5

Sie war müde, am Rande des Zusammenbruchs, erschöpft, naß und schmutzig. Ihre Kleidung hing ihr in Fetzen vom Körper, und ihr Haar war verfilzt und strähnig. Doch das alles war unwichtig. Wortlos unterwarf sie sich den Widrigkeiten und Demütigungen, um den Irren, der sie gefangenhielt, davon abzuhalten, der völlig verängstigten Alean etwas anzutun.

Ihr war nur langsam bewußt geworden, daß Scarpa geistesgestört war. Vom ersten Augenblick an hatte sie seine Skrupellosigkeit und Besessenheit erkannt; dann aber, während der schier endlosen Tage ihrer Gefangenschaft, war immer deutlicher geworden, daß er nicht bei Verstand war.

Er war grausam, aber nicht der erste grausame Mann, dem Ehlana begegnet war.

Nachdem sie und Alean durch die klammen Gänge unter den Straßen Matherions aus der Stadt gebracht worden waren, hatte man sie grob in die Sättel bereitstehender Pferde gehoben, sie daran festgebunden und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, ohne Rücksicht auf die Pferde, die Straße zum fünfundsiebzig Meilen entfernten Hafen von Micae gebracht, an die Südwestküste der Halbinsel. Ein normaler Mensch mißhandelt keine Tiere, auf die er angewiesen ist. Das war der erste Hinweis auf Scarpas Wahnsinn. Er peitschte die Pferde, bis die bedauernswerten Kreaturen vor Erschöpfung taumelten. Und seine einzigen Worte während dieser furchtbaren vier Tage waren: »Schneller! Schneller!«

Ehlana schauderte bei der Erinnerung an diesen grauenvollen Ritt. Sie hatten … Ihr Pferd stolperte auf dem schlammigen Pfad, und sie wurde ruckartig aus ihrer Apathie in die unmittelbare schreckliche Gegenwart gerissen. Der Strick, der ihre Handgelenke an den Sattelknauf band, schnitt ihr ins Fleisch, das wieder zu bluten anfing. Sie bemühte sich, eine andere Haltung einzunehmen, damit der Strick sich nicht tiefer in die bereits offenen Wunden fraß.

»Was tust du da?« Scarpas Stimme war rauh und von durchdringender Lautstärke. Wenn er mit Ehlana sprach, schrie er fast immer.

»Ich versuche nur zu verhindern, daß der Strick tiefer in meine Handgelenke schneidet, Freiherr Scarpa«, antwortete sie unterwürfig. Gleich zu Beginn ihrer Gefangenschaft hatte man ihr befohlen, ihn so anzureden. Wenn sie es nicht tat, würde Alean schlimm mißhandelt, und es wurden ihnen Essen und Wasser vorenthalten.

»Du bist nicht hier, um es dir bequem zu machen, Weibsstück!« brüllte er. »Du bist hier, um zu gehorchen! Wenn du nicht sofort aufhörst, an dem Strick herumzufummeln, lasse ich dir Fesseln aus Draht anlegen!« Die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf, und wieder fielen Ehlana die abnormal geweiteten Pupillen auf, und wie seltsam bläulich das Weiß seiner Augen getönt war.

»Jawohl, Euer Liebden«, sagte sie im unterwürfigsten Tonfall.

Er funkelte sie an. Seine Miene verriet Argwohn, und in seinen Augen loderte der Wahnsinn, als er gierig den Blick über Ehlana huschen ließ und nach einem Grund suchte, seine Gefangenen zu bestrafen oder noch mehr zu demütigen.

Ehlana senkte den Kopf und starrte auf den schlammigen Pfad, der sich immer tiefer in den dichten, mit Schlingpflanzen durchsetzten Regenwald an der Südostküste Daresiens hineinschlängelte.

Das Schiff, auf das man sie im Hafen von Micae geschleppt hatte, war schlank und schwarz und gewiß nicht für Zwecke ehrlicher Seefahrt erbaut. Man hatte Ehlana und Alean sofort unter Deck gezerrt und in eine enge, stockfinstere Kammer gesperrt, in der es nach Bilgewasser stank. Nach etwa zwei Stunden auf See war die Tür geöffnet worden, und Krager war mit zwei dunkelhäutigen Seeleuten in den winzigen Verschlag gekommen. Einer der Kerle trug etwas, das wie eine ordentliche Mahlzeit aussah, und der andere zwei Eimer mit heißem Wasser, ein Stück Seife und ein paar Fetzen, die wohl zum Abtrocknen dienen sollten. Ehlana wäre dem Burschen dafür am liebsten um den Hals gefallen.

»Die ganze Sache tut mir wirklich leid, Ehlana«, hatte Krager sich entschuldigt und mit kurzsichtigen Augen geblinzelt. »Ich habe in dieser Angelegenheit leider keinerlei Mitspracherecht. Seid vorsichtig, wenn Ihr mit Scarpa redet. Wahrscheinlich habt Ihr schon bemerkt, daß er nicht bei klarem Verstand ist.« Krager hatte sich nervös umgesehen und schließlich eine Handvoll billige Talgkerzen auf den rohen Holztisch gelegt, ehe er die Tür hinter sich schloß und eine Kette vorhängte.

Fünf Tage waren sie auf See gewesen; dann hatten sie kurz nach Mitternacht Anan erreicht, eine Hafenstadt an der Südostküste, am Rande des Dschungels.

Ehlana und Alean waren rasch in eine von Baron Parok gelenkte, geschlossene Karosse gebracht worden. Während des kurzen Weges vom Schiff zum Gefährt hatte Ehlana heimlich jeden ihrer Wächter gemustert, um irgendeine Schwachstelle zu finden. Obwohl er fast ständig betrunken war, erschien Krager ihr zu gerissen. Parok war Scarpas langjähriger Kumpan, und ganz offensichtlich störte ihn dessen Wahnsinn nicht. Schließlich hatte sie Elron mit prüfenden Blicken betrachtet. Es war ihr nicht entgangen, daß der geckenhafte astelische Poet ihr nicht in die Augen blicken konnte. Die scheinbare Ermordung Melideres erfüllte ihn offenbar mit Gewissensbissen. Elron war ein Poseur, kein Mann der Tat, und der Anblick von Blut drehte ihm den Magen um. Ehlana erinnerte sich, wie stolz er bei ihrer ersten Begegnung auf seine langen Locken gewesen war, und sie fragte sich, wie ihn Scarpa genötigt hatte, seinen Schädel zu rasieren, um sich als einer von Krings Peloi ausgeben zu können. Sie vermutete, daß die erzwungene Opferung seines Haares Groll gegen Scarpa in Elron geweckt hatte. Zudem war offensichtlich, daß er nur widerstrebend an dieser Sache teilnahm. Das alles machte ihn zum schwachen Glied in der Kette. So richtete Ehlana ihre Aufmerksamkeit auf Elron, denn die Zeit mochte kommen, da sie es nutzen konnte, daß er nicht mit dem Herzen bei der Sache war. Die Kutsche hatte sie vom Hafen zu einem großen Haus am Stadtrand von Anan gebracht. Dort hatte Scarpa sich mit einem hageren Mann unterhalten, dessen Gesichtsschnitt ihn als Styriker auswies. Sein Name war Keska, und in seinen Augen lag der Ausdruck eines hoffnungslos Verdammten.

»Die Unbequemlichkeit ist mir egal!« hatte Scarpa den Hageren angeschrien. »Auf die Zeit kommt es an, Keska, auf die Zeit! Solange es uns nicht umbringt, können wir es schon aushalten!«

Am nächsten Morgen war die Bedeutung dieses Befehls nur allzu offensichtlich geworden. Keska war anscheinend einer dieser ausgestoßenen styrischen Magier, aber kein sehr guter. Mit großer Mühe, die ihm alles abverlangte, konnte er den langen Weg zu Scarpas Ziel verkürzen, aber jeweils nur in kleinen Etappen, und dieses unbeholfene Vorgehen verursachte jedesmal schreckliche Schmerzen. Es war beinahe so, als würde der unbeholfene Magier sie in die Höhe reißen und sie mit jeder Unze seiner Kraft blindlings nach vorn schleudern. Nach jedem dieser gräßlichen, schmerzhaften Sprünge fragte Ehlana sich, ob sie heil davongekommen war. Sie fühlte sich zerrissen und zerschmettert, aber sie tat, was sie konnte, um ihre Schmerzen vor Alean zu verbergen. Das sanfte Mädchen mit den großen Rehaugen weinte nun fast ständig, so sehr machten ihr Schmerz und Angst und die Aussichtslosigkeit ihrer Lage zu schaffen.

Ehlana riß ihre Gedanken in die Gegenwart zurück und schaute sich verstohlen um. Der Abend war nicht mehr fern. Der wolkenbedeckte Himmel verdunkelte sich allmählich, und die Zeit, die Ehlana jeden Tag am meisten fürchtete, rückte unaufhaltsam näher.

Scarpa blickte voll Verachtung auf Keska, der wie eine welke Pflanze, der Erschöpfung nahe, in seinem Sattel zusammengesunken war. »Das ist weit genug!« rief er. »Schlagt das Lager auf und holt die Weibsen von den Pferden.« Seine harten Augen glänzten, als er Ehlana ins Gesicht blickte. »Es ist wieder Zeit, daß die schlampige Königin von Elenien um ihr Abendessen bettelt. Ich kann nur hoffen, daß sie es diesmal mit etwas größerer Überzeugungskraft und Hingabe tut. Es schmerzt mich, ihre Bitte abzuschlagen, wenn sie nicht demütig und unterwürfig genug dargebracht wird.«

»Ehlana«, flüsterte Krager und tippte ihr auf die Schulter. Das Feuer war zur Glut niedergebrannt, und Ehlana konnte von der anderen Seite ihres behelfsmäßigen Lagers Schnarchen hören.
»Ja?« fragte sie knapp.

»Nicht so laut!« Er trug immer noch das schwarze Lederwams der Peloi; sein geschorener Schädel setzte nur kärgliche Haarstoppeln an, und sein nach Wein riechender Atem war schier umwerfend. »Ich tue Euch einen Gefallen, also bringt mich nicht in Gefahr. Ich vermute, Euch ist inzwischen klar, daß Scarpa wahnsinnig ist.«

»Ach, wirklich?« erwiderte sie spöttisch. »Wer hätte das gedacht!«

»Bitte, macht es mir nicht noch schwerer. Offenbar habe ich mich einer kleinen Fehleinschätzung schuldig gemacht. Wäre mir bewußt gewesen, wie verrückt dieser halbstyrische Bastard ist, hätte ich mich nie bereit erklärt, bei diesem Abenteuer mitzumachen!«

»Was ist das für eine seltsame Faszination, die Euch immer wieder zu Geisteskranken zieht, Krager?«

Er zuckte die Schultern. »Möglicherweise mein eigener kleiner Wahnsinn, wer weiß? Scarpa bildet sich tatsächlich ein, er könne seinen Vater hintergehen, ja, sogar Cyrgon! Er glaubt nicht ernsthaft daran, daß Sperber Bhelliom hergeben wird, um Euch zurückzubekommen, und es ist ihm fast schon geglückt, auch die anderen davon zu überzeugen. Ich bin sicher, Ihr habt bemerkt, was er von Frauen hält.« »Das hat er oft genug bewiesen«, erwiderte sie verbittert. »Teilt er etwa Baron Harparins Vorliebe für Knaben?«

»Scarpa liebt nichts und niemanden außer sich selbst. Er ist seine einzige Leidenschaft. Ich habe gesehen, mit welcher Sorgfalt er stundenlang seinen Bart pflegt. Das gibt ihm Muße, sich im Spiegel zu bewundern. Ihr hattet noch keine Gelegenheit, seine liebenswerte Persönlichkeit in ihrer vollen Entfaltung zu erleben. Die Aufgaben auf dieser Reise halten seinen Geist beschäftigt, wie er es zu nennen beliebt. Aber wartet, bis wir erst in Natayos sind! Dann werdet Ihr sehen, wie er seinem Wahn freien Lauf läßt. Im Vergleich mit ihm kommen mir Martel und Annias wie die Vernunft in Person vor. Ich kann es nicht riskieren, zu lange zu bleiben, also hört gut zu. Scarpa glaubt, daß Sperber Bhelliom zwar mitbringen wird, wenn er kommt, aber er ist überzeugt, daß er ihn nicht mitbringt, um ihn gegen Euch auszutauschen, sondern daß Euer Gemahl nur kommt, um gegen Cyrgon zu kämpfen. Und Scarpa ist sicher, daß sie sich in diesem Kampf gegenseitig vernichten werden.«

»Sperber hat Bhelliom, Narr, und Bhelliom verspeist Götter zum Frühstück!« »Ich bin nicht hier, um mit Euch darüber zu streiten. Vielleicht würde Sperber als Sieger aus dem Kampf hervorgehen, vielleicht auch nicht. Aber das steht nicht zur Debatte. Entscheidend ist, daß Scarpa es glaubt. Und das tut er. Er hat sich eingeredet, daß Sperber und Cyrgon bis zur gegenseitigen Vernichtung kämpfen werden. Und was bleibt? Bhelliom! Scarpa glaubt, nach dem Kampf könne er Bhelliom wie einen Kieselstein vom Boden auflesen.« »Was ist mit Zalasta?«

»Scarpa rechnet nicht damit, daß Zalasta noch existiert, wenn der Kampf erst vorüber ist, da bin ich sicher. Scarpa ist bereit, jeden zu töten, der ihm im Weg steht.«
»Er würde seinen eigenen Vater umbringen?«

Krager zuckte die Schultern. »Blutsbande bedeuten Scarpa nichts. Vor längerer Zeit kam er auf den Gedanken, daß seine Mutter und seine Halbschwestern zu viel über ihn wußten, was die Behörden nicht erfahren sollten, deshalb tötete er sie. Doch er haßte sie ohnehin; deshalb hat das vielleicht nicht viel zu besagen. Falls Sperber und Cyrgon einander wirklich töten, und falls Zalasta während der Festlichkeiten plötzlich und unerwartet sein Leben läßt, könnte Scarpa der einzige Verbliebene sein, der Bhelliom tatsächlich in seinen Besitz bringt. Er hat eine ganze Armee in diesen Urwäldern, und wenn er obendrein noch über Bhelliom verfügt, könnte er seine wahnsinnigen Pläne verwirklichen. Er wird gegen Matherion marschieren, die Stadt einnehmen und die Regierung niedermetzeln. Dann krönt er sich selbst zum Kaiser. Ich persönlich setze allerdings dagegen. Also haltet um der Götter willen Euer Temperament im Zaum! Ihr seid für seine Pläne nicht von entscheidender Wichtigkeit, wohl aber für Zalastas Vorhaben – und die meinen. Wenn Ihr irgend etwas tut, das Scarpa in Rage bringt, wird er Euch so schnell umbringen, wie er Elron befahl, Eure Hofdame zu töten. Zalasta und ich sind der Meinung, daß Sperber Bhelliom gegen Euch austauschen wird – aber dazu müßt Ihr noch am Leben sein. Bringt diesen Wahnsinnigen nicht in Wut! Wenn er Euch tötet, ist es das Ende all unserer Pläne.«

»Warum erzählt Ihr mir das, Krager? Da ist doch noch etwas, oder?«

»Natürlich. Wenn die Sache für uns schiefgeht, möchte ich gern, daß Ihr bei der Verhandlung zu meinen Gunsten aussagt.«

»Ich fürchte, daraus wird nichts mehr«, entgegnete Ehlana mit bissiger Ironie. »Ihr werdet nicht vor Gericht gestellt, Krager. Sperber hat Euch bereits Khalad überlassen, und Khalad hat etwas anderes mit Euch vor.« »Khalad?« fragte Krager.

»Kuriks ältester Sohn. Er glaubt, daß Ihr am Tod seines Vaters beteiligt gewesen seid, und deshalb fühlt er sich verpflichtet, Euch zur Rechenschaft zu ziehen. Ich nehme an, Ihr könntet versuchen, es ihm auszureden – doch dann kann ich Euch nur raten, sehr, sehr schnell zu reden. Khalad ist kein Freund vieler Worte. Wahrscheinlich hängt Ihr schon vor einem Fleischerhaken, ehe Ihr den Mund aufgemacht habt.«

Krager schwieg und stahl sich davon. Sein geschorener Schädel schimmerte bleich in der Dunkelheit. Ehlana mußte sich eingestehen, daß sie keinen großen Sieg errungen hatte, doch in ihrer Lage boten Siege jeglicher Art wenigstens ein bißchen Befriedigung. »Tun sie das wirklich?« Scarpas rauhe Stimme verriet Gier.

»Es ist eine alte Sitte, Euer Liebden«, erwiderte Ehlana unterwürfig und hielt die Augen gesenkt, während sie auf dem schlammigen Pfad weiterritten. »Kaiser Sarabian beabsichtigt jedoch, damit Schluß zu machen.«

»Diese alte Sitte wird nach meiner Krönung sofort wieder eingeführt!« Scarpas Augen glänzten. »Es ist die angemessene Form, einem Menschen den gebührenden Respekt zu erweisen.« In grotesker Nachahmung der kaiserlichen Robe hatte Scarpa sich einen alten Purpurumhang, speckig und glänzend vom vielen Tragen, theatralisch über eine Schulter geschlungen. Nun warf er sich bei jeder Erklärung in lächerliche Posen.

»Wie es Euch beliebt, Freiherr Scarpa.« Es war mühsam, das gleiche immer wieder aufs neue durchzugehen, doch es hielt Scarpas Gedanken beschäftigt, und wenn seine Aufmerksamkeit voll auf die Zeremonien und Gebräuche am Kaiserhof von Matherion gerichtet war, dachte er sich keine neuen Grausamkeiten aus, mit denen er seinen Gefangenen das Leben unerträglich machen konnte.

»Beschreib es noch mal!« befahl er. »Ich will ganz genau wissen, wie es getan werden muß, damit ich jene bestrafen kann, die es nicht richtig machen!«

Ehlana seufzte. »Sobald sich der Kaiser nähert, knien die Hofleute nieder …«
»Auf beide Knie?«
»Ja, Euer Liebden.«

»Großartig! Einfach großartig!« rief er verzückt. »Weiter! Mach weiter!«

»Dann, während der Kaiser vorbeischreitet, beugen sie sich nach vorn, drücken ihre Handflächen auf den Boden und berühren mit der Stirn die Fliesen.«

»Wunderbar!« Plötzlich kicherte er. Es war ein so hoher, fast jungmädchenhafter Laut, daß Ehlana unwillkürlich zusammenfuhr. Sie musterte ihn aus den Augenwinkeln. Sein Gesicht war zu einem Ausdruck grotesken Fanatismus verzerrt. Plötzlich weiteten sich seine Augen, und seine Miene verriet eine beinahe religiöse Ekstase. »Und die Tamuler, die sich als Herren der Welt betrachten, werden von mir beherrscht!« Mit klingender, bombastischer Stimme rief er: »Alle Macht wird mein sein! Die Herrschaft über die Welt wird in meinen Händen liegen, und Ungehorsam wird mit dem Tode bestraft!«

Ehlana erschauerte, während er weiter in irrsinnigen Phantastereien schwelgte. Und wieder kam er zu ihr, als die feuchte Nacht sich über ihr schlammiges Waldlager senkte, angelockt und gefesselt von einem Hunger, ja, einer Gier, die er nicht im Zaum zu halten vermochte. Es war abstoßend, doch Ehlana wußte, daß gerade ihre Vertrautheit mit den traditionellen Hofzeremonien ihr eine enorme Macht über ihn verlieh. Sein Geltungsbedürfnis war unersättlich, und nur sie konnte es stillen. Hier war Scarpas schwache Stelle, hier hatte sie Macht über ihn – eine Macht, die ihr Kraft und Selbstvertrauen schenkte. Ja, sie fand sogar Gefallen daran, während Krager und die anderen sich in verängstigtem Abscheu zurückzogen.

»Neun Gemahlinnen, sagst du?« Scarpas Stimme klang beinahe flehend, als er fortfuhr: »Warum nicht neunzig? Warum nicht neunhundert?«

»So ist es Tradition, Freiherr Scarpa. Der Grund dafür dürfte offensichtlich sein.« »Oh, natürlich, natürlich.« Er grübelte mit finsterem Gesicht darüber nach. »Ich werde neuntausend haben!« erklärte er. »Und wenn ich mit ihnen fertig bin, überlasse ich sie meinen treuen Soldaten! Keine Frau soll es wagen, sich einzubilden, daß meine Gunst ihr auch nur die geringste Macht verliehe! Alle Frauen sind Huren! Ich werde sie kaufen und wegwerfen, sobald ich ihrer müde bin!« Seine Augen quollen schier aus dem Kopf, und er starrte ins Lagerfeuer. Die flackernden Flammen, die sich in diesen Augen spiegelten, schienen zu lodern und zu brodeln wie der Wahnsinn dieses Mannes.

Er lehnte sich vor und legte Ehlana verschwörerisch eine Hand auf den Arm. »Ich sah, was andere zu dumm sind zu sehen«, vertraute er ihr an. »Andere schauen, sehen jedoch nicht – aber ich sehe! O ja, ich sehe sehr gut. Sie stecken alle unter einer Decke, weißt du – alle! Sie haben mich immer beobachtet. Ich kann mich ihren Blicken nicht entziehen – sie beobachten, beobachten, beobachten – und reden, reden, reden hinter vorgehaltenen Händen, und hauchen einander ihren zimtgewürzten Atem ins Gesicht. Alle sind sie widerlich und verderbt – und alle haben sich gegen mich verschworen! Alle wollen mich zu Fall bringen! Ihre Augen – so sanft und verborgen, verschleiert von den Wimpern, welche die Dolche ihres Hasses verstecken – sie beobachten und beobachten mich.« Seine Stimme wurde immer leiser. »Und sie reden hinter vorgehaltenen Händen, damit ich nicht hören kann, was sie sagen. Sie wispern. Ich höre es ständig. Ich höre das säuselnde Zischeln ihres endlosen Wisperns. Ihre Blicke folgen mir, wohin ich auch gehe – genau wie ihr Lachen und ihr Wispern. Ich höre das Zischeln, Zischeln ihres Wisperns – des endlosen Wisperns –, immer mein Name – Ssscar-pa, Ssscar-pa. Wieder und wieder zischelt er in meinen Ohren. Sie wiegen ihre vollen Hüften und rollen die schwarz umrandeten Augen. Sie intrigieren und schmieden Ränke mit ihrem endlosen, säuselnden Wispern, stets auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, mir weh zu tun, mich zu erniedrigen.« Die Augen mit dem blaugetönten Weiß quollen aus den Höhlen, und an seinen Lippen und dem Bart klebten Spritzer seines Speichels. »Ich war nichts. Sie haben mich zu einem Nichts gemacht. Sie nannten mich Selgas Bastard und schenkten mir Kupferstücke, damit ich sie zu den Betten meiner Mutter und meiner Schwestern führe, und sie schlugen mich und spuckten mich an und lachten mich aus, wenn ich weinte, und sie gierten nach meiner Mutter und meinen Schwestern, und rings um mich war das Zischeln in meinen Ohren – und ich konnte ihn auch riechen – diesen süßen, widerlichen Gestank verderbten Fleisches und schaler Lust, der aus ihren feuchten, kloakengleichen Mündern quoll und wisperte …«

Plötzlich füllten sich seine von Wahnsinn gezeichneten Augen mit schrecklicher Angst. Er wich vor Ehlana zurück, stürzte und preßte das Gesicht in den Schlamm. »Bitte, Mutter!« wimmerte er. »Ich war's nicht! Silbie hat's getan! Bitte, sperr mich nicht wieder da drinnen ein! Bitte, nicht im Dunkeln! Bitte-bitte-bitte nicht im Dunkeln! Nicht im Dunkeln!« Er plagte sich auf die Füße und floh in den Wald und sein »Bittebitte-bitte« hallte wider und wider, bis es schließlich erstarb.

Plötzlich überwältigte ein schmerzhaftes, unerträgliches Mitleid Ehlana. Sie senkte den Kopf und weinte.

Zalasta wartete in Natayos auf sie. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert hatte Arjunas Kultur sich zu höchster Blüte entfaltet – eine Blüte, die hauptsächlich dem regen Sklavenhandel zu verdanken gewesen war. Eine schlecht vorbereitete Sklavenjagd in Südatan, vereint mit mehreren groben Verfahrensfehlern der tamulischen Verwaltungsbeamten jenes Gebiets, hatten zu einer zügellosen atanischen Strafexpedition mit schrecklichen Folgen geführt. Natayos war seinerzeit ein wahres Kleinod von Stadt gewesen, mit prächtigen Bauten und breiten Prunkstraßen. Jetzt war es eine Ansammlung vergessener, vom Dschungel überwucherter Ruinen. In den eingestürzten, von Schlingpflanzen umrankten Häusern und den einst so einladenden Hallen hausten nun keckernde Affen und farbenprächtige Tropenvögel, während die dunklen Keller und Winkel von Schlangen bewohnt wurden und von huschenden Ratten, ihrer Beute.

Doch inzwischen waren auch Menschen nach Natayos zurückgekehrt. Scarpas Armee war dort einquartiert, und Arjuner, Cynesganer und zusammengewürfelte Einheiten von Eleniern hatten das Viertel um das alte Nordtor der Stadt von Schlingpflanzen, Bäumen, Affen und Reptilien gesäubert, um es einigermaßen bewohnbar zu machen.

Zalasta stützte sich vor dem halbzerfallenen Tor auf seinen Stab. Sein silberbärtiges Gesicht war von Erschöpfung gezeichnet, und hoffnungsloser Schmerz sprach aus seinen Augen. Als sein Sohn mit seinen Gefangenen eintraf, war Zalastas erste Reaktion unbeherrschte Wut. Er fuhr Scarpa in Styrisch an, eine Sprache, die für Schelte offenbar außerordentlich geeignet war – und die Ehlana nicht verstand. Doch es bereitete ihr ungeheure Befriedigung, als sie die stumpfe Angst in Scarpas Gesicht erkannte. Aller Großspurigkeit und vorgetäuschter Überlegenheit zum Trotz schien Scarpa doch eine gewisse Achtung für den alten Styriker zu empfinden, der ihn zufällig gezeugt hatte. Aber zweifellos hatte er auch Angst vor ihm.

Ein einziges Mal nur – und offenbar tief gekränkt über irgend etwas, das Zalasta in abfälligem Ton zu ihm gesagt hatte – richtete Scarpa sich hoch auf und knurrte eine Erwiderung. Zalastas Reaktion darauf war heftig und unmittelbar. Mit einem harten Schlag seines Stabes brachte er seinen Sohn zum Taumeln; dann richtete er den Stab auf ihn und murmelte ein paar Worte. Eine winzige Feuerkugel löste sich aus der Spitze des Stabes und drang in den Leib des noch Taumelnden. Scarpa krümmte sich vor Qualen; seine Finger krallten sich in den Bauch, und seine gellenden Schmerzensschreie zerrissen die Luft. Er stürzte auf den schlammigen Boden, wo er mit Armen und Beinen hilflos um sich schlug. Zalasta, der den tödlichen Stab noch auf ihn gerichtet hielt, beobachtete seinen sich vor Schmerzen krümmenden Sohn mehrere, schier endlose Minuten mit kalten Augen.

»Verstehst du jetzt?« fragte er dann eisig und sprach zum erstenmal Tamulisch. »Ja! Ja, Vater!« schrillte Scarpa. »Ich flehe dich an, hör auf!«

Zalasta ließ ihn noch eine Zeitlang zappeln, sich winden und krümmen, dann erst hob er den Stab. »Du bist nicht der Herr hier!« sagte er scharf. »Du bist nichts weiter als ein nutzloser Irrer! Jeder einzelne hier könnte diese Armee besser befehligen als du! Also stelle meine Geduld nicht noch einmal auf die Probe! Das nächste Mal werde ich dem Zauber seinen natürlichen Lauf lassen, ob du nun mein Sohn bist oder nicht. Schmerz ist wie eine Krankheit, Scarpa. Nach ein paar Tagen – oder Wochen – beginnt der Körper zu verfallen. Ein Mensch kann vor Schmerz sterben. Zwing mich nicht, dir das zu beweisen!« Er drehte seinem bleichen, schwitzenden Sohn den Rücken zu. »Ich entschuldige mich, Majestät«, wandte er sich an Ehlana. »Das war nicht, was ich beabsichtigt hatte.« »Und was hattet Ihr beabsichtigt, Zalasta?« fragte sie kalt.

»Die Auseinandersetzung findet zwischen Eurem Gemahl und mir statt, Ehlana. Nie hätte ich auch nur daran gedacht, Euch solche Unannehmlichkeiten zu bereiten. Diesem Schwachkopf, der bedauerlicherweise mein Sohn ist, fiel nichts Besseres ein, als Euch zu mißhandeln. Ich verspreche Euch, daß er den Sonnenuntergang des Tages nicht erleben wird, an dem er es noch einmal versuchen sollte.«

»Ich verstehe. Die Erniedrigungen und Schmerzen waren nicht Eure Idee, wohl aber die Gefangennahme. Wo ist da der Unterschied, Zalasta?«

Der Styriker seufzte und rieb sich müde über die Augen. »Es ist erforderlich.« »Aus welchem Grund? Sephrenia wird sich Euch nie hingeben. Selbst wenn es Euch gelingt, Bhelliom und die Ringe in die Hände zu bekommen, könnt Ihr Sephrenias Liebe nicht erzwingen.«

»Es gibt noch andere Gesichtspunkte, Königin Ehlana«, entgegnete er bedrückt.
»Bitte nehmt Eure Kammermaid und kommt mit mir. Ich werde Euch zu Eurer Unterkunft bringen.«
»Irgendein Verlies, nehme ich an.«

Er seufzte. »Nein, Ehlana. Eure Gemächer sind sauber und bequem. Dafür habe ich selbst gesorgt. Eure Heimsuchung ist zu Ende, das verspreche ich.«

»Meine Heimsuchung, wie Ihr es nennt, wird erst zu Ende sein, wenn ich wieder mit meinem Gemahl und meiner Tochter vereint bin.«

»Was sehr bald der Fall sein wird, wie wir hoffen. Es liegt jedoch in Prinz Sperbers Hand. Er braucht lediglich die Anweisungen zu befolgen. – Eure Gemächer sind ganz in der Nähe. Bitte, folgt mir.« Er führte sie zu einem nahen Gebäude und schloß die Tür auf.

Ihr Gefängnis war beinahe luxuriös. Es bestand aus mehreren Schlafgemächern, einem Speisesaal, einem riesigen Salon und sogar einer eigenen Küche. Das Gebäude war vermutlich der Palast eines Edelmannes gewesen. Die oberen Stockwerke waren zwar längst zerstört, aber die Räumlichkeiten des Erdgeschosses, deren Decken von mächtigen Bogenstreben gestützt wurden, schienen unbeschädigt zu sein. Das bunt zusammengewürfelte Mobiliar war reich verziert, und auf dem Boden lagen Teppiche. Vor den Fenstern, an denen offenbar erst kürzlich starke Eisenstäbe befestigt worden waren, wie Ehlana bemerkte, flatterten bunte Vorhänge. Die offenen Kamine waren riesig, und in allen brannten lodernde Feuer – wohl nicht so sehr, um die geringe Kälte arjunischer Winter abzuwehren, sondern um die Räume zu trocknen, die mit modriger Feuchtigkeit von über tausend Jahren Unbewohntsein durchdrungen waren.

Es gab Betten, frisches Leinen und Kleidung arjunischen Schnittes. Doch am wichtigsten für Ehlana war der großzügige Raum mit der riesigen, in den Boden eingelassenen Marmorwanne. Ehlanas Blicke blieben sehnsüchtig an diesem ungeheuren Luxus haften. Ihre Aufmerksamkeit war so sehr davon gebannt, daß sie Zalastas Entschuldigungen kaum hörte. Nachdem sie ein paarmal vage darauf geantwortet hatte, erkannte der Styriker, daß seine weitere Anwesenheit hier nicht mehr geschätzt wurde. Er verabschiedete sich höflich und ging.

»Alean, Liebes«, sagte Ehlana beinahe verträumt, »das ist eine riesige Wanne – bestimmt groß genug für uns beide, meint Ihr nicht?«

Alean starrte mit unverhohlenem Verlangen auf die Wanne »Ganz gewiß, Majestät.« »Wie lange, glaubt Ihr, würden wir brauchen, genügend Wasser zu erwärmen, daß wir die Wanne füllen können?«

»In der Küche habe ich viele große Töpfe und Kessel gesehen, meine Königin«, sagte das sanfte Mädchen. »Und in allen Kaminen brennen Feuer. Es dürfte gar nicht so lange dauern.« »Wundervoll!« rief Ehlana begeistert. »Fangen wir an!«

»Wer ist dieser Klæl eigentlich genau, Zalasta?« fragte Ehlana einige Tage später, als er ihr wieder einmal seine Aufwartung machte. Zalasta besuchte sie oft in ihrem Gefängnis, als würde dies seine Schuldgefühle ein wenig mildern, und stets redete er fast ohne Unterlaß – mitunter Unzusammenhängendes, das häufig mehr offenbarte, als er wahrscheinlich beabsichtigte.

»Klæl ist ein Wesen, das ewig lebt«, antwortete er. Ehlana fiel auf, daß der starke Akzent seines Elenisch – der sie so irritiert hatte, als sie sich in Sarsos zum erstenmal begegnet waren – nun verschwunden war. Noch einer seiner Tricks, schloß sie. »Und dadurch unterscheidet sich Klæl von den vergänglichen Göttern dieser Welt«, fuhr Zalasta fort. »Es gibt irgendeine geheimnisvolle Verbindung zwischen ihm und Bhelliom. Sie sind entgegengesetzte Prinzipien oder so etwas. Ich war ein wenig verwirrt, als Cyrgon mir ihre Beziehung erklärte; deshalb verstand ich es nicht ganz.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen«, murmelte Ehlana. Ihr Verhältnis zu Zalasta war eigenartig. Wütende Tiraden und Vorwürfe wären nur Zeitvergeudung gewesen; deshalb war Ehlana höflich zu ihm. Zalasta schien dankbar dafür zu sein, und diese Dankbarkeit äußerte sich in einer gewissen Offenheit. Diese Höflichkeit, die sie nichts kostete, ermöglichte es ihr, aus den oft unzusammenhängenden Monologen des Styrikers unbeabsichtigt viel zu erfahren.

»Wie auch immer«, fuhr Zalasta fort. »Cyzada war zu Tode erschrocken, als Cyrgon ihm befahl, Klæl zu beschwören, und der Priester tat sein Bestes, dem Gott dieses Ansinnen auszureden. Doch Cyrgon war unerbittlich, und er kochte vor Wut, als Sperber ihm die Trolle wegnahm. Nie hatten wir mit der Möglichkeit gerechnet, daß Sperber die Trollgötter aus ihrem Gefängnis freilassen würde.«

»Das war Ritter Ulaths Idee«, erklärte Ehlana. »Ulath weiß so manches über Trolle.« »Offenbar. Wie dem auch sei – Cyrgon zwang Cyzada, Klæl zu rufen. Doch kaum war Klæl erschienen, machte er sich sofort auf die Suche nach Bhelliom. Cyrgon war zutiefst bestürzt. Er hatte Klæl in Reserve halten, ihn sozusagen verstecken wollen, um ihn dann unerwartet auf Sperber zu hetzen. Das ging gründlich schief, als Klæl sogleich zum Nordkap eilte, um Bhelliom zu stellen. Sperber weiß nun, daß Klæl jetzt hier ist – ich habe allerdings keine Ahnung, was er dagegen unternehmen kann. Das ist es ja gerade, was die Beschwörung Klæls von vornherein zu einem so gefährlichen Unternehmen macht: Es gibt keine Kontrolle über dieses Wesen. Ich habe mich bemüht, es Cyrgon zu erklären, doch er hat mir gar nicht zugehört. Unser einziges Ziel ist der Besitz Bhellioms, und Klæl und Bhelliom sind Erzfeinde. Sobald Cyrgon Bhelliom in die Hand bekommt, wird Klæl ihn angreifen, und ich bin so gut wie sicher, daß Klæl weit mächtiger ist als er.« Zalasta schaute sich vorsichtig um. »Die Cyrgai sind in vielerlei Hinsicht ein Abbild ihres Gottes, fürchte ich. Cyrgon verabscheut jegliche Art von Intelligenz. Manchmal ist er wirklich erschreckend dumm.«

»Ich weise nur ungern darauf hin, Zalasta«, log Ehlana, »aber Ihr habt die Neigung, Euch Verbündete zu erwählen, die geistig nicht zurechnungsfähig oder verblendet sind. Annias war recht schlau, nehme ich an, doch seine Besessenheit, Erzprälat zu werden, hat sein Urteilsvermögen erheblich getrübt. Martel wurde von seiner Rachsucht in den Wahnsinn getrieben, und nach allem, was ich über Otha hörte, war er so dumm wie ein Klotz. Und Azash hatte nichts anderes im Kopf als die Befriedigung seiner primitiven Bedürfnisse. Vernünftiges Denken war ihm fremd.« »Ihr wißt alles, nicht wahr, Ehlana? Wie, in aller Welt, habt Ihr das herausgefunden?« »Ich bin nicht befugt, darüber zu reden«, antwortete sie.

»Na ja, es spielt wohl auch keine Rolle«, murmelte er abwesend. Ein Ausdruck plötzlichen Verlangens huschte über seine Züge. »Wie geht es Sephrenia?« »Ziemlich gut. Anfangs war sie freilich sehr bestürzt – nachdem sie alles über Euch erfahren hatte –, und Euer Anschlag auf Aphraels Leben war wirklich unüberlegt, wißt Ihr. Erst dadurch ließ Sephrenia sich von Eurem Verrat überzeugen.«

»Ich habe den Kopf verloren«, gestand er. »Diese verdammte Delphae hat mit einem Wimpernzucken dreihundert Jahre geduldiger Arbeit vernichtet!«

»Es geht mich wohl nichts an, aber warum habt Ihr Euch nicht einfach damit abgefunden, daß Sephrenia sich voll und ganz Aphrael verschrieb? Ihr könnt Euch unmöglich gegen die Kindgöttin behaupten, wißt Ihr.«

»Hättet Ihr Euch damit abfinden können, wenn Sperber sich einer anderen verschrieben hätte, Ehlana?« fragte er anklagend.

»Nein«, gab sie zu. »Ich glaube nicht. Aus Liebe tun wir seltsame Dinge, nicht wahr, Zalasta? Aber ich bin wenigstens offen vorgegangen. Es hätte anders für Euch ausgehen können, wenn Ihr Euch nicht für Falschheit und Täuschung entschieden hättet. Aphrael ist nicht völlig unvernünftig.«

»Mag sein«, murmelte er. Dann seufzte er abgrundtief. »Aber das werden wir nie erfahren, nicht wahr?«
»Nein. Dazu ist es jetzt viel zu spät.«

»Der Glaser hat den Sprung in der Scheibe verursacht, als er sie in den Fensterrahmen fügte, meine Königin.« Alean deutete auf das beschädigte Butzenglas in der unteren Fensterecke. »Er war sehr ungeschickt.« »Woher wißt Ihr so viel darüber, Alean?« fragte Ehlana.

»Mein Vater ging bei einem Glaser in die Lehre, als er noch sehr jung war«, erklärte das rehäugige Mädchen. »In unserem Dorf hat er die Fenster instand gesetzt.« Mit der glühenden Spitze des Schürhakens berührte sie das Bleiband, das die gesprungene Scheibe im Rahmen hielt. »Ich muß sehr behutsam vorgehen.« Sie runzelte angespannt die Stirn. »Aber wenn ich es richtig mache, kann ich es so hinkriegen, daß wir dieses Stück herausnehmen und wieder einfügen können. Dann können wir alles hören, was draußen auf der Straße gesprochen wird. Danach setzen wir es wieder ein, so daß niemand weiß, was wir getan haben. Ich hab' mir gedacht, daß Ihr diese Kerle, die sich aus irgendeinem Grund immer vor dem Fenster treffen, vielleicht belauschen möchtet.«

»Ihr seid ein wahrer Schatz, Alean!« Impulsiv umarmte Ehlana das Mädchen. »Vorsicht, meine Königin!« rief Alean erschrocken. »Das heiße Eisen!«

Alean hatte recht, was die Männer betraf. Das Fenster mit der geflickten Scheibe befand sich an der Ecke des Hauses, und Zalasta, Scarpa und die anderen waren im Anbau untergebracht. Wann immer sie über etwas außer Hörweite der Soldaten reden wollten, trafen sie sich in der Nische unmittelbar vor dem Fenster. Durch die kleinen Scheiben aus billigem Butzenglas war kaum etwas zu sehen, und so ermöglichte es Aleans kleiner Kunstgriff, daß Ehlana lauschen und sogar ein wenig beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

Am Tag nach ihrem Gespräch mit Zalasta sah sie den weißgewandeten Styriker mit einem Ausdruck düsterster Schwermut näher kommen, dicht gefolgt von Scarpa und Krager. »Du mußt wieder zu dir kommen, Vater!« drängte Scarpa ihn. »Sogar die Soldaten bemerken es schon.« »Sollen sie doch!« antwortete Zalasta barsch.

»Nein, Vater!« widersprach Scarpa mit klangvoller Bühnenstimme. »Auf gar keinen Fall! Diese Männer sind Tiere. Sie sind selbständigen Denkens nicht fähig. Wenn du mit dem Gesicht eines kleinen Jungen, dessen Hund soeben verreckt ist, durch die Straßen läufst, werden die Männer glauben, daß irgend etwas schiefgegangen ist, und gleich regimentweise desertieren. Es hat mich zu viel Zeit und Mühe gekostet, diese Armee aufzustellen, als daß du sie mir nun mit deinem Selbstmitleid vertreiben darfst.«

»Du würdest es nie verstehen, Scarpa«, entgegnete Zalasta. »Du weißt ja nicht einmal, was Liebe ist. Du liebst nichts und niemanden.«

»O doch, Vater«, fuhr Scarpa auf. »Ich liebe mich. Das ist die einzig sinnvolle Art von Liebe.«

Zufällig beobachtete Ehlana in diesem Moment Krager. Der Säufer hatte die Augen nachdenklich zusammengekniffen. Unauffällig hob er seinen offenbar allgegenwärtigen Humpen hinter den Rücken und goß den größten Teil des Weines aus, ehe er das Trinkgefäß an die Lippen hob und unüberhörbar den Rest schlürfte. Dann rülpste er lautstark, murmelte mit schwerer Zunge: »'tschuldigung«, taumelte hin und her und versuchte, sich mit ausgestreckter Hand an die Mauer zu stützen. Scarpa bedachte ihn gereizt mit einem flüchtigen Blick und kümmerte sich offenbar nicht mehr um ihn – im Gegensatz zu Ehlana, die ihn nachdenklich musterte. Krager war nicht immer auch nur annähernd so betrunken, wie es den Anschein hatte. »Es war alles umsonst, Scarpa!« jammerte Zalasta. »Ich habe mich für nichts und wieder nichts mit den Aussätzigen, den Entarteten und den Irren verbündet. Ich hatte mir eingebildet, Sephrenia würde sich mir zuwenden, wenn Aphrael nicht mehr wäre. Aber das würde sie niemals tun! Sie würde lieber sterben, als sich mit mir abzugeben!«

Scarpas Pupillen verengten sich. »Dann laß sie doch sterben!« sagte er barsch. »Willst du denn nicht einsehen, daß eine Frau wie die andere ist? Frauen sind Gebrauchsgegenstände – wie Heuballen oder Weinfässer. Sieh dir doch Krager an! Was glaubst du, was er von einem leeren Weinfaß hält? Die neuen, die vollen, die liebt er! Nicht wahr, Krager?«

Krager grinste ihn kurzsichtig an; dann rülpste er aufs neue, »'tschuldigung«, lallte er. »Ich sehe wirklich keinen Grund für deine Besessenheit«, fuhr Scarpa fort, in Zalastas offener Wunde zu stochern. »Sephrenia ist jetzt nur noch Ware aus zweiter Hand. Vanion hatte sie – Dutzende von Malen. Bist du schon so sehr am Boden zerstört, daß du nimmst, was ein Elenier für dich übrigläßt?«

Vor Wut und Enttäuschung knurrend, schmetterte Zalasta die Faust gegen die Steinwand.

»Vanion ist es wahrscheinlich so sehr gewohnt, sie zu haben, daß er nicht einmal mehr Zeit damit vergeudet, ihr Zärtlichkeiten zuzuflüstern«, bohrte Scarpa weiter. »Er nimmt sich von ihr, was er will, dreht sich um und fängt zu schnarchen an. Du weißt doch, wie Elenier sind, wenn sie in einen gewohnten Trott verfallen. Und Sephrenia ist wahrscheinlich keinen Deut besser. Vanion hat eine Elenierin aus ihr gemacht, Vater. Sie ist keine Styrikerin mehr! Sie ist eine Elenierin geworden – oder noch schlimmer, ein Bastard.« Höhnisch verzog er das Gesicht. »Sie ist nicht besser, als meine Mutter und meine Schwestern es waren – und du weißt ja, was sie waren!« Zalasta verzog schmerzvoll das Gesicht. Er warf den Kopf zurück und heulte regelrecht: »Dann wäre sie mir tot lieber!«

Das bleiche, bärtige Gesicht Scarpas nahm einen verschlagenen Ausdruck an. »Warum tötest du sie dann nicht, Vater?« fragte er mit verschwörerischem Flüstern. »Wenn eine anständige Frau erst einmal von einem Elenier ins Bett gelockt wurde, ist ihr nie mehr zu trauen, weißt du. Selbst wenn du sie dazu bringen könntest, dich zu heiraten, würde sie niemals treu sein.« Heuchlerisch legte er eine Hand auf Zalastas Arm. »Töte sie, Vater!« riet er ihm. »Dann bleiben wenigstens deine Erinnerungen an sie unbefleckt. Sie ist es nicht mehr!«

Wieder heulte Zalasta auf und krallte die langen Fingernägel in seinen Bart. Dann drehte er sich rasch um und rannte die Straße entlang davon.

Krager richtete sich auf, und seine scheinbare Trunkenheit schwand. »Ihr seid da ein großes Risiko eingegangen, ist Euch das bewußt?« sagte er vorsichtig.

Scarpa blickte ihn scharf an. »Sehr gut, Krager«, murmelte er. »Ihr habt die Rolle des Besoffenen wirklich glaubhaft gespielt.«

»Ich habe viel Übung.« Krager zuckte die Schultern. »Ihr könnt von Glück reden, daß er Euch nicht ausgelöscht hat, Scarpa – oder noch einmal glühende Blitze durch Eure Gedärme gejagt hat!«

»Dazu war er gar nicht imstande«, erklärte Scarpa höhnisch. »Ich bin selbst ein recht guter Magier und habe genug Erfahrung, um zu wissen, daß man einen klaren Kopf haben muß, will man Zauber wirken. Ich habe dafür gesorgt, daß seine Wut sich immer mehr steigerte. Er hätte nicht einmal genug Zauberkraft aufgebracht, um ein Spinnennetz zu zerreißen. Hoffen wir, daß er Sephrenia auch wirklich tötet! Das würde Sperber den Verstand rauben. Ganz zu schweigen davon, daß Zalasta sich wahrscheinlich selbst die Kehle durchschneidet, wenn die Begierde seines Lebens nur noch ein Klumpen totes Fleisch ist.« »Ihr haßt ihn zutiefst, nicht wahr?«

»Das würdet Ihr an meiner Stelle auch, Krager. Er hätte mich mitnehmen können, als ich ein Kind war, aber er hat mich nur hin und wieder besucht und mir gezeigt, was es bedeutet, ein Styriker zu sein. Dann ging er allein wieder fort und ließ mich zurück, damit die Huren mich peinigen konnten. Wenn er nicht den Mumm hat, sich selbst die Kehle durchzuschneiden, werde ich ihm liebend gern dabei helfen.«

Scarpas Augen glänzten, und er lächelte breit. »Wo ist Euer Weinfaß, Krager? Ich habe jetzt Lust, mich vollaufen zu lassen.« Er brach in Gelächter aus. Es war ein kicherndes, irres Lachen, freudlos und unmenschlich.

»Es hat keinen Sinn!« Ehlana schleuderte den Kamm durch das Gemach. »Seht Euch nur an, was sie mit meinem Haar gemacht haben!« Sie vergrub das Gesicht in den Händen und weinte.

»Es ist keineswegs hoffnungslos, meine Königin«, versicherte Alean ihr sanft. »Ich kenne da eine Frisur, die in Cammorien beliebt ist.« Sie hob die Fülle platinblonden Haares von Ehlanas rechter Schulter und schlang sie ihr über den Kopf. »Seht Ihr?« sagte sie. »So bedeckt es die geschorenen Stellen, und es schaut obendrein sehr elegant aus.«

Ehlana blickte hoffnungsvoll in den Spiegel. »Es sieht tatsächlich gar nicht so schlecht aus«, gab sie zu.

»Und wenn wir unmittelbar hinter Eurem rechten Ohr eine Blume hineinstecken, werdet Ihr umwerfend aussehen.«

»Alean, Ihr seid wundervoll!« rief die Königin glücklich. »Was würde ich ohne Euch tun?«

Sie brauchten über eine Stunde, aber schließlich waren die häßlichen kahlen Stellen bedeckt. Ehlana fand, daß ihre Würde wenigstens zum Teil wiederhergestellt war. Doch an diesem Abend stattete Krager ihnen einen Besuch ab. Er stand schwankend an der Tür, mit roten, verschleierten Augen und hämischem Grinsen. »Wieder mal Erntezeit, Ehlana«, verkündete er und zog seinen Dolch. »Sieht ganz so aus, als brauchte ich noch ein wenig von Eurem Haar.«