14

»Du darfst dich jetzt umdrehen, Sperber.« »Hast du etwas an?«

Sie seufzte. »Einen Moment noch.« Ein seidiges Rauschen war zu hören. »Genügt dir das?« fragte sie spöttisch.

Er drehte sich um. Die Göttin hatte sich in eine schimmernde weiße Robe gehüllt.
»So ist es ein bißchen besser«, brummte er.
»So was von prüde! Gib mir die Hand.«
Er ergriff ihre schmale Hand. Dann schwebten sie himmelwärts, aus den bewaldeten Hügeln östlich von Dirgis hinaus. »Sarna liegt südsüdwestlich von hier«, erklärte er ihr.
»Ich weiß, wo es liegt!« entgegnete sie scharf.
»Ich wollte doch nur helfen!«

Während sie durch die Lüfte eilten, floß unter ihnen der Boden rasch rückwärts dahin.

»Kann man uns vom Erdboden aus sehen?« fragte Sperber neugierig. »Natürlich nicht. Warum?«

»Na ja, es könnte so manche verrückte Geschichte in den Volkssagen erklären.« »Ihr Menschen habt eine bemerkenswerte Phantasie. Ihr könnt auch ohne unser Zutun verrückte Geschichten erfinden.«

»Du bist heute nicht gerade bester Laune. Wie lange werden wir bis Sarna brauchen?«
»Nur ein paar Minuten.«
»Fliegen ist eine interessante Art zu reisen.«
»Es wird überbewertet.«

Sie glitten eine Zeitlang schweigend dahin, bis Aphrael rief: »Das dort ist Sarna!« »Glaubst du, daß Vanion bereits eingetroffen ist?«

»Das bezweifle ich. Aber ich nehme an, irgendwann am heutigen Tag wird er schon noch kommen. So, wir landen jetzt.« Aphrael ging auf einer Lichtung nieder, etwa eine Meile vom Nordrand der Stadt, und nahm wieder die vertrautere Gestalt Flötes an. »Trag mich«, forderte sie Sperber auf und streckte die Ärmchen zu ihm empor. »Du könntest ruhig mal zu Fuß gehen!«

»Ich habe dich den weiten Weg von Dirgis bis hierher getragen. Also, komm schon, Sperber!«

Er lächelte. »Ich wollte dich nur ärgern, Aphrael.« Er hob sie auf die Arme und schritt durch den Wald in Richtung Stadt. »Wohin?« erkundigte er sich.

»Zur atanischen Kaserne. Vanion sagte, daß Itagne dort ist.« Sie runzelte die Stirn.
»Also, das ist wirklich unglaublich!« rief sie verärgert.
»Was ist los?«
»Ritter Anosian ist ein hoffnungsloser Stümper! Ich komme mit seiner Botschaft beim besten Willen nicht klar!«
»Wo ist er denn?«

»In Samar. Er versucht, mir etwas mitzuteilen, was Kring und Tikume eben herausgefunden haben. Doch es kommt nur etwa jedes dritte Wort durch. Dieser Mann hat seine Hausaufgaben nicht gemacht! Er kann sich einfach nicht konzentrieren.« »Na ja, Anosian ist ein bißchen … wie soll ich sagen …« »Faul ist das Wort, nach dem du suchst, Sperber.«

»Er setzt seine Energie sehr sparsam ein«, verteidigte Sperber seinen Mitpandioner. »Natürlich …« Sie zog die Stirn kraus. »Einen Moment mal …« »Was ist los?«

»Ich dachte gerade, daß Tynian vermutlich nicht sehr wählerisch war, als er in Chyrellos die Ritter um sich scharte.«

»Er brachte die besten Männer mit, die er bekommen konnte.«

»Ich glaube, gerade da liegt das Problem! Ich hab' mich schon die ganze Zeit gefragt, weshalb keine Meldungen von Komier kommen. Ich fürchte, Tynian ließ ihm nicht einen Pandioner, der weniger unbegabt ist als Anosian. Ihr seid nicht gar so viele, die sich gedanklich weiter als ein paar Meilen verständlich machen können, und offenbar hat Tynian sie alle um sich geschart.«

»Konntest du dir denn gar keine Vorstellung machen, was Anosian mitteilen wollte?« »Es hatte irgendwas mit dem Atmen zu tun. Jemand hat Schwierigkeiten damit. Ich werde selbst mal nach ihm sehen, sobald wir mit Itagne gesprochen haben. Vielleicht kann Anosian sich verständlicher ausdrücken, wenn ich im gleichen Zimmer bin wie er.« »Sei nett.«

Sie schritten durch das Stadttor, und Sperber trug die Kindgöttin durch die schmalen Straßen zur düsteren steinernen Festung, in der die hiesige atanische Kaserne untergebracht war.

Sie fanden den rot berobten Itagne in einem Konferenzsaal, wo er eine wandgroße Karte studierte.
»Ah, Itagne«, sagte Sperber, »da seid Ihr ja!«
Er setzte Flöte ab.
»Ich fürchte, ich hatte noch nicht das Vergnügen …«
»Ich bin es, Itagne – Sperber.«
»Daran werde ich mich nie gewöhnen! Ich dachte, Ihr seid in Beresa.«
»War ich auch – bis gestern.«
»Wie seid Ihr so schnell hierher gekommen?«

Sperber legte eine Hand auf Flötes Kinderschulter. »Bedarf es einer Erklärung?« »Oh! Und was führt Euch nach Sarna?«

»Vanion stand in der Wüste einem gefährlichen Feind gegenüber und mußte den Rückzug befehlen. Er kommt hierher. Betuana und er bringen Engessa auf einer Bahre mit.«

»Wollt Ihr damit sagen, jemand auf dieser Welt ist stark genug, Engessa zu verwunden?«

»Vielleicht niemand von dieser Welt, Itagne«, antwortete Aphrael. »Offenbar hat Klæl eine Armee aus einer anderen Welt mitgebracht. Es sind sehr seltsame Gestalten. Vanion und Betuana dürften am Nachmittag hier sein. Dann muß Betuana sofort auf atanischen Boden. Wie weit ist das von hier?« Itagne blickte auf die Karte. »Fünfundvierzig Meilen.«

»Gut. Dann wird sie nicht sehr lange brauchen. Ehe ich Engessa auf meine Insel schaffen kann, braucht sie die Einwilligung ihres Gottes. Eine Seite seines Schädels wurde eingeschlagen. Das kann ich hier nicht heilen.« »Großer Gott!« entfuhr es Itagne. »Was tut sich sonst?«

»Bedauerlicherweise eine Menge«, erwiderte Sperber. »Zalasta hat versucht, Sephrenia zu ermorden.«
»Das kann nicht Euer Ernst sein!«

»Ist es aber leider. Wir mußten Bhelliom einsetzen, um ihr Leben zu retten.« »Sperber!« Itagnes Augen weiteten sich vor Bestürzung.

»Ist schon gut, Itagne«, beruhigte Aphrael ihn. Sie ging auf ihn zu und streckte ihm die Hände entgegen.

»Gefährdet das nicht Königin Ehlana?« Itagne hob die Kindgöttin auf die Arme. Sperber schüttelte den Kopf. »Xanetia kann diese verräterischen Geräusche unhörbar machen. Ehlana ist dadurch in keine zusätzliche Gefahr geraten – zumindest hat Bhelliom mir dies versichert.« »Dem Himmel sei Dank!«

»Na ja, eigentlich war es Bhellioms Idee«, warf Aphrael ein. »Aber wir haben immer noch einige Probleme. Vanions Zusammenstoß mit Klæls Armee hat ihn etwa die Hälfte seiner Ritter gekostet.«

»Das ist ja furchtbar! Ohne diese Männer werden wir Samar nicht halten können!« »Das ist gar nicht so sicher, Itagne«, beruhigte Aphrael ihn. »Ich habe aus Samar eine Nachricht von einem Pandioner namens Anosian erhalten. Sie ist zwar in einem argen Kauderwelsch, aber ich konnte ihr zumindest soviel entnehmen, daß Kring und Tikume irgend etwas Wichtiges über Klæls Soldaten herausgefunden haben. Ich werde mich umgehend nach Samar begeben und feststellen, was da vor sich geht.« »Klæl läßt Berit und Khalad nicht aus den Augen«, fuhr Sperber fort. »Sie haben ihn gesehen, als sie das Binnenmeer von Arjun überquerten.« Er fuhr sich übers Gesicht. »Fällt dir noch etwas ein, Aphrael?«

»Eine Menge. Aber es hat nicht so viel mit dem Grund unseres Hierseins zu tun.« Sie küßte Itagne und rutschte von ihm hinunter, bis sie zwischen den beiden Männern stand. »Ich werde nicht sehr lange brauchen«, versprach sie. »Falls Vanion eintrifft, ehe ich zurück bin, dann bringt ihm die Neuigkeit über Sephrenia schonend bei und versichert ihm, daß sie bald wieder ganz gesund ist. Paßt gut auf ihn auf, meine Herren. Wir haben Winter, und das Dach dieses Gebäudes wird noch gebraucht.« Sie ging zur Tür, öffnete sie und verschwand, während sie über die Schwelle stieg.


Tiana lag am Nordufer des großen Sees, den man das Binnenmeer von Arjun nannte. Es war eine betriebsame tamulische Stadt mit einem sehr großen Hafen. Sobald der heruntergekommene Frachter anlegte, führten Berit und Khalad ihre Pferde von Bord und saßen auf. »Wie heißt doch dieser Gasthof gleich?« fragte Khalad. »›Zur weißen Möwe‹«, antwortete Berit. »Wie poetisch!«

»Andere Wirte hatten die üblichen Namen vermutlich bereits für ihre Schenken benutzt. Es wäre zu verwirrend, in einer Stadt mehr als einen Löwen, Drachen, Eber oder dergleichen zu haben.«

»Nach und nach gibt Krager uns genauere Hinweise«, stellte Khalad fest. »Als er uns nach Sopal schickte, nannte er nur den Namen der Stadt. Jetzt sucht er schon die Herberge für uns aus. Das könnte bedeuten, daß wir uns allmählich dem Ende unseres kleinen Ausflugs nähern.«

»Ritter Ulath sagte, daß sie uns von hier aus nach Arjuna schicken werden.«
»Wenn ich gewußt hätte, daß wir soviel Zeit rund um diesen See verbringen würden, hätte ich eine Angel mitgenommen.«
»So scharf auf Fisch bin ich persönlich nicht.«

»Wer ist das schon? Aber es ist eine gute Ausrede, ins Freie zu kommen. Meine Brüder und ich haben festgestellt, daß unsere Mütter immer irgendwas für uns zu tun finden, wenn wir uns zu lange ums Haus herum aufhalten.«

»Ihr habt eine merkwürdige Familie, Khalad. Fast alle anderen Menschen haben nur eine Mutter.«

»Es war Vaters Idee. – Dort ist die ›Weiße Möwe‹.« Khalad deutete die Straße hinauf.

Der Gasthof war erstaunlich sauber und gediegen, mit gepflegten Stallungen und überaus reinlichen Zimmern. Die beiden jungen Männer kümmerten sich um ihre Pferde, verstauten ihre Sattelbeutel in ihrem Zimmer und begaben sich sogleich in das Badehaus an der Hinterseite des Gasthofes.

Nach dem Bad fühlten sie sich sogleich viel besser und setzten sich in die Schankstube, um bei einem Krug Bier die Zeit bis zum Abendessen angenehm zu vertreiben. Khalad erhob sich vom Tisch und betrachtete eingehend den Porzellanofen. »Das ist eine interessante Idee«, wandte er sich an Berit. »Ich frage mich, ob sie in Eosien Freunde finden würde.« »Ich persönlich blicke gern in die Flammen«, erklärte Berit.

»Wenn das alles ist, kannst du ja Kerzen anstarren, so lange du willst. Ein offenes Feuer gibt nicht halb soviel Wärme, aber doppelt soviel Schmutz wie ein Ofen, auf dem man außerdem noch kochen kann. Wenn wir erst wieder zu Hause sind, werde ich einen für meine Mütter bauen.«

Berit lachte. »Wenn du ihre Küche auseinandernimmst, wirst du ihre Besen zu spüren bekommen!«

»Das glaube ich nicht. Ein Eintopf ohne Asche und Ruß könnte ihnen gefallen.« Der Mann, der auf ihren Tisch zukam, trug einen Kittel mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze. »Es stört euch doch nicht, wenn ich euch Gesellschaft leiste?« fragte er und schob die Kapuze ein wenig zurück.

Es war derselbe Styriker, den sie zuletzt an der Bucht von Micae gesehen hatten. »Ihr kommt rasch herum, Nachbar«, sagte Berit. »Aber im Gegensatz zu uns habt Ihr Euer Ziel immer gekannt.«

»Wie lange hat es gedauert, bis Ihr wieder trocken wart?« fragte Khalad.

»Lassen wir dieses Gerede«, sagte der Styriker kalt. »Ich habe neue Anweisungen für Euch.«

»Oh! Ihr seid nicht hergekommen, um unsere Bekanntschaft zu vertiefen?« fragte Khalad. »Da bin ich bitter enttäuscht.«

»Sehr komisch. Ich werde jetzt in meine Tasche greifen, um den Brief herauszuholen. Also zieht nicht gleich Eure Messer.«

»Ich käme gar nicht auf diese Idee, alter Junge«, versicherte Khalad ihm feixend. »Das ist für Euch, Sperber.« Der Styriker händigte Berit das versiegelte Pergament aus.

Berit öffnete es. Behutsam nahm er das kleine Büschel Haar von Königin Ehlana heraus; dann las er laut: ›Sperber, begebt Euch auf dem Landweg nach Arjun. Dort erhaltet Ihr weitere Anweisungen. Krager.‹»Er muß betrunkener gewesen sein als üblich«, bemerkte Khalad. »Diesmal hat er sich gar keine Mühe mit höhnischen Bemerkungen gemacht. Reine Neugier, Freund – warum hat er uns von Sopal aus nicht geradenwegs nach Arjun geschickt? Er hätte allen eine Menge Zeit sparen können.«

»Das geht Euch wirklich nichts an, Elenier. Ihr habt lediglich die Anweisungen zu befolgen.«

»Ich bin ein Bauer, Styriker, und gewöhnt, zu gehorchen. Prinz Sperber jedoch könnte ein wenig ungeduldig werden, und Ungeduld macht ihn sehr übellaunig.« Khalad blinzelte ins fleischige Gesicht des Boten. »Da wir gerade bei diesem Thema sind, möchte ich Euch einen freundlichen Rat geben, alter Junge. Von hier nach Arjun sind es etwa zwanzig Tagesritte. Bis wir dort ankommen, wird Sperber noch übellauniger sein als sonst. Solltet Ihr ihm auch die nächste Botschaft überbringen müssen, würde ich ihm an Eurer Stelle nicht zu nahe kommen.«

»Ich glaube, wir finden schon eine Möglichkeit für ihn, seine schlechte Laune abzureagieren«, entgegnete der Styriker hämisch. »Ihr habt keine zwanzig Tage, Arjun zu erreichen. Ihr müßt in vierzehn Tagen dort sein!« Er erhob sich. »Kommt nicht zu spät!« Er drehte sich um und schritt zur Tür.
»Gehen wir!« sagte Khalad.
»Wohin?«
»Ihm nach.«
»Wozu?«

Khalad seufzte. »Um ihn uns gründlich vorzuknöpfen«, erklärte er betont geduldig. »Ich möchte ihn durchsuchen – vielleicht hat er ja die nächste Botschaft schon bei sich.« »Bist du verrückt? Wenn wir das tun, töten sie die Königin!«

»Nur, weil wir ihren unwichtigen kleinen Boten in die Mangel nehmen? Lächerlich! Sie wollen den Bhelliom, und die Königin ist das einzige, wofür sie ihn bekommen können. Wenn wir wollten, könnten wir jeden ihrer Kuriere umbringen, ohne daß sie ihr etwas antun würden. Komm schon, machen wir diesem Styriker ein wenig angst und wühlen in seinen Taschen herum. Wenn wir die nächste Botschaft in die Hände kriegen, könnten wir ihnen zuvorkommen.«

»Weißt du was? Ich glaube, du hast recht. Sie werden der Königin doch wirklich nichts tun?«

»Ganz sicher nicht. Bringen wir diesem Styriker ein bißchen Manieren bei. Genau das würde Sperber nämlich tun.«

»Ja, wahrscheinlich.« Berit blickte seinen Freund eingehend an. »Du ärgerst dich über diesen Kerl, nicht wahr?«
»Allerdings. Mir gefällt sein Verhalten nicht.«
»Na gut, dann wollen wir es ändern.«


»Ich werde nichts Unüberlegtes tun«, versicherte ihnen Kalten. »Ich will mich nur umsehen.« Die drei saßen in dem heillosen Durcheinander von Narstils Dschungellager unter ihrem Baum. Sie hatten ein Feuer entfacht und grillten darüber drei gestohlene Hühnchen am Spieß, deren Fett in die Flammen tropfte.

»Es kann nicht schaden«, meinte Caalador zu Bevier. »Falls es je dazu kommen sollte, daß wir hinein müssen, wäre es ganz gut, wenn wir uns darin auskennen.« »Bist du sicher, daß dein Temperament nicht mit dir durchgehen wird?« fragte Bevier und blickte Kalten dabei prüfend an. »Du bist dort ganz auf dich allein gestellt, weißt du?«

»Ich bin erwachsen, Bevier«, erwiderte Kalten. »Ich werde nichts Auffälliges tun, bis alles wieder seinen normalen Gang geht. Vielleicht bekommen wir keine solche Chance mehr. Senga hat mich aufgefordert, mitzukommen und ihm beim Bierverkauf zu helfen. Das ist das Normalste auf der Welt, und niemand wird mich erkennen. Mag sein, daß ich in Natayos wertvolle Informationen aufschnappe – und falls ich zufällig jemanden, den ich kenne, an einem Fenster stehen sehen sollte, wüßten wir genau, wo die beiden Damen sich befinden. Dann kann unser Freund mit der gebrochenen Nase sich mit seinem blauen Begleiter unterhalten und die Damen herausholen, noch ehe jemand auch nur zum Blinzeln kommt. Anschließend begeben wir uns alle dorthin, um gewissen Leuten nachdrücklich zu erklären, was wir empfinden.« »Ich bin dafür«, wandte Caalador sich an Bevier.

»Der Plan ist gewiß nicht schlecht«, gab Bevier zu, »aber – äh – Col hat keine Möglichkeit, um Hilfe zu rufen, falls er in Schwierigkeiten gerät.«

»Ich werde keine Hilfe brauchen, weil ich nichts Auffälliges tun werde. Versuch nicht weiter, es mir auszureden, Shallag, denn es wird dir nicht gelingen.«

Senga kam quer durch das Lager auf sie zu. »Der Karren ist beladen, Col!« rief er. »Bist du fertig?«

Kalten stand auf. »Jederzeit, Senga«, rief er zurück. Er zog sein halbgares Hühnchen vom Spieß und ging zu seinem neuen Freund. »Ich bin's leid, hier nur herumzusitzen und Bäume zu zählen.«

Die beiden brauchten etwa drei Stunden bis Natayos, denn ein Ochse läßt sich nur ungern zur Eile antreiben. Der offenbar viel benutzte Pfad schlängelte sich durch den Dschungel und nahm offenbar den Weg des geringsten Widerstandes.

»Dort ist es«, sagte Senga, als der Karren durch die Furt eines schmalen Flusses holperte. Er deutete über eine Lichtung mit zahlreichen Baumstümpfen auf eine antike Stadt, eine so alte Ruine, daß die Jahrhunderte die Steine glatt und rund geschliffen hatten. »Halte dich dicht an mich, solange wir dort sind, Col. Es gibt ein paar Plätze, denen wir uns nicht nähern dürfen. Dazu gehört ein Haus gleich beim Tor – da sind sie ganz besonders streng.«

»Ach?« murmelte Kalten und spähte blinzelnd zu den moosüberwucherten Ruinen vor ihnen. »Was ist denn in diesem Haus, daß sie da so eigen sind?«

»Keine Ahnung. Und so groß ist meine Neugier nicht, daß ich durch Fragen meinen Hals riskieren möchte.«

»Vielleicht ist es ihre Schatzkammer«, mutmaßte Kalten. »Wenn diese Armee wirklich so groß ist, wie du sagst, haben sie bestimmt eine Menge Plündergut zusammengetragen.«

Senga zuckte die Schultern. »Möglich. Aber ich hab' nicht die Absicht, mich mit den vielen Wachen anzulegen, nur um es herauszufinden. Wir sind hier, um Bier zu verkaufen, Col. Auf diese Weise bekommen wir einen ganz schönen Anteil an ihren Schätzen, und noch dazu ohne jedes Risiko.«

»Aber das ist so ehrlich!« wandte Kalten grinsend ein. »Ist ehrliche Arbeit nicht schändlich für jemand wie uns?«

Senga lachte und berührte den Ochsen nur leicht mit einem langen, dünnen Stock. Der knarrende Karren rumpelte über den holprigen Boden und hielt vor der zerbröckelnden Stadtmauer an.

»He, Senga!« begrüßte einer der schlampigen Wachen am Tor Kaltens Freund. »Wo warst du so lange? Wir sind schon fast ausgedörrt, seit du das letzte Mal da warst.« »Ihr Burschen seid schuld, wenn mein Brauer sich überarbeitet!« rügte Senga. »Er kann mit eurem Durst nicht Schritt halten. Das Bier muß schließlich erst ein bißchen reifen, ehe ihr es trinken könnt. Ungegorenes Bier ist gar nicht bekömmlich!« »Du hast den Preis doch nicht etwa schon wieder erhöht?« »Nein, der Preis ist wie zuvor.«

»Ich wette, er ist zehnmal so hoch wie der, den du fürs Bier bezahlt hast.«

»Ganz so groß ist mein Gewinn nun auch wieder nicht. Wo sollen wir das Bier ausschenken?«

»Am gleichen Fleck wie letztes Mal. Ich werde den Jungs Bescheid sagen. Dann können sie sich schon mal anstellen.«

»Diesmal hätt' ich aber gern ein paar Wachen, Mondra«, erklärte Senga. »Ich will nicht, daß es wieder zu einem solchen Aufruhr kommt wie vergangene Woche, als das letzte Faß leer wurde.«

»Ich werd' mich darum kümmern. Aber heb mir ja genügend auf!«

Der Ochsenkarren rumpelte durch das Tor auf eine breite Straße, wo die Kopfsteine fast schon wieder moosfrei waren. Offensichtlich war hier in Natayos in den letzten Jahren viel ausgebessert worden. Die behauenen Steine der eingefallenen Mauern hatte man neu, aber ziemlich sorglos aufgestapelt und mit entrindeten Baumstämmen abgestützt. Zerfallene Dächer, in denen sich kreischende, tropische Vögel eingenistet hatten, waren durch Matten aus grob geflochtenen biegsamen Zweigen ersetzt worden. Da und dort zeigten halbverbrannte Haufen aus Baumholz und Gesträuch, wo unerfahrene Arbeiter versucht hatten, sich der Unmengen von Gestrüpp zu entledigen, das sie aus Häusern und von den Straßen entfernt hatten. Die Männer, die hier einquartiert waren, lungerten auf den Straßen herum. Es handelte sich um Elenier aus Astel, Edomer und Daziter, Arjuner und Cynesganer. Es war eine schlecht gekleidete, heruntergekommene Meute, die nicht den Eindruck vermittelte, als wüßte sie auch nur, was das Wort Disziplin bedeutete.

»Was verlangst du dafür?« Kalten klopfte auf eines der Fässer.

»Einen Penny pro Halbeschoppenbecher«, antwortete Senga. »Das ist Wucher!«

»Die Kerle müssen es ja nicht kaufen.« Senga zuckte die Schultern. »Kassier das Geld, bevor du einschenkst. Laß dich bloß nicht mit Versprechen abspeisen.« Kalten lachte. »Du hast meine Gewissensbisse beseitigt, Senga. Bei diesem Preis ist das wirklich nicht ehrlich.« »Da drüben ist das Haus, das ich erwähnt habe.«

Kalten bemühte sich, gleichmütig dreinzublicken, als er sich zu der ziemlich stabil zusammengeflickten Ruine umdrehte. »Sie wollen wirklich nicht, daß da jemand hineinschaut. Bei diesen Gittern am Fenster könnte man meinen, daß es sich um Kerker handelt, stimmt's?«

»Nicht ganz, Col. Die Gitter sollen niemand drinnen halten, sondern die Leute von dem Bau fernhalten!«

Kalten brummelte etwas und starrte weiterhin angestrengt auf das Haus. Die vergitterten Fenster hatten Glasscheiben – billiges, trübes Glas, das unfachmännisch eingesetzt war. Vorhänge im Innern verhinderten, daß man sehen konnte, was oder wer sich dahinter aufhielt. An der Haustür und an jeder Ecke waren Wachen postiert. Vor hilflosem Zorn hätte Kalten am liebsten laut aufgeheult. Das sanfte Mädchen, das zum Mittelpunkt seines Lebens geworden war, befand sich wahrscheinlich keine zwanzig Meter von ihm entfernt, hätte sich aber ebensogut auf der erdabgewandten Seite des Mondes aufhalten können. Und selbst, wenn sie ihn durch das trübe Glas zu sehen vermocht hätte, würde sie ihn seiner veränderten Züge wegen nicht erkennen.

Senga bezahlte die Wachen auf dem Platz mit Bier; dann machten er und sein Freund sich an die Arbeit. Scarpas Rebellen grölten und lachten und waren offenbar im ganzen guter Laune. Sie stellten sich in einer Reihe auf und traten jeweils paarweise an den Karren heran, wo Senga und Kalten ihre Trinkbehälter mit bernsteinfarbenem Bier füllten. Es gab ein paar Auseinandersetzungen darüber, wieviel Flüssigkeit in die verschiedenen Becher, Krüge und Kannen ging, doch Sengas Entscheidung war unumstößlich, und jeder, der zu laut aufbegehrte, wurde ans Ende der Schlange zurückgeschickt, wo ihm eine gute Stunde Zeit blieb, über seinen Protest nachzudenken, bis er sich wieder nach vorn gearbeitet hatte. Nachdem die beiden Bierlieferanten das letzte Faß geleert und die enttäuschten Kunden davon geschickt hatten, die zu spät gekommen waren, sah Kalten eine bekannte Gestalt über den Platz zum Ochsenkarren wanken. Krager sah gar nicht gut aus. Sein Schädel war kahl geschoren und bleich wie ein Fischbauch, und sein hageres Gesicht von Jahrzehnten zügellosen Saufens gezeichnet. Seine ehemals so prächtige Kleidung hing ihm ausgebeult, zerknittert und schmutzig vom Körper, den in fast regelmäßigen Abständen ein heftiges Zittern durchlief. »Ihr habt wohl keinen Wein mitgebracht?« fragte er Senga.

»Er wird kaum verlangt«, erklärte Senga ihm und klappte die hintere Ladeplanke wieder hoch. »So gut wie alle hier wollen Bier.«
»Wißt Ihr, wo man Wein bekommen kann?«
»Ich werde mich umhören. Was hättet Ihr gern für welchen?«
»Arzischen Roten, wenn Ihr ihn auftreiben könnt.«

Senga pfiff durch die Zähne. »Dafür müßtet Ihr aber tief in die Tasche greifen, mein Freund. Hiesigen Roten würde ich zwar irgendwo für Euch finden, aber importierten … Das wird ein großes Loch in Euren Geldbeutel fressen.«

Krager blickte ihn feixend an. »Kein Problem«, versicherte er mit schwerer Zunge. »An Geld mangelt es mir im Moment nicht. Die Rotweine von hier schmecken wie Schweinepisse. Ich will richtigen Wein!«

»Das könnte eine Zeitlang dauern«, meinte Senga unschlüssig. »Ich kenne jemand in Delo, der Euch vielleicht arzischen Roten besorgen könnte, aber nach Delo ist es ziemlich weit.«
»Wann kommt Ihr wieder hierher?«

»In zwei, drei Tagen. Die Brauerei, von der ich dieses Gesöff beziehe, arbeitet Tag und Nacht – trotzdem könnte ich die doppelte und dreifache Menge verkaufen.« »Dann bringt mir beim nächsten Mal zwei Fässer vom hiesigen Roten mit, auch wenn er nach Schweinepisse schmeckt. Aber seht zu, daß Ihr mir so rasch wie möglich echten arzischen Wein besorgt.«

»Ihr könnt Euch auf mich verlassen«, versicherte Senga ihm. Er blickte Krager eindringlich an. »Ich brauch' aber einen Vorschuß. Ich muß den Arzier kaufen, bevor ich ihn Euch verkaufen kann. Ich verdiene zwar nicht schlecht, aber so reich bin ich noch lange nicht.« Krager kramte in seinem Beutel.

Plötzlich wurde Kalten von einer beinahe unerträglichen Ungeduld gepackt. Er war jetzt sicher, daß Alean sich hier befand. Kragers Anwesenheit bestätigte es geradezu. Ohne Zweifel wurden die beiden Damen in dem Haus mit den vergitterten Fenstern festgehalten. Er mußte unbedingt zu Narstils Lager zurück, damit Bevier Aphrael Bescheid geben konnte. Wenn Xanetia Natayos unbemerkt zu betreten vermochte, konnte sie entweder die Hausmauern durchdringen oder Kragers vom Suff zerstörte Gedanken erforschen, um zu bestätigen, was nun so gut wie sicher war.

Wenn alles nach Plan verlief, würden er und Sperber in wenigen Tagen wieder mit den geliebten Frauen vereint sein. Dann konnten sie alle hierher kommen und mit den Verantwortlichen so allerlei Unangenehmes anstellen.


Vanion und Betuana erreichten Sarna erst am Spätnachmittag, doch die atanische Königin gönnte sich kaum eine Pause, ehe sie zur Grenze aufbrach.

»Es war grauenvoll, Sperber.« Vanion lehnte sich müde im Sessel zurück und legte seinen Helm auf den Tisch. »Solche Krieger habe ich noch nie gesehen. Sie sind riesig, sie sind schnell, und ihre Haut ist so zäh, daß meine Klinge meist davon abprallte. Ich weiß nicht, wo Klæl diese Krieger gefunden hat, aber sie haben gelbes Blut, und sie haben meine Männer mühelos zerfleischt.«

»Kring und Tikume sind ihnen ebenfalls begegnet, soviel ich weiß«, berichtete Sperber. »Anosian hat versucht, Aphrael Bescheid zu geben, kam aber mit dem Zauberspruch nicht zurecht, so daß sie kaum etwas davon verstehen konnte. Sie ist ziemlich unzufrieden mit Tynian. Als er die Ritter versammelte, die er nach Matherion mitbrachte, hat er versehentlich genau die Pandioner ausgewählt, die so gut wie keine Begabung für die styrische Magie besitzen. Deshalb kann sie keinerlei Berichte von Komier erhalten.«

»Wir sollten jemand zu ihm schicken, der die Berichte übermittelt – nur würde er Wochen brauchen, bis er dort ankommt!«

»Nicht, wenn Aphrael ihn dorthin bringt«, widersprach Sperber. »Sie hat mich von Beresa nach Sopal getragen – das sind fast tausend Meilen! – in nur einer halben Stunde.«

»Das meint Ihr doch nicht ernst!«
»Das Fliegen wird Euch gefallen, Vanion.«
»Du redest zuviel, Sperber.«

Beide Männer drehten sich rasch um. Die Kindgöttin saß in einem Sessel an der rückwärtigen Wand des Gemachs und hatte die grasfleckigen Füßchen auf den Tisch gelegt. »Ich wünschte, du würdest das nicht tun!« klagte Sperber.

»Hättest du gern eine Art Ankündigung, Sperber? Unmengen von Geistern, die Lobeshymnen singen, um mein Kommen kundzutun? Das wäre zwar etwas sehr dick aufgetragen, ließe sich aber machen, wenn du darauf bestehst.« »Vergiß einfach, was ich gesagt habe.«

»Gut, wie du meinst. – Ich habe mich mit Anosian unterhalten, und er übt jetzt – sehr fleißig! Kring und Tikume sind draußen in der Wüste auf Klæl und seine Soldaten gestoßen und haben etwas entdeckt, das Ihr, meine Herren, wissen solltet. Ich hatte recht, Vanion. Klæls Soldaten haben statt Blut flüssige Galle in den Adern, und sie atmen mit der Leber. Das bedeutet, daß die Luft ihrer Heimatwelt ganz anders ist als die hiesige – wahrscheinlich ähnelt sie Sumpfgas. Sie enthält eine Substanz, die sie brauchen, aus unserer Luft aber nicht bekommen können. Die Peloi haben sich ihrer üblichen Angriffs- und Ausweichtaktik bedient, und nach einer Weile begannen diese Monstren zusammenzubrechen. Wenn ihr ihnen das nächste Mal begegnet, dann macht einfach kehrt und rennt davon. Falls sie versuchen, euch zu verfolgen, ersticken sie. – Ist Betuana schon zur Grenze unterwegs?« »Ja, Göttin«, antwortete Itagne.

»Gut. Je schneller Engessa auf meine Insel kommt, desto schneller habe ich ihn kuriert.«

»Ich wollte dich deshalb schon fragen«, warf Sperber ein. »Du hast gesagt, daß sein Hirn Schaden erlitten hat.«
»Ja.«
»Das Hirn ist etwas sehr Kompliziertes, nicht wahr?«

»Na ja, eure Gehirne sind nicht so komplex wie unsere, aber keinesfalls simpel.« »Und du kannst Engessas Hirn auf deiner Insel heilen?« »Natürlich.«

»Wenn du ein Hirn in Ordnung bringen kannst, müßtest du doch eigentlich auch jemandes Herz heilen können. Warum hast du Sephrenia dann nicht einfach auf deine Insel geholt und sie dort geheilt? Warum bist du statt dessen nach Beresa gekommen und hast versucht, Bhelliom zu stehlen?« Vanion sprang auf. »Wa-as?«

»Großartig, Sperber!« sagte Aphrael trocken. »Dein Feingefühl ist umwerfend! – Sephrenia geht es gut, Vanion. Bhelliom hat sie ins Leben zurückgebracht.« Vanion schmetterte die Faust auf den Tisch. Er vermochte sich nur mit größter Willenskraft zu beherrschen. »Würde jemand die Güte haben, mich wissen zu lassen, was geschehen ist?« fragte er mit eisiger Stimme.

»Wir waren in Dirgis.« Aphrael zuckte die Schultern. »Sephrenia hielt sich allein in unserem Zimmer auf, als Zalasta hereinkam und ihr einen Dolch ins Herz stieß.« »Großer Gott!«

»Es geht ihr gut, Vanion. Bhelliom hat dafür gesorgt. Ihre Genesung schreitet schnell voran. Xanetia ist bei ihr.«
Vanion ging zur Tür.

»Oh, komm zurück!« wies die Kindgöttin ihn an. »Sobald ich Engessa auf die Insel gebracht und mich seiner Verletzungen angenommen habe, bringe ich dich nach Dirgis. Sephrenia schläft jetzt sowieso, und du hast sie ja oft genug schlafen sehen!« Vanion errötete leicht und blickte ein wenig einfältig drein.

»Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet!« erinnerte Sperber die Kindgöttin. »Wenn du ein Hirn heilen kannst, warum dann nicht ein Herz?« »Weil ich ein Gehirn ruhigstellen kann, um daran zu arbeiten, Sperber«, sagte sie geduldig und mit übertriebener Leidensmiene. »Das Herz aber darf nicht zu schlagen aufhören. Doch ich kann nicht daran arbeiten, wenn es so herumhüpft.« »Oh! Das verstehe ich.«

»Weißt du zufällig, wo ich Zalasta finden kann?« fragte Vanion mit furchterregender Stimme.

»Wahrscheinlich ist er nach Natayos zurückgekehrt«, antwortete Aphrael.

»Könntest du mich dorthin bringen, nachdem ich Sephrenia besucht habe? Ich würde ihn mir wirklich gern vornehmen!«
»Ich bekomme sein Herz!« sagte die Kindgöttin.
Vanion bedachte sie mit einem eigenartigen Blick.

»Es ist nur eine Witzelei zwischen uns beiden«, erklärte Sperber ihm. »Ich mache keinen Witz, Sperber«, sagte Aphrael düster.

»Wir dürfen auf keinen Fall nach Natayos!« warnte Sperber. »Falls man Ehlana dort festhält, wird Scarpa sie töten, sobald wir an das Tor pochen. Außerdem werdet Ihr wohl erst mit Khwaj verhandeln müssen, bevor Ihr versucht, Zalasta etwas anzutun!« »Khwaj?« fragte Vanion verwundert.

»Tynian erzählte Aphrael, daß Khwaj seine eigenen Pläne mit unserem styrischen Freund hat. Er will ihn in einem Feuer schmoren lassen!« »Ich habe da einige interessantere Ideen«, knirschte Vanion.

»Darauf würde ich nicht wetten. Khwaj möchte Zalasta in Flammen setzen, ohne sein Leben zu beenden – für immer und alle Zeit.«

Vanion dachte darüber nach. »Welch vergnügliche Vorstellung«, sagte er schließlich.


»Majestät!« flüsterte Alean eindringlich. »Kommt schnell! Zalasta ist zurückgekehrt.« Ehlana zog die von Alean hergestellte Kopfbedeckung aus Leinen tief in die Stirn und trat zu ihrer Kammerzofe an das zerbrochene Fenster. Die einem Nonnenschleier nachempfundene Kopfbedeckung war Aleans Idee gewesen. Sie lag dicht an und bedeckte auch den Hals und die Unterseite des Kinns. Auch wenn sie nicht gerade bequem war, verbarg sie doch die Verwüstung, die Kragers Messer mit Ehlanas Haar angerichtet hatte. Die Königin bückte sich, um durch die dreieckige Öffnung schauen zu können, die aus der Scheibe gebrochen war.

Zalastas Gesicht war schmerzverzerrt, und seine Augen wirkten wie tot. Scarpa kam mit diensteifriger Miene herbeigeeilt.
»Und?« fragte er.
»Geh weg, Scarpa!«

»Ich wollte doch nur sehen, ob es dir gut geht, Vater«, erwiderte Scarpa verschlagen. Er hatte sich stümperhaft eine Krone aus einer Eßschüssel gefertigt, die aus gehämmertem Gold bestand. Zweifellos ahnte er nicht, wie lächerlich er mit diesem Putz auf seinem kahlgeschorenen Schädel aussah. »Laß mich in Ruhe! Geh mir aus den Augen!«

»Ist sie tot?« Scarpa achtete nicht auf die schreckliche Drohung im Tonfall seines Vaters.

Zalastas Gesicht schien zu erstarren. »Ja«, antwortete er tonlos. »Ich habe ihr meinen Dolch geradewegs ins Herz gestoßen. Aber ich weiß nicht, ob ich mit dieser Untat noch leben kann. Bitte, bleib, Scarpa! Immerhin war es deine Idee. Es war ein so großartiger Einfall, daß ich dich vielleicht dafür belohnen möchte.«

Scarpa wich zurück. Der Wahnsinn in seinen Augen wich nackter Angst.

Zalasta brüllte zwei styrische Worte und streckte die Rechte aus. Die Finger krümmten sich wie Haken. Scarpa preßte die Hände auf den Leib und schrie markerschütternd. Seine behelfsmäßige Krone fiel mit dumpfem Laut zu Boden, während Zalasta ihn unerbittlich zurückzerrte.

»Du bist allzu leicht zu durchschauen, Scarpa«, knirschte Zalasta, dessen Gesicht nur wenige Zoll von dem seines Sohnes entfernt war. »Aber dein Plan hatte einen kleinen Fehler. Es ist durchaus möglich, daß ich mich töte für das, was ich Sephrenia angetan habe. Aber zuerst töte ich dich – auf so schreckliche Weise, wie ich nur kann. Ich habe dich nie gemocht, Scarpa. Ich empfand nur eine gewisse Verantwortung für dich – aber das ist ein Wort, das du ohnehin nicht verstehen würdest.« Seine Augen funkelten plötzlich. »Dein Wahnsinn muß ansteckend sein, mein Sohn. Ich spüre, wie auch ich den Verstand verliere. Du hast mich überredet, Sephrenia umzubringen. Dabei habe ich sie viel mehr geliebt, als ich dich je lieben könnte.« Er entkrampfte die Finger. »Lauf, Scarpa! Heb deine wertlose Spielzeugkrone auf und lauf. Ich werde dich überall finden, wenn ich beschlossen habe, dich zu töten.«

Scarpa floh, doch Ehlana sah es nicht. Tränen verschleierten ihr den Blick. Mit einem leiderfüllten Wimmern wandte sie sich vom Fenster ab.