10

Sarna in Westtamul lag unmittelbar südlich der atanischen Grenze in der tiefen Schlucht des Flusses gleichen Namens. Die Berge rundum ragten steil und zerklüftet in den Himmel, und das dunkle Grün, das sie überwucherte, rauschte fast pausenlos im Wind, der aus der Wildnis im Norden herabfegte.

Es war kalt, und die bleigrauen Wolken spien schneidende Graupel, als Vanions Armee aus Ordensrittern sich den langen, steilen Weg zur Schlucht hinabplagte. Vanion und Itagne, in ihre schweren Umhänge gehüllt, ritten an der Spitze. »Ich wäre viel lieber auf Aphraels Insel geblieben.« Fröstelnd zog Itagne den Umhang fester um sich. »Ich muß gestehen, diese Jahreszeit mochte ich nie besonders.« »Wir sind fast da, Exzellenz«, versicherte Vanion ihm.

»Sind Feldzüge im Winter üblich, Hochmeister Vanion?« fragte Itagne. »In Eosien, meine ich.«

»Wir bemühen uns, sie zu vermeiden«, erwiderte Vanion. »Zwar überfallen die Lamorker einander auch im Winter, aber wir anderen lassen da für gewöhnlich mehr Vernunft walten.«
»Es ist eine abscheuliche Zeit für Kriegszüge.«

Vanion lächelte schwach. »Da habt Ihr recht, mein Freund. Aber das ist nicht der Grund, weshalb wir sie dann vermeiden. Es ist eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Im Winter kommt ein Krieg viel teurer, da man zu allem anderen auch noch Heu für die Pferde kaufen muß. Die immensen Ausgaben sind der Grund für die Friedlichkeit der elenischen Könige, wenn Schnee den Boden bedeckt.« Vanion stellte sich in den Steigbügeln auf, um besser nach vorn sehen zu können. »Betuana wartet!« stellte er fest. »Beeilen wir uns, zu ihr zu kommen.«

Itagne nickte, und sie trieben ihre Pferde zu einem holprigen Trott an.

Die Königin von Atan hatte sich bei Dasan am Ostrand des Gebirges von ihnen getrennt, entschlossen, die Vorhut zu bilden. Natürlich hatte Betuana mehrere gute Gründe dafür, doch Vanion vermutete insgeheim, daß ihre Entscheidung mehr von Ungeduld als von Notwendigkeit beeinflußt gewesen war. Betuana war zu höflich, darüber zu reden, doch es war offensichtlich, daß sie nichts von Pferden hielt und sich daher selten eine Gelegenheit entgehen ließ, zu beweisen, daß Ataner zu Fuß schneller waren. Sie und Engessa, beide in Otterpelzkleidung, warteten am Straßenrand, etwa eine Meile vor der Stadt.

»Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?« erkundigte sich die atanische Königin. »Nein, Majestät.« Vanions schwarzer Panzer klapperte, als er sich aus dem Sattel schwang. »Wir wurden beobachtet, aber das ist nichts Ungewöhnliches. Hat sich in Cynesga etwas getan?«

»Sie ziehen zur Grenze hinauf, Vanion-Hochmeister«, antwortete Engessa. »Sehr vorsichtig gehen sie es nicht an. Wir haben zwar ihre Linien da und dort durchbrochen und stellen ihren Kundschaftern Hinterhalte, um sie zu verunsichern, aber es ist ziemlich klar, daß sie die Absicht haben, mit ihrer gesamten Streitmacht die Grenze zu überrennen.«

Vanion nickte. »Das ist mehr oder weniger, was wir erwartet haben. Wenn es Euch recht ist, Majestät, hätte ich gern, daß meine Männer versorgt sind, bevor wir alles besprechen. Ich kann besser denken, wenn alles geregelt ist, bis in die Kleinigkeiten.«

»Selbstverständlich«, versicherte Betuana ihm. »Engessa-Atan und ich haben bereits Unterkünfte für die Männer bereitstellen lassen. Wann werdet Ihr nach Samar aufbrechen?«

»Morgen oder übermorgen, Betuana-Königin. Vorläufig sind nur wenige von Tikomes Peloi hier; die anderen haben noch einen weiten Weg zurückzulegen.«

»Er hat Verstärkung aus Pela angefordert, Vanion-Eminenz«, erklärte Engessa. »In etwa einer Woche werdet Ihr hier eine größere Truppe haben.«

»Gut. Dann reite ich jetzt zurück und treibe die Ritter zur Eile an. Wir haben viel zu bereden.«

Die Nacht senkte sich früh auf die Schluchtsohle hinab, und es war bereits stockdunkel, als Vanion sich den anderen im Hauptquartier der atanischen Garnison der Stadt anschließen konnte. Wie in Atan üblich, war auch die Kaserne ein rein zweckgebundenes, schmuckloses Gebäude. Die einzige Ausnahme im Sitzungsraum, in dem sie zusammenkamen, war eine große Landkarte, die eine ganze Wand bedeckte. Sie war farbig und wies da und dort phantasievolle Bebilderungen auf. Vanion hatte in aller Eile gebadet und trug nun schlichte Kleidung. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß eine Rüstung zwar beeindruckend und manchmal sogar nützlich sein konnte, daß es bedauerlicherweise aber noch niemandem gelungen war, sie bequem zu gestalten oder ihr den typischen Geruch nach Schweiß und altem Leder zu nehmen. »Sind die Unterkünfte zufriedenstellend?« fragte Betuana.

»Sehr, Majestät«, erwiderte Vanion und setzte sich. »Hat man Euch bereits über die Einzelheiten unseres Treffens mit der Kindgöttin verständigt?«

Sie nickte. »Itagne-Botschafter gab mir Kunde.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Es würde mich interessieren, warum ich ausgeschlossen wurde.«

»Theologische Rücksichtnahme, Majestät«, erklärte Vanion. »Wie man mir sagte, legen die Götter in solchen Dingen auf eine außerordentlich umständliche Etikette wert. Aphrael wollte durch eine Einladung seiner Kinder Euren Gott nicht beleidigen, indem sie seine Kinder einlud, ihn aber nicht. Zudem fehlten noch einige andere bedeutende Persönlichkeiten. So waren zwar Kaiser Sarabian und Botschafter Itagne dort, nicht aber Außenminister Oscagne.«

Itagne zog nachdenklich die Stirn kraus. »Der Kaiser und ich sind Skeptiker – ich glaube, ihr würdet uns Agnostiker nennen. Oscagne hingegen ist durch und durch Atheist. Könnte das der Grund sein?«

»Möglicherweise. Ich werde Aphrael fragen, wenn ich das nächste Mal mit ihr rede.« Engessa schaute sich um. »Ich habe Kring-Domi nicht gesehen, als wir Euch trafen, Vanion-Hochmeister.«

»Kurz nach Eurer und Seiner Majestät Abreise ist Kring mit seinen Männern in Richtung Samar aufgebrochen. Er war der Ansicht, dort mehr ausrichten zu können als hier in Sarna – und Ihr wißt ja, was die Westpeloi für Berge und Wälder empfinden -. Haben die Cynesganer eigentlich bereits Ausfälle über die Grenze gemacht?«

»Nein, Vanion-Hochmeister«, antwortete Engessa. »Sie sammeln sich an für sie wichtigen strategischen Punkten und schaffen Vorräte herbei.« Er stand auf und trat an die Karte. »Eine größere Truppe hat Cynesga vor kurzem verlassen.« Er zeigte auf die cynesganische Hauptstadt. »Sie haben an der Grenze Stellung bezogen – fast unmittelbar uns gegenüber. Eine weitere Truppe liegt an der Grenze nach Sarna.«

Vanion nickte. »Cyrgon ist in mancher Hinsicht mehr ein General als ein Gott. Von befestigten Städten hält er nichts. Bevor er tiefer nach Tamul vordringen kann, wird er Samar und Sarna dem Erdboden gleichmachen müssen. Ich vermute, die Streitkräfte, denen ihr euch hier gegenüberseht, haben den Befehl, Sarna anzugreifen, die Südgrenze Atans abzuriegeln und dann nordostwärts Richtung Tualas zu marschieren. Gewiß hätten sie es lieber, wenn nicht das ganze Volk der Ataner diese Berge herabströmt.«

»So viele Cynesganer gibt es gar nicht, daß sie mein Volk kampfunfähig machen könnten!« versicherte Betuana ihm.

»Ich bin davon überzeugt, Majestät. Aber es gibt wahrscheinlich genügend Krieger, Euren Vormarsch zu bremsen, und Cyrgon kann sich ganze Armeen aus der Vergangenheit holen, um Euch zusätzlich zu behindern.« Vanion studierte die Karte mit gespitzten Lippen. »Ich glaube, ich weiß, wohin er will. Matherion liegt auf einer Halbinsel, und dieser schmale Landstreifen bei Tosa ist der Schlüssel dazu. Wenn ich eine Wette darauf abschließen müßte, würde ich sagen, daß die große Schlacht irgendwo dort stattfinden wird. Scarpa wird von Natayos aus nach Norden ziehen. Die Südcynesganer haben die Absicht, Samar einzunehmen und dann um die Nordküste des Binnenmeers von Arjun herumzuziehen, um sich Scarpa in der Nähe der Tamulischen Berge anzuschließen. Von dort aus kann die vereinte Armee an der Westküste der Bucht von Micae nach Tosa hinaufmarschieren.« Er lächelte leicht. »Natürlich wird sie in den Tamulischen Bergen eine sehr unangenehme Überraschung erleben. Ich könnte mir vorstellen, daß Cyrgon sich wünschen wird, er hätte nie auch nur von Trollen gehört, ehe dies alles vorbei ist.«

»Ich werde von Nordatan eine Armee nach Tosa schicken, Vanion-Hochmeister«, versprach Betuana. »Aber ich werde so viele von meinen Leuten entlang den Süd- und Ostgrenzen Stellung beziehen lassen, daß ich die Cynesganer aufhalten und sie das Fürchten lehren kann.«

»Inzwischen, glaube ich, können wir ihre Vorbereitungen unterbrechen«, fügte Engessa hinzu. »Größere Vorstöße über diese Grenze werden ihren Hauptangriff verzögern.«

»Und das ist alles, was wir wirklich brauchen.« Vanion lachte verschmitzt. »Wenn wir sie lange genug aufhalten können, wird Cyrgon feststellen, daß hunderttausend Ordensritter über seine Westgrenze eindringen. Und das dürfte der Zeitpunkt sein, da er sein Tosa-Vorhaben vergißt.«


»Mach dir seinetwegen keine Sorgen, Fron«, versuchte Stragen Sperber zu beruhigen. »Er kann sehr gut allein zurechtkommen!«

»Ich glaube, manchmal vergessen wir, daß er fast noch ein Kind ist, Vymer. Er braucht sich noch nicht einmal regelmäßig zu rasieren.«

»Reldin war schon kein Kind mehr, ehe er in den Stimmbruch kam.« Stragen lehnte sich nachdenklich auf seinem Bett zurück. »In unserem Gewerbe hat man eine sehr kurze Kindheit – falls überhaupt. Es wäre sicher schön gewesen, mit Bällen zu spielen und Kaulquappen zu fangen, aber …« Er zuckte die Schultern.

»Was wirst du tun, wenn das alles vorbei ist?« fragte Sperber, der es inzwischen aufgegeben hatte, zwischen dem Du und dem Ihr hin und her zu springen. »Vorausgesetzt, wir bleiben am Leben.«

»Es gibt da eine gewisse Dame in unserem näheren Bekanntenkreis, die vor einiger Zeit vorgeschlagen hat, daß wir heiraten. Es ist Teil einer sehr vielversprechenden Vereinbarung von Geschäft und Gefühl. Die Vorstellung, eine Ehe einzugehen, hat mir nie zugesagt, aber dieses Geschäft ist einfach zu gut, als daß ich es mir entgehen lassen möchte.« »Steckt da nicht noch mehr dahinter?«

»Ja«, gab Stragen zu. »Nach dem, was sie in jener Nacht in Matherion getan hat, kann ich einfach nicht mehr ohne sie leben. Sie ist einer der klügsten und mutigsten Menschen, die mir je untergekommen sind.«
»Und hübsch obendrein.«

»Ah, das ist dir also auch aufgefallen.« Stragen seufzte. »Ich fürchte, es kommt noch soweit, daß ich ein zumindest halbwegs achtbarer Mann werde, mein Freund.« »Wie schrecklich!«

»Ja, nicht wahr? Aber zuerst muß ich noch eine Kleinigkeit erledigen. Ich glaube, ich werde meiner Liebsten den Kopf eines bestimmten astelischen Poeten verehren. Falls ich einen guten Ausstopfer auftreiben kann, lasse ich den Kopf vielleicht sogar für sie präparieren.«

»Das ist ein Hochzeitsgeschenk, von dem ein Mädchen nur träumen kann.« »Na ja, vielleicht nicht jedes Mädchen …« Stragen grinste. »Aber ich liebe eine ganz besondere junge Dame.«


»Aber es sind doch so viele, U-lat«, sagte Bhlokw klagend. »Einen einzigen würden sie gar nicht vermissen!«

»Ich fürchte schon, Bhlokw«, versicherte Ulath dem riesigen, braunbepelzten Troll. »Die Menschendinge sind nicht wie das Wild. Sie achten ganz genau auf die anderen Angehörigen der Herde. Wenn du einen von ihnen frißt, würden sie wissen, daß wir hier sind. Fang und friß statt dessen einen ihrer Hunde.« »Ist Hund gut-zu-fressen?«

»Das weiß ich nicht. Friß einen und sag mir, ob er dir geschmeckt hat.« Bhlokw brummelte irgend etwas und kauerte sich nieder.

Der Vorgang, den Ghnomb »den Augenblick in zwei Stücke brechen« genannt hatte, hatte einige seltsame Auswirkungen: Der helllichte Mittag wurde zur Dämmerung, und die Bürger Sopals schienen sich schnell und ruckartig zu bewegen. Der Gott des Essens hatte den Gefährten versichert, daß sie unsichtbar sein würden, da sie sich immer nur für den Bruchteil eines Augenblicks an einem bestimmten Ort aufhielten. Ulath entdeckte zwar einen großen logischen Fehler in dieser Erklärung, doch der Zauber wirkte trotzdem.

Kopfschüttelnd kehrte Tynian auf die Straße zurück. »Man kann sie unmöglich verstehen«, berichtete er. »Hin und wieder ein, zwei Worte, aber alles andere ist das reinste Kauderwelsch.« »Es redet wieder in Vogeltönen!« beschwerte sich Bhlokw.

»Sprich lieber wieder Trollisch, Tynian«, riet Ulath. »Du machst Bhlokw nervös.« »Oh, verzeiht. Ich hab' gerade nicht daran gedacht«, entschuldigte er sich in der grauenhaften Sprache der Trolle. »Ich – ich …«, stammelte er. »Wenn man möchte, daß man irgend etwas nicht getan hätte – wie sagt man dann auf Trollisch?« fragte er ihren zotteligen Begleiter. »So ein Wort gibt es nicht, Tin-in«, erwiderte Bhlokw.

»Kannst du Ghnomb bitten, dafür zu sorgen, daß wir verstehen können, was die Menschendinge sagen?« ersuchte Ulath ihn.

»Warum? Was macht das aus?« Bhlokw blickte ihn verwirrt an.

»Wenn wir wissen, was sie sagen, wissen wir auch, welcher Herde wir folgen sollen«, erklärte Tynian. »Das werden dann jene sein, die von den Bösen wissen.«
»Das wissen sie nicht alle?« staunte der Troll.
»Nein, nur wenige.«
»Die Menschendinge sind sehr seltsam. Ich werde mit Ghnomb reden. Vielleicht versteht er das.« Er erhob sich und ragte gewaltig über den Menschen auf. »Wenn ich zurück bin, werd' ich das tun.«
»Wo gehst du hin?« erkundigte Tynian sich höflich.

»Ich hab' Hunger. Ich geh' und fresse einen Hund. Dann komm' ich zurück und red' mit Ghnomb.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Ich kann auch für euch einen Hund bringen, wenn ihr Hunger habt.«

»Äh – nein, Bhlokw«, erwiderte Tynian. »Ich habe im Moment keinen Hunger. Aber es ist nett, daß du an uns gedacht hast.«

»Wir sind jetzt Rudelgefährten.« Bhlokw zuckte die Schultern. »Da gehört sich das.« Er schlurfte die Straße entlang.


»Es ist gar nicht so weit«, versicherte Aphrael ihrer Schwester, als sie mit Xanetia aus dem Tal der Delphae nach Dirgis in Südatan ritten. »Aber Edaemus widerstrebt es immer noch, uns zu helfen. Deshalb halte ich es für angebracht, mich von meiner besten Seite zu zeigen. Er könnte es als Beleidigung auffassen, würde ich in der Heimat seiner Kinder meine Teilzeitarbeit zu verrichten beginnen.«

»Mit diesem Wort hast du es bisher noch nie beschrieben«, bemerkte Sephrenia. »Sperbers Einfluß, nehme ich an«, meinte die Kindgöttin. »Es ist ein recht brauchbarer Begriff. Er umschreibt Dinge, die wir nicht vor Fremden besprechen wollen. Aber in Dirgis werden wir weit genug von der Heimat der Delphae entfernt sein, daß ich mich nach Herzenslust daran zu schaffen machen kann.«

»Was meint Ihr, Göttin? Wie lange werden wir bis Natayos brauchen?« fragte Xanetia. Sie hatte ihre Hautfarbe wieder geändert und ihr inneres Leuchten unterdrückt, um die typischen Merkmale ihrer Rasse zu verbergen.

»Nicht mehr als ein paar Stunden – in Echtzeit.« Aphrael zuckte die Schultern. »Ich kann nicht ganz so wild herumspringen wie Bhelliom, aber notfalls kann ich Teile der Zeit überbrücken und große Strecken sehr schnell zurücklegen. Würden wir uns in einer wirklich verzweifelten Lage befinden, könnte ich uns nach Natayos fliegen.« Sephrenia schauderte. »So verzweifelt ist unsere Lage nicht, Aphrael.« Xanetia blickte ihre styrische Schwester verwundert an. »Es macht sie schwindelig«, erklärte Aphrael.

»Nein, Aphrael«, verbesserte Sephrenia sie, »nicht schwindelig. Ich bekomme einfach Angst. Es ist ein furchtbares Erlebnis, Xanetia. Sie hat es mir in den vergangenen dreihundert Jahren etwa fünfmal angetan. Danach war ich jedesmal wochenlang völlig fertig.«

»Und ich habe dir jedesmal gesagt, du sollst nicht hinunter schauen, Sephrenia!« erinnerte Aphrael sie. »Hättest du statt dessen zu den Wolken hinauf geblickt, hätte es dir gar nichts ausgemacht.«
»Ich komme einfach nicht dagegen an, Aphrael.«
»Ist es wirklich so erschreckend?« fragte Xanetia.
»Oh, Ihr macht Euch keine Vorstellung, Xanetia! Man segelt mit nichts als etwa fünftausend Fuß leere Luft zwischen einem selbst und dem Boden dahin. Es ist grauenhaft!«
»Wir werden nicht fliegen«, beruhigte Aphrael sie.
»Dann will ich sofort ein Dankgebet sprechen.«

»Wir übernachten in Dirgis«, wechselte Aphrael das Thema. »Morgen früh reisen wir nach Natayos weiter. Sephrenia und ich verbergen uns im Wald, Xanetia, während du dich in die Stadt begibst und dich umsiehst. Falls Mutter wirklich dort gefangengehalten wird, dürften wir diese Sache rasch bereinigen. Sperber braucht nur zu erfahren, wo sie ist, dann wird er auf Scarpa und seinen Vater hinunterdonnern wie ein rachsüchtiger Berg. Wenn er mit seinen Feinden fertig ist, wird Natayos nicht einmal mehr eine Ruine sein – nur noch ein riesiger Krater.«


»Er hat sie wirklich gesehen«, berichtete Talen. »Seine Beschreibung war zu gut, als daß er es sich nur ausgedacht haben könnte.« Der junge Dieb war soeben von einem Ausflug in die Unterweltviertel Beresas zurückgekehrt.

»Was ist er für ein Mensch?« fragte Sperber. »Es ist zu wichtig für uns, als daß wir uns auf Gerüchte verlassen dürften.«

»Er ist Daziter«, antwortete Talen. »In den Gossen von Jura aufgewachsen. Seine politische Einstellung reicht gerade bis zu seinem Geldbeutel. Er hat darauf gehofft, an der Plünderung Matherions teilnehmen zu können. Das war der Hauptgrund, daß der Kerl überhaupt zu Scarpas Armee gegangen ist. Ganz sicher ist er kein Mann mit hohen Idealen. Als er nach Natayos kam und befürchten mußte, daß die ganze Sache in Kampf ausarten würde, verlor er das Interesse. Wie dem auch sei – ich bin in der schäbigsten Spelunke, die ich je betreten habe, auf den Kerl gestoßen, und er war stockbesoffen. Glaubt mir, Fron, er war nicht in dem Zustand, daß er mich hätte belügen können! Ich hab' ihm vorgeflunkert, zu Scarpas Armee gehen zu wollen, und da wurde er richtig väterlich zu mir. ›Schschlag dir dasch ausch'm Kopf, Junge. Sischt schrecklisch dort …‹ Und so weiter, und so fort. Er meinte, Scarpa sei ein gemeingefährlicher Irrer, der sich für unschlagbar hält und sich einbildete, die Ataner bloß anpusten zu müssen, dann würden sie verschwinden. Außerdem sagte der Kerl, er hätte gerade den Entschluß gefaßt, zu desertieren, als Scarpa mit Krager, Elron und Baron Parok nach Natayos zurückkam. Sie hatten die Königin und Alean dabei, und Zalasta empfing sie am Tor. Der Daziter war zufällig in der Nähe; deshalb konnte er hören, was sie sagten. Offenbar ist Zalasta nach wie vor rücksichtsvoller als sein mißratener Bengel. Es gefiel ihm gar nicht, wie Scarpa seine Gefangenen behandelt hatte. Die beiden gerieten in Streit, und Zalasta bearbeitete seinen unartigen Sohn sehr schmerzhaft mit Magie. Wahrscheinlich hat Scarpa sich eine Zeitlang wie ein Wurm auf einem heißen Stein gewunden. Dann hat Zalasta die Damen zu einem großen Haus geführt, das extra für sie hergerichtet worden war. Nach den Worten meines Deserteurs ist dieses Haus beinahe luxuriös – sieht man von den Gittern vor den Fenstern ab.«

»Der Mann könnte das alles einstudiert haben!« gab Sperber besorgt zu bedenken. »Vielleicht war er gar nicht so betrunken, wie es den Anschein hatte.«

»Glaubt mir, Fron, er war besoffen!« versicherte Talen ihm grob. »Auf dem Weg zu der Spelunke hab' ich mir einen Beutel angeeignet – nur, um in Übung zu bleiben –, deshalb hatte ich eine hübsche Summe Geld. Ich hab' soviel Schnaps in den Kerl hineingetrichtert, daß ein ganzes Regiment gelallt hätte.«

»Ich glaube, er hat recht, Fron«, warf Stragen ein. »Es sind einfach zu viele Einzelheiten, als daß es eine erfundene Geschichte sein könnte.«

»Und selbst wenn dieser Deserteur ausgeschickt worden wäre, sich unseretwegen Lügenmären auszudenken – warum hätte er dann Zeit und Mühe an einen jungen Taschendieb vergeuden sollen?« fügte Talen hinzu. »Keiner von uns schaut mehr so aus, wie Zalasta uns das letzte Mal gesehen hat. Und ich bezweifle, daß selbst er auf den Gedanken kommen könnte, daß Sephrenia und Xanetia sich zusammengetan haben, um unser Äußeres zu verändern.«

»Trotzdem bin ich der Meinung, wir sollten jetzt nichts unternehmen«, sagte Sperber. »Aphrael wird Xanetia in ungefähr einem Tag in Natayos absetzen, und die Anari kann mühelos herausfinden, ob es sich bei den Gefangenen in dem luxuriösen Haus tatsächlich um Ehlana und Alean handelt!«

»Wir könnten uns aber wenigstens ein bißchen näher heranwagen!« brummte Stragen.

»Warum?« Sperber tippte auf die Wulst unter seinem Kittel. »Entfernung spielt für meinen blauen Freund hier keine Rolle. Sobald ich Gewißheit habe, daß Ehlana sich dort befindet, werden wir Zalasta und seinem Bastard einen Besuch abstatten. Vielleicht fordere ich sogar Khwaj auf, uns zu begleiten. Er hat bestimmt Pläne mit ihnen, die mich interessieren.«

Das Licht wurde plötzlich grell, und die Bürger von Sopal bewegten sich nicht mehr ruckartig wie Marionetten, sondern wieder wie normale Menschen. Es hatte einen halben Tag gedauert, Ghnomb zu erklären, weshalb sie in die Echtzeit zurück mußten, doch der Gott des Essens hatte immer noch ernste Bedenken.

»Ich warte in der Schenke dort an der Straße«, sagte Tynian zu Ulath, als die beiden aus der engen Gasse traten. »Erinnerst du dich an die Parole?«

Ulath brummte. »Ich werde nicht lange brauchen.« Er überquerte die Straße und trat zu den zwei Reisenden, die eben erst in die Stadt gekommen waren. »Das ist ein interessanter Sattelknauf, den Ihr da habt, Nachbar«, sprach er einen Mann mit gebrochener Nase auf einem Fuchshengst an. »Woraus besteht er? Aus Widderhorn?«

Berit starrte Ulath erstaunt an; dann ließ er in der schmalen Straße am Osttor von Sopal rasch den Blick in die Runde schweifen.

»Danach hab' ich den Sattler gar nicht gefragt, Sergeant«, antwortete er, nachdem ihm der schäbige Uniformrock des blonden Eleniers aufgefallen war. »Äh – vielleicht hättet Ihr einen guten Rat für meinen jungen Freund und mich.« »Fragt. Für einen Rat verlang' ich nichts.« »Kennt Ihr vielleicht einen guten Gasthof hier in Sopal?«

»Der, in dem mein Freund und ich abgestiegen sind, ist ganz annehmbar. Ihr findet ihn etwa drei Querstraßen von hier.« Ulath wies in Richtung Stadtmitte. »Vor der Tür hängt ein Schild mit einem Eber darauf. Allerdings hat der Eber keine Ähnlichkeit mit irgendwelchen Keilern, die ich je gesehen hab'.« »Wir werden uns dort mal umschauen.«

»Vielleicht sehen wir uns dann ja wieder. Nach dem Abendessen sitzen wir für gewöhnlich in der Schankstube.«

»Falls wir uns entschließen, dort abzusteigen, werden wir euch eine Zeitlang Gesellschaft leisten.«

Ulath nickte. Er schlenderte die Straße hinauf, trat in die Schenke und setzte sich zu Tynian an den Tisch neben dem Feuer. »Wo ist unser zottiger Freund?« erkundigte er sich.
»Er holt sich einen weiteren Hund«, erwiderte Tynian.

»Du hast da möglicherweise einen Fehler gemacht, Sergeant. Offensichtlich schmecken ihm die Tiere. Wenn wir noch viel länger in der Stadt bleiben, gibt's hier möglicherweise bald keinen einzigen Hund mehr.«

Ulath lehnte sich zurück. »Ich bin da draußen einem Elenier begegnet«, sagte er laut genug, daß auch die anderen Gäste es hören konnten.

»Ach?« murmelte Tynian gleichmütig. »Asteler oder Edomer?«

»Schwer zu sagen. Er hat sich wohl irgendwann mal die Nase gebrochen; deshalb konnte ich seine Rasse nicht so richtig erkennen. Er hat einen guten Gasthof gesucht. Da hab' ich ihm den empfohlen, in dem wir abgestiegen sind. Vielleicht sehen wir ihn ja dort. Hat gut getan, endlich mal wieder jemand Elenisch reden zu hören. Mir hängt dieses tamulische Gebrabbel zum Hals raus. Wenn du ausgetrunken hast, sollten wir zum Hafen runterspazieren und zusehen, daß wir jemand finden, der uns nach Tiana übersetzt.« Tynian leerte seinen Krug. »Gehen wir.« Er stand auf.

Die beiden verließen die Schenke und spazierten zu ihrem Gasthof zurück. Sie unterhielten sich gleichmütig und ließen sich Zeit wie jemand, der nichts Dringendes zu tun hat.

»Ich werd' mal das Eisen am linken vorderen Huf nachsehen lassen«, erklärte Ulath, als sie vor dem Gasthof angelangt waren. »Geh du schon mal hinein. Ich komm' dann in die Schankstube.«
Tynian lachte. »Wohin sonst?«

Khalad befand sich im Pferdestall, wie Ulath es erwartet hatte. Er tat so, als wäre er intensiv damit beschäftigt, Faran zu striegeln. »Ah«, sagte Ulath. »Ihr und Euer Freund habt Euch also entschlossen, hier abzusteigen.«

»Der Gasthof scheint sauber und gemütlich zu sein.« Khalad zuckte die Schultern. »Hör gut zu«, sagte Ulath und senkte die Stimme zu einem Wispern. »Wir haben so einiges erfahren. Hier wird sich nichts tun. Bald bekommt ihr wieder eine von diesen Botschaften.« Khalad nickte.

»Man wird euch darin anweisen, den See nach Tiana zu überqueren. Seid vorsichtig, worüber ihr euch auf dem Schiff unterhaltet! Es wird ein Bursche an Bord sein, der für die andere Seite arbeitet – ein Arjuner mit einer langen Narbe auf der Wange.« »Ich werde unauffällig nach ihm Ausschau halten«, versprach Khalad.

»In Tiana bekommt ihr dann einen weiteren Brief. Darin wird man euch auffordern, um den See herum nach Arjun zu reiten.«

»Das ist ein Umweg!« wandte Khalad ein. »Wir könnten von hier aus die Straße nehmen, dann wären wir doppelt so schnell!«

»Offenbar will die andere Seite nicht, daß ihr schon so rasch dort seid. Wahrscheinlich haben sie noch weitere Eisen im Feuer. Ich möchte zwar keinen Eid darauf schwören, aber ich glaube, sie werden euch von Arjun aus nach Derel schicken. Wenn Kalten recht hat und Ehlana in Natayos festgehalten wird, wäre das der nächste logische Schritt.«

Wieder nickte Khalad. »Ich werde Berit Bescheid geben. Es dürfte besser sein, wenn wir uns nicht in der Schankstube sehen lassen. Ich bin sicher, man überwacht uns, und wenn wir uns mit anderen Eleniern unterhalten, wird die gegnerische Seite bestimmt hellhörig.«

Die Pferde im Stall begannen zu wiehern und traten gegen die Wände ihrer Boxen. »Was haben die Tiere plötzlich?« wunderte sich Khalad. »Und woher kommt dieser merkwürdige Geruch?«

Ulath stieß eine Verwünschung aus. Dann hob er die Stimme und sagte auf Trollisch: »Bhlokw! Es ist nicht gut, wenn du auf diese Weise in die Behausungen der Menschendinge kommst. Du hast Hunde gefressen, und die Menschendinger und ihre Tiere können deinen Geruch nicht ertragen!«

Beleidigtes Schweigen breitete sich aus, als Ulaths unsichtbarer Reisebegleiter den Stall verließ.


Betuana und Engessa, beide in glänzender Otterfellkleidung, begleiteten Vanion und die Ritter südlich von Sarna. Auf Engessas Vorschlag marschierten sie genau westwärts, um von den Bergen von Ostcynesga hinunter und auf die Ebene zu kommen.

»Wir haben sie beobachtet, Vanion-Hochmeister«, sagte der riesenhafte Ataner, während er neben Vanions Pferd herrannte. »Ihr Hauptversorgungslager befindet sich etwa fünfzehn Meilen westlich der Grenze.«

»Hattet Ihr die Absicht, irgend etwas Dringendes zu erledigen, Majestät?« fragte Vanion Betuana, die an seiner anderen Seite rannte.
»Das alles kann warten. Was habt Ihr vor?«

»Da wir schon mal hier sind, könnten wir einen kleinen Umweg machen und ihr Vorratslager niederbrennen. Meine Ritter werden schon ein bißchen unruhig. Da würde ihnen eine kleine Übung guttun.«

»Es ist ziemlich kalt«, bemerkte Betuana mit dem Hauch eines Lächelns. »Ein Feuer wäre recht angenehm.«
»Nun denn, wollen wir?«
»Warum nicht?«

Das cynesganische Vorratslager nahm eine Fläche von etwa fünf Morgen ein. Es lag in einem felsigen, kahlen Becken und wurde von einem Regiment Cynesganer in wallenden Roben bewacht. Als die Kolonne gepanzerter Ritter sich näherte, galoppierten die Verteidiger ihnen entgegen. Gerade dieses Manöver war ein taktischer Fehler. Der kiesbedeckte Boden der Wüste von Cynesga war flach und völlig deckungslos, da es keinerlei Erhebungen gab. Deshalb hielt nichts den Ansturm der Ordensritter auf. Ein gewaltiges Krachen und Dröhnen erklang, als die beiden Heere aufeinanderprallten. Nach kurzem Stocken drangen die Ritter weiter vor und stampften mit den beschlagenen Hufen ihrer Streitrosse über die Verwundeten und Toten hinweg, während die wiehernden Pferde der Cynesganer voller Panik flüchteten.

»Beeindruckend«, gestand Betuana, während sie neben Vanions Pferd herrannte. »Aber ist es nicht lästig, manchmal monatelang das Gewicht und den Geruch der Rüstung zu ertragen, nur um wenige Minuten Spaß zu haben?«

»Jede Art von Kriegsführung hat Vor- und Nachteile, Majestät.« Vanion schob sein Visier hoch. »Der Sinn und Zweck eines Sturmangriffs in Rüstung besteht ja zum Teil darin, den Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen und einzuschüchtern, um eine gewaltsame Auseinandersetzung möglicherweise zu vermeiden. Dadurch kommt es langfristig zu geringen Verlusten an Menschenleben.«

»Panik hervorzurufen ist in der Tat eine gute Waffe, Vanion-Hochmeister«, pflichtete Betuana bei.

»Uns gefällt es.« Er lächelte. »Zünden wir das Feuer an, auf daß Majestät sich die Zehen wärmen kann.«
»Das wäre schön.« Auch Betuana lächelte.

Unmittelbar vor ihnen hob sich eine staubbedeckte Anhöhe, die wie eine leicht abgerundete Pyramide aussah, und ihnen den Weg zum Vorratslager versperrte. Nur mit Gesten wies Vanion seine Ritter an, sich zu trennen, um von beiden Seiten der Anhöhe über die gewaltigen Vorratsmengen von Cyrgons Armee hinwegzustürmen. Mit stählernem, rasselndem Donner, der unversöhnliche Kampfbereitschaft verkündete, galoppierten sie voran.

Plötzlich bewegte sich der Hügel. Der Staub, der die Hänge bedeckte, stieg in einer gewaltigen Wolke auf, und die zwei gigantischen dunklen Schwingen breiteten sich aus und enthüllten die keilförmige Fratze von Klæl. Diese Kreatur tiefster Finsternis brüllte markerschütternd, und hinter den verzerrten Lefzen wurden die zerklüfteten Fänge aus Blitzen sichtbar.

Und von den gewaltigen Schwingen geschützt kam eine Armee hervor, wie Vanion sie noch nie gesehen hatte.

Die Krieger waren so groß wie die Ataner, doch ungeschlachter, und ihre stählernen Harnische saßen wie eine zweite Haut, durch die jeder einzelne angespannte Muskel zu erkennen war. Ihre Helme waren mit exotischem Zierat geschmückt – mit Hörnern, Geweihen oder starren Stahlflügeln. Und so wie die Harnische bedeckten auch die Visiere eng die Gesichter und zeigten auf das genaueste die furchterregenden Züge jedes einzelnen Kriegers. Es war nichts Menschliches an diesen Gesichtern, die wie poliert aussahen: Die Stirn war außerordentlich breit und das Antlitz lief keilförmig bis zum spitzen Kinn zusammen, genau wie bei Klæl. Aus den Augenschlitzen blitzte es, und statt einer Nase wies jedes Gesicht zwei Löcher auf. Der Mund jeder Maske war geöffnet und voller nadelspitzer Zähne.

Die riesenhaften Krieger schwärmten unter Klæls Schwingen hervor, während seine Blitze rundum zuckten, und schwangen Waffen, die teils Streitkolben, teils Streitaxt waren – stählerne Monstrositäten wie aus einem Alptraum.

Ein geordneter Rückzug war nicht mehr möglich. Noch ehe sie sich ein Bild von ihren Gegnern machen konnten, befanden sich die Ritter, die sich noch in donnerndem Galopp bewegten, bereits in Kampfstellung.

Der Lärm, als die beiden Armeen aufeinanderprallten, erschütterte die Erde, und das scharfe, stählerne Krachen zersprang zu einem Chaos gräßlicher Geräusche – Klirren und Dröhnen, Schreien und Stöhnen, das furchterfüllte Wiehern von Pferden und das Reißen von Metall.

»Blast zum Rückzug!« brüllte Vanion dem Führer der Genidianer zu. »Blast ins Ogerhorn, so fest Ihr könnt, Mann! Holt unsere Leute da heraus!«

Das Gemetzel war grauenvoll. Pferde und Reiter wurden von Klæls unmenschlicher Armee zerfetzt. Vanion hieb seinem Pferd die Sporen in die Weichen, daß es vorwärtsschoß. Der Hochmeister der Pandioner stieß seine Lanze durch den Harnisch eines der fremdartigen Gegner und sah das Blut spritzen. Jedenfalls hielt er es für Blut – eine dicke, gelbe Flüssigkeit quoll aus den Stahllippen der Maske. Die Kreatur wich zurück, schwang jedoch noch immer ihre furchtbare Waffe. Vanion riß die Hände von der Lanze, die den Gegner durchbohrt hatte, und zog sein Schwert. Er kämpfte voller Verbissenheit und Verzweiflung. Seine Schläge waren so wuchtig, daß sie einen Menschen längst zerstückelt hätten, doch die Kreatur brachten sie nicht zu Fall. Doch schließlich gelang es Vanion, seinen schrecklichen Gegner niederzuhacken – beinahe so, wie ein Bauer einen zähen Dornbusch in Stücke spaltet.

»Engessa!« Betuanas gellender Wut- und Verzweiflungsschrei erhob sich über den Schlachtlärm.

Hastig wendete Vanion sein Pferd. Er sah, wie die atanische Königin ihrem schwerverwundeten General zu Hilfe eilte. Selbst die monströsen Kreaturen, die Klæl auf die Ordensritter gehetzt hatte, zuckten vor Betuanas Zorn zurück, als sie sich mit der Waffe einen Weg zu Engessas Seite bahnte.

Auch Vanion hieb und stach sich einen Weg frei, um zu Betuana zu gelangen. Sein blitzendes Schwert ließ gelbes Blut in Fontänen emporschießen. »Könnt Ihr ihn tragen?« brüllte er Betuana zu.

Sie bückte sich und hob ihren gefallenen Freund scheinbar mühelos auf die Arme. »Zieht Euch zurück!« rief Vanion. »Ich decke Euch!« Und damit warf er sein Pferd den Ungeheuern entgegen, die auf sie losstürmen wollten.

Betuanas Miene verriet Hoffnungslosigkeit, als sie mit Engessas schlaffem Körper vom Schlachtfeld rannte, und Tränen strömten über ihr Gesicht.

Vanion biß die Zähne zusammen, hob sein Schwert und griff an.


Sephrenia war todmüde, als sie Dirgis erreichten. »Ich habe keinen Hunger«, erklärte sie Xanetia und Aphrael, nachdem sie ein Zimmer in einem ansehnlichen Gasthaus nahe der Ortsmitte genommen hatten. »Ich möchte nur ein heißes Bad und zwölf Stunden ungestörten Schlaf.«

»Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Schwester?« fragte Xanetia besorgt.

Sephrenia lächelte erschöpft. »Nein, Liebes.« Sie legte der Anarae eine Hand auf den Arm. »Nur ein wenig müde. Allmählich fordert dieses ständige Umhereilen seinen Tribut von mir. Setzt ihr zwei euch in die Gaststube, und gönnt euch ein gutes Abendessen. Aber seid so nett, und laßt mir eine kleine Kanne Tee aufs Zimmer bringen. Das genügt mir einstweilen. Morgen werde ich ausgiebig frühstücken. Und tut mir den Gefallen und seid leise, wenn ihr heraufkommt und zu Bett geht.« Sephrenia verbrachte eine entspannende halbe Stunde in einer mit dampfendem Wasser gefüllten Wanne im Badehaus. Dann kehrte sie, in ihre styrische Robe gehüllt und mit einer Kerze in der Hand, auf ihr Zimmer zurück.

Es war kein großer Raum, aber warm und gemütlich und mit einem dieser Porzellanöfen beheizt, wie sie in Tamuli üblich sind. Sephrenia zog einen Stuhl nahe an den Ofen und begann, ihr langes schwarzes Haar zu bürsten. »Eitel, Sephrenia? Nach all diesen Jahren?«

Beim Klang dieser vertrauten Stimme fuhr sie zusammen. Zalasta war kaum wiederzuerkennen. Er hatte seine styrische Robe abgelegt und trug statt dessen ein Lederwams arjunischen Schnittes, eine Drillichhose und schwere Stiefel mit dicker Sohle. Er hatte sich sogar so weit von den Traditionen seines Volkes entfernt, daß er am Gürtel ein Kurzschwert trug. Sein weißes Haar und der Bart waren ungepflegt und seine Wangen hohl. »Bitte, mach keine Szene, Liebste«, sagte er. Seine Stimme klang müde ohne jede Regung, sah man vom Selbstmitleid ab. Er seufzte. »Was haben wir falsch gemacht, Sephrenia? Was hat uns getrennt und in diesen beklagenswerten Zustand versetzt?«

»Du möchtest doch nicht wirklich, daß ich dir darauf antworte, Zalasta? Warum konntest du es nicht einfach dabei belassen, wie es war? Ich habe dich geliebt – nicht auf diese Weise, natürlich. Aber es war Liebe. Konntest du dich nicht damit zufriedengeben und die andere Art von Liebe vergessen?«

»Offenbar nicht. Dieser Gedanke ist mir gar nicht gekommen.«
»Sperber wird dich umbringen!«
»Kann sein. Aber um ehrlich zu sein, es ist mir egal.«
»Was soll das heißen? Warum bist du hierher gekommen?«

»Ich wollte dich ein letztes Mal sehen – noch einmal deine Stimme hören.« Er erhob sich von dem Stuhl in der Ecke. »Es hätte alles ganz anders kommen können, wäre Aphrael nicht gewesen! Sie hat dich in die Lande der Elenier gebracht und verdorben. Du bist Styrikerin, Sephrenia. Wir Styriker sollten uns nicht mit den elenischen Barbaren abgeben. Wir dürften überhaupt nichts mit ihnen zu tun haben!« »Du täuschst dich, Zalasta. Anakha ist Elenier. Also müssen wir uns mit ihnen abgeben. Du solltest jetzt besser gehen. Aphrael ist unten beim Abendessen. Wenn sie dich hier vorfindet, wird sie dein Herz als Nachspeise verzehren.«

»Ich gehe sofort. Nur eine Sache muß ich zuvor noch erledigen. Danach kann Aphrael mit mir tun, was ihr beliebt.« Zalastas Gesicht verzog sich plötzlich in bitterem Schmerz. »Warum, Sephrenia? Warum? Wie kannst du die unreine Berührung dieses elenischen Wilden ertragen?«

»Vanion? Das würdest du nicht verstehen. Das übersteigt dein Begriffsvermögen.« Sie stand auf und blickte ihn herausfordernd an. »Tu, was immer du tun mußt, und dann gehe! Schon bei deinem Anblick wird mir übel.«

»Wie du meinst.« Mit einemmal wirkte sein Gesicht kalt wie Stein.

Es überraschte Sephrenia gar nicht einmal so sehr, als er einen langen Bronzedolch unter seinem Wams hervorzog. Trotz allem war er noch so sehr Styriker, daß er die Berührung von Stahl verabscheute. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dies bedaure«, sagte er und kam näher.

Sie versuchte sich zu wehren, krallte nach seinem Gesicht und seinen Augen, während sie um Hilfe schrie. Sie verspürte sogar einen kurzen Augenblick der Befriedigung, als es ihr gelang, seinen Bart zu fassen und als sie sah, wie er vor Schmerz zusammenzuckte. Sie zerrte am Bart, riß seinen Kopf hin und her. Dann aber gelang es ihm, sich loszureißen und sie heftig von sich zu stoßen. Sie stolperte nach hinten und fiel halb über einen Stuhl – und damit war sie ihm ausgeliefert. Während sie sich noch mühte, auf die Füße zu kommen, packte er sie am Haar. In diesem Augenblick wußte Sephrenia, daß sie nichts mehr ausrichten konnte. Verzweifelt beschwor sie Vanions Gesicht aus dem Gedächtnis herbei und füllte, noch während sie aufs neue nach Zalasta schlug, ihre Augen und ihr Herz mit den Zügen des geliebten Mannes.

In diesem Moment stieß Zalasta den Dolch tief in ihre Brust und zerrte ihn mit großer Anstrengung wieder heraus.

Sephrenia schrie auf und fiel nach hinten. Als sie die Hände auf die Wunde drückte, spürte sie, wie das Blut zwischen den Fingern hervorschoß.

Zalasta fing sie auf. »Ich liebe dich, Sephrenia«, flüsterte er mit gebrochener Stimme, während das Lebenslicht aus ihren Augen schwand.