28

»Wir sind jetzt in der Stadt, Aphrael«, meldete Sperber stumm, nachdem er den Zauber gewirkt hatte. »Wie habt ihr das fertiggebracht?« klang es erstaunt zurück.

»Das ist eine lange Geschichte. Richte Khalad bitte aus, daß ich den Eingang ins Tal markiert habe. Er wird wissen, wonach er suchen muß.« »Konntest du herausfinden, wo Mutter festgehalten wird?« »Wir können es uns in etwa denken.«

Nach einer langen Pause beschloß sie: »Ich komme zu euch.« »Wie willst du uns finden?«

»Ich nehme dich als Orientierungspunkt. Du mußt nur weiterreden.«

»Ich halte das für keine besonders gute Idee. Wir befinden uns hier direkt im Zentrum von Cyrgons Macht. Wird er da nicht von deiner Anwesenheit wissen?«
»Xanetia ist doch bei euch, oder nicht?«
»Ja.«
»Dann wird Cyrgon keine Ahnung davon haben. Deshalb habe ich sie euch ja mitgegeben.« Wieder machte Aphrael eine Pause. »Wer hatte die Idee, wie ihr in die Stadt gelangen konntet?«
»Talen.«

»Siehst du! Und du wolltest es mir ausreden, ihn mitzunehmen! Wann wirst du endlich lernen, mir zu vertrauen, Vater? – Rede weiter. Ich habe dich fast schon ausgemacht. Erzähl mir, wie es Talen gelungen ist, euch in die Stadt zu schaffen.« Sperber beschrieb eingehend Talens geschicktes Täuschungsmanöver.

»Gut!« lobte Aphrael dicht hinter ihm. »Das reicht.« Sperber drehte sich um und sah sie in Xanetias Armen. Sie schaute sich um. »Die Cyrgai haben das Feuer offenbar immer noch nicht entdeckt. Hier ist es ja dunkler als in einem alten Stiefel! Wo, genau, sind wir?«

»In der äußeren Stadt, Göttin«, antwortete Bevier leise. »Ich nehme an, man könnte es das Arbeiterviertel nennen. Die Sklavenpferche und verschiedene Lagerhäuser befinden sich hier. Es wird von den Cynesganern bewacht; aber die nehmen ihre Pflichten offenbar nicht sehr ernst.«

»Gut. Trotzdem sollten wir nicht auf der Straße herumstehen.«

Talen tastete sich an einem der scheunenähnlichen Lagerhäuser entlang, bis er auf eine Tür stieß. »Hierher!« flüsterte er.
»Ist es denn nicht abgeschlossen?« fragte Kalten.
»Jetzt nicht mehr.«
Sie schlichen zu ihm und betraten das Lagerhaus.

»Wärst du so nett, Liebes?« wandte Aphrael sich an Xanetia. »Es ist stockdunkel hier!«

Xanetias Gesicht begann zu glühen und verbreitete ein sanftes Licht, das ihre Umgebung schwach beleuchtete.

»Was wird denn hier gespeichert?« Kalten schaute sich in dem Dämmerlicht um. »Nahrungsmittel?« fragte er hoffnungsvoll. »Der Fraß, den man uns im Pferch vorgesetzt hat, war nicht gerade schmackhaft, und satt wurde man schon gar nicht.« »Ich glaube nicht, daß hier Lebensmittel gelagert werden«, meinte Talen. »Danach riecht es nicht.«

»Du kannst dich ein andermal umsehen«, rügte Aphrael Kalten. »Wir haben jetzt wichtigeres zu tun.«

»Wie kommen die anderen zurecht?« fragte Sperber die Kindgöttin.

»Bergsten hat Cynestra eingenommen und zieht jetzt mit den Ordensrittern weiter südwärts. Ulath und Tynian brachten die Trolle nach Zhubay, wo diese gut die Hälfte der cynesganischen Reiterei gefressen haben. Betuana und Engessa marschieren mit den Atanern nach Südwesten. Vanion und Sephrenia täuschen in der Wüste mit falschen Spuren vor, daß Ihr bei ihnen seid. Und westlich von Sarna lassen sich Kring und Tikume von Cyrgai, cynesganischer Reiterei und Klæls Monstersoldaten in der Wüste herumjagen. Ich glaube übrigens nicht, daß diese Gelbblütigen noch lange eine Bedrohung sein werden. Khalad hat sich etwas ausgedacht, sie unschädlich zu machen.« »Er ganz alleine?« Talen staunte.

»Klæl hielt sich für besonders schlau. Er hat Höhlen entdeckt, in denen seine Soldaten atmen können und in denen sie sich versteckt hielten, bis sie uns angriffen. Khalad kam auf den Einfall, in den Höhlen Feuer zu legen. Es macht allerdings sehr viel Lärm.« »Das ist mein Bruder!« sagte Talen stolz.

»Ja«, tadelte die Kindgöttin. »Er denkt sich bei jeder Gelegenheit neue Scheußlichkeiten aus. Aber weiter. Stragen und Caalador konnten diesen Daziter in Beresa davon überzeugen, daß sich eine mächtige Invasionsflotte der Südküste nähert …«

Sie unterbrach sich. »Du weißt das alles doch bereits, Sperber. Weshalb läßt du mich meine Zeit vergeuden, indem ich es noch einmal aufzähle?«

»Es verläuft also alles nach Plan?« vergewisserte er sich. »Keine Rückschläge? Keine neuen, unangenehmen Überraschungen?«

»Nicht für uns! Cyrgon hat da allerdings weniger Glück. Die Delphae haben Scarpas Armee fast völlig aufgerieben. Ich habe einige meiner Familienmitglieder eingespannt, uns zu helfen. Sie ziehen Zeit und Entfernung zusammen. Sobald Ehlana in Sicherheit ist, gebe ich das Zeichen. Dann werden ganze Heerscharen an Cyrgas Tor hämmern.«

»Konntest du den anderen von Khalads Erfindung berichten?« fragte Talen. »Das hat mein Vetter Setras für mich übernommen. Setras ist manchmal zwar ein bißchen begriffsstutzig, aber ich habe es ihm mehrmals genau erklärt. Ich glaube nicht, daß er zuviel durcheinanderbringt. Alles ist bereit. Die anderen warten nur noch auf ein Wort von uns, um loszuschlagen. Also, kommen wir zur Sache. Hatte jemand bereits Gelegenheit, sich hier ein wenig umzusehen?«

»Ich habe einen Streifzug durch die äußere Stadt gemacht, Göttin Aphrael«, antwortete Xanetia. »Anakha hielt es nicht für angebracht, mich mit den anderen im Sklavenpferch einsperren zu lassen.«

Die Kindgöttin reichte Talen einen großen Bogen steifes, knisterndes Pergament und einen Bleistift. »Da«, forderte sie ihn auf. »Verdiene dir deinen Unterhalt.«
»Woher hast du das genommen?« fragte er neugierig.
»Ich hatte es in einer meiner Taschen.«
»Du hast überhaupt keine Taschen, Flöte!«

Sie bedachte ihn mit einem ihrer übertrieben nachsichtigen Blicke.

»Oh!« murmelte er. »Irgendwie vergesse ich das ständig. Also gut, Anarae, beschreibt mir die Stadt, dann zeichne ich sie.«

Die auf diese Art entstehende Skizze war ziemlich detailliert und gab alles wieder, das Xanetia von der Stadt hatte sehen können. »In die innere Stadt konnte ich leider keinen Einblick nehmen«, sagte sie schließlich. »Das Tor ist stets verschlossen, da die Cyrgai sich zu erhaben über ihre cynesganischen Untergebenen dünken und zu den Sklaven, von deren Arbeit sie leben, Abstand wahren.«

»Das müßte für unser Vorhaben einstweilen genügen.« Flöte schürzte die Lippen und betrachtete Talens Zeichnung. »Bevier, du bist der Fachmann, wenn es um Befestigungen geht. Wo ist die Schwachstelle?«

Bevier beschäftigte sich mehrere Minuten mit der Skizze. »Habt Ihr irgendwelche Brunnen gesehen, Anarae?« fragte er Xanetia.
»Nein, Herr Ritter.«

»Es gibt einen See unmittelbar vor dem Außentor, Bevier«, erinnerte Kalten ihn. »Im Fall einer Belagerung würde ihnen das wenig nützen«, erwiderte Bevier. »Es muß irgendwo innerhalb der Mauern Wasser geben, entweder eine Quelle oder eine Zisterne. Eine Belagerung endet sehr rasch, wenn den Verteidigern das Wasser ausgeht.«

»Wieso glaubt Ihr, Bevier, daß diese Stadt unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Belagerung erbaut wurde?« warf Mirtai ein. »Schließlich wurde sie so gut versteckt, daß nicht mit ihrer Entdeckung zu rechnen war.«

»Die Mauern sind ein wenig zu hoch und zu dick, als daß sie nur als Zier dienen könnten, Atana. Cyrga ist eine befestigte Stadt; das bedeutet, sie wurde erbaut, um einer Belagerung standhalten zu können. Die Cyrgai sind zwar nicht sehr schlau, aber niemand ist so dumm, daß er eine Festung errichtet, in der es kein Wasser gibt! Dort müssen wir ansetzen, Göttin Aphrael. Findet heraus, wie die Cyrgai zu ihrem Wasser kommen – sowohl in der äußeren wie der inneren Stadt. Das könnte ein Schwachpunkt sein. Falls nicht, müssen wir uns möglicherweise einen Weg unter der inneren Mauer hindurchgraben oder versuchen, darüber zu klettern.«

»Hoffen wir, daß es nicht dazu kommt«, sagte Aphrael. »Wir befinden uns in der Stadt des Feindes, und je länger wir hier umherirren, desto größer ist die Gefahr, daß wir entdeckt werden. Wenn es irgendwie möglich ist, dann sollten wir versuchen, Ehlana und Alean heute nacht zu befreien. Ich gebe den anderen Bescheid, daß sie sich in Marsch setzen. Niemand wird in dieser Nacht viel zum Schlafen kommen, doch das läßt sich nicht ändern. – Xanetia und ich werden jetzt nach Wasser Ausschau halten. Ihr anderen bleibt hier.

Wir möchten euch nicht erst suchen müssen, wenn wir zurückkommen.«


»Habt Ihr den Verstand verloren, Gardas?« fuhr Bergsten den in eine schwere Plattenrüstung gekleideten alzionischen Ritter an. Der thalesische Patriarch weigerte sich, dem sympathisch aussehenden jungen Mann neben dem Ritter auch nur einen Blick zu gönnen. »Ich darf seine Existenz nicht anerkennen! Viel weniger darf ich mich mit ihm zusammensetzen und reden!«

»Aphrael erwähnte schon, daß es in dieser Hinsicht Schwierigkeiten mit dir geben wird, Bergsten«, bemerkte die Person, die von Gardas zum Zelt des Patriarchen geführt wurde. »Könnte ich es dir vielleicht leichter machen, wenn ich ein Wunder wirke?«

»Um Gottes willen!« rief Bergsten. »Tut das ja nicht! Vermutlich stecke ich sowieso schon tief im Schlamassel.«

»Dolmant hatte auch einige Probleme, als ich ihn besuchte«, bemerkte Aphraels Vetter. »Ihr Diener des elenischen Gottes habt einige seltsame Vorstellungen! Er regt sich nicht über uns auf. Warum tut ihr es dann? Wie dem auch sei – die üblichen Regeln müssen hintan gestellt werden, bis diese Krise vorbei ist. Wir haben sogar Edaemus und den atanischen Gott für unsere gute Sache gewonnen – und sie haben seit Äonen zu keinem von uns mehr gesprochen. Aphrael bat mich, dir etwas auszurichten, das mit den Soldaten zu tun hat, die Klæl mitbrachte. Jemand namens Khalad hat sich etwas ausgedacht, sie unschädlich zu machen.«

»Beschreibt es Gardas. Er kann es dann an mich weitergeben, und ich komme nicht in Schwierigkeiten.«

»Bedauere, Bergsten, aber ich mußte Aphrael versprechen, daß ich es dir selbst mitteile! Rede dir doch einfach ein, ich wäre dir in einem Traum erschienen.« Setras' Gesicht wirkte leicht verwirrt, und seine großen leuchtenden Augen verrieten, daß dies alles über sein Begriffsvermögen ging. »Ich muß gestehen, es ist mir gar nicht klar. Aphrael ist viel klüger als ich – aber wir lieben einander, deshalb wirft sie mir meine Dummheit auch nicht oft vor. Sie ist wirklich sehr taktvoll. Sogar zu eurem Gott ist sie sehr nett, obwohl auch er manchmal sehr schwerfällig ist – aber wo war ich?« »Ihr wolltet seiner Eminenz von Klæls Soldaten erzählen, Gott Setras«, sagte Ritter Gardas freundlich.

»Ach, wirklich?« Die großen leuchtenden Augen verrieten jetzt eine gewisse Langsamkeit des Denkens. »Ja, stimmt. Das wollte ich, nicht wahr? Ihr dürft mich nicht einfach so daherreden lassen, Gardas. Ihr wißt doch, wie leicht ich mich ablenken lasse!« »O ja, Gott Setras. Das ist mir nicht entgangen.«

»Na ja, wie auch immer, dieser Khalad – offenbar ein schrecklich gescheiter junger Mann – erkannte, daß es eine Ähnlichkeit zwischen dem grauenvollen Zeug geben muß, das Klæls Soldaten atmen, und etwas anderem, das Khalad ›Grubengas‹ nennt. Hast du eine Ahnung, wovon er da redet, Bergsten?« Setras zögerte. »Soll ich dich auch mit ›Eminenz‹ anreden, wie Gardas es getan hat? Diese Bezeichnung wird dir gerecht. Ich finde, du siehst eminent wichtig aus – und eminent umfangreich!« »Bei uns gehören förmliche Anreden zum guten Umgangston, Gott Setras«, erklärte Gardas.

»Oh. Aber untereinander brauchen wir doch nicht förmlich zu sein, oder, Bergsten? Wir sind doch jetzt schon fast alte Freunde, nicht wahr?«

Der Patriarch von Emsat schluckte. Dann seufzte er. »Ja, Gott Setras«, antwortete er schließlich. »Ich glaube, das sind wir. Wie wär's, wenn Ihr mir nun von dieser Strategie erzählt, die Sperbers Knappe sich ausgedacht hat?«

»Ja, natürlich. Oh, da ist noch etwas. Wir müssen gleich am frühen Morgen vor den Toren Cyrgas sein.«


»Bitte, Atana Liatris«, sagte Baronesse Melidere geduldig zu Sarabians atanischer Gemahlin. »Wir wollen, daß sie es versuchen.«

»Es ist zu gefährlich!« beharrte Liatris uneinsichtig. »Wenn ich Chacole und Torellia sogleich töte, werden die anderen davonlaufen, und damit ist die Sache ausgestanden!«

»Nein«, widersprach Patriarch Emban, »denn in diesem Fall würden wir nie erfahren, wer sonst noch mitmischt. Und wir können nicht sicher sein, daß sie es nicht noch einmal versuchen.«

Prinzessin Danae saß ein wenig abseits, und Murr hatte sich auf ihrem Schoß zusammengerollt. Sie sah zwei Bilder gleichzeitig, eines hinter dem anderen – die dunklen Straßen Cyrgas schienen als Kulisse für jene Personen zu dienen, die sich hier im Salon besprachen.

»Deine Sorge um mich ist rührend, Liatris«, sagte Sarabian. »Aber ich bin bei weitem nicht so wehrlos, wie es vielleicht den Anschein hat.« Er tätschelte den Griff seines Degens.

»Und wir haben heimlich Wachen aufgestellt«, fügte Außenminister Oscagne hinzu. »Es ist so gut wie sicher, daß Chacole und Torellia Unterstützung von jemandem in Regierungskreisen haben – höchstwahrscheinlich jemand, der bei dem versuchten Coup übersehen wurde.«

»Ich werde seine Identität aus ihnen herausquetschen, bevor ich sie töte!« versprach Liatris. Sarabian zuckte bei dem Wort herausquetschen zusammen.


»Wir müssen ganz in der Nähe sein, Göttin Aphrael.« Xanetias Stimme schien weit entfernt und gleichzeitig sehr nahe zu sein. »Mir deucht, ich rieche Wasser.« Die dunkle, schmale Straße, der die beiden folgten, führte zu einem freien Platz, etwa hundert Fuß weiter.


»Wir wollen sie alle fangen, Liatris«, redete Elysoun ihrer Mitkaiserin zu. »Es würde Euch vielleicht gelingen, einen oder zwei Namen aus Chacole und Torellia herauszuquetschen, doch wenn wir die Meuchler auf frischer Tat ertappen und sofort festnehmen können, wären wir in der Lage, die gesamte Schloßanlage zu säubern. Wenn nicht, muß unser Gemahl den Rest seines Lebens mit gezogenem Degen herumlaufen.«


»Horcht!« flüsterte Xanetia in jener anderen Stadt. »Ich höre das Plätschern fließenden Wassers.«


Danae konzentrierte sich. Es war sehr anstrengend, beide Geschehnisse, hier und dort, gleichzeitig zu verfolgen.

»Ich bedauere aufrichtig, daß ich dir das jetzt sagen muß, Liatris«, sprach Sarabian eindringlich. »Aber ich verbiete dir, Chacole oder Torellia zu töten. Wir kümmern uns um sie, nachdem ihre Meuchler versucht haben, mich zu töten.«

»Wie mein Gemahl befiehlt«, antwortete Liatris schulterzuckend.

»Ich möchte wohl, daß du Elysoun und Gahenas beschützt«, fuhr er fort. »Gahenas befindet sich zur Zeit wahrscheinlich in größerer Gefahr. Elysoun kann den Verschwörern noch von Nutzen sein, während Gahenas mehr weiß, als sie nach Ansicht der anderen wissen dürfte. Ich bin sicher, sie werden versuchen, Gahenas zu töten. Bringen wir sie heute nacht aus dem Kaiserinnenflügel.«


»Es ist unter der Straße, Göttin«, sagte Xanetia. »Mir dünkt, unter unseren Füßen bewegt sich eine große Wassermenge.«

»Ich spüre es ebenfalls«, erklärte die Kindgöttin. »Folgen wir dem Plätschern zurück zu seinem Ursprung. Es muß eine Möglichkeit geben, hier, von der äußeren Stadt aus, an das Wasser zu gelangen.«


»Wie seid Ihr in diese Sache verwickelt worden, Elysoun?« fragte Liatris.

Elysoun zuckte die Schultern. »Ich habe mehr Bewegungsfreiheit als ihr anderen«, antwortete sie. »Chacole hat jemanden gebraucht, dem sie Botschaften nach draußen mitgeben konnte. Ich tat so, als wäre ich mit ihrem Plan einverstanden. Es war nicht schwer, Chacole zu täuschen. Sie ist Cynesganerin.«


»Es ist hier, Göttin!« wisperte Xanetia. Sie legte eine Hand auf eine große eiserne Platte, die im Kopfsteinpflaster eingelassen war. »Man kann das schnelle Fließen des Wassers durch das Eisen spüren.«

»Ich verlasse mich da ganz auf dich, Anarae«, erwiderte Aphrael, die allein vor dem Gedanken zurückschreckte, Eisen zu berühren. »Wie öffnen sie die Platte?« »Diese Ringe lassen darauf schließen, daß man sie hochheben kann.«

»Kehren wir um und holen die anderen. Ich glaube, dies könnte die Schwachstelle sein, nach der Bevier gesucht hat.«


Danae gähnte. Hier schien alles unter Kontrolle zu sein. Sie kuschelte sich in ihrem Sessel zusammen, hob Murr behutsam auf die Arme und war Augenblicke später eingeschlafen.


»Hättest du nicht ganz einfach …?« Talen bewegte die Finger wie zu einer Beschwörung.

»Es ist Eisen, Talen!« sagte Aphrael mit belehrendem Gleichmut. »Na und? Was hat das damit zu tun?«

Aphrael schüttelte sich. »Die Berührung von Eisen verursacht mir Schmerzen.«
Bevier blickte sie nachdenklich an. »Bhelliom geht es nicht anders«, bemerkte er.
»Ja. Und?«
»Das deutet auf eine gewisse Verwandtschaft hin.«

»Deine Erkenntnis des Offensichtlichen ist geradezu brillant, Bevier.« »Benimm dich!« rügte Sperber.

»Was ist an Eisen so unangenehm?« wollte Talen nun wissen. »Es ist kalt, es ist hart, man kann es in verschiedene Formen schmieden, und es wird rostig.« »Das ist eine schöne und gelehrte Beschreibung. Weißt du, was ein Magnet ist?« »Ein Stück Eisenerz, das an anderem Eisen haftet, nicht wahr? Ich erinnere mich, daß Platime mal von einer Sache sprach, die er Magnetismus nannte.« »Und du hast wahrhaftig zugehört? Erstaunlich.«

»Deshalb mußte Bhelliom zum Saphir werden!« rief Bevier. »Es ist das Kraftfeld des Eisens, nicht wahr? Bhelliom kann es nicht ertragen – und du auch nicht. Richtig?« »Bitte, Bevier!« sagte Aphrael schwach. »Mich schaudert, wenn ich nur daran denke. Jetzt wollen wir aber nicht mehr von Eisen reden, sondern von Wasser! Unter den Straßen hier in der äußeren Stadt strömt ein Wildbach oder ein Fluß, und zwar genau in die Richtung der inneren Mauer. In der Mitte der Straße, unweit von hier, ist eine große Eisenplatte eingelassen; man kann das Wasser darunter plätschern hören. Ich glaube, das ist die Schwachstelle, die du gesucht hast. Das Wasser fließt durch eine Art Tunnel, und dieser Tunnel führt unter der Mauer zur inneren Stadt hindurch – zumindest hoffe ich das. Ich werde mich vergewissern, sobald ihr, meine Herren, diese Eisenplatte für mich hochhebt.«

»Habt ihr irgendwelche Patrouillen auf den Straßen gesehen?« erkundigte sich Kalten.

»Nein, Herr Ritter«, antwortete Xanetia. »Jahrhunderte der Gewohnheit haben offenbar die Aufmerksamkeit der Cynesganer abgestumpft, die für die Bewachung und Verteidigung der äußeren Stadt verantwortlich sind.«

»Der Traum eines jeden Einbrechers«, murmelte Talen. »In dieser Stadt könnte ich reich werden.«

»Was würdest du denn stehlen?« fragte Aphrael. »Die Cyrgai halten nichts von Gold und Silber.«
»Was benutzen sie dann als Geld?«

»Nichts. Sie brauchen kein Geld. Die Cynesganer versorgen sie mit allem, was sie brauchen. Also kommt ihnen der Gedanke an Geld überhaupt nicht.« »Das ist ja unvorstellbar!«

»Wir können uns ein andermal über Volkswirtschaft unterhalten. Jetzt möchte ich mir ein Bild von ihrer Wasserversorgung machen.«


»Idiot!« schrie Königin Betuana ihren General wütend an.

»Wir mußten uns vergewissern, Betuana-Königin!« erklärte Engessa. »Und ich werde niemand an einen Ort schicken, zu dem ich mich nicht selbst begeben würde!«

»Ich bin sehr ungehalten über Euch, Engessa-Atan!« Betuanas Zuflucht in rituelle Trauer war vergessen. »Hat Euch die letzte Begegnung mit den Klæl-Bestien nichts gelehrt? Sie hätten unmittelbar hinter dem Höhleneingang lauern können, und Ihr wärt ihnen wieder allein gegenübergestanden!«

»Das wäre ziemlich unwahrscheinlich gewesen«, entgegnete Engessa steif. »Aphraels Bote erklärte uns, daß die Klæl-Bestien Zuflucht in Höhlen suchen, damit sie andere Luft atmen können. Die Luft am Eingang zu dieser Höhle wird die gleiche sein wie die im Freien. Aber das ist jetzt unwesentlich. Es ist nun einmal geschehen, und es gab keine Zwischenfälle irgendwelcher Art.«

Betuana konnte ihren Zorn offensichtlich nur mit größter Selbstbeherrschung unterdrücken. »Und was habt Ihr mit Eurem törichten Unternehmen bewiesen, Engessa-Atan?«

»Die Klæl-Bestien haben die Höhle versiegelt, Betuana-Königin«, erwiderte er. »Einige hundert Schritt vom Eingang entfernt befindet sich eine Stahlwand. Es ist anzunehmen, daß sie irgendwie geöffnet werden kann. Die Klæl-Bestien ziehen sich hinter jene Barriere zurück, schließen sie hinter sich, und können eine Zeitlang frei atmen. Dann kommen sie wieder heraus und greifen uns aufs neue an.«

»War diese Erkenntnis es wert, Euer Leben aufs Spiel zu setzen?«

»Das muß sich erst noch herausstellen, meine Königin. Die von Kring-Domi erdachte Taktik hält uns der Reichweite dieser Ungeheuer fern, aber es gefällt mir nicht, immer die Flucht vor ihnen zu ergreifen!«

Betuanas Augen wurden hart. »Auch mir nicht«, gestand sie. »Jedesmal, wenn ich fliehe, entehre ich das Andenken meines heldenhaften Gemahls!«

»Wie uns Aphraels Vetter mitteilte, hat Khalad-Knappe herausgefunden, daß die Luft, welche die Klæl-Bestien atmen, zu brennen beginnt, wenn sie mit unserer Luft gemischt wird!«
»Ich habe noch nie Luft brennen sehen!«
»Ich auch nicht. Aber wenn die Falle funktioniert, die ich den Klæl-Bestien gestellt habe, sehen wir es vielleicht beide.«
»Was ist das für eine Falle, Engessa-Atan?«
»Eine Laterne, meine Königin – gut versteckt.«
»Eine Laterne? Das ist alles?«

»Wenn Khalad-Knappe recht hat, müßte es genügen. Ich habe die Laterne geschlossen, damit die Klæl-Bestien das Licht nicht sehen, wenn sie ihre Stahltür öffnen, um die Höhle wieder zu verlassen. Ihre Luft wird sich völlig unbemerkt mit der unseren vermischen und ihren Weg zur Kerze finden, die im Innern der Laterne brennt. Dann werden wir feststellen, ob Khalad-Knappe recht hat. Wir müssen nur noch warten, bis die Ungeheuer die Höhle wieder verlassen wollen. Ich werde hierbleiben, bis ich ohne Zweifel weiß, ob diese Luftverbrennung sie tötet. Wie UlathRitter sagt, läßt nur ein Narr lebende Feinde hinter sich.«

Sie verbargen sich hinter einem Felsvorsprung und blickten angespannt auf die im Sternenlicht schwach erkennbare Höhlenöffnung.

»Es mag einige Zeit dauern, bis sie ihre Tür öffnen, meine Königin«, gab Engessa zu bedenken.

»Engessa-Atan«, sagte Betuana fest. »Ich finde schon seit langem, daß Eure förmliche Anrede fehl am Platze ist. Wir sind Soldaten und Kameraden. Bitte redet mich auch entsprechend an!«
»Euer Wunsch ist mir Befehl, Betuana-Atan.«

Sie warteten geduldig und beobachteten den hohen Felsen und die dunkle Höhlenöffnung. Dann erschütterte ein tiefer, unterirdischer Donner die Stille. Der Boden erbebte, und ein ungeheurer Feuersturm schoß aus der Höhlenöffnung und versengte die wenigen in der Nähe wachsenden, kargen Dornbüsche. Die Flammen tosten lange Zeit, bis das Feuer allmählich erstarb.

Bestürzt über diesen heftigen Ausbruch starrten Engessa und seine Königin beinahe ungläubig auf das Geschehen. Schließlich erhob sich Betuana. »Jetzt habe ich Luft brennen sehen«, bemerkte sie schließlich gefaßt. »Es war des Wartens wert, glaube ich.« Dann lächelte sie ihren noch immer erschütterten Kameraden an. »Ihr stellt gute Fallen, Engessa-Atan. Aber jetzt müssen wir uns beeilen, zu den Trollen zurückzukehren. Ulath-Ritter sagt, daß wir am Morgen vor Cyrga sein müssen!« »Wie Ihr befehlt, Betuana-Atan«, erwiderte er.


»Alle zusammen, wenn ich ›hoch!‹ sage«, wies Sperber die Gefährten an und legte die Hände um den Ring. »Paßt gut auf, wenn wir ihn absetzen, er darf nicht das leiseste Geräusch machen. Also, jetzt ›hoch!‹«

Kalten, Bevier, Mirtai und Sperber erhoben sich langsam und mühten sich, die rostige Eisenplatte aus ihrer Metallfassung zwischen den abgetretenen Kopfsteinen zu heben. »Seid vorsichtig«, ermahnte Talen Mirtai. »Fallt nicht hinein!«

»Möchtest du vielleicht meinen Platz einnehmen?« keuchte sie.

Die vier verlagerten ihr Gewicht, und es gelang ihnen, die schwere Platte ein wenig nach einer Seite zu kippen, so daß das große, eckige Loch teilweise unbedeckt war. Langsam ließen sie den Deckel hinunter.

»Es wäre leichter, ein Haus hochzuheben!« schnaufte Kalten.
»Dreht euch um!« befahl Flöte.
»Muß das sein?« jammerte Talen. »Ist es wie Fliegen?«
»Dreh dich einfach um, Talen!«

»Vergiß nicht, etwas anzuziehen!« erinnerte Sperber die Göttin.

»Kleidung wäre mir nur im Weg. Wenn es dir nicht gefällt, dann schau einfach nicht her!« Ihre Stimme war bereits volltönender.

Bevier hatte die Augen fest zusammengepreßt und bewegte die Lippen. Offenbar betete er – was ihm im Augenblick gerade leicht fiel.

»Ich bin gleich zurück«, versprach die Göttin. »Lauft nicht weg.«

Die Gefährten warteten Stunden, wie es ihnen schien. Dann hörten sie von tief unten ein schwaches Plätschern sowie ein unterdrücktes Lachen.

Talen kniete sich an den Rand des rechteckigen Schachtes. »Alles in Ordnung?«
flüsterte er.
»Mir geht es gut.«
»Was findest du so komisch?«

»Die Cyrgai. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie dumm sie sind!«

»Was haben sie denn jetzt schon wieder getan?«

»Das Wasser kommt von einem artesischen Brunnen ganz in der Nähe der Außenmauer. Die Cyrgai haben eine Art Zisterne rundherum gebaut. Sie führt unter der inneren Mauer hindurch, um Wasser zu einem sehr großen Becken unter dem Berg zu bringen, auf den sie ihre eigentliche Stadt gebaut haben.« »Was ist daran so verkehrt?«

»Wie schon Bevier, haben auch die Cyrgai offenbar erkannt, daß ihre Wasserzuführung eine Schwachstelle ist. Sorgfältig haben sie ein steinernes Gitterwerk am Eingang des Tunnels errichtet. Von der Zisterne aus kann niemand in den Tunnel gelangen.« »Ich verstehe immer noch nicht, was daran so lustig ist.«

»Dazu komme ich gleich. Dieser Schacht hinunter zum Tunnel wurde offensichtlich erst später angelegt – wahrscheinlich, damit sie zum Tunnel konnten, um ihn sauberzuhalten.«

»Das scheint mir auch nicht gerade eine schlechte Idee zu sein. Immerhin handelt es sich um Trinkwasser.«

»Ja. Aber als sie den Schacht aushoben, haben sie etwas vergessen. Das andere Ende des Tunnels – jenes innerhalb ihrer zweiten Mauer – steht völlig offen. Es befinden sich dort weder Eisen- noch Holzgitter, auch keine Ketten oder sonstigen Absperrungen.« »Das gibt's doch nicht!«

»Das wird einfacher, als ich zu hoffen gewagt hatte«, warf Kalten ein. Er beugte sich vor und spähte hinab in die Dunkelheit. »Ist die Strömung sehr stark?« rief er leise hinunter.

»Stark genug«, antwortete Aphrael. »Aber das ist recht hilfreich. Sie trägt einen schnell hindurch, so daß man den Atem nicht lange anhalten muß.«
»Den – was?« würgte Kalten hervor.
»Den Atem anhalten. Man muß unter Wasser schwimmen.«
»Ich ganz bestimmt nicht!«
»Du kannst doch schwimmen, oder etwa nicht?«
»Ich kann in voller Rüstung schwimmen, wenn es sein muß.«
»Wo liegt dann das Problem?«

»Ich kann nicht unter Wasser schwimmen! Ich bekomme panische Angst!«

»Das stimmt, Aphrael«, versicherte Sperber ihr. »Sobald Kaltens Kopf unter Wasser gerät, fängt er zu schreien an.«
»Da ertrinkt er ja!«

»Eben. Als wir noch Kinder waren, mußte ich mich auf seine Brust stellen, um das Wasser aus ihm herauszuquetschen. Und das nicht nur einmal!« »O je!« seufzte Aphrael. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«