24

»Es müßten zwei Worte sein!« beharrte Kalten an diesem Nachmittag, einige Meilen außerhalb von Vigayo. »Widder. Horn. Zwei Worte!«

»Es ist eine Losung! Ein Kennwort, Ritter Kalten«, versuchte Talen, ihm die Sache zu erklären. »Widderhorn. Genau so!«

»Was sagst du, Sperber?« wandte Kalten sich an seinen Freund. »Ist es ein Wort, oder sind es zwei?« Die drei Gefährten waren gerade mit der Arbeit fertig geworden, neben dem Pfad Steine aufzuhäufen – auf eine Weise, daß es wie ein Grabhügel aussah. Nun stritt Kalten mit Talen wegen der Inschrift, die der Junge in das Stück Holz geritzt hatte, das zur Kennzeichnung des Grabes dienen sollte. »Das ist doch egal.« Sperber zuckte die Schultern.

»Falls es falsch geschrieben ist, erkennt Berit es vielleicht nicht, wenn er vorbeireitet«, gab Talen zu bedenken.

»Er wird es erkennen«, widersprach Sperber. »Berit ist klug. Aber bringt die Anordnung der gelben Steine oben auf dem ›Grab‹ nicht durcheinander!«

»Seid Ihr sicher, daß Khalad verstehen wird, was diese Steine bedeuten?« fragte Talen skeptisch.

»Euer Vater hätte es verstanden«, antwortete Sperber, »und ich bin überzeugt, daß er Khalad alle gebräuchlichen Signale beibrachte.«

»Ich bin nach wie vor sicher, daß es zwei Worte sind!« beharrte Kalten. »Bevier!« rief Sperber.

Der cyrinische Ritter kam mit fragender Miene zu dem falschen Grab zurück. »Die beiden streiten sich darüber, wie man Widderhorn schreibt«, sagte Sperber. »Du bist der Gelehrte. Kläre du die Sache.«

»Ich bin nach wie vor sicher, daß er es falsch geschrieben hat!« beharrte Kalten eigensinnig. »Es müssen zwei Worte sein. Nicht wahr, Bevier?«

»Äh …«, murmelte Bevier ausweichend. »Da gehen die Meinungen auseinander.« »Wie wär's, wenn Ihr es ihnen beim Weiterreiten erklärt«, schlug Mirtai vor.

Sperber blickte Xanetia an. »Tut es nicht«, bat er sie leise.

»Was möchtet Ihr, das ich nicht tun soll, Anakha?« fragte sie arglos.

»Lacht nicht. Ja, lächelt nicht einmal. Ihr würdet es nur schlimmer machen.«


Es könnte drei Wochen später gewesen sein – oder auch nicht. Patriarch Bergsten hatte es aufgegeben, mit der wirklichen Zeit Schritt halten zu wollen. Er blickte in theologischer Mißbilligung mürrisch auf das von einer Lehmmauer umgebene Cynestra und die aufreizend junge und vor Gesundheit strotzende Person, die auf ihn zukam. Bergsten glaubte an eine methodisch geordnete Welt, und jegliche Verletzung dieser Ordnung machte ihn nervös.

Sie war sehr groß und hatte bronzefarbene Haut und nachtschwarzes Haar. Zudem war sie ungemein hübsch, geschmeidig und muskulös. Eine weiße Fahne schwenkend, rannte sie den Gefährten leichtfüßig aus dem Haupttor von Cynestra entgegen und blieb in einiger Entfernung von Bergsten und der Vorhut stehen. Ritter Heldin, Daiya und Neran, ihr tamulischer Dolmetscher, ritten voran, um mit der jungen Frau zu reden. Sie sprach für längere Zeit mit Neran.

»Guckt Euch nicht die Augen aus dem Kopf, Heldin!« brummte Bergsten. »Ich habe doch bloß …!«

»Ich weiß, was Ihr habt! Hört auf damit!« Bergsten hielt inne, rieb sich das Kinn. »Ich frage mich, weshalb sie eine Frau geschickt haben.«

Neran, ein schlanker Tamuler, den Botschafter Fontan ihnen mitgegeben hatte, kehrte gerade zurück. »Sie ist Atana Maris«, erklärte er, »Kommandant der atanischen Garnison hier in Cynestra!«
»Eine Frau!« rief Bergsten erstaunt.

»Das ist bei den Atanern nicht unüblich, Eminenz. Sie hat uns erwartet. Außenminister Oscagne hatte unser Kommen angekündigt.« »Wie ist die Lage in der Stadt?« fragte Heldin.

»König Jaluah schickt seit etwa einem Monat unauffällig, nach und nach Truppen nach Cynestra«, antwortete Neran. »Atana Maris verfügt in ihrer Garnison über tausend Ataner, und die Cynesganer haben versucht, ihre Bewegungsfreiheit zu beschränken. Das hat ihre Ungeduld gesteigert. Wahrscheinlich wäre sie vor einer Woche gegen das Königsschloß vorgerückt, hätte Oscagne sie nicht angewiesen, bis zu unserer Ankunft zu warten.« »Wie ist sie aus der Stadt gekommen?« brummte Heldin.

»Ich habe sie nicht gefragt, Ritter Heldin. Ich wollte sie nicht kränken.«

»Ich meinte damit, ob man nicht versucht hat, sie aufzuhalten.«
»Falls ja, sind die Betreffenden jetzt tot.«
»Aber sie ist eine Frau!« warf Bergsten ein.

»Ihr wißt wohl nicht viel über die Ataner, Eminenz?« fragte Daiya.

»Ich habe von ihnen gehört, Freund Daiya. Die Geschichten über dieses Volk erscheinen mir jedoch arg übertrieben.«

»Glaubt mir, Eminenz, das sind sie bestimmt nicht«, erwiderte Daiya. »Ich kenne den Ruf dieses Mädchens. Sie ist der jüngste Standortkommandant der gesamten atanischen Armee. Und diesen verantwortungsvollen Posten hat sie sich nicht durch besonders weibliche Eigenschaften verdient. Nach allem, was ich so gehört habe, ist sie eine Barbarin.« »Aber sie ist so hübsch!« rief Heldin ungläubig.


»Ritter Heldin«, mahnte Neran. »Während Ihr sie weiter bewundert, solltet Ihr vielleicht besonders auf ihre Arm- und Schultermuskeln achten. Sie ist stark wie ein Stier, und wenn Ihr sie auch nur im geringsten beleidigt, egal auf welche Weise, reißt sie Euch in Stücke. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, daß sie Itagne beinahe getötet hat.«
»Den Bruder des Außenministers?« fragte Bergsten.

Neran nickte. »Er war in einer Mission hier und beschloß, die Stadt unter Kriegsrecht zu stellen. Dazu benötigte er Atana Maris' Hilfe, also verführte er sie. Sie reagierte begeistert – und setzte dabei ihre gesamte Muskelkraft ein. Seid höchst vorsichtig im Umgang mit ihr, meine Herren! Sie ist als Freundin fast so gefährlich wie als Feindin. Sie bat mich, Euch ihre Anweisungen zu übermitteln.«

»Anweisungen?« brauste Bergsten auf. »Ich nehme von einer Frau keine Befehle entgegen!«

»Eminenz!« wandte Neran ein. »Genau genommen steht Cynestra noch unter Kriegsrecht; deshalb hat Atana Maris das Kommando. Sie hat den Befehl, Euch die Stadt zu übergeben, aber sie weist Euch an, außerhalb der Stadtmauer zu warten, bis sie jeglichen Widerstand gebrochen hat. Sie möchte Euch die Stadt als Geschenk übergeben, sauber und ordentlich. Bitte, verderbt ihr nicht den Spaß daran. Lächelt sie an, dankt ihr höflich und wartet hier, bis sie die Straßen geräumt, gesäubert und die Toten in ordentlichen Haufen gestapelt hat. Dann wird sie Euch hereinbitten und Euch die Stadt übergeben – höchstwahrscheinlich mit König Jaluahs Kopf als Zugabe. Ich weiß, daß Euch die Situation unnatürlich erscheint, aber tut um Gottes willen nichts, was Atana Maris kränken könnte. Sie würde Euch sofort den Krieg erklären, und das wollen wir doch vermeiden, oder?« »Aber sie ist so hübsch!« wiederholte Heldin ungläubig.

Berit und Khalad saßen ab und führten ihre Pferde zur Oase hinunter, um sie zu tränken. »Kannst du erkennen, ob er hier ist?« fragte Khalad leise.

Berit schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das bedeutet, er ist kein Styriker. Wir müssen einfach warten, daß er zu uns kommt.« Er ließ den Blick über die wenigen weißgetünchten Häuser schweifen, die im Schatten niedriger Palmen standen. »Ob es hier irgendeine Art von Gasthaus gibt?«

»Sehr unwahrscheinlich. Auf der anderen Seite der Oase stehen eine Menge Zelte. Ich werde mich dort umhorchen, aber schraub deine Hoffnungen nicht zu hoch.« Berit zuckte die Schultern. »Na gut. Es wäre nicht das erste Mal, daß wir in Zelten hausen müssen. Erkundige dich, wo wir unseres aufstellen dürfen.«

Die Ortschaft Vigayo befand sich auf der östlichen Seite der Oase, und das Lager von Nomaden und Kaufleuten erstreckte sich entlang des ›Brunnens von Cyrgon‹, der im Grunde genommen ein großer Teich artesischen Wassers war. Berit und Khalad pflockten ihre Pferde an, schlugen ihr Zelt nahe dem Wasser auf und setzten sich in den Schatten, um zu warten. »Kannst du feststellen, ob Sperber irgendwo in der Nähe ist?« fragte Khalad.

Berit schüttelte den Kopf. »Möglicherweise ist er schon vor einiger Zeit durch die Oase gekommen. Oder er beobachtet sie von einem der Hügel aus. Vielleicht möchte er nicht, daß irgend jemand von seiner Anwesenheit erfährt.«

Etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang, als es bereits dämmerte, näherte sich ein Cynesganer in weiter gestreifter Robe ihrem Zelt. »Ich soll fragen, ob einer von euch möglicherweise Sperber genannt wird«, sagte er mit leichtem Akzent.

Berit stand auf. »Ich werde möglicherweise Sperber genannt, Nachbar.« »Möglicherweise?«

»So habt Ihr Eure Frage formuliert, Freund. Ihr habt einen Brief für mich. Wie wär's, wenn Ihr ihn mir einfach aushändigt und macht, daß Ihr weiterkommt? Wir haben sonst nichts zu besprechen, oder?«

Das Gesicht des Boten versteinerte. Er griff in seine Robe, holte ein gefaltetes und versiegeltes Pergament heraus und warf es Berit vor die Füße. Dann drehte er sich um und ging davon.

»Weißt du, Berit«, sagte Khalad beinahe sanft, »manchmal bist du sogar noch schroffer als Sperber.«

Berit grinste. »Ich weiß. Ich versuche schließlich, seinem Ruf Ehre zu machen.« Er bückte sich nach dem Pergament, brach das Siegel auf, nahm Ehlanas Haarsträhne heraus und las rasch die Botschaft.
»Nun?« fragte Khalad.

»Nichts, womit man etwas anfangen könnte. Krager schreibt, daß eine Karawanenroute nach Nordwesten führt. Wir sollen ihr folgen. Unterwegs erhalten wir weitere Anweisungen.«

»Meinst du, wir können den Zauber gefahrlos anwenden und mit Aphrael sprechen, wenn wir erst aus der Ortschaft sind?«

»Ich denke schon. Sie hätte es mir bestimmt gesagt, wenn ich ihn hier in Cynesga nicht benutzen dürfte.«

Khalad zuckte die Schultern. »Es bleibt uns sowieso nichts anderes übrig. Schließlich wissen wir nicht, ob Sperber bereits hier war, oder ob er jetzt hier ist, oder ob er noch hierher unterwegs ist. Und wir müssen ihm unbedingt die neuen Anweisungen mitteilen.« »Was meinst du? Sollten wir heute noch aufbrechen?«

»Nein. Es hätte wenig Sinn, in der Dunkelheit umherzuirren. Wir würden vielleicht den Pfad übersehen, und da draußen ist nichts als Wüste.«


»Ich werde nichts tun, was Berit auch nur in die geringste Gefahr bringen könnte«, weigerte Elysoun sich einige Tage später. »Ich mag ihn sehr!«

»Sie haben bereits vor längerer Zeit herausgefunden, daß er sich als Sperber ausgibt«, erinnerte Baroneß Melidere. »Er ist bereits in höchster Gefahr. Wenn Ihr Chacole von seinem Täuschungsmanöver erzählt, wird sie überzeugt sein, daß Ihr Euch auf ihre Seite geschlagen habt – und daß Ihr Zugang zu wichtigen Informationen habt.«

»Vielleicht solltet Ihr sie glauben lassen, daß Euer Gemahl vollkommen vernarrt in Euch ist, Kaiserin Elysoun«, fügte Patriarch Emban hinzu. »Laßt durchblicken, daß er Euch alles erzählt.« »Bist du vernarrt in mich, Sarabian?« fragte sie kokett. »Und wie, mein Schatz.« Er schmunzelte. »Ich bete dich an.«

»Oh, was für ein wundervolles Kompliment.« Sie lächelte glücklich.

Melidere blickte sie in Gedanken versunken an; dann sagte sie: »Ihr könnt euch später gegenseitig anhimmeln, Kinder. Wenn Ihr Chacole von Berits Tarnung erzählt, Elysoun, dann flechtet auch einen Hinweis auf eine Flotte von Kirchenschiffen im Golf von Dakonien ein. Stragen hat dieses Gerücht sorgfältig in die Welt gesetzt; deshalb sollten wir alles tun, daß die Geschichte glaubhaft ist. Nachdem Ihr ihnen von Berits Identitätswechsel erzählt habt, werden sie Euch auch die Geschichte über die Flotte glauben.« Sie blickte den Kaiser an. »Könnte Elysoun noch etwas verraten, ohne daß es uns schadet? Etwas, das die anderen nachprüfen können?« »Muß es was Wichtiges sein?«

»Eigentlich nicht. Hauptsache, es stimmt.« Melidere lächelte. »Man nehme zwei Portionen Wahrheit und eine Portion Lüge und tische es auf. Wenn die Mischung gut ist, werden sie die ganze Sache schlucken.«


Sie waren im ersten Tageslicht aufgebrochen. Als sie einen niedrigen Kamm überquerten und die endlose weiße Salzebene vor sich sahen, in der es kein Leben geben konnte, war die Sonne noch nicht aufgegangen. Die Zeit hatte, genau wie das Klima, jegliche Bedeutung verloren.

»Im Sommer möchte ich da nicht durchreiten müssen«, sagte Kalten. »Ich auch nicht«, pflichtete Sperber ihm bei.

»Der Pfad der Sklavenkarawanen biegt hier nach Norden ab«, bemerkte Bevier, »wahrscheinlich, um diese Ebene zu umgehen. Falls da draußen zufällig eine cynesganische Patrouille über uns stolpert, dürften wir einige Schwierigkeiten haben, sie zu überzeugen, daß wir zu dieser Karawane gehören, der wir gefolgt sind.« Kalten zuckte die Schultern. »Wir werden einfach behaupten, wir hätten uns verirrt. Überlasse mir das Reden, Bevier. Ich verirre mich ständig; deshalb werde ich es ihnen auch am überzeugendsten vorschwindeln können. – Wie weit ist es bis zur anderen Seite, Sperber?« »Nach meiner Karte etwa fünfundsiebzig Meilen.« »Zwei Tage, selbst bei einem Gewaltritt«, schätzte Kalten.

»Und nirgendwo Deckung«, fügte Bevier hinzu. »Da draußen könnte sich nicht einmal eine Spinne verstecken …« Er hielt inne. »Was ist das?« Er deutete auf ein blendendes Licht am gebirgigen Westhorizont.

Talen schaute blinzelnd auf das Leuchten. »Es könnte der Orientierungspunkt sein, den wir suchen.«
»Wie kommst du darauf?« fragte Kalten skeptisch.

»Er ist in der angegebenen Richtung, oder etwa nicht? Ogerajin sagte, wir sollen uns von Vigayo nordwestwärts in Richtung der Salzebenen halten. Dann sagte er: ›Am Rand der Salzwüste seht Ihr die dunklen Umrisse der Verbotenen Berge tief am Horizont vor Euch, und wenn es Cyrgon gefällt, werden seine feurigen weißen Säulen Euch zu seiner verborgenen Stadt führen.‹ Dort sind Berge, und das Licht kommt von rechts in ihrer Mitte. Müssen das nicht geradezu die Säulen sein?« »Der Mann war nicht bei Verstand, Talen!« wehrte Kalten ab.

»Vielleicht«, widersprach Sperber, »aber bis jetzt haben seine Angaben gestimmt. Und unsere Richtung ist es auf jeden Fall.«

»Es könnte uns nur eines Schwierigkeiten bereiten: Wenn wir auf eine hilfreiche cynesganische Patrouille stießen, die beschließt, uns zur Karawane zurückzubegleiten, der wir die vergangenen Tage gefolgt sind«, meinte Mirtai. »Die Wahrscheinlichkeit, draußen auf der Ebene einer Patrouille zu begegnen, ist gering«, warf Bevier ein. »Erstens einmal meiden Cynesganer diese Wüste, und zweitens dürften wegen des Krieges die meisten Patrouillen abgezogen worden sein.«

»Und drittens«, warf Mirtai mit der Hand um den Schwertgriff ein, »eine Patrouille, die uns begegnet, hätte kaum noch die Gelegenheit, jemandem Meldung darüber zu machen.«

»Also«, fuhr Sperber fort, »die Säulen haben wir wahrscheinlich entdeckt. Und wenn Ogerajin wußte, wovon er redete, brauchen wir sie nur anzuvisieren, um die Täuschung zu durchschauen. Nun, da wir sie entdeckt haben, dürfen wir sie nicht mehr aus den Augen verlieren. Wir müssen da draußen auf den Salzebenen ganz einfach das Risiko eingehen. Wenn wir Glück haben, wird niemand uns bemerken. Falls doch, versuchen wir, uns herauszulügen, und wenn uns das nicht gelingt, haben wir immer noch unsere Schwerter.« Er ließ den Blick von einem zum anderen schweifen. »Hat noch jemand etwas hinzuzufügen?«

»Ich glaube, das wär's«, antwortete Kalten, immer noch etwas skeptisch. »Dann wollen wir's angehen.«


»Sie haben einfach aufgehört und sind davongerannt, Freund Vanion«, erklärte Kring einen Tag später verwirrt. »Wir haben uns der Taktiken bedient, die Tikume und ich uns ausgedacht hatten, und alles verlief mehr oder weniger wie erwartet. Dann aber blies jemand in ein Horn oder etwas Ähnliches, und sie ergriffen die Flucht – aber wohin sind sie gerannt? Wenn es stimmt, was man uns gesagt hat, gibt es auf der ganzen Welt keinen Ort, wo sie Atem holen könnten.«

»Habt Ihr ihnen einen Beobachter nachgeschickt?« erkundigte sich Vanion. »Das hätte ich wohl machen sollen, aber ich war sehr damit beschäftigt, die Cyrgai über die Grenze zu locken.« Kring lächelte Sephrenia an. »Dieser styrische Fluch hat in den letzten zehntausend Jahren offenbar nichts an Kraft verloren, Erhabene. Drei ganze Regimenter Cyrgai fielen zu Boden wie frisch geschnittener Weizen, als sie die Grenze überschritten.« Er machte eine Pause. »Besonders klug sind sie wohl nicht.« »Die Cyrgai? Nein. Das widerspräche ihrer Religion.«

»Man sollte doch meinen, wenigstens ein paar hätten bemerkt, daß etwas faul ist! Aber sie rannten einfach immer weiter über die Grenze und fielen tot um.« »Selbständiges Denken ist bei ihnen unerwünscht. Sie werden ausgebildet, Befehlen zu gehorchen – selbst den widersinnigsten.«

Kring blickte auf die Brücke über die Sarna. »Ihr werdet von hier aus vorangehen, Freund Vanion?« fragte er.

»Ich werde eine Einheit auf die andere Seite der Brücke vorausschicken«, antwortete Vanion, »aber unser Hauptlager wird sich auf dieser Seite des Flusses befinden. Die Sarna ist die Grenze zwischen dem Land Tamul und Cynesga, nicht wahr?« »Im Prinzip, ja.« Der Domi zuckte die Schultern. »Die Grenze, an welcher der Fluch wirksam wird, liegt allerdings zwei Meilen weiter westlich.«

»Die Lage der Grenze hat sich im Laufe der Zeit mehrmals geändert«, erklärte Sephrenia.

»Tikume meinte, ich sollte hierher kommen und alles mit Euch besprechen, Freund Vanion«, wandte Kring sich wieder an den Hochmeister. »Wir möchten Sperbers Pläne nicht durchkreuzen; deshalb haben wir uns nicht sehr weit nach Cynesga hineinbegeben. Aber uns gehen die Leute aus, die wir jagen könnten.« »Wie weit seid Ihr vorgestoßen?« wollte Vanion wissen.

»Gut zwanzig Meilen«, antwortete Kring. »Wir kommen jeden Abend nach Samar zurück – obwohl es dafür jetzt eigentlich keinen Grund gibt. Ich glaube, die Gefahr besteht nicht mehr, daß es noch zu einer Belagerung kommen könnte.«

»Das stimmt«, bestätigte Vanion. »Wir haben sie weit genug getrieben, daß sie sich jetzt nicht richtig auf Samar konzentrieren könnten.«

Er schlug seine Karte auf, bückte sich und breitete sie auf dem winterbraunen Gras aus. »Stell dich bitte auf die Ecke dort«, ersuchte er Sephrenia. »Ich möchte ihr nicht noch einmal hinterherlaufen müssen.«
Kring blickte ihn verwirrt an.

»Ein kleiner Scherz zwischen uns beiden«, erklärte Sephrenia und stellte einen zierlichen Fuß auf die Ecke von Vanions Karte. »Vanion hat eine Vorliebe für Landkarten, und vor zwei Tagen hat ein plötzlicher Windstoß aus seiner derzeitigen Lieblingskarte einen Papierdrachen gemacht.«

Vanion überging die Bemerkung großmütig. »Ich bin ebenfalls dafür, Sperber nicht zu bedrängen. Aber ich finde, wir sollten draußen in der Wüste ein paar Stellungen befestigen. Das verschafft uns beim Vormarsch auf Cyrga eine wesentlich günstigere Ausgangsposition.« »Das war auch meine Überlegung, Freund Vanion.«

»Richten wir hinter der Grenze einstweilen ein behelfsmäßiges Lager ein«, entschied Vanion. »Ich werde Betuana Bescheid geben, daß sie es ebenfalls tut.« »Wie weit sollen wir vordringen?« fragte Kring.

Vanion blickte Sephrenia an. »Dreißig Meilen? Das ist nicht so weit, daß wir Sperber auf die Füße treten; andererseits läßt es uns genug Spielraum und gibt dir Ellbogenfreiheit genug für deinen Zauber.«

»Den Zauber einzusetzen ist keine schlechte Idee, Freund Vanion«, meinte Kring, doch seine Stimme klang ein wenig zweifelnd. »Aber damit lockt Ihr die mächtigsten unserer Feinde direkt zu Euch – und zur erhabenen Sephrenia. Wollt Ihr das? Das soll kein Tadel sein, doch Euer Kampf gegen Klæls Soldaten hat Eure Zahl stark verringert.«

»Das ist einer der Gründe, weshalb ich draußen in der Wüste befestigte Stellungen haben möchte, Domi.« Vanion verzog das Gesicht. »Falls es zum Schlimmsten kommt, ziehen wir uns in diese Stellungen zurück. Ich kann fast sicher damit rechnen, daß uns an den Flanken einige liebe Freunde zu Hilfe eilen werden.« »Das glaube ich auch«, pflichtete Sephrenia ihm bei.


Als sie sich ungefähr fünf Meilen von Vigayo entfernt hatten, zischte Khalad: »Halt!«
Er zügelte sein Pferd.
»Was ist?« fragte Berit angespannt.

»Jemand namens Widderhorn liegt dort begraben.« Khalad streckte die Hand aus. »Ich glaube, wir sollten anhalten und ihm die letzte Ehre erweisen.«

Berit blickte auf das schlichte Grab am Wegrand. »Ich habe es doch tatsächlich übersehen«, gestand er. »Tut mir leid, Khalad.«
»Du solltest ein bißchen achtsamer sein!«
»Ich glaube, so hast du schon einmal zu mir gesprochen.«
Sie saßen ab und näherten sich dem ›Grab‹.

»Sehr schlau!« flüsterte Berit. Vermutlich war es nicht nötig, leise zu sein, doch inzwischen war es ihnen schon zur Gewohnheit geworden.

»Wahrscheinlich Talens Idee«, meinte Khalad, als sie sich beide neben den Steinhaufen knieten. »Sperber traue ich so viel Spitzfindigkeit nicht zu.«

»Sollten das nicht zwei Worte sein?« Berit wies auf die verwitterte Planke, in die ziemlich ungelenk Widderhorn eingeschnitzt war.

»Du bist der Gebildete, mein Freund. Vorsicht, berühr diese Steine nicht!«

»Welche Steine?«

»Die gelben. Wir werden sie ein wenig durcheinander legen, sobald ich sie gelesen habe.«
»Du liest Steine?«

»Ja. Es ist eine Botschaft von Sperber. Er und mein Vater haben sich das vor langer Zeit einfallen lassen.« Der kurzbärtige junge Mann beugte sich über die gelben Steine und betrachtete eingehend den Grabhügel. »Natürlich«, brummte er schließlich, stand auf und trat an die Kopfseite des Grabes. »Was?«

»Sperber hat es andersherum geschrieben. Jetzt ergibt es Sinn.« Khalad studierte die scheinbar wahllos auf dem braunen Hügel angeordneten gelben Steine. »Bete, Berit!« forderte er den Freund auf. »Sag ein Gebet für die Seele unseres armen, dahingeschiedenen Bruders Widderhorn.« »Du redest Unsinn, Khalad.«

»Möglicherweise beobachtet uns jemand. Also los, spiel den Frommen!«

Der stämmige junge Knappe ergriff den Zügel seines Pferdes und führte das Tier ein Stück von dem schlecht erkennbaren Pfad weg. Dann bückte er sich, nahm Farans linken Vorderfuß in beide Hände und untersuchte sorgfältig den Huf. Faran bedachte ihn mit einem unfreundlichen Blick.

»Tut mir leid«, entschuldigte Khalad sich bei dem übelgelaunten Tier, »ist nichts Wichtiges.« Er ließ den Huf wieder auf den Boden sinken. »Gut jetzt, Berit. Sag Amen, dann reiten wir weiter.«

»Was sollte das eigentlich?« erkundigte Berit sich leicht verärgert, als er wieder aufsaß.

»Sperber hat uns eine Nachricht hinterlassen«, erwiderte Khalad, nachdem er sich in den Sattel geschwungen hatte. »Die Anordnung der gelben Steine verriet mir, wo ich sie finden kann.«
»Und? Wo ist sie?« erkundigte Berit sich aufgeregt.

»Zur Zeit in meinem linken Stiefel. Ich hab' sie aufgehoben, als ich scheinbar Farans Huf untersuchte.«

»Ich habe gar nicht gesehen, daß du überhaupt etwas aufgehoben hast.« »Das solltest du auch nicht!«


Der Lärm gellender Schreie riß Krager aus unruhigem Schlaf. Schon lange verschwammen Tage und Nächte in seinem Bewußtsein, und vermischten sich, doch die grelle Sonne auf seinen Lidern versicherte ihm, daß es Vormittag war – ein schrecklicher Vormittag. Er hatte vergangene Nacht gar nicht so viel saufen wollen, doch die Erkenntnis, daß er dem Boden seines letzten arzischen Rotweins nahe war, hatte ihm in gesteigertem Maße zu schaffen gemacht, je mehr er getrunken hatte. Und die schreckliche Gewißheit, daß bald der letzte Tropfen des edlen Trankes durch seine Kehle rinnen würde, hatte seinem benommenen Verstand geradezu den Zwang auferlegt, auch den letzten Rest Wein zu trinken, ehe er ihm irgendwie verlorengehen könnte.

Jetzt mußte er für diese Dummheit bezahlen. Sein Schädel schien jeden Augenblick bersten zu wollen, sein Magen stand in Flammen und er hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund. Dazu zitterte er heftig am ganzen Leib, und Dolche schienen in seine Leber zu stechen.

Er setzte sich an den Rand seines zerwühlten Bettes und vergrub den Kopf in den Händen. Das Gefühl bevorstehenden Unheils lastete schwer auf ihm. Er ließ die brennenden Augen geschlossen und tastete mit einer bebenden Hand nach einer unter der Matratze versteckten Flasche, die er für den Notfall stets dort aufbewahrte. Ihr Inhalt war weder Wein, noch Bier, sondern eine gräßliche Mischung lamorkischen Ursprungs, die dadurch entstand, daß man bestimmte minderwertige Weine im Winter der Kälte aussetzte und sie gefrieren ließ. Das bißchen Flüssigkeit, die dabei nicht gefror und emporstieg, war fast reiner Alkohol und schmeckte gräßlich, vertrieb jedoch die quälenden Träume und Trugbilder. Schaudernd trank Krager einen Becher von dem ekligen Gesöff und plagte sich auf die Füße.

Die Sonne blendete schmerzhaft, als Krager hinaus auf die Straßen von Natayos wankte, um dem Grund für die schrecklichen Schreie nachzugehen, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatten. Er gelangte auf einen größeren Platz und fuhr entsetzt zusammen. Mehrere Männer wurden mit beinahe systematischer Grausamkeit zu Tode gefoltert, und Scarpa schaute zufrieden zu. Er war in seine schäbige, nachgeahmte Monarchenrobe gewandet, trug die zusammengestümperte Krone auf dem Kopf und saß auf einem geschnitzten Sessel, seinem ›Thron‹.

»Was geht hier vor?« wollte Krager von Cabah wissen, einem heruntergekommenen dazitischen Räuber, mit dem er sich häufig bis zur Bewußtlosigkeit betrank. Cabah drehte sich rasch um. »Oh, du bist es, Krager! Soviel ich verstanden habe, sind die Leuchtenden über Panem-Dea hergefallen!«

»Unmöglich!« entgegnete Krager knapp. »Ptaga ist tot. Es gibt niemanden mehr, der den Tamulern mit Illusionen Angst und Schrecken einjagen könnte.«

»Wenn man glauben kann, was einige dieser Sterbenden behaupteten, waren die Leuchtenden, die in Panem-Dea einfielen, keine Trugbilder«, versicherte Cabah ihm. »Mehrere Offiziere, die mutig genug waren, ihnen entgegenzutreten, haben sich vor den Augen ihrer entsetzten Kameraden in ihre Bestandteile aufgelöst.«

»Und was soll das hier?« Krager zeigte auf die Schreienden, die an Pflöcke in der Mitte des Platzes gefesselt waren.

»Scarpa zeigt aller Welt, was er mit jenen macht, die davongelaufen sind. Er läßt sie in Stücke hauen. Ah, da kommt Cyzada!« Er deutete auf den Styriker, der aus Scarpas Hauptquartier gerannt kam.

»Was macht Ihr da?« brüllte der hohläugige Cyzada den Wahnsinnigen auf seinem behelfsmäßigen Thron an.

»Die Kerle sind Deserteure!« erklärte Scarpa. »Dafür werden sie bestraft.« »Ihr braucht jeden Mann, Idiot!«

»Ich habe diesen Burschen befohlen, nach Norden zu marschieren, um sich meinen Armeen anzuschließen.« Scarpa zuckte die Schultern. »Sie haben mir Lügen aufgetischt, um ihre Feigheit zu vertuschen. Sie müssen bestraft werden. Ich verlange Gehorsam!«

»Ihr werdet sofort aufhören, Eure eigenen Soldaten niederzumetzeln! Befehlt Euren Schlächtern, von den Männern abzulassen!«

»Das ist völlig unmöglich, Cyzada. Ein kaiserlicher Befehl kann nicht zurückgenommen werden! Ich habe befohlen, daß jeder Deserteur aus Panem-Dea zu Tode gefoltert wird. Ich kann mich nicht über mein Gesetz stellen.«

»Ihr Wahnsinniger! Ihr werdet schon morgen keinen einzigen Soldaten mehr übrig haben! Sie werden alle desertieren!«

»Dann rekrutiere ich neue und lasse sämtliche Deserteure einfangen. Meine Befehle müssen ausgeführt werden!«

Cyzada von Esos unterdrückte seine Wut mit größter Mühe. Krager sah, wie die Lippen des Styrikers sich bewegten und wie seine Finger komplizierte Muster in die Luft zeichneten. »Verschwinden wir rasch, Cabah!« drängte er. »Das geht nicht. Der Irre hat uns befohlen, zuzuschauen!«

»Du willst doch bestimmt nicht sehen, was als nächstes passiert«, entgegnete Krager. »Cyzada führt eine Beschwörung durch. Eine zemochische, vermutlich. Er ruft einen Dämon herbei, der unseren ›Kaiser‹ die wahre Bedeutung des Wortes Gehorsam lehrt.«

»Das darf er nicht. Zalasta hat seinem Sohn den Befehl hier übertragen.«

»Nein, Cyzada hat das Kommando. Ich habe persönlich gehört, wie Zalasta diesem Styriker sagte, daß er Scarpa in dem Augenblick töten soll, sobald der sich wieder von seiner schwachsinnigen Seite zeigt und verrückte Befehle und Anordnungen erteilt. Es könnte natürlich sein, daß Cyzada etwas anderes vorhat – doch was auch immer es sein mag, angenehm wird es bestimmt nicht. Ich weiß nicht, was du jetzt tun wirst, mein Freund, aber ich suche mir ein gutes Versteck. Ich habe früher schon jene Sorte von Kreaturen gesehen, die Azash unterstanden, und ich möchte mir diesen Anblick ersparen. Erst recht heute, da ich mich gar nicht wohl fühle.« »Wir bekommen gewaltige Schwierigkeiten, Krager!«

»Nicht, wenn der Dämon, den Cyzada jetzt ruft, Scarpa bei lebendigem Leibe verschlingt.« Krager atmete tief durch. »Es liegt bei dir, Cabah. Bleib, wenn du möchtest, aber ich habe von Natayos mehr als genug gesehen.« »Du willst desertieren?« hauchte Cabah entsetzt.

»Die Lage hat sich geändert. Wenn Sperber sich mit den Delphae verbündet hat, möchte ich so weit wie möglich von hier weg sein, ehe sie leuchtend aus dem Dschungel kommen. Weißt du, ich habe plötzlich Heimweh nach Eosien. Komm mit oder bleib, Cabah. Ich jedenfalls verschwinde – sofort!«