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Zalastas Gesicht war seltsam verändert, als Ekatas die Tür zu der kleinen, moderigen Zelle im Obergeschoß des Turmes aufschloß und öffnete. Der Zweifel und die Reue, die sein Antlitz geprägt hatten, als er Ehlana und Alean nach Cyrga brachte, waren einem Ausdruck der Selbstbeherrschung und der inneren Ruhe gewichen. Mit einem einzigen kurzen Blick erfaßte er alle Einzelheiten des gräßlichen Verlieses. Ehlana und Alean waren an die Wand gekettet und saßen auf verfaulenden Strohhaufen, die ihnen als Liegestätten dienen sollten. Primitive Tonschalen mit kaltem Haferschleim standen unberührt auf dem Boden. »So geht das nicht, Ekatas«, sagte Zalasta mit abweisender Stimme.

»Es ist nicht Eure Angelegenheit«, entgegnete der Hohepriester. »Hier in Cyrga werden Gefangene sicher verwahrt.« Wie immer, wenn Ekatas zu Zalasta sprach, schwang Hohn in seiner Stimme mit.

»Nicht diese Gefangenen.« Zalasta trat in die Zelle, packte die Ketten, welche die beiden Frauen an die Wand banden, und zermalmte sie ohne sichtliche Regung zu rostigem Staub. »Die Lage hier hat sich geändert, Ekatas!« sagte er hart und half Ehlana auf die Füße. »Befehlt, diesen Saustall auszuräumen!«

Ekatas richtete sich auf. »Ich lasse mich von Styrikern nicht herumkommandieren. Ich bin der Hohepriester Cyrgons!«

»Ich bedauere dies außerordentlich, Majestät«, entschuldigte sich Zalasta bei Ehlana. »Vergangene Woche war ich zu sehr anderweitig beschäftigt. Offenbar habe ich den Cyrgai meine Wünsche nicht deutlich genug klar gemacht. Bitte, entschuldigt mich einen Moment, dann werde ich diesen Unterlassungsfehler bereinigen« Er wandte sich wieder Ekatas zu. »Ich habe Euch einen Befehl erteilt«, sagte er in drohendem Tonfall. »Worauf wartet Ihr noch? Fangt an!« »Kommt heraus, Zalasta, oder ich schließe Euch mit ein.«

»Ach, wirklich?« sagte Zalasta mit dünnem Lächeln. »Ich hatte Euch für klüger gehalten. Für solche Späße habe ich keine Zeit, Ekatas! Seht sofort zu, daß diese Kammer gesäubert wird. Ich muß unsere Gäste wieder zum Tempel führen.« »Ich habe keine Anweisung dieser Art erhalten.«

»Warum solltet Ihr auch?«
»Durch mich spricht Cyrgon.«
»Eben. Die Anweisungen kamen nicht von Cyrgon.«
»Cyrgon ist hier Gott.«

»Nicht mehr.« Zalasta bedachte ihn mit einem fast mitleidigen Blick. »Ihr habt es nicht einmal gespürt, stimmt's, Ekatas? Der Boden hob sich und bebte rings um Euch, und Ihr habt es nicht einmal bemerkt! Wie könnt Ihr nur so beschränkt sein? Cyrgon wurde von einem Mächtigeren verdrängt. Klæl herrscht nun in Cyrga – und ich spreche für Klæl.« »Das ist nicht möglich! Ihr lügt!«

Zalasta trat aus der Zelle und packte den Hohepriester an seiner Robe. »Schaut mich an, Ekatas«, befahl er. »Schaut mich gut an, und sagt dann noch einmal, daß ich lüge!«

Ekatas wehrte sich flüchtig; dann konnte er nicht anders, als Zalasta in die Augen zu blicken. Das Blut wich ihm langsam aus dem Gesicht. Plötzlich schrie er durchdringend und versuchte, sich aus dem eisernen Griff des Styrikers zu befreien. »Ich flehe Euch an«, rief er voller Entsetzen. »Nicht noch einmal! Nicht noch einmal!« Dann erschlaffte er und schlug die Hände vor die Augen.

Verächtlich ließ Zalasta den Hohepriester los. Hilflos weinend sank Ekatas zu Boden. »Versteht Ihr jetzt?« fragte Zalasta ihn beinahe sanft. »Cyzada und ich haben versucht, Euch und Euren kleinen Gott vor den Gefahren zu warnen, die eine Beschwörung Klæls mit sich bringen würde, aber ihr wolltet ja nicht hören! Cyrgon hatte die Absicht, Bhelliom zu versklaven, und jetzt ist er der Sklave von Bhellioms Widersacher. Und da ich für Klæl spreche, macht Euch das zu meinem Sklaven! Steht auf, Ekatas! Auf die Füße mit Euch, wenn Euer Gebieter zu Euch spricht!« Der jämmerliche Priester plagte sich auf die Beine. Unbeschreibliches Entsetzen sprach aus seinem tränenüberströmten Gesicht.

»Sagt es, Ekatas!« wies Zalasta ihn unerbittlich an. »Ich möchte hören, wie Ihr es sagt! Oder wollt Ihr lieber den Tod eines weiteren Sternes miterleben!«
»G-g-gebieter«, würgte der Hohepriester hervor.
»Noch einmal! Aber diesmal ein bißchen lauter!«
»Gebieter!« Es klang fast wie ein Kreischen.

»Viel besser, Ekatas. Weckt jetzt diese faulen Dummköpfe in der Wachstube nebenan und sorgt dafür, daß sie diese Zelle säubern. Wir müssen Vorbereitungen treffen, wenn ich aus dem Tempel zurückkehre. Anakha bringt Bhelliom nach Cyrga, und wir möchten doch bereit sein, wenn er kommt, nicht wahr?« Er drehte sich um. »Bringt Eure Magd mit, Ehlana. Klæl möchte euch ansehen …« Zalasta machte eine Pause und begutachtete sie kritisch. »Ich weiß, daß wir Euch schlecht behandelt haben«, erklärte er beinahe reumütig, »aber laßt Euch von unseren schlechten Manieren nicht unterkriegen. Denkt daran, wer Ihr seid, und hüllt Euch in Eure Würde. Klæl achtet die Macht – wie auch jene, die sie ausüben.« »Was soll ich zu ihm sagen?«

»Nichts. Er findet selbst heraus, was er wissen möchte, indem er Euch anschaut. Er versteht das Wesen Eures Gemahls nicht, doch Euer Anblick wird ihm einige Hinweise auf Anakhas Natur geben. Anakha ist die unbekannte Größe in dieser Sache. Das war er wohl immer, nehme ich an. Klæl versteht Bhelliom, doch Bhellioms Geschöpf verwirrt ihn.« »Ihr habt Euch verändert, Zalasta.«

»Ja, ich glaube, da habt Ihr recht«, gab er zu. »Ich habe das Gefühl, daß ich nicht mehr lange leben werde. Klæls Berührung hat eine eigentümliche Wirkung auf Menschen. Lassen wir ihn lieber nicht warten.« Er richtete den Blick wieder auf Ekatas, der heftig zitterte. »Ich will, daß diese Kammer sauber ist, wenn wir zurückkommen.«

»Ich kümmere mich darum, Gebieter«, versprach Ekatas mit grotesker Unterwürfigkeit.


»Wie findet man sie wieder?« erkundigte Itagne sich neugierig. »Ich meine, wenn die Trolle in dieser ›Nichtzeit‹ sind, Ihr und Tynian jedoch in die echte Zeit zurückkehren mußtet, um euch in Sarna umzusehen, dann hat die Zeit sich doch für euch bewegt. Wie kommt ihr da zu dem Augenblick zurück, an dem ihr die Trolle verlassen habt?« »Bitte, stellt keine metaphysischen Fragen, Itagne«, stöhnte Ulath mit gequälter Miene. »Wir begeben uns einfach wieder zu der Stelle, an der wir die Trolle verließen, und dort sind sie. Wir kümmern uns um das Wo und überlassen das Wann den Trollgöttern. Offensichtlich sind sie in der Lage, in der Zeit umherzuspringen, ohne groß auf die Regeln zu achten.«


»Ist da etwas, das wir wissen sollten, Tynian-Ritter?« fragte Engessa.

Ulath lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Cyrgon hat die Verhaltensweise der Trolle empfindlich gestört, als er nach Thalesien ging und sich als Ghworg ausgab«, erklärte er düster. »Zalasta erzählte ihm von den Trollen, doch Cyrgon kennt sich kaum noch mit der Jetztzeit aus und hat die Trolle mit den Urmenschen verwechselt. Die Urmenschen waren Herdenwesen, während die Trolle in Rudeln zusammengeschlossen sind. Herdentiere akzeptieren jedes Mitglied ihrer Gattung; doch Rudeltiere sind da wählerischer. Es ist momentan ein Vorteil für uns, daß sich die Trolle wie eine Herde verhalten. So können wir zumindest dafür sorgen, daß sie alle in die gleiche Richtung laufen. Aber zweifellos wird es zu irgendwelchen Problemen kommen. Die Rudel beginnen sich aufzulösen, und es gibt bereits eine Menge Geknurre und Geschnaufe.«

Tynian warf einen verstohlenen Blick auf Königin Betuana, die ganz in Schwarz ein wenig abseits von ihnen saß. Leise fragte er Engessa: »Ist doch alles in Ordnung mit ihr, oder?«

»Betuana-Königin ist in ritueller Trauer«, erwiderte Engessa mit ebenfalls gesenkter Stimme. »Der Verlust ihres Gemahls hat sie sehr tief getroffen.« »Waren sie einander wirklich so eng verbunden?«

»Es hatte nicht den Anschein«, gab Engessa zu. Er wirkte besorgt, als er seine schwermütige Königin ansah. »Das alte Trauerritual wird heutzutage selten gepflegt. Ich passe gut auf sie auf. Sie darf keine Gelegenheit bekommen, sich etwas anzutun.« Engessas Schultermuskeln spannten sich.

Tynian fragte erschrocken: »Besteht denn eine solche Gefahr wirklich?«

»Bis vor einigen Jahrhunderten war so etwas nicht ungewöhnlich«, antwortete Engessa.


»Wir haben euch schon früher erwartet«, sagte Itagne zu Ulath. »So, wie ich es verstehe, bedeutet Nichtzeit, daß die Trolle sich praktisch ohne Zeitverlust von einem Ort zum anderen begeben können.«

»Nicht ganz, Itagne. Wir haben ungefähr eine Woche gebraucht, um von den Tamulischen Bergen hierher zu gelangen. Wir mußten immer wieder anhalten und in die wirkliche Zeit zurückkehren, damit die Trolle jagen konnten. Hungrige Trolle sind keine angenehmen Reisegefährten. Aber berichtet Ihr uns doch jetzt einmal, was sich getan hat. Wir können uns in der Nichtzeit nicht mit Aphrael in Verbindung setzen.«

»Sperber hat einige Hinweise auf die geographische Lage Cyrgas gefunden«, antwortete Itagne. »Sie sind nicht allzu genau, aber er versucht trotzdem, diesen Spuren zu folgen.«
»Wie kommt Patriarch Bergsten zurecht?«
»Er hat Cynestra erobert – oder besser gesagt, es wurde ihm auf einem silbernen Tablett serviert.«
»Ach?«
»Erinnert Ihr Euch an Atana Maris?«

»Das hübsche Mädchen, das die Garnison in Cynestra befehligt? Das Euch so sehr mochte?«

Itagne lächelte. »Genau die. Sie ist ein ziemlich impulsives Geschöpf. Als sie Bergsten mit den Ordensrittern kommen sah, beschloß sie, ihm die Stadt als Präsent zu verehren. Sie ließ die cynesganischen Truppen von den Straßen jagen, und öffnete das Stadttor. Sie wollte Bergsten sogar König Jaluahs Kopf überreichen, doch das konnte er ihr ausreden.«

»Wie schade«, brummte Ulath. »Aber das ist wohl zu erwarten, wenn ein guter Krieger es plötzlich mit der Religion hält.«

»Vanion hat Stellung bezogen«, fuhr Itagne fort. »Er und Kring haben in Cynesga Befestigungen errichtet – etwa einen Tagesritt von der Grenze entfernt. Wir werden hier ihrem Beispiel folgen. Wir wollten damit nur bis zu Eurer Ankunft warten.« »Ist irgend jemand auf heftigen Widerstand gestoßen?« erkundigte sich Tynian. »Schwer zu sagen«, murmelte Itagne nachdenklich. »Wir marschieren auf Mittelcynesga zu, doch Klæls Soldaten scheinen aus jedem Spalt zwischen zwei Steinen zu springen. Je weiter wir sie zurückdrängen, desto geschlossener werden dann ihre Streitkräfte sein. Wenn uns nichts einfällt, wie wir diese Truppen lahmlegen können, müssen wir uns einen Weg durch sie hindurchhauen, und nach allem, was ich von Vanion weiß, dürfte das ein schwieriges Unterfangen werden. Krings Taktiken sind zwar einwandfrei aufgegangen, aber sobald wir nahe an Cyrga herankommen …« Er spreizte hilflos die Hände.

»Uns wird schon etwas einfallen«, meinte Ulath. »Gibt es sonst noch was?« »Es hängt sozusagen noch einiges in der Luft, Ritter Tynian«, antwortete Itagne. »Durch die Lügengeschichten, die Stragen und Caalador sich in Beresa ausdenken, wird der Großteil der cynesganischen Reiterei von der Ostgrenze abgezogen. Die eine Hälfte begibt sich südwärts zur Küste in der Gegend von Kaftal, die andere nordwärts zu einer kleinen Ortschaft namens Zhubay. Caalador hat Stragens angebliche Flotte dort oben an der Südküste durch eine vorgetäuschte Heerschar schwerbewaffneter Ataner verstärkt. Diese beiden Gerüchte haben die gesamte cynesganische Armee in zwei Hälften geteilt, die nun eifrig Trugbildern nachjagen.« »Habt Ihr gesagt, daß die eine Hälfte gen Norden zieht?« fragte Tynian betont arglos.

»Nach Zhubay, ja. Weil sie aus irgendeinem Grund vermuten, daß die Ataner sich dort sammeln.«

»Erstaunlich!« sagte Ulath mit unbewegtem Gesicht. »Zufällig waren Tynian und ich in ungefähr dieser Richtung unterwegs. Meint Ihr, es würde die Cynesganer sehr enttäuschen, wenn sie statt auf Ataner auf Trolle stießen?«

»Ihr könntet Euch ja auch dort hinaufbegeben und sie fragen, nehme ich an«, antwortete Itagne mit ebenfalls betont ausdrucksloser Miene. Sie alle wußten, was sich in Zhubay tun würde.

»Versichert ihnen, daß wir uns dafür entschuldigen möchten, Ulath-Ritter«, sagte Betuana mit einem traurigen kleinen Lächeln.

»Oh, das werden wir, Majestät«, versicherte Ulath ihr. »Falls wir noch welche in einem Stück finden, nachdem sie mit den Trollen herumgetollt haben.«


»Verschwindet!« brüllte Kalten und galoppierte auf die hundeähnlichen Geschöpfe zu, die sich um irgend etwas auf dem Wüstenboden geschart hatten. Die Tiere rannten mit einem lauten Heulen davon, das sich wie höhnisches Gelächter anhörte. »Sind das Hunde?« fragte Talen voller Ekel. »Nein«, antwortete Mirtai knapp. »Hyänen.«

Kalten kam zurückgeritten. »Es ist ein Mann«, erklärte er düster, »oder vielmehr, was von ihm übrig ist.«
»Wir müssen ihn begraben«, sagte Bevier.

»Die Biester würden ihn bloß wieder ausscharren«, wehrte Sperber ab. »Außerdem«, fügte er hinzu, »wenn du sie alle begraben wolltest, hättest du hier mehrere Lebzeiten zu tun.« Er deutete auf die mit Gebeinen übersäte Ebene, die sich zu der niedrigen Kette schwarzer Berge im Westen erstreckte. Dann blickte er Xanetia an. »Es war ein Fehler, Euch mitzunehmen, Anarae«, entschuldigte er sich. »Es könnte noch schlimmer werden.« »Das ist nicht unerwartet, Anakha«, erwiderte sie.

Kalten blickte zu dem Schwarm Aasgeier hinauf, die hoch über ihnen kreisten. »Gräßliche Vögel!« murmelte er.

Sperber richtete sich in den Steigbügeln auf, um nach vorn zu spähen. »Wir haben noch etwa zwei Stunden, ehe die Sonne untergeht. Aber vielleicht sollten wir uns schon jetzt ein oder zwei Meilen zurückziehen und unser Lager heute früher aufschlagen. Wir müssen eine Nacht da draußen zubringen. Zwei Nächte wären entschieden zuviel.«

»Außerdem brauchen wir diese Säulen als Orientierungshilfen«, fügte Talen hinzu, »und bei Sonnenaufgang leuchten sie stärker.«

»Sofern dieses Leuchten, dem wir gefolgt sind, tatsächlich von diesen Säulen ausgeht«, warf Kalten zweifelnd ein.

»Es hat uns hierher gebracht, oder? Das hier muß die Ebene der Gebeine sein, meint Ihr nicht? Ich gebe ja zu, daß ich anfangs ebenfalls meine Zweifel hatte. Ogerajin redete so wirres Zeug, daß ich überzeugt war, er würde zumindest einige Hinweise durcheinanderbringen, aber bis jetzt hat er uns noch nicht in die Irre geführt.«

»Wir haben die Stadt noch nicht gesehen, Talen«, erinnerte Kalten ihn. »Ich würde also abwarten, bevor ich ein Dankschreiben verfaßte!«


»Ich habe mehr Geld, als ich je ausgeben kann, Orden«, erklärte Krager, der sich in mitteilsamer Stimmung befand. Er blickte durchs Fenster auf die Häuser und den Hafen von Delo. Dann trank er einen weiteren Schluck Wein.

»Das würde ich an Eurer Stelle für mich behalten, Krager«, riet ihm der füllige Orden, »erst recht hier im Hafenviertel.«

»Ich habe mir einige Leibwächter angeworben, Orden. Könnt Ihr Euch umhören, ob im Laufe der Woche ein schnelles Schiff nach Zenga in Cammorien ausläuft?« »Was wollt Ihr ausgerechnet in Zenga?«

»Ich bin dort aufgewachsen und habe Heimweh«, antwortete Krager schulterzuckend. »Außerdem möchte ich es ein paar Leuten dort zeigen – allen, die mir prophezeit haben, daß es kein gutes Ende mit mir nimmt.«

»Seid Ihr zufällig einem Burschen namens Ezek über den Weg gelaufen, während Ihr in Natayos wart?« fragte Orden. »Ich glaube, er ist Deiraner.«

»Der Name kommt mir bekannt vor. Soviel ich weiß, hat er für den Kerl gearbeitet, der dort eine Schenke betrieb.«

»Ich habe Ezek dorthin geschickt«, erklärte Orden, »ihn und die zwei anderen – Col und Shallag. Sie wollten sich Narstils Räuberbande anschließen.«

»Vielleicht haben sie's. Doch als ich wegging, arbeiteten sie noch in der Schenke.« »Es geht mich ja nichts an, aber wenn Ihr in Natayos so großen Profit gemacht habt, warum seid Ihr dann fort?«

»Instinkt, Orden. Sobald ich diese Kälte im Nacken spüre, weiß ich, daß es an der Zeit ist, die Füße in die Hand zu nehmen. Habt Ihr je von einem Mann namens Sperber gehört?«

»Ihr meint Prinz Sperber? Wer hat nicht von ihm gehört? Er ist eine Berühmtheit.« »O ja, das ist er allerdings. Wie dem auch sei – Sperber sucht seit etwa zwanzig Jahren nach einer Gelegenheit, mich zu töten. So etwas schärft einem den Instinkt, das könnt Ihr mir glauben.« Krager nahm einen weiteren tiefen Schluck.

»Ihr solltet Euch vielleicht überlegen, ob Ihr nicht besser eine Weile die Finger vom Wein laßt.« Orden blickte bedeutungsvoll auf Kragers mit arzischem Rotwein gefüllten Krug. »Ich bin Wirt und habe gelernt, die Anzeichen zu erkennen. Eure Leber rebelliert bereits, mein Freund, und Eure Augäpfel werden gelb!« »Ich werde mich einschränken, sobald ich auf See bin.«

»Ich fürchte, Ihr werdet Euch mehr als nur einschränken müssen, Krager. Wenn Ihr weiterleben wollt, müßt Ihr das Trinken ganz aufgeben. Ihr wollt bestimmt nicht sterben wie die meisten Säufer. Ich kannte einen, der schrie ganze drei Wochen lang, ehe er endlich starb. Es war furchtbar!«

»Mit meiner Leber ist alles in Ordnung!« beteuerte Krager. »Es liegt nur an der seltsamen Beleuchtung hier. Wenn ich draußen auf See bin, werde ich weniger trinken. Es geht mir gut.« Doch sein Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck, und allein schon der Gedanke, das Saufen aufgeben zu müssen, hatte seine Hände heftig zum Zittern gebracht.

Orden zuckte die Schultern. Er hatte jedenfalls versucht, den Mann zu warnen. »Ihr müßt selbst wissen, was Ihr tut, Krager. Ich jedenfalls sehe mich nach einem Schiff um, das Euch aus Prinz Sperbers Reichweite bringt.«

»So rasch wie nur möglich, Orden.« Krager streckte ihm den Krug entgegen. »Wie wär's, wenn wir uns inzwischen noch einen gönnen?«


Ekrasios und seine Schar Delphae erreichten Norenja am Spätnachmittag eines trüben Tages: die Wolken hingen so tief, daß sie die Baumkronen verhüllten, und nicht das leiseste Lüftchen rührte sich. Ekrasios bedeutete seinem Jugendfreund Adras, ihm zu folgen, und kroch durch das Dickicht aus Büschen und Ranken zum Rand der Lichtung, um zu den Ruinen zu spähen. »Meinst du, sie werden Widerstand leisten?« flüsterte Adras.

»Schwer zu sagen«, erwiderte Ekrasios. »Anakha und seine Gefährten erwähnten, daß diese Rebellen nicht für den Kampfeinsatz ausgebildet wurden. Meines Erachtens hängt die Reaktion auf unser Erscheinen von der Denkweise ihrer Offiziere ab. Lassen wir ihnen einen Fluchtweg zum Dschungel. Denn würden wir sie lückenlos umzingeln, sähen sie sich zum Kampf gezwungen.«

Adras nickte. »Sie haben sich zumindest bemüht, ihr Tor zu reparieren.« Er wies auf den Eingang zur Stadt.

»Das Tor ist kein Problem. Ich werde dich und unsere Gefährten den Zauber lehren, der den Fluch Edaemus' abändert. Dieses neue Tor ist aus Holz, und Holz verrottet ebenso wie Fleisch.« Er blickte zu den schmutzig grauen Wolken empor. »Kannst du in etwa die Tageszeit abschätzen?«

»Es dürften nicht mehr als zwei Stunden bis Sonnenuntergang sein«, erwiderte Adras.

»Dann wollen wir es angehen. Zuerst müssen wir ein zweites Tor finden, das jenen eine Fluchtmöglichkeit bietet, denen wir uns heute Nacht zeigen.« »Und wenn es nur das eine Tor gibt?«

»Dann müssen diejenigen, die fliehen wollen, einen eigenen Weg finden. Ich möchte nicht gern die volle Kraft von Edaemus' Fluch einsetzen. Doch sollte es sich als notwendig erweisen, werde ich mich dieser schrecklichen Pflicht nicht entziehen. Wenn sie fliehen, schön und gut. Entschließen sie sich jedoch, zu bleiben und zu kämpfen, werden wir tun, was wir tun müssen. Eines versichere ich dir, Adras: Wenn morgen früh die Sonne aufgeht, wird innerhalb der Mauern von Norenja kein Lebender mehr weilen.«


»Großer Gott!« rief Berit und spähte über den Rand der ausgetrockneten Klammsohle auf die riesenhaften Soldaten, die in ihren hautengen Rüstungen über den glühenden, von Steinen übersäten Boden nach Westen stürmten. »Das sind Ungeheuer!«

»Nicht so laut!« warnte Khalad. »Wir wissen schließlich nicht, wie gut sie hören können!«

Die seltsamen, tierhaften Soldaten waren noch größer als Ataner, und ihre glänzenden Brustpanzer lagen so dicht an, daß jeder Muskel sich darunter abzeichnete. Ihre Helme waren mit phantastischen Hörnern oder Flügeln verziert, und kein Visier war wie das andere, so, als wären sie für jeden Krieger einzeln geschmiedet worden. Die ungeheuren Wesen rannten in gebrochener Formation westwärts, und ihr heftiges Keuchen war selbst aus dieser Entfernung deutlich zu vernehmen.

»Wohin wollen sie?« fragte Berit. »Die Grenze liegt in der entgegengesetzten Richtung!«

»Sieh mal, da vorn. Dem einen dort, der den anderen Kriegern hinterherhinkt, ragt ein abgebrochener Speerschaft aus dem Rücken. Das bedeutet wahrscheinlich, daß sie eine Begegnung mit Tikumes Peloi hatten«, meinte Khalad. »Sie waren bereits an der Grenze und kommen jetzt zurück.«

»Wohin zurück?« Berit blickte seinen Freund verwirrt an. »Wohin können sie sich denn retten? Sie können hier doch gar nicht atmen.«

Vorsichtig streckte Khalad den Kopf über den Rand der Klamm und spähte auf die steinige Wüste. »Sie sind offenbar zu der Berggruppe unterwegs, etwa eine Meile im Westen von hier.« Er machte eine Pause. »Was meinst du, Berit, wie groß ist unsere Neugier heute?« »Was hast du im Sinn?«

»Die Klamm führt durch diese Berge. Wenn wir ihr folgen und die Köpfe einziehen, werden die Burschen uns nicht sehen. Wie wär's, wenn wir einen kleinen Ausflug nach Westen unternehmen? Vielleicht stoßen wir auf etwas Interessantes, indem wir diesen Kerlen nachschleichen.«

Berit zuckte die Schultern. »Warum nicht?«

»Das ist aber keine sehr logische Antwort, Berit. Mir würden ein halbes Dutzend Gründe einfallen, warum wir es nicht tun sollten.« Mit zusammengekniffenen Augen spähte Khalad zu den keuchenden Soldaten hinüber, die über den Wüstenboden taumelten. »Aber tun wir es trotzdem.«

Sie rutschten die Klammwand hinunter und führten ihre Pferde den ausgedörrten Wasserlauf entlang nach Westen.

Als sie etwa eine Viertelstunde so leise wie möglich dem Flußlauf gefolgt waren, flüstere Berit: »Sind sie noch da draußen?«

»Ich werde nachsehen.« Khalad kletterte das jetzt etwas steilere Ufer noch einmal hinauf und streckte den Kopf empor; dann rutschte er wieder hinunter. »Sie taumeln immer noch auf die Berge zu. Das Flußbett wird allmählich seichter! Lassen wir die Pferde lieber hier.«

Um nicht gesehen zu werden, schlichen sie nun geduckt weiter. Als die Klamm schließlich bergauf verlief, sahen sie sich gezwungen, auf Händen und Knien zu kriechen.

Khalad richtete sich flüchtig auf, um wieder einen Blick auf den Gegner zu werfen. »Anscheinend wollen sie jetzt um den anderen Berg herum.«

Die Freunde krochen aus dem nunmehr vollkommen flachen Bachbett und stiegen zum Kamm hinauf, bis sie sehen konnten, was sich hinter dem Berg befand, auf den Khalad gedeutet hatte.

Ein niedriges Becken verbarg sich hinter den drei Erhebungen, die aus der Wüste ragten. Das Becken war leer.
»Wohin sind sie verschwunden?« flüsterte Berit.

»Dieses Becken war ihr Ziel«, antwortete Khalad stirnrunzelnd. »Warte! Da kommt der mit dem Speer im Rücken.«

Sie beobachteten den Verwundeten, der in das Becken stolperte, stürzte, sich wieder aufraffte und weiterschleppte. Schließlich hob er sein maskiertes Gesicht und brüllte irgend etwas.
Berit und Khalad warteten angespannt.

Da traten zwei Soldaten aus einer schmalen Öffnung in einer Bergflanke, stiegen zum Beckengrund hinunter und zogen ihren verwundeten Kameraden den Hang hinauf und durch die Höhlenöffnung.

»Jetzt wissen wir es«, murmelte Khalad. »Sie sind meilenweit durch deckungslose Wüste gerannt, um zu dieser Höhle zu gelangen.«
»Aber warum? Was nutzt ihnen das?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, Berit, aber die Antwort auf diese Frage ist bestimmt von großer Bedeutung.« Khalad richtete sich auf. »Kehren wir zu unseren Pferden zurück. Wir können noch ein paar Meilen schaffen, ehe die Sonne untergeht.«


Ekrasios kauerte am Rand des Dschungels und wartete darauf, daß die Fackeln in Norenja niederbrannten und die von den Menschen verursachten Geräusche erstarben. Die Ereignisse in Panem-Dea hatten die Einschätzung bestätigt, die Hochmeister Vanion in Sarna geäußert hatte. Diese schlecht ausgebildeten Soldaten würden bei der ersten sich bietenden Gelegenheit fliehen. Ekrasios war es recht – sehr recht. Er schreckte immer noch davor zurück, sich Edaemus' Fluch zu bedienen, und Menschen, die davonrannten, brauchten nicht vernichtet zu werden. Adras kehrte durch den nächtlichen Nebel geisterhaft zum Dschungelrand zurück. »Es ist alles bereit, Ekrasios«, meldete er leise. »Das Tor wird bei der geringsten Bewegung zerfallen.«

»Gut. Dann los«, erwiderte Ekrasios. Er stand auf und lockerte die eiserne Kontrolle, die sein inneres Licht dämpfte. »Hoffen wir, daß alle jenseits dieser Mauer fliehen werden.«
»Und wenn nicht?«

»Dann gibt es nur den Tod für sie. Das Versprechen, das wir Anakha gaben, verpflichtet uns. Wir werden diese Ruinen von allen Menschen leeren – auf die eine oder andere Weise.«


»Hier ist es nicht so schlimm«, sagte Kalten, als sie absaßen. »Schon deshalb nicht, weil diese Gebeine bereits seit längerer Zeit hier liegen.«

Sie waren gezwungen gewesen, ihr Lager letzte Nacht hier aufzuschlagen, und nun versuchte jeder auf seine Weise, das Grauen zu vergessen, das sie in den vergangenen Tagen erlebt hatten.

Sperber brummelte irgend etwas vor sich hin und blickte über das Wüstengebiet zu dem zerklüfteten Basaltfelsen, der offenbar den Ostrand der Verbotenen Berge darstellte. Die Sonne war soeben aufgegangen, und ihr Licht spiegelte sich auf den beiden von Quarz durchzogenen Gipfeln, die aus den rostig dunklen Bergen unmittelbar im Westen emporragten.

»Warum halten wir hier an?« erkundigte sich Mirtai. »Die Berge sind noch gut eine Viertelmeile entfernt.«

»Ich glaube, wir sollen diese zwei Gipfel anpeilen«, antwortete Sperber. »Talen, erinnerst du dich an Ogerajins genaue Worte?«

»Hm, laßt mich überlegen.« Der Junge runzelte angestrengt die Stirn. Dann nickte er.
»Jetzt hab' ich's.«
»Wie machst du das?« fragte Bevier ihn interessiert.

Talen zuckte die Schultern. »Es ist ein Trick. Man denkt nicht an die genauen Worte, sondern konzentriert sich darauf, wo man war, als man sie hörte.« Er hob das Gesicht ein wenig, schloß die Augen und rezitierte:

»›Habt Ihr die Ebene der Gebeine hinter Euch, gelangt Ihr zum Tor der Täuschung, welches Cyrga bewacht, die Verborgene Stadt. Das Auge eines Sterblichen vermag dieses Tor nicht zu erblicken. Grell erhebt es sich vor den Verbotenen Bergen, wie eine von Rissen durchzogene Mauer, um den Weg dorthin zu versperren. Doch Ihr braucht nur den Blick auf Cyrgons weiße Säulen zu richten und den Schritt zu der Leere dazwischen zu lenken. Trauet nicht dem Bild, das Euer Auge Euch vorgaukelt; denn die scheinbar feste Mauer ist wie Dunst und wird Euch den Weg nicht verwehren.‹«

»Das hat sich ja nicht einmal wie deine Stimme angehört«, stellte Bevier verwundert fest.

»Das ist ein Teil dieses Tricks«, erwiderte der Junge. »Es war – gewissermaßen – Ogerajins Stimme.«

»Also gut«, warf Sperber ein. »Stellen wir fest, ob er wirklich wußte, wovon er redete.« Blinzelnd schaute er zu den zwei Punkten widergespiegelten Lichts. »Dort sind die Säulen.« Er trat ein paar Schritte nach rechts; dann schüttelte er den Kopf. »Von hier aus gesehen, verschmelzen sie zu einem Licht.« Dann trat er nach rechts. »Hier ist es nicht anders.« Er kehrte zu seinem ursprünglichen Beobachtungspunkt zurück. »Das hier ist die richtige Stelle!« erklärte er fast ein wenig aufgeregt. »Diese beiden Gipfel stehen dicht beisammen. Bewegt man sich ein paar Fuß nach links oder rechts, kann man nicht einmal den Spalt zwischen ihnen wahrnehmen. Wenn man nicht bewußt danach Ausschau hält, könnte man es ganz übersehen.« »Einfach großartig, Talen«, sagte Kalten spöttisch. »Wenn wir noch ein Stück näher kommen, wird der Felsen uns den Blick auf die Gipfel versperren!« Talen verdrehte die Augen himmelwärts. »Was soll das?« fragte Kalten.

»Geht einfach nur auf den Felsen zu, Kalten, ja? Sperber kann hier stehenbleiben und den Spalt im Auge behalten. Er wird Euch sagen, ob Ihr links oder rechts herumgehen müßt.«

»Oh!« Kalten blickte die anderen an. »Vergeßt, was ich vorher gesagt habe.« Dann ging er auf den Felsen zu.
»Nach rechts!« rief Sperber ihm nach.
Kalten nickte und änderte die Richtung.
»Zu weit. Ein bißchen zurück nach links!«

Der blonde Pandioner schritt wieder auf den Felsen zu und änderte die Richtung stets nach Sperbers gerufenen Anweisungen. Als er den Felsen erreichte, schlug er mit den Händen auf das Gestein. Dann zog er seinen schweren Dolch, stieß ihn in den Boden und kehrte um.

»Nun?« rief Sperber ihm entgegen, als er ungefähr den halben Weg zurückgelegt hatte.
»Ogerajin hat wirres Zeug geredet!« brüllte Kalten.
Sperber fluchte.
»Soll das heißen, es gibt keine Öffnung?« rief Talen.

»Das nicht«, antwortete Kalten, »aber sie befindet sich mindestens fünf Fuß links von der Stelle, die dein Verrückter angegeben hat.«