlich!« warf ein anderer brüllend ein. Auch er trat vor, hielt jedoch betont Abstand von den beiden, die eben gesprochen hatten. »Wollen wir uns vor minderwertigen Völkern verstecken? Daß sie sich vor unserem Tor befinden, ist eine Beleidigung, die bestraft werden muß!«
»Könnt Ihr verstehen, was sie sagen?« flüsterte Talen.
»Sie streiten«, antwortete Sperber.

»Ach, wirklich?« sagte Talen sarkastisch. »Könntet Ihr ein bißchen genauer sein, Sperber?«

»Offenbar ist es Aphraels Vettern gelungen, alle hierherzubringen. Nach dem, was der Kerl in der schwarzen Robe sagte, ist die Stadt umzingelt.«

»Es ist ein beruhigendes Gefühl, Freunde in der Nähe zu wissen. Was beabsichtigen diese Leute dagegen zu unternehmen?«

»Genau darüber sind sie sich nicht einig. Manche wollen die Fremden gar nicht beachten, andere wollen gegen sie kämpfen.«

Nun trat Zalasta auf dem Podest nach vorn. »Hört, was der Ewige Klæl spricht: ›Die Streitkräfte jenseits des Tores der Täuschung sind unbedeutend. Die wahre Gefahr befindet sich hier, innerhalb der Mauern der Verborgenen Stadt. Anakha ist bereits in diesem Augenblick in Hörweite meiner Stimme!‹«
Sperber fluchte.
»Was ist los?« erkundigte sich Talen.
»Zalasta weiß, daß wir hier sind!«
»Wie hat er das herausgefunden?«
»Ich habe keine Ahnung. Er behauptet, daß er für Klæl spricht, und Klæl kann Bhelliom wahrscheinlich spüren.«
»Sogar durch das Gold?«

»Das Gold mag Bhelliom vielleicht vor Cyrgon verbergen, doch Bhelliom und Klæl sind Brüder. Möglicherweise können sie einander durch das halbe Universum spüren – selbst wenn Sonnen zwischen ihnen brennen.« Sperber hob eine Hand. »Er sagt noch etwas.« Er lehnte sich dichter ans Fenster.

»Ich weiß, daß Ihr mich hören könnt, Sperber!« rief Zalasta auf elenisch. »Ihr seid Bhellioms Geschöpf, und das verleiht Euch gewisse Kräfte. Aber ich bin das Geschöpf Klæls, und das gibt mir ebensoviel Macht, wie Ihr sie besitzt.« Zalasta verzog spöttisch das Gesicht. »Eure Tarnungen waren sehr schlau, doch Klæl hat sie auf Anhieb durchschaut. Ihr hättet tun sollen, was man Euch auftrug. Nun aber habt Ihr Eure beiden jungen Freunde ins Verderben gestürzt, und Ihr könnt nichts, gar nichts dagegen tun!«


Etwa ein halbes Dutzend Männer in unauffälliger Kleidung hielten sich auf dem Korridor vor der Tür des Gemachs auf, in dem Elysoun den Kaiser das letzte Mal besucht hatte. »Sarabian!« rief sie, ohne zu überlegen. »Verschließ deine Tür!« Das tat der Kaiser natürlich nicht. Nach einem Augenblick des Schocks, während die Meuchler scheinbar mitten im Schritt erstarrten und Liatris ihren Dolch zog und wilde Verwünschungen ausstieß, schwang die Tür auf, und Sarabian, in elenischer Beinkleidung, puffärmeligem Leinenhemd, das lange schwarze Haar im Nacken zusammengebunden, stürmte mit gezücktem Degen auf den Korridor.

Sarabian war groß für einen Tamuler, und sein erster Ausfall heftete einen Meuchler an die Wand gegenüber der Tür. Rasch und mit theatralischer Gebärde riß der Kaiser die Klinge aus der zu Boden sinkenden Leiche.

»Laß die Angeberei!« zischte Liatris ihren Gemahl an, während sie den Rumpf eines Meuchlers fein säuberlich von unten nach oben aufschlitzte. »Gib lieber acht!« »Jawohl, meine Teuerste«, entgegnete Sarabian, dem die Situation sichtlich Spaß machte, und ging wieder in Fechtposition.

Elysoun hatte lediglich ein kleines scharfes Messer, mit dem sie jedoch geschickt zu kämpfen verstand. Ein arjunischer Meuchler mit einem gut einen Fuß langen Dolch parierte Sarabians nächsten Stich und machte sich mit gehässigem Lachen daran, dem Kaiser seine nadelspitze Klinge in die Augen zu stoßen. Doch ehe ihm das gelang, schrie er plötzlich kurz auf und sank tot zu Boden. Elysouns kleines Messer, scharf wie die Klinge eines Barbiers, war mühelos durch sein Kreuz in die Niere gedrungen.

Es war jedoch Gahenas, die alle am meisten überraschte. Ihre Waffe war ein dünnes sichelförmiges Messer. Mit einem schrillen Schrei warf die teganische Kaiserin sich mitten ins Getümmel und schlitzte den von Chacole angeworbenen Meuchlern die Gesichter auf. Immer wieder hackte sie kreischend nach den entsetzten Angreifern, und Sarabian nutzte jeden Schwachpunkt seiner Gegner und ließ seine dünne Klinge pfeifen. Offenbar bereitete ihm dieser Tanz des Todes sogar Spaß. Damit soll nicht gesagt werden, daß der Kaiser von Tamuli ein meisterlicher Fechter war. Er war ziemlich geschickt, doch Stragen hätte bestimmt allerlei auszusetzen gehabt. Tatsächlich waren es seine Gemahlinnen, die den Tag – oder, in diesem Fall, vielmehr die Nacht – retteten.

»Rasch hinein, meine Lieben!« rief Sarabian und schob die Berserkerinnen zur Tür, während er über den gefallenen Meuchlern hinweg durch die leere Luft hieb. »O je!« murmelte Liatris Elysoun und Gahenas zu. »Er ist so ein Kind!«

»Allerdings, Liatris«, pflichtete Elysoun ihr bei und schlang liebevoll einen Arm um ihre teganische Schwester. »Aber unseres.«


»Kring kommt!« Khalad deutete auf den im Mondschein schattenhaft erkennbaren Reiter, der auf dem mit Gebeinen bestreuten Kies herbeigaloppierte.

Berit runzelte die Stirn. »Das ist unvorsichtig! Jemand könnte ihn von der Stadt aus sehen!«

Der Domi erreichte die anderen und riß am Zügel. »Schnell, fort von hier!« »Was ist denn los?« fragte Berit.

»Die Kindgöttin sagt, ihr sollt mit mir zurück zu den anderen reiten! Die Cyrgai kommen heraus, um euch zu töten!«

»Ich hab' mich schon gefragt, wann sie das versuchen.« Khalad stemmte sich in den Sattel. »Komm, Berit!«

Berit nickte und griff nach Farans Zügel. »Wird Hochmeister Vanion etwas unternehmen, wenn die Cyrgai angreifen?« fragte er Kring.

Der Domi grinste wölfisch. »Freund Ulath hat eine kleine Überraschung für sie parat, wenn sie durchs Tor kommen«, erwiderte er.
Berit blickte sich um. »Wo ist er? Ich sehe ihn nicht.«
»Die Cyrgai werden ihn ebensowenig sehen.«

»Entfernen wir uns von diesem Felsen. Wir zeigen uns den Cyrgai, sobald sie herauskommen. Sie haben den Befehl, euch zu töten; deshalb werden sie hinter uns herjagen. Freund Ulath hat sieben oder acht sehr hungrige Trolle bei sich. Sie werden sich auf die Cyrgai stürzen, sobald sie zu sehen sind.«


»Wußte er, wo du warst?« fragte Kalten angespannt, während sie sich an die Wand drückten.

»Das glaube ich nicht«, antwortete Sperber. »Er weiß, daß ich irgendwo in der Stadt bin, aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, ihn zu belauschen. Meines Erachtens hatte er keine Ahnung, wie nahe ich war, als er seine Drohungen ausstieß.« »Werden Berit und Khalad sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können?«

Sperber nickte. »Aphrael war bei mir, als Zalasta seine kleine Rede hielt. Sie kümmert sich darum.«

»Paßt auf, Sperber«, rief Mirtai über ihnen, »ich lasse jetzt das Seil herunter.« Das freie Seilende glitt aus dem Grau über ihnen, und Sperber kletterte rasch hinauf. »Wie weit noch?« erkundigte er sich leise, als er neben Mirtai stand.

»Nur noch ein kleines Stück«, antwortete sie. »Talen ist bereits ganz oben.« »Er hätte warten sollen!« brummte Sperber zornig. »Ich werde mit diesem Jungen ein ernstes Wort reden müssen!«

»Das wird nichts nützen. Talen geht gern Wagnisse ein. Zieht Kalten noch unsere Ausrüstung hinter sich her? Ich möchte da oben gar nicht gern feststellen, daß ich nur meine Fingernägel als Waffen habe.«

»Ja, er zieht sie hoch – von einem Halt zum anderen.« Sperber spähte die Wand hinauf. »Wie wär's, wenn Ihr diesmal mich vorausklettern laßt? Seht zu, daß die anderen so schnell wie möglich heraufkommen. Wir haben noch eine Menge zu tun, und diese Nacht dauert nicht ewig.« Mirtai zeigte auf die unebene Wand. »Macht schon!«

Sperber blickte sie an. »Ich weiß nicht, ob ich Euch das schon mal gesagt habe, aber Ihr sollt wissen, daß ich sehr froh bin, Euch an unserer Seite zu wissen. Ihr seid wahrscheinlich der beste Soldat, den ich je gekannt habe.«

»Werdet nicht rührselig, Sperber. Ihr macht mich verlegen. Hattet Ihr nicht vor, die Wand hinaufzuklettern? Oder wollt Ihr warten, bis die Sonne aufgeht?«

Vorsichtig begann er den Aufstieg. Es war zwar zu ihrem Vorteil, daß die Nordseite des Turmes im Schatten lag, doch die noch tiefe Dunkelheit hier erforderte, daß Sperber mit Fingern und Zehen nach jedem Halt tasten mußte, da er hier so gut wie nichts sehen konnte. Er konzentrierte sich auf das Klettern und widerstand der Versuchung, sich zurückzulehnen, um nach der Wand über ihm und der gut erkennbaren, noch mehr als fünfzig Fuß entfernten Brüstung zu sehen.

»Warum habt Ihr so lange gebraucht?« wisperte Talen, als der große Pandioner sich über die Balustrade am Rand der Brustwehr schwang.

»Ich habe unterwegs angehalten, um an den Blumen zu schnuppern«, antwortete Sperber bissig. Er schaute rasch nach Osten, wo die Umrisse der Berge sich bereits ganz leicht gegen den grauen Himmel abhoben. Ihnen blieb höchstens noch eine Stunde Dunkelheit. »Keine Posten, nehme ich an?« wisperte Sperber.

»Nein«, antwortete Talen leise. »Die Cyrga glauben wahrscheinlich, daß sie sich ihren Schlaf verdient haben.«
»Sperber?« Kaltens Wispern war von unten zu hören.
»Hier oben!«
»Übernimm das Gepäck!«
Ein Seilende schlängelte sich aus der Dunkelheit.

»Hilf mir, Talen!« Sperber lehnte sich über die steinerne Balustrade. »Paß auf!« rief er leise zu Kalten hinunter. »Wir ziehen es jetzt hoch.«

Kalten brummte, und sie konnten hören, wie er an der Wand zur Seite wich. Dann zogen Sperber und Talen das riesige, unförmige Bündel langsam zu sich herauf und gaben acht, daß es nicht gegen die Steine prallte. Sperber zog rasch sein Schwert heraus; dann tastete er im Bündel der Kettenhemden nach dem seinen.

Kalten schnaufte schwer, als er über die Balustrade kletterte. »Warum hast du zugelassen, daß ich so gar nichts mehr für meine körperliche Verfassung getan habe, Sperber?« keuchte er.

Sperber zuckte die Schultern. »Hab' wohl nicht darauf geachtet. – Ah, da ist es ja!« Er zog sein Kettenhemd zwischen den anderen hervor.

»Wie könnt Ihr so sicher sein, daß es Eures ist?« fragte Talen interessiert. »Im Dunkeln, meine ich.«

»Ich trage es seit über zwanzig Jahren. Glaub mir, ich täusche mich nicht! Sieh nach, ob die anderen kommen.«

Talen trat an die Balustrade und half Xanetia auf die Brustwehr, während Bevier und Mirtai es allein schafften.

Die Ritter brauchten nur wenige Minuten, sich wieder zu rüsten. »Wohin ist Talen verschwunden?« flüsterte Kalten und schaute sich um.

»Er schnüffelt herum«, murmelte Mirtai, während sie ihren Schwertgürtel zurechtrückte.
»Man nennt das kundschaften!« verbesserte Bevier sie.
Sie zuckte die Schultern. »Egal.«

Da kam Talen bereits zurück. »Ich glaube, ich habe gefunden, wonach wir suchen«, erklärte er leise. »Es gibt da ein kleines vergittertes Fenster. Es ist ziemlich hoch oben; deshalb habe ich nicht hindurchgeschaut.«

»Kommt Aphrael zurück?« fragte Bevier. »Sollten wir auf sie warten?«

Sperber schüttelte den Kopf. »Es wird bald hell. Aphrael weiß, was wir tun. Sie kümmert sich darum, daß die anderen alle an Ort und Stelle sind.«

Talen führte die Gefährten zur Ostseite des Turms. »Dort oben!« Er deutete auf eine kleine vergitterte Öffnung über ihnen.

»Haben irgendwelche Fenster an der Vorderseite Gitter?« fragte Sperber.

»Nein. Außerdem sind sie alle größer und nicht halb so hoch vom Boden.«

»Dann ist es das richtige!« Sperber hätte seine Begeisterung am liebsten laut herausgeschrien. »Aphrael hat mir dieses Fenster beschrieben.«

Kalten blickte blinzelnd zu dem vergitterten Fenster hoch oben in der Wand hinauf. »Vergewissern wir uns lieber, ehe wir in einen Freudentaumel verfallen!« Er stemmte die Hände an die Wand und spreizte die Beine. »Steig hoch, Sperber, und sieh nach!«

»Gut.« Sperber legte die Hände um die Arme seines Freundes und kletterte dessen breiten Rücken hinauf. Dann setzte er die Füße auf Kaltens Schultern, richtete sich vorsichtig auf und langte nach dem rostigen Gitter vor dem Fenster. Er streckte den Kopf empor und spähte in die Dunkelheit hinter dem Fenster. »Ehlana?« rief er leise.
»Sperber!« antwortete sie verblüfft.
»Bitte, sprich leise. Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Jetzt schon. Wie bist du hierher gekommen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ist Alean bei dir?«

»Ja, Prinz Sperber!« ertönte die glockenklare Stimme des Mädchens. »Ist Kalten bei Euch?«

»Ich stehe auf seiner Schulter. Könnt ihr irgendwie Licht machen?«
»Auf gar keinen Fall!« sagte Ehlana entsetzt.
»Was ist los?«

»Sie haben mir das ganze Haar abgeschnitten, Sperber!« wimmerte sie. »Ich möchte nicht, daß du mich so siehst!«