20

Wenn man sie nur schlafen ließe! Die Welt um sie herum erschien verzerrt, unwirklich; sie sah sich selbst in gleichgültiger Benommenheit, als ihr erschöpfter Körper nach Schlaf schrie – oder sogar nach dem Tod. Sie vermochte sich kaum auf den Beinen zu halten, während sie am Fenster stand und auf die Sklaven hinunter blickte, die sich auf den Feldern um den See abplagten. Aus dieser Entfernung sahen sie fast wie Ameisen aus, die über die winterbrachen Felder krochen, während sie mit einfachen Geräten die Erde bearbeiteten. Andere Sklaven sammelten Brennholz unter den Bäumen an den Hängen des Beckens; die gedämpften Geräusche ihrer Äxte stiegen zu dem dunklen Turm empor, aus dem Ehlana blickte. Alean lag auf einer harten Holzbank; ob schlafend oder tot, vermochte Ehlana nicht mehr zu erkennen. Jedenfalls beneidete sie ihre sanfte Kammermaid.

Natürlich waren sie nicht allein. Sie waren nie allein. Zalasta, dessen Gesicht eingefallen war vor Müdigkeit, sprach unentwegt mit König Santheocles. Ehlana war zu erschöpft, als daß sie den Sinn der leiernden Worte des hageren Styrikers hätte verstehen können. Abwesend betrachtete sie den König der Cyrgai, einen Mann in enganliegendem stählernem Brustharnisch, einem kurzen Lederrock und kunstvollem stählernen Unterarmschutz. Santheocles war von edelster Herkunft; Generationen sorgfältig ausgewählter Elternteile hatten diese hehren, von seinem Volk so sehr bewunderten Züge hervorgebracht. Er war hochgewachsen und muskulös. Die helle Haut kontrastierte mit dem sorgfältig gelockten, geölten, glänzend schwarzen Haar. Die schmale, aristokratische Nase, die dunklen, ausdruckslosen Augen und die dünnen Lippen ließen einen gefühllosen, hochmütigen Mann erkennen, dem es Freude bereitete, bei der Durchsetzung seiner Ziele buchstäblich über Leichen zu gehen.

Sein reich verzierter Brustpanzer ließ Oberarme und Schultern unbedeckt. Während er zuhörte, ballte er immer wieder abwesend die Fäuste und ließ seine Muskeln unter der bleichen Haut spielen. Ganz offensichtlich achtete er nicht sonderlich auf Zalastas Worte; statt dessen war er völlig in das rhythmische Spannen und Entspannen seiner Armmuskeln vertieft. Er war in jeder Hinsicht der vollkommene Soldat, und sein durchtrainierter Körper war wie eine perfekt funktionierende Maschine. Er war kein Mann, der seine Gedanken an irgend etwas vergeudete, außer wahrscheinlich an sich selbst.

Ehlana ließ den Blick müde durchs Gemach schweifen, das sehr merkwürdig ausgestattet war. Es gab keine richtigen Sessel, nur Bänke und gepolsterte Hocker, zwar mit Armlehnen, doch ohne Rückenlehne. Offenbar waren Rückenlehnen in Cyrgai überhaupt nicht bekannt. In der Mitte stand ein unbequemer, niedriger Tisch, und die antiquierten Lampen waren kaum mehr als gehämmerte Kupferschalen voll Öl, in dem Dochte schwammen. Die grob gesägten Bodendielen waren mit Binsen bedeckt, die Wände aus Basaltquadern völlig schmucklos, und die Fenster ohne Vorhänge.

Die Tür schwang auf, und Ekatas trat ein. Ehlana bemühte sich, in ihrem erschöpften Gedächtnis zu suchen. Santheocles war König hier in Cyrgon, doch der eigentliche Herrscher war ohne Zweifel Ekatas. Cyrgons Hohepriester trug eine schwarze Robe mit weit fallender Kapuze, die sein von Falten und Runzeln durchzogenes Greisengesicht zur Zeit nicht verbarg. Zwar war Ekatas' Ausdruck ebenso grausam und hochmütig wie der seines Königs, doch seine Augen blickten gerissen und skrupellos. Das Symbol, das in der Verborgenen Stadt allgegenwärtig zu sein schien, zierte die Vorderseite seiner Robe: ein weißes Quadrat, gekrönt von einer stilisierten goldenen Flamme. Zweifellos hatte es irgendeine besondere Bewandtnis damit, doch Ehlana war zu müde, sich auch nur zu fragen, um was es sich handeln mochte. »Kommt mit mir«, befahl Ekatas schroff. »Und bringt die Frauen mit!«

»Die Dienerin ist unwichtig«, entgegnete Zalasta in leicht herausforderndem Tonfall. »Laßt sie schlafen.«

»Ich bin es nicht gewöhnt, daß meine Befehle in Frage gestellt werden, Styriker!« »Dann gewöhnt Euch daran. Die Frauen sind meine Gefangenen. Ich habe mit Cyrgon eine Abmachung getroffen, nicht mit Euch. Ihr seid dabei nicht mehr als ein Anhängsel. Euer Hochmut wird zum Ärgernis für mich. Laßt das Mädchen in Ruhe!« Sie starrten einander durchdringend an, und eine beinahe greifbare Spannung erfüllte das Gemach. »Nun, Ekatas?« sagte Zalasta ruhig. »Ist es soweit? Habt Ihr endlich genug Mut aufgebracht, mich herauszufordern? Jederzeit, Ekatas. Wann immer Ihr wollt.«

Ehlana, die nun hellwach war und das Geschehen aufmerksam verfolgte, sah die Furcht in den Augen des Hohepriesters. »Dann nehmt nur die Königin mit«, brummte er. »Sie ist es, nach der Cyrgon verlangt.«

»Eine kluge Entscheidung, Ekatas«, sagte Zalasta spöttisch. »Wenn Ihr weiterhin das richtige tut, lebt Ihr vielleicht sogar ein Weilchen länger.«

Ehlana nahm ihren Umhang ab und deckte Alean sanft damit zu. Dann drehte sie sich zu den drei Männern um und bemühte sich, ihre königliche Würde zu wahren. »Bringen wir es hinter uns.«

Santheocles erhob sich hölzern, setzte seinen Helm mit dem hohen Kamm auf und achtete dabei sehr darauf, sein sorgsam frisiertes Haar nicht in Unordnung zu bringen. Er brauchte eine Weile, seinen riesigen Rundschild am Arm festzuschnallen; dann zog er sein Schwert.

»Was für ein eingebildeter Esel«, bemerkte Ehlana verächtlich. »Solltet Ihr Seiner Majestät nicht lieber das Schwert wegnehmen, Ekatas? Er könnte sich verletzen, wißt Ihr.«

»Das ist Tradition«, erwiderte Ekatas steif. »Gefangene werden immer unter strenger Bewachung gehalten.«

»Ah«, murmelte sie, »und wir müssen natürlich den Traditionen gehorchen, nicht wahr? Wo die Tradition herrscht, ist das Denken überflüssig.«

Zalasta lächelte leicht. »Hattet Ihr nicht vor, uns zum Tempel zu führen, Ekatas? Wir wollen Cyrgon doch nicht warten lassen.«

Ekatas schluckte eine Erwiderung herunter und ging ihnen voraus auf den kalten Korridor.

Die Wendeltreppe, die vom obersten Geschoß des höchsten Turmes im königlichen Schloß in die Tiefe führte, war schmal und steil und schien sich in einer endlosen Spirale dahinzuwinden. Als sie endlich unten ankamen, zitterte Ehlana vor Erschöpfung.

Die Wintersonne schien hell auf den riesigen Schloßhof, doch sie wärmte kaum.

Sie überquerten den mit Steinplatten gepflasterten Hof zu dem bleichen Tempel: ein Bauwerk, das nicht aus Marmor, sondern aus Kalkstein errichtet war. Im Gegensatz zu Marmor besaß Kalkstein eine glanzlose Oberfläche, so daß der Tempel ein wenig aussah, als wäre er vom Aussatz befallen.

Sie stiegen die Freitreppe zum Portikus hinauf und traten durch eine breite offene Tür ein. Ehlana hatte erwartet, daß es in diesem Heiligtum dunkel sein würde, sah sich jedoch getäuscht. Voller Staunen, in das sich ein wenig Angst mischte, blickte sie auf die Lichtquelle, während Ekatas und Santheocles sich zu Boden warfen und wie mit einer Stimme riefen: »Vanet, tyek Alcor! Yala Cyrgon!«

Und plötzlich erkannte die Königin die Bedeutung des Sinnbilds, das hier, in der Verborgenen Stadt, praktisch überall zu finden war. Das weiße Quadrat stellte den aus einem Quader bestehenden Altar dar, der sich genau in der Mitte des Tempels befand, während die Flamme, die darüber brannte, keineswegs ein stilisiertes Sinnbild war, sondern ein wirkliches loderndes Feuer, das gierig himmelwärts leckte. Ehlana hatte plötzlich Angst. Was dort auf dem Altar brannte, war kein Votivfeuer, sondern eine Flamme, die lebte und einen unlöschbaren Willen besaß. Hell wie die Sonne loderte Cyrgon höchstpersönlich und in alle Ewigkeit in seinem Heiligtum.


»Nein«, entschied Sperber, »lieber nicht. Rühren wir uns nicht. Auf jeden Fall solange nicht, wie Xanetia Gelegenheit hat, einige Köpfe nach deren Gedächtnis zu durchforschen. Wir können immer noch zurückkommen und uns Scarpa und seine Freunde später vornehmen. Im Augenblick ist es wichtiger zu erfahren, wohin Zalasta Ehlana und Alean bringt.«

»Das wissen wir bereits«, erinnerte Kalten ihn. »Nach Cyrga.«

»Das ist es ja gerade«, warf der jetzt unsichtbare Ulath ein, »Wir wissen nicht, wo Cyrga liegt.«

Sie waren in den noch überwucherten Teil der Ruinen zurückgekehrt und hatten sich im ersten Stock eines teilweise erhaltenen Palastes zusammengesetzt, um ihre weiteren, möglichen Schritte zu besprechen.

»Aphrael hat eine ungefähre Ahnung, was die Lage der Stadt angeht«, sagte Kalten. »Können wir uns nicht einfach auf den Weg nach Mittelcynesga machen und dort herumstöbern?«

»Ich glaube nicht, daß es uns viel nützen würde«, gab Bevier zu bedenken. »Cyrgon verbirgt diese Stadt bereits seit zehn Äonen hinter Trugbildern. Möglicherweise könnten wir durch die Straßen dieser Stadt spazieren, ohne sie zu sehen.« »Er verbirgt sie nicht vor jedem«, sagte Caalador nachdenklich. »Schließlich werden Nachrichten hin und her gesandt; infolgedessen muß irgendwer in Natayos den Weg kennen. Sperber hat recht. Wir sollten Xanetia hier das Herumstöbern überlassen, statt daß wir alle in der Wüste umherirren, Skorpionen und Schlangen aus dem Weg gehen und jedes Sandkorn umdrehen.« »Dann bleiben wir also hier?« vergewisserte sich Tynian.

»Eine Zeitlang«, antwortete Sperber. »Wir tun möglichst nichts Auffälliges, bis wir wissen, was Xanetia herausgefunden hat. Das ist in der jetzigen Lage das Beste.« »Wir waren so nah!« rief Kalten wutschnaubend. »Wären wir nur einen oder zwei Tage früher hergekommen!«

»Sind wir aber nicht!« entgegnete Sperber mißmutig und unterdrückte seine eigene Enttäuschung und den Zorn. »Also versuchen wir zu retten, was zu retten ist.« »Während Zalasta sich mit jeder Minute weiter entfernt«, fügte Kalten verbittert hinzu. »Keine Angst, Kalten«, beruhigte Sperber ihn, und seine Stimme klang eisig. »Wenn ich erst beschlossen habe, Zalasta zu verfolgen, kann er gar nicht weit oder schnell genug vor mir davonlaufen.«


»Bist du sehr beschäftigt, Sarabian?« fragte Kaiserin Elysoun zaghaft an der Tür des blauen Gemachs.

»Eigentlich nicht, Elysoun.« Er seufzte. »Ich grüble nur. Ich habe in den letzten Tagen zu viele schlechte Nachrichten erhalten.«

»Dann komme ich ein andermal wieder. Es macht nicht viel Spaß mit dir, wenn du so viel nachzudenken hast.«

»Ist dir eigentlich nichts anderes wichtig, Elysoun?« fragte er traurig. »Nur Spaß?« Ihr fröhliches Gesicht spannte sich ein wenig, und sie trat in das Gemach. »Darum hast du mich doch ursprünglich geheiratet, nicht wahr, Sarabian?« Sie sprach nun in klarem Tamulisch, das so ganz anders war als ihr üblicher gedehnter valesianischer Dialekt. »Unsere Verehelichung diente dazu, politische Bündnisse zu festigen. Wir sind also als Symbole hier, als Schmuck, als Zierat, keinesfalls jedoch als Teil der Regierung.«

Er staunte über ihre Einsicht und plötzliche Veränderung. Es fiel leicht, Elysoun zu unterschätzen. Die Zielstrebigkeit, mit der sie ihr Vergnügen verfolgte und die geradezu auffordernde Offenherzigkeit ihrer in Valesien für junge Frauen üblichen Kleidung ließen auf einen Menschen schließen, der nur auf sinnliche Genüsse bedacht war. Doch das hier war eine völlig andere Elysoun. Sarabian betrachtete sie mit neuem Interesse. »Was hast du in letzter Zeit getan, meine Liebe?« erkundigte er sich voller Zuneigung. »Das übliche.« Sie zuckte die Schultern. Er wandte die Augen ab. »Bitte, tu das nicht!« »Was?« »Den Busen so hüpfen lassen.«

»Genau das soll er aber! Oder glaubst du vielleicht, ich kleide mich so, weil ich zu bequem bin, andere Gewänder anzuziehen? Nein, es soll die Männer erregen!« »Bist du deshalb zu mir gekommen? Oder gibt es einen weniger erfreulichen Grund?« So hatten sie noch nie miteinander gesprochen, doch Elysouns unerwartete Offenheit faszinierte ihn.

»Reden wir zuerst über das weniger Erfreuliche.« Sie musterte ihn kritisch. »Du brauchst mehr Schlaf!«
»Ich weiß, aber ich komme einfach nicht zur Ruhe.«

»Dann werde ich wohl sehen müssen, was man dagegen tun kann.« Sie hielt kurz inne. »Im Frauenflügel geht irgend etwas vor, Sarabian.« »Ach?«

»Es haben sich viele Fremde unter die Herden von Schoßtierchen und die Speichellecker gemischt, die sich auf den Korridoren herumtreiben.«

Sarabian lachte. »Was für unschöne Ausdrücke du benutzt, um Höflinge zu beschreiben.«

»Wie soll man sie denn sonst nennen? Es gibt nicht einen richtigen Mann unter diesen Kerlen. Sie sind im Kaiserinnenflügel und helfen uns, Komplotte zu schmieden. Ich nehme an, du weißt, daß wir unsere Zeit damit verbringen, gegeneinander zu intrigieren, nicht wahr?«

Er zuckte die Schultern. »Das hilft euch, eure Mußestunden zu vertreiben.« »Wir haben nur Mußestunden, mein Gemahl. Unsere gesamte Zeit ist freie Zeit, das ist ja unser Problem. Wie dem auch sei – diese Fremden gehören keinem der uns bekannten Höfe an.« »Bist du sicher?«

Sie lächelte ein wenig lasziv. »Darauf kannst du dich verlassen! Ich kenne alle männlichen Mitglieder unserer Hofgesellschaft. Sie sind kaum mehr als dressierte weiße Mäuse. Diese Fremden dagegen sind Ratten!«

Er bedachte sie mit einem erheiterten Blick. »Hast du dich wirklich mit allen Höflingen im Kaiserinnenflügel befaßt?«

»Mehr oder weniger.« Wieder zuckte sie die Schultern – mit voller Absicht, wie Sarabian glaubte. »Im Grunde genommen war es ziemlich langweilig. Höflinge sind bloß Maulhelden. Aber es hat mir immerhin geholfen, auf dem laufenden zu bleiben.«
»Und diese Fremden … sind sie Tamuler?«
»Manche. Manche nicht.«
»Wie lange geht das schon so?«
»Seit wir alle zurück in den Kaiserinnenflügel gezogen sind. Als wir hier noch mit den Eleniern wohnten, sah ich keine von diesen Ratten.«
»Also erst seit ein paar Wochen?«

Sie nickte. »Ich dachte, du solltest es wissen. Vielleicht hat es nichts zu bedeuten. Aber ich habe irgendwie ein anderes … Gefühl dabei. Unsere Palastpolitik ist indirekter als die eure, aber was derzeit im Kaiserinnenpalast vor sich geht, ist reine Männerpolitik.«

»Meinst du, du könntest für mich ein Auge darauf halten? Ich wäre dir sehr dankbar.« »Selbstverständlich, mein Gemahl. Ich bin schließlich dein ergebenes Eheweib.« »Ach, wirklich?«

»Begehe diesen Fehler nicht, Sarabian! Ergebenheit darf nicht mit … dieser anderen Sache verwechselt werden! Sie bedeutet gar nichts. Ergebenheit hingegen sehr viel.«
»In dir steckt weitaus mehr, als man ahnt, Elysoun.«

»Ach? Ich habe nie versucht, irgend etwas zu verbergen.« Sie atmete tief ein. Wieder lachte er. »Hast du heute abend schon etwas vor?«

»Ja, aber das alles ließe sich auf ein andermal verschieben. Hast du etwas vor?«
»Ich dachte, wir könnten ein bißchen miteinander reden.«
»Reden?«
»Unter anderem.«

»Laß mich erst eine Nachricht abschicken. Dann können wir so lange reden, wie du möchtest – und auch das andere tun.«


Sie waren auf der um das Westufer des Sees führenden Straße nach Arjuna, zwei Tagesritte von Tiana entfernt. Ihr Lager hatten sie am Ufer aufgeschlagen gehabt, ein Stück abseits der Straße, und Khalad hatte mit seiner Armbrust ein Reh erlegt. »Wegzehrung«, erklärte er Berit, der das Tier häutete. »Das spart Zeit und Geld.« »Du kannst wirklich großartig mit der Armbrust umgehen!« lobte Berit.

Khalad zuckte die Schultern. »Übung.« Plötzlich riß er den Kopf hoch. »Besuch!« Er deutete mit dem Messer zur Straße.

Berit nickte. »Arjuner.« Er spähte zu den näher kommenden Reitern hinüber. »Nicht alle«, widersprach Khalad. »Der vorderste ist Elenier – seiner Kleidung nach ein Edomer.« Er wischte seine blutigen Hände an dem hohen Gras ab, griff nach seiner Armbrust und spannte sie wieder. »Nur sicherheitshalber«, murmelte er. »Schließlich wissen sie, wer wir wirklich sind.« Berit nickte düster und lockerte sein Schwert in der Scheide.

Etwa hundertfünfzig Fuß entfernt zügelten die Reiter ihre Pferde. »Ritter Sperber?« erkundigte sich der Edomer auf elenisch.

»Schon möglich«, rief Berit zurück. »Was kann ich für Euch tun, Nachbar?«
»Wir haben eine Botschaft für Euch.«
»Ich bin gerührt. Bringt sie her.«

»Kommt allein!« fügte Khalad hinzu. »Ihr werdet Eure Leibwächter nicht brauchen.« »Ich habe gehört, was Ihr mit dem letzten Kurier gemacht habt!«

»Gut.« Khalad nickte. »Es war unsere Absicht, daß sich sein Schicksal herumspricht. Der Kerl hatte ziemliche Schwierigkeiten mit der Höflichkeit, aber ich bin sicher, Ihr habt bessere Manieren. Kommt her. Es geschieht Euch nichts – solange Ihr höflich seid.« Der Edomer zauderte immer noch.

»Freund«, betonte Khalad, »Ihr befindet Euch innerhalb der Schußweite meiner Armbrust, also tut lieber, wozu wir Euch auffordern. Kommt allein zu uns. Wir erledigen dieses Geschäft, und dann dürft Ihr und Eure arjunischen Begleiter euch wieder auf den Weg machen. Tut Ihr es nicht, könnte sich die ganze Sache als unangenehm für Euch erweisen.«

Der Edomer besprach sich kurz mit seinen Leibwächtern, dann ritt er vorsichtig voran und hielt ein gefaltetes Pergament über den Kopf. »Ich bin unbewaffnet!« rief er. »Das ist sehr unvorsichtig, Nachbar«, sagte Berit. »Es sind unruhige Zeiten. Gebt mir die Botschaft.«

Der Kurier senkte langsam den Arm und hielt Berit das Schreiben hin. »Die Pläne wurden überraschend geändert, Ritter Sperber«, sagte er höflich.

»Überraschend?« Berit öffnete das Pergament und nahm Ehlanas blonde Haarsträhne heraus. »Es ist ja erst zum dritten Mal. Euch Kerlen fällt es offenbar schwer, Entscheidungen zu treffen.« Er blickte auf das Pergament. »Wie zuvorkommend. Diesmal hat sogar jemand eine Karte gezeichnet.«

»Die Ortschaft ist nicht allzu bekannt«, erklärte der Edomer. »Es ist ein winziger Ort, den es ohne den Sklavenhandel gar nicht gäbe.«

»Ihr seid ein sehr guter Bote, Freund«, versicherte Khalad dem Fremden. »Wärt Ihr so freundlich, eine Nachricht von mir an Krager zu übermitteln?« »Ich werde es versuchen, junger Herr.«

»Gut. Sagt ihm, ich bin hinter ihm her. Sagt ihm, daß ich ihn bekomme, denn egal, wie diese Sache ausgeht – eines Tages werde ich da sein.«

Der Edomer schluckte schwer. »Ich werde es ihm ausrichten junger Herr.« »Das weiß ich zu schätzen.«

Der Kurier lenkte sein Pferd vorsichtig mehrere Fuß rückwärts; dann wendete er das Tier und ritt zu seinen arjunischen Begleitern zurück.
»Nun?« fragte Khalad.
»Vigayo – drüben in Cynesga.«
»Nicht gerade eine Stadt.«
»Du warst schon einmal dort?«
»Flüchtig. Bhelliom hat uns mal aus Versehen dorthin gebracht, als Sperber noch mit ihm herumexperimentierte.«
»Wie weit ist es von hier?«

»Etwa dreihundert Meilen. Aber es liegt wenigstens in unserer Richtung. Aphrael sagte, daß Zalasta die Königin nach Cyrga bringt. In diesem Fall ist Vigayo näher als Arjun. Gib Bescheid, Berit. Sag Aphrael, daß wir am frühen Morgen aufbrechen. Dann kannst du mir helfen, das Reh in Portionen zu zerlegen. Bis Vigayo sind es ungefähr zehn Tage, da werden wir dankbar für das Fleisch sein.«


»Er war dort«, berichtete Xanetia. »Seine Erinnerung an die Verborgene Stadt ist klar, doch an den Weg dorthin kann er sich nicht mehr genau entsinnen. Der Wahnsinn hat seinen Gedanken den Zusammenhang geraubt, und sein Geist huscht sinnlos zwischen Wirklichkeit und Illusion hin und her.«

»Da hab'n wir wohl ein Problem«, sagte Caalador gedehnt. »Der olle Krager kennt den Weg nich', weil er zu besoffen war, richtig zuzuhören, als Zalasta erklärt hat, wie man nach Cyrga kommt. Und Scarpa is' zu verrückt, um sich zu erinnern, wie er hingekommen is'.« Er kniff die Augen zusammen und gab den Dialekt auf. »Was ist mit Cyzada?« fragte er Xanetia.

Sie schauderte. »Es ist nicht Wahnsinn, noch Betrunkenheit, welche mir den Weg ins Gedächtnis Cyzadas von Esos verwehrt«, antwortete sie voller Abscheu. »So tief hat er in die Finsternis gegriffen, welche Azash war, und die Kreaturen der Unterwelt nahmen so vollkommen Besitz von ihm, daß seine Gedanken nicht mehr menschlich sind. Zu Anfang besaß er Macht über diese grauenvollen Dämonen; dann aber beschwor er Klæl. Dadurch wurden alle Bande gesprengt und machten den Weg in das Grauen der Hölle frei. Ich flehe euch an, schickt mich nie mehr in dieses brodelnde Chaos! Wahrlich kennt er den Weg nach Cyrga, doch diesem Pfad könnten wir nicht folgen; denn er führt durch das Reich der Flamme und Finsternis und des unbeschreiblichen Schreckens.«

»Damit sind die Möglichkeiten dieses Ortes mehr oder weniger erschöpft, nicht wahr?« Beim Klang der vertrauten Stimme drehten sich alle rasch um. Die Kindgöttin saß sittsam auf einem Fenstersims und hielt ihre Syrinx in der Hand.

»Ist das klug, Göttin?« fragte Bevier. »Werden unsere Feinde deine Anwesenheit nicht spüren?«

»Es ist niemand mehr hier, der das vermöchte, Bevier«, beruhigte sie ihn. »Zalasta ist fort. Ich bin nur kurz hierher gekommen, um euch wissen zu lassen, daß Berit neue Anweisungen erhielt. Er und Khalad begeben sich nach Vigayo, einer kleinen Ortschaft unmittelbar vor der cynesganischen Grenze. Sobald ihr soweit seid, bringe ich euch dorthin.« »Wozu soll das gut sein?« fragte Kalten.

»Xanetia muß so nahe am nächsten Kurier sein wie nur möglich«, antwortete sie. »Cyrga ist vollkommen verborgen – sogar vor mir. Es gibt einen Schlüssel zu dieser Illusion, und den müssen wir finden. Ohne diesen Schlüssel könnten wir bis ins hohe Alter in jener Wüste umherwandern, ohne auch nur zu ahnen, wo diese Stadt ist.« »Da hast du wohl recht«, pflichtete Sperber ihr bei und blickte sie direkt an. »Könntest du noch einmal eine Zusammenkunft ermöglichen? Wir kommen dem Ende dieser Sache näher, und ich muß mit den anderen sprechen – vor allem mit Vanion und Bergsten, wahrscheinlich auch mit Betuana und Kring. Uns stehen gewaltige Heere zur Verfügung; aber sie nutzen uns nicht viel, wenn sie in drei verschiedene Richtungen marschieren oder Cyrga einzeln angreifen. Wir wissen in etwa, wo die Stadt sich befindet, und ich würde gern einen Ring aus Stahl um sie herumlegen. Aber ich möchte nicht, daß irgend jemand durch Zufall hineinstolpert, bevor wir Ehlana und Alean herausgeholt haben.«

»Du bringst mich in Schwierigkeiten, Sperber!« tadelte Aphrael. »Hast du überhaupt eine Ahnung, welche Versprechen ich geben muß, um die Erlaubnis für diese Art von Treffen zu bekommen? Und ich muß alle diese Versprechen auch halten.«

»Es ist wirklich sehr wichtig, Aphrael!«

Sie streckte ihm die Zunge heraus, verschwamm und entschwand.


»Domi Tikume hat Anweisungen geschickt, Eminenz«, berichtete der kahlgeschorene Peloi Patriarch Bergsten, als sie sich im Zelt des Kirchenmannes unmittelbar vor der Stadt Pela in Mittelastel trafen. »Wir sollen für Unterstützung sorgen, so gut wir können.«

»Euer Domi ist ein tüchtiger Mann, Freund Daiya«, antwortete der Patriarch in der Panzerrüstung.

»Seine Anweisungen waren wie ein Stich in ein Hornissennest«, entgegnete Daiya trocken. »Der Gedanke an ein Bündnis mit den Ordensrittern hat eine theologische Debatte ausgelöst, die tagelang andauerte. Die meisten Leute hier in Astel glauben, daß die Ordensritter in der Hölle geboren und aufgezogen wurden. Sehr viele von den Debattierenden tragen die Sache nun Gott höchstpersönlich vor.«

»Ich kann mir vorstellen, daß religiöse Meinungsverschiedenheiten unter den Peloi recht hitzig ausgetragen werden.«

»O ja«, bestätigte Daiya. »Die Botschaft von Erzmandrit Monsel hat die erregten Gemüter jedoch ein wenig besänftigt. Der religiöse Glaube ist nicht sonderlich tief, Eminenz. Wir vertrauen Gott, überlassen die Theologie aber den Kirchenmännern. Wenn der Erzmandrit die Sache billigt, genügt uns das. Wenn er sich täuscht, wird er dafür in der Hölle schmoren.«

»Wie weit ist es von hier nach Cynestra?« erkundigte sich Bergsten. »Ungefähr fünfhundertfünfundzwanzig Meilen, Eminenz.«

»Drei Wochen«, murmelte Bergsten düster. »Ich fürchte, dagegen können wir nicht viel tun. Wir brechen im Morgengrauen auf. Gebt Euren Männern den Rat, zu schlafen, Freund Daiya. Schlaf könnte in den nächsten Wochen Mangelware werden.«

»Bergsten!« Die Stimme, die seinen Namen rief, war hell und melodisch.

Der thalesische Patriarch setzte sich rasch auf und griff nach seiner Streitaxt. »Oh, laß das, Bergsten. Ich tue dir nichts.«

»Wer ist da?« fragte er heftig und tastete nach seiner Kerze und nach Stahl und Feuerstein.

»Da.« Aus der Dunkelheit erschien eine kleine Hand, auf deren Teller eine Flammenzunge tänzelte.

Bergsten blinzelte. Sein mitternächtlicher Besuch war ein kleines Mädchen – ein styrisches, wie er vermutete. Es war ein wunderschönes Kind mit langem Haar und großen, nachtdunklen Augen. Bergstens Hände fingen zu zittern an. »Du bist Aphrael, nicht wahr?« brachte er heiser hervor. »Gut beobachtet, Eminenz. Sperber möchte mit dir reden.«

Bergsten wich vor diesem Wesen zurück, das nach der gängigen Kirchendoktrin nicht existierte – nicht existieren konnte!

»Beruhige dich, Eminenz. Du weißt, daß ich mich nicht mit dir unterhalten könnte, wenn ich nicht die Erlaubnis deines Gottes hätte, nicht wahr? Ohne Genehmigung könnte ich nicht einmal in deine Nähe kommen.«

»Na ja … theoretisch«, gab er widerstrebend zu. »Du könntest aber ein Dämon sein, und die brauchen sich an keine Regeln zu halten.«
»Sehe ich wie ein Dämon aus?«

»Aussehen und Wirklichkeit sind zwei Paar Schuhe«, beharrte er.

Sie blickte tief in Bergstens Augen und sagte den wahren Namen des elenischen Gottes – eines der bestgehüteten Geheimnisse der Kirche. »Ein Dämon könnte diesen Namen nicht aussprechen, hab' ich recht, Eminenz?« »Nun – nein, ich glaube nicht.«

»Wir werden gut miteinander auskommen, Bergsten.« Sie lächelte und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. »Ortzel hätte wochenlang über diese Frage diskutiert. Laß deine Axt bitte hier. Stahl jagt mir Schauder über den Rücken.«
»Wohin gehen wir?«
»Zu Sperber. Das sagte ich bereits.«
»Ist es weit?«

»Eigentlich nicht.« Wieder lächelte sie und öffnete die Zeltklappe.

In Pela war es noch immer Nacht, aber hinter der Zeltklappe herrschte heller Tag – doch war es eine ungewöhnliche Art von Tageslicht. Unter einem regenbogenfarbenen Himmel erstreckte sich ein unberührter weißer Strand hinab zu einem saphirblauen Meer, aus dem sich eine kleine grüne Insel mit einem schimmernden Alabastertempel erhob.

Bergsten steckte den Kopf aus dem Zelt und blickte sich verblüfft um. »Was ist das für ein Ort?«

»Ich nehme an, du könntest ihn Himmel nennen, Eminenz«, antwortete die Kindgöttin und blies die auf ihrem Handteller tanzende Flamme aus. »Jedenfalls ist es mein Himmel. Es gibt noch andere, doch dieser ist meiner.« »Wo ist er?«

»Überall und irgendwo. Alle Himmel sind überall gleichzeitig. Genau wie die Höllen, natürlich – aber das ist eine andere Geschichte. Wollen wir gehen?«