4

Es war ein kleiner Einmaster, ein Küstenschiff mit leckem Boden und geflickten Segeln. Man konnte auch mit bestem Willen nicht behaupten, daß es in flotter Fahrt das Wasser durchschnitt. Statt dessen trieb es träge voran. Berit und Khalad, in ihren Kettenhemden und den Reiseumhängen darüber, standen am Bug und blickten über die bleigraue Weite der Bucht von Micae, durch die sich das heruntergekommene Schiff plagte. »Ist das da vorn die Küste?« fragte Berit hoffnungsvoll.

Khalad spähte über das Kabbelwasser. »Nein, nur eine Wolkenbank. Wir sind nicht gerade schnell, Hoheit. Ich fürchte, heute werden wir die Küste nicht mehr erreichen.« Er warf einen raschen Blick über die Schulter und senkte die Stimme. »Bleib nach Sonnenuntergang auf der Hut! Die Besatzung dieses Eimers besteht offenbar aus fragwürdigem Hafengesindel, und der Kapitän scheint nicht viel besser zu sein. Ich glaube, wir sollten heute nacht abwechselnd die Augen offen halten.« Auch Berit blickte nun zum Heck auf die keineswegs Vertrauen einflößende Meute, die an Deck herumlungerte. »Ich wollte, ich hätte meine Axt dabei«, murmelte er. »Sag so was ja nicht laut, Berit!« rügte Khalad. »Sperber kämpft nie mit der Streitaxt. Das weiß Krager, und möglicherweise steht einer dieser Seeleute in seinen Diensten.« »Jetzt noch? Nach dem Erntedankfest?«

»Es ist noch nie jemandem eingefallen, wie man alle Ratten töten kann, Hoheit, und hier genügt schon ein einziger Spitzel. Benehmen wir uns also am besten so, als würden wir ständig beobachtet und belauscht – nur um sicherzugehen.«

»Ich werde mich viel besser fühlen, wenn wir erst wieder an Land sind. Mußten wir diesen Streckenabschnitt denn unbedingt mit dem Schiff fahren?«

»Das ist so üblich.« Khalad zuckte die Schultern. »Keine Angst, wir können uns diese Burschen vom Leibe halten, wenn's sein muß.«

»Darum geht es mir gar nicht, Khalad. Dieser Eimer wankt durchs Wasser wie ein Wal mit verstauchtem Rücken. Es wühlt meinen Magen auf!«

»Kaut ein Stück trockenes Brot.« Khalad kehrte vorsichtshalber wieder zur förmlichen Anrede zurück.
»Lieber nicht. Es ist wirklich scheußlich, Khalad!«
»Aber wir stecken mitten in einem Abenteuer, Hoheit«, sagte Khalad gutgelaunt.
»Wiegt der Reiz dieses Erlebnisses die Unannehmlichkeit nicht auf?«
»Nein, wahrhaftig nicht!«
»Ihr wolltet doch ein Ritter sein.«

»Ja, schon – nur versuche ich jetzt, mich zu erinnern, weshalb.«

Patriarch Emban war höchst ungehalten. »Das ist wirklich ungeheuerlich, Vanion!« beschwerte er sich, während er neben den anderen her zur Kapelle im Westflügel watschelte. »Wenn Dolmant je erfährt, daß ich an einem geweihten Ort die Ausübung von Hexerei duldete, wird er mich meines Amtes entheben!«

»Es ist der sicherste Ort, Emban«, erklärte Vanion. »Die Behauptung, ›heilige Rituale‹ zu vollziehen, verschafft uns einen guten Vorwand, sämtliche Tamuler aus dem Westflügel zu entfernen. Außerdem wurde die Kapelle wahrscheinlich ohnehin nie richtig geweiht. Ihr dürft nicht vergessen, daß dies nur die Nachbildung einer Burg ist, die lediglich dazu dienen sollte, daß Elenier sich hier wie zu Hause fühlen. Die Erbauer hätten ja gar nicht wissen können, wie das Ritual der Weihe bei uns aussieht.«

»Ihr wißt nicht mit Sicherheit, daß die Kapelle nicht geweiht wurde!«

»Und Ihr nicht, daß sie geweiht wurde. Wenn es Euch so zu schaffen macht, Emban, könnt Ihr sie ja neu weihen, sobald wir fertig sind.«

Emban erblaßte. »Ist Euch klar, was alles dazu gehört? Das stundenlange Beten, das schier endlose Knien vor dem Altar, das Fasten!« Sein pausbäckiges Gesicht wurde noch blasser. »Großer Gott, das Fasten!«

Sephrenia, Flöte und Xanetia hatten sich bereits einige Stunden zuvor in die Kapelle gestohlen. Nun saßen sie unauffällig in einer Ecke und lauschten einem Chor Ordensritter, die Kirchenlieder sangen.

Emban und Vanion diskutierten immer noch heftig, als sie sich den Damen anschlossen. »Was habt ihr für ein Problem?« erkundigte sich Sephrenia.

»Patriarch Emban und Hochmeister Vanion sind sich nicht einig, ob die Kapelle geweiht ist oder nicht, kleine Mutter«, erklärte Kalten.
»Sie ist nicht geweiht«, warf Flöte gleichmütig ein.
»Woher willst du das wissen?« fragte Emban heftig.

Sie blickte ihn betont geduldig an. »Wer bin ich denn, Eminenz?«

Er blinzelte. »Oh! Irgendwie vergesse ich das immer. Gibt es tatsächlich eine Möglichkeit für dich, zu erkennen, ob ein Ort geweiht ist oder nicht?«

»Natürlich! Glaub mir, Emban, diese Kapelle wurde eurem elenischen Gott nie geweiht.« Sie machte eine Pause. »Doch es gibt hier eine Stelle, gar nicht so weit von hier, die vor etwa achtzehntausend Jahren einem Baum geweiht wurde.« »Einem Baum?«

»Es war ein sehr schöner Baum – eine Eiche. Aus irgendeinem Grund ist es immer eine Eiche. Eine Ulme, zum Beispiel, will offenbar nie jemand anbeten. Früher haben viele Völker Bäume verehrt. Bei denen wußte man, woran man war – bei den Bäumen, meine ich.«

»Wie kann jemand, der bei klarem Verstand ist, einen Baum anbeten?«

»Wer behauptet denn, daß religiöse Menschen bei klarem Verstand sind? Manchmal verwirrt ihr Sterblichen uns ganz gewaltig, weißt du.«

Da es hier in den meisten Fällen darum ging, das Aussehen zu ändern, hatten Sephrenia und Xanetia ein bißchen experimentiert und den Zauber abgewandelt, durch den Berit äußerlich zu Ritter Sperber geworden war. Für Sperber selbst war kein Austausch nötig; deshalb veränderten sie ihn zuerst. Er saß neben seinem alten Freund, Ritter Endrik, einem Veteranen, mit dem er, Kalten und Martel ihr Noviziat durchgestanden hatten. Xanetia ging auf sie zu, während die Farbe aus ihrem Gesicht dem weichen Leuchten wich. Sie studierte Endrik eingehend; dann begann sie den delphaeischen Zauberspruch in ihrem fremdartig klingenden archaischen Tamulisch. Gleichzeitig wirkte Sephrenia den styrischen Zauber.

Sperber spürte gar nichts, als Xanetia ihre magischen Kräfte freisetzte. Dann, im entscheidenden Moment, streckte Sephrenia die Hand aus und gab gleichzeitig den styrischen Zauber frei. Das spürte Sperber durchaus. Seine Züge schienen weich zu werden wie erwärmtes Wachs; er konnte regelrecht fühlen, wie sein Gesicht sich veränderte – beinahe wie feuchter Ton, der in des Töpfers Hand geformt wird. Die offensichtliche Verschönerung seiner gebrochenen Nase tat ein kleines bißchen weh, und die Zähne schmerzten, als sie sich bei der Verlängerung seiner Kinnpartie in den Kiefern leicht verschoben.

»Was meinst du?« fragte Sephrenia erwartungsvoll, als die Verwandlung abgeschlossen war.

Vanion verglich die beiden Männer eingehend. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ihr es noch ähnlicher hättet machen können. Wie fühlt man sich, plötzlich einen Zwilling zu haben, Endrik?«

»Ich habe überhaupt nichts gespürt, Eminenz«, erwiderte Endrik und betrachtete Sperber interessiert.

»Ich schon.« Sperber betastete vorsichtig seine neue Nase. »Vergeht der Schmerz mit der Zeit, Anarae?« fragte er.

»Je schneller Ihr Euch an die Veränderung gewöhnt, desto weniger werdet Ihr es bemerken, Anakha. Ich hatte Euch ja darauf aufmerksam gemacht, daß es ein wenig unangenehm werden könnte, erinnert Ihr Euch?«

»Natürlich.« Sperber zuckte die Schultern. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«
»Sehe ich wirklich so aus?« fragte Endrik.
»Ja«, versicherte Vanion ihm.

»Ich sollte ein wenig mehr für mich tun. Die Jahre sind nicht sehr freundlich mit mir umgesprungen.«

Kalten lachte. »Niemand bleibt auf die Dauer jung und schön, Endrik.«

»Ist das alles, was Ihr mit den beiden tun mußtet, Anarae?« erkundigte sich Vanion. »Die Verwandlung ist abgeschlossen, Hochmeister Vanion«, versicherte Xanetia ihm. »Wir müssen etwas besprechen, Sperber«, sagte Vanion. »Gehen wir in die Sakristei, wo wir nicht im Weg sind, während die Damen den Verwandlungszauber bei den anderen fortführen.«

Sperber nickte, stand auf und folgte seinem Freund zu der kleinen Tür links vom Altar.

Vanion ließ ihm den Vortritt und schloß dann die Tür. »Habt Ihr alles mit Sorgi arrangiert?« vergewisserte er sich.

Sperber setzte sich. »Ich habe gestern mit ihm gesprochen. Ich sagte, ich hätte ein paar Freunde, die nach Beresa wollten, ohne gesehen zu werden. Wie üblich sind ein paar Mann ausgefallen, und deshalb hat Sorgi drei Kojen frei. Stragen, Talen und ich werden uns unter die Besatzung mischen. Auf diese Weise dürften wir Beresa erreichen, ohne aufzufallen.«

»Ich kann mir vorstellen, daß Ihr da tief in den Beutel greifen müßt. Sorgis Preise sind nicht gerade niedrig.«

Sperber massierte seine schmerzenden Kiefer. »So schlimm war es nicht. Sorgi schuldet mir einige Gefallen, und ich gab ihm Zeit, eine Fracht abzuholen, die den größten Teil der Kosten deckt.« »Ihr werdet Euch von hier direkt zum Hafen begeben?«

Sperber nickte. »Durch den unterirdischen Gang, den Caalador unter der Kaserne entdeckt hat. Ich habe Sorgi versichert, daß seine drei neuen Besatzungsmitglieder gegen Mitternacht an Bord kommen werden.«
»Ihr lauft also schon morgen aus?«
Sperber schüttelte den Kopf. »Übermorgen. Morgen müssen wir erst Sorgis Fracht laden.«
»Ehrliche Arbeit, Sperber?« Vanion lächelte.
»Ihr hört Euch ja schon fast wie Khalad an.«

»Er hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg, nicht wahr?« »Das scheint er von seinem Vater geerbt zu haben.«

»Hört auf, Euer Gesicht so zu reiben, Sperber! Die Haut wird ja ganz wund.« Vanion machte eine Pause. »Wie war es?«
»Sehr eigenartig.«
»Schmerzhaft?«

»Die Nase jedenfalls. Es hat sich fast so angefühlt, als wäre sie noch einmal gebrochen worden. Seid bloß froh, daß Ihr das nicht durchmachen müßt.« »Das wäre auch wenig sinnvoll. Ich brauche ja nicht durch irgendwelche dunklen Gassen zu schleichen wie ihr anderen.« Vanion blickte seinen Freund mitfühlend an. »Wir bekommen Ehlana frei, Sperber!«

»Natürlich. War das alles?« Sperber bemühte sich um eine gleichmütige, beinahe unpersönliche Stimme. Wichtig war, nicht nur im Äußeren, sondern auch innerlich, in den Gefühlen und Gedanken, ein anderer Mensch zu sein.

»Seid vorsichtig und versucht, Euer Temperament im Zaum zu halten.«

Sperber nickte. »Schauen wir nach, wie die anderen zurechtkommen.«

Die Veränderungen waren verwirrend, daran bestand kein Zweifel. Es war schwer zu erkennen, wer gerade redete, und manchmal verblüffte es Sperber, wer seine Fragen beantwortete. Die Gefährten verabschiedeten sich und verließen mit den übrigen Ordensrittern die Kapelle. Sie traten auf den mit Fackeln beleuchteten Burghof, überquerten die Zugbrücke und begaben sich über die nachtdunklen Rasen zur Kaserne der Ritter, wo sie sich umzogen. Sperber, Stragen und Talen schlüpften in teerverschmierte Seemannskleidung, während die übrigen schlichte Gewandung einfacher Bürger anlegten. Dann stiegen sie alle die Kellertreppe hinunter. Caalador, der nun das kantige Gesicht eines deiranischen Ritters mittleren Alters besaß, führte sie, mit einer rauchigen Fackel in der Rechten, in einen klammen Gang, von dessen Decke und Wänden Spinnweben hingen. Nach etwa einer Meile blieb er stehen und hob die Fackel. »Hier ist Euer Ausgang, Sperber!« Er deutete auf eine schmale, steile Treppe. »Ihr werdet in einer ziemlich anrüchigen Gasse herauskommen, aber sie ist schön dunkel. Viel Glück.«

»Danke, Caalador.« Die beiden schüttelten sich die Hände; dann hob Caalador wieder seine Fackel und führte die anderen durch den modrigen Gang zu weiteren geheimen Ausgängen, während Sperber, Talen und Stragen im Dunkeln zurückblieben.

»Sie begeben sich nicht in Gefahr, Vanion«, beruhigte Flöte den Hochmeister, während die Damen sich reisefertig machten. »Schließlich bin ich bei ihnen und kann mich um sie kümmern.«
»Dann wenigstens zehn Ritter.«

Sephrenia schüttelte den Kopf. »Sie wären uns nur im Weg, Liebster. Aber ich möchte, daß du vorsichtig bist. Ein Trupp Bewaffneter muß viel eher mit einem Angriff rechnen als eine kleine Gruppe harmloser Reisender.«

»Aber es ist gefährlich für alleinreisende Damen!« wandte Vanion beinahe verzweifelt ein. »Überall lauern Wegelagerer, und in den Wäldern gibt es Räuberbanden!«

»Wir werden nicht lange genug an einem Ort sein, um Wegelagerern oder Räubern aufzufallen«, versicherte Flöte. »In zwei Tagen schon sind wir in Delphaeus. Ich könnte es an einem Tag schaffen, aber ich muß unterwegs ein längeres Gespräch mit Edaemus führen, ehe ich mich in sein Tal begebe. Es könnte eine Weile dauern, ihn zu überzeugen.«

»Wann werdet Ihr Matherion verlassen, Hochmeister Vanion?« fragte Xanetia. »Gegen Ende der Woche, Anarae. Wir brauchen noch einige Zeit, unsere Ausrüstung zu vervollständigen, und wir müssen uns noch um den Nachschub kümmern.«

»Vergiß nicht, daß du dir was Warmes zum Anziehen einpackst«, ermahnte Sephrenia ihn. »Das Wetter kann jetzt jederzeit umschlagen!«

»Ich werde daran denken, Liebste. Wie lange werdet ihr in Delphaeus bleiben?« »Das wissen wir noch nicht genau. Aphrael wird dich auf dem laufenden halten. Wir haben eine ganze Menge mit Anari Cedon zu besprechen. Daß Cyrgon Klæl beschworen hat, kompliziert die Sache.«

»Allerdings«, pflichtete Xanetia ihr bei. »Vielleicht müssen wir Edaemus bitten, zurückzukehren.«
»Würde er das tun?«

Flöte lächelte spitzbübisch. »Ich würde ihn überreden. Du weißt ja, wie gut ich das kann. Wenn ich wirklich etwas will, bekomme ich es fast immer.«

»He, du dort! Schlaf nicht ein!« brüllte Sorgis stiernackiger Bootsmann und drohte mit der Peitsche.

Der thalesische Unterweltkönig, der jetzt die Zöpfe und den gezwirbelten Schnurrbart eines blonden genidianischen Ritters trug, ließ den Ballen los, den er eben über Deck trug, und langte nach seinem Dolch.

»Nein!« Sperber stieß ihm den Ellbogen in die Seite. »Hebt den Ballen auf!« Stragen funkelte ihn kurz an; dann bückte er sich nach dem Ballen. »Das gehörte nicht zur Abmachung!« knurrte er.

»Er wird Euch nicht wirklich peitschen«, beruhigte Talen den vor Wut kochenden Thalesier. »Seeleute jammern zwar immer darüber, aber die Peitsche ist nichts als Schau. Ein Bootsmann, der seine Männer tatsächlich mit der Peitsche schlägt, fliegt während einer Reise für gewöhnlich über die Reling.«

»Vielleicht«, brummte Stragen finster. »Aber ich sage es euch ein für allemal: Wenn dieser Schwachkopf mich mit seiner Peitsche auch nur berührt, wird er keine Chance bekommen, zu schwimmen. Ich werde seine Innereien auf dem Deck verstreuen, bevor er auch nur blinzeln kann!«

»He, ihr Neuen!« brüllte der Bootsmann. »Unterhalten könnt ihr euch in der Freizeit! Ihr seid zum Arbeiten hier und nicht, um über das Wetter zu quatschen!« Und wieder ließ er seine Peitsche knallen.

»Sie könnte es, Khalad!« beharrte Berit. Er und Khalad ritten unter bedecktem Himmel südwärts einen einsamen Strand entlang, der einen trostlosen Salzsumpf säumte, in dem dürres Röhricht in der steifen Brise raschelnd aneinanderrieb. Khalad stellte sich in den Steigbügeln auf und blickte sich um. Dann setzte er sich wieder in den Sattel. »Eine lächerliche Idee, Herr Ritter!«

»Bemüh dich, alles ein wenig lockerer zu betrachten, Khalad. Aphrael ist eine Göttin. Sie kann alles tun, was sie will.« »Das bezweifle ich nicht. Aber warum sollte sie es wollen?«

»Na ja …« Berit suchte nach den richtigen Worten. »Sie könnte irgendeinen Grund haben, oder nicht? Einen, den weder du noch ich verstehen würden.«

»Ist das auf diese styrische Ausbildung zurückzuführen? Daß du anfängst, hinter jedem Busch Gottheiten zu entdecken? Die beiden sehen sich ein bißchen ähnlich, zugegeben, aber damit hat sich's.«

»Du kannst so skeptisch sein, wie du willst, Khalad. Ich bin nach wie vor überzeugt, daß etwas sehr Merkwürdiges geschieht!«

»Und ich bin nach wie vor überzeugt, daß dein Verdacht absurd ist!«

»Absurd oder nicht – ihr ganzes Gehabe ist gleich, ihr Gesichtsausdruck ebenfalls. Und beide strahlen die gleiche selbstgefällige Überlegenheit aus.«

»Kein Wunder. Aphrael ist eine Göttin, und Danae eine Kronprinzessin. Sie sind überlegen – zumindest halten sie sich dafür. Und übersiehst du nicht etwas? Wir haben sie beide im selben Gemach und zur selben Zeit gesehen! Sie sprachen sogar miteinander!«

»Das hat gar nichts zu sagen, Khalad. Aphrael ist eine Göttin. Wenn sie will, kann sie sich vermutlich an einem Dutzend verschiedenen Orten gleichzeitig aufhalten.« »Und das bringt uns wieder zu der entscheidenden Frage zurück! Warum sollte sie das tun? Nicht einmal ein Gott tut etwas ohne Grund!«

»Das wissen wir nicht, Khalad. Vielleicht tut Aphrael es nur zum Spaß.«
»Bist du wirklich so versessen auf Wunder, Berit?«
»Sie könnte es!« beharrte Berit.
»Na und?«

»Möchtest du es denn nicht wissen? Bist du denn kein bißchen neugierig?« »Nicht besonders.« Khalad zuckte die Schultern.

Ulath und Tynian trugen zusammengestückelte Uniformteile einer der wenigen Einheiten der tamulischen Armee, die Freiwillige aus den elenischen Königreichen von Westdaresien aufnahm. Die Gesichter, die sie sich ausgeliehen hatten, waren die von grauhaarigen Rittern mittleren Alters: Visagen sturmerprobter Veteranen. Das Schiff, auf dem sie fuhren, gehörte zu den heruntergekommenen Seglern, die an den Küsten entlangschipperten. Doch für das bißchen Geld, das sie für die Überfahrt bezahlt hatten, konnten sie nicht mehr erwarten. Sie hatten ihren eigenen Proviant mitgebracht und ihre eigenen geflickten Decken, und sie aßen und schliefen an Deck. Ihr Ziel war ein Dorf an der Küste, etwa fünfundsiebzig Meilen östlich der Ausläufer der Tamulischen Berge. Tagsüber saßen sie herum, tranken billigen Wein und vertrieben sich die Zeit mit Würfelspiel.

Der Himmel war bedeckt, als das Beiboot des Schiffes sie am baufälligen Pier des Dorfes absetzte. Es war ein kalter Tag, und die Tamulischen Berge waren nicht viel mehr als ein verschwommener grauer Streifen am Horizont.

»Wie heißt dieser Pferdehändler gleich wieder?« fragte Tynian. »Sablis«, brummte Ulath.

Tynian seufzte. »Ich hoffe, Oscagne hat recht. Denn wenn dieser Sablis seinen Pferdehandel inzwischen aufgegeben hat, können wir zu Fuß zu diesen Bergen aufbrechen.«

Ulath ging über den Pier zu einem Kerl mit verkniffenem Gesicht, der ein Fischernetz flickte. »Sagt mir, Freund«, wandte er sich höflich auf tamulisch an den Mann, »wo können wir Sablis finden, den Pferdehändler?«

»Was ist, wenn ich es Euch nicht sagen will?« entgegnete der hagere Netzflicker mit näselnder, greinender Stimme, die ihn als einen jener boshaften Kerle auswies, die lieber sterben würden, als jemandem zu helfen oder auch nur höflich zu sein. Tynian war diesem Typ schon öfter begegnet: kleinen dummen Männern mit zumeist übersteigertem Selbstwertgefühl, denen es Vergnügen bereitete, andere Menschen – vor allem Fremde – ihre vermeintliche Überlegenheit spüren zu lassen. »Überlaß das mir«, murmelte Tynian und hielt seinen thalesischen Kameraden zurück, indem er ihm eine Hand leicht auf den Arm legte.

»Schönes Netz«, bemerkte Tynian gleichmütig und hob ein Ende auf. Dann zog er sein Messer und begann die Schnüre zu durchtrennen. »Was tut Ihr da?« schrie der übellaunige Fischer.

»Ich zeige Euch das Was«, erklärte Tynian. »Ihr habt gesagt: ›Was ist, wenn ich es Euch nicht sagen will?‹Das ist das Was. Überlegt es Euch. Mein Freund und ich sind nicht in Eile, also laßt Euch Zeit.« Er nahm eine Handvoll Netz und säbelte es mit seinem Messer durch. »Hört auf!« kreischte der Fischer entsetzt.

»Äh – wo, habt Ihr gesagt, können wir Sablis finden?« fragte Ulath freundlich. »Seine Koppeln sind am Ostrand des Ortes!« Die Stimme des Mannes überschlug sich. Dann raffte der dürre Kerl sein Netz in beide Arme und drückte es schützend an die Brust, beinahe so, wie eine Mutter ihr Kind.

»Einen schönen Tag noch, Nachbar.« Tynian steckte seinen Dolch wieder ein. »Ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr wir Eure Hilfe zu schätzen wissen.« Damit drehten die beiden Ritter sich um und schritten den Pier entlang zu dem armseligen Dorf.

Ihr Lager war sauber und ordentlich. Alles befand sich genau dort, wo es hingehörte. Berit war nicht entgangen, daß Khalad dabei immer nach dem gleichen Schema vorging. Er hatte offenbar eine genaue Vorstellung von einem idealen Lager, und da es perfekt war, änderte er auch nie etwas daran. In mancher Hinsicht hatte Khalad nun einmal seine Prinzipien.

»Wie weit sind wir heute gekommen?« fragte Berit, nachdem sie ihr Abendessengeschirr abgespült hatten.

»Dreißig Meilen …« Khalad zuckte die Schultern. »… wie immer. Dreißig Meilen ist das übliche auf ebenem Gelände.«
»Das wird ja ewig dauern!« jammerte Berit.

»Nein, auch wenn es einem möglicherweise so vorkommt.« Khalad schaute sich um; dann senkte er die Stimme, daß sie kaum mehr als ein Flüstern war. »Wir sind nicht wirklich in Eile, Berit. Vielleicht sollten wir uns sogar ein bißchen mehr Zeit lassen.« »Wa-as?«

»Nicht so laut! Sperber und die anderen haben einen weiten Weg, und wir wollen doch sicher sein, daß sie an Ort und Stelle sind, ehe Krager – oder wer auch immer – sich mit uns in Verbindung setzt. Wir wissen nicht, wann oder wo das sein wird; deshalb ist es das beste, langsamer zu reiten, um später anzukommen.« Khalad blickte in die Dunkelheit außerhalb des Feuerscheins. »Wie gut beherrschst du die Magie?«

»Nicht besonders«, gestand Berit und scheuerte eifrig einen Teller. »Ich muß noch viel lernen. Was möchtest du denn?«

»Könntest du eines unserer Pferde humpeln lassen – aber ohne ihm weh zu tun?« Berit forschte in seinem Gedächtnis. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube nicht, daß ich irgendwelche Zauber kenne, die das bewerkstelligen könnten.«

»Das ist wirklich schade. Ein lahmendes Pferd wäre ein guter Grund, nicht so schnell voranzukommen.«

Es kam ganz ohne Vorwarnung: ein eisiges Prickeln, das von Berits Nacken auszugehen schien. »Das genügt nun wirklich«, sagte er mit erhobener Stimme. »Schließlich werde ich nicht dafür bezahlt, Löcher in Blechteller zu schrubben!« Er tauchte den Teller ins Wasser, trocknete ihn mit einem Grasbüschel ab und verstaute ihn wieder in seinem Sattelbeutel.

»Du hast es also auch gespürt?« Khalads Wispern drang durch seine geschlossenen Lippen. Berit zuckte zusammen. Wie konnte Khalad es bemerkt haben?

Berit zurrte die Riemen des Sattelbeutels zu und nickte. »Legen wir ein bißchen was nach und schlafen«, sagte er laut genug, daß es auch außerhalb des Feuerkreises gehört werden konnte. Beide gingen zu dem Haufen aus Reisig und dürren Ästen, den sie zusammengetragen hatten. Berit murmelte den Zauber und verbarg die dazugehörenden Gesten so gut es ging.

»Wer ist es?« Auch diesmal bewegten sich Khalads Lippen nicht.

»Ich weiß es noch nicht genau«, flüsterte Berit zurück. Er gab den Zauber so langsam frei, daß er beinahe aus den Fingerspitzen zu tropfen schien.

Es überspülte ihn wie eine Brandung. Da war etwas, das er zu spüren und zu hören glaubte, in einer Sprache, die ihm bekannt war – nur, daß niemand redete. »Es ist ein Styriker«, sagte er leise.
»Zalasta?«

»Nein, ich glaube nicht. Ihn würde ich erkennen. Dem hier bin ich noch nie persönlich begegnet.«

»Ich fürchte, das Holz wird nicht reichen, Hoheit«, sagte Khalad laut. »Wir brauchen ja auch welches zum Frühstück.«

»Gut bedacht«, lobte Berit. Vorsichtig streckte er die magischen Fühler wieder aus. »Er entfernt sich«, murmelte er. »Wie hast du gemerkt, daß wir beobachtet wurden?« »Ich habe es gespürt.« Khalad zuckte die Schultern. »Ich spüre es immer, wenn jemand mich beobachtet. – Macht es viel Lärm, wenn du dich mit Aphrael in Verbindung setzt?«

»Nein, das ist einer der guten Zauber. Er verursacht nicht den geringsten Laut.« »Dann berichte ihr, daß wir tatsächlich beobachtet werden – und zwar von einem Styriker.« Khalad kniete nieder und machte sich daran, seinen Armvoll dürrer Äste auf ihr Lagerfeuer zu schichten. »Deine Tarnung funktioniert offenbar.« »Wie willst du das wissen?«

»Sie würden keinen Styriker auf uns ansetzen, wenn sie wüßten, wer du wirklich bist.«

»Es sei denn, sie haben nur noch Styriker. Stragens Erntedankfeier könnte wirkungsvoller gewesen sein, als wir dachten.«

»Darüber könnten wir die ganze Nacht diskutieren. Melde Aphrael einfach, daß unser Besucher irgendwo da draußen ist. Sie wird den anderen Bescheid geben. Sollen sie sich doch Kopfschmerzen holen, wenn sie versuchen, diesen Vorgang mit Logik zu erklären.« »Bist du denn gar nicht neugierig?«

»Nicht so neugierig, daß ich meinen Schlaf dafür opfern würde. Das ist einer der Vorteile, ein Bauer zu sein, Herr Ritter. Von uns erwartet niemand, daß wir Lösungen für diese weltbewegenden Probleme finden. Dieses Vergnügen sei euch Edelleuten vergönnt.«
»Danke«, brummte Berit sauer.
Khalad grinste. »Nichts zu danken, mein Ritter.«

Sperber hatte für sein tägliches Brot noch nie körperlich schuften müssen, und er entwickelte einen regelrechten Haß auf Kapitän Sorgis stiernackigen Bootsmann. Der Kerl war grob, dumm und bösartig. Wenn Sorgi sich auf dem Achterdeck sehen ließ, erwies er sich als übler Speichellecker, doch kaum kehrte er unter Deck zurück, kam der wahre Charakter des Bootsmanns wieder an die Oberfläche. Es schien ihm ein ganz besonderes Vergnügen zu machen, seine neuesten Besatzungsmitglieder zu quälen, indem er ihnen die anstrengendsten, langweiligsten und erniedrigendsten Arbeiten an Bord zuteilte. Sperber verstand jetzt Khalads Klassenvorurteile, und manchmal, des Nachts, ertappte er sich bei der Vorstellung, den hinterhältigen Bootsmann kaltblütig umzubringen.

»Ein jeder haßt seinen Arbeitgeber, Fron«, behauptete Stragen, Sperbers Tarnnamen benutzend. »Das ist etwas ganz Normales im Lauf der Dinge.« »Ich könnte den Kerl ja ertragen, wenn er sich nicht so große Mühe geben würde, ein widerwärtiger Lump zu sein«, knurrte Sperber, der mit einem Bimsstein das Deck scheuerte.

»Er wird dafür bezahlt, widerwärtig zu sein. Wütende Männer arbeiten härter. Dein Problem besteht zum Teil darin, daß du ihm jedesmal in die Augen blickst. Er würde sich nicht ausgerechnet immer dich vornehmen, würdest du die Augen gesenkt halten. Wenn du nicht bald damit anfängst, wird sich diese Seereise als sehr lang für dich erweisen.«

In ihrer derzeitigen Tarnung hatten die beiden beschlossen, einander lieber zu duzen, um nicht aufzufallen.

»Oder eine kurze Reise für den Bootsmann!« entgegnete Sperber finster.

Er grübelte darüber nach, als er in der folgenden Nacht ohne viel Erfolg versuchte, in seiner Hängematte zu schlafen. Inbrünstig wünschte er sich, er könnte jenen Idioten in Stücke hauen, der auf die Idee verfallen war, Menschen in Hängematten schlafen zu lassen. Das Schlingern des Schiffes schaukelte sie unsanft, und ständig hatte Sperber das Gefühl, jeden Moment hinausgeschleudert zu werden.

Anakha. Die Stimme war lediglich ein Wispern in seinem Kopf. Sperber war wie betäubt. »Blaurose?«

Ich flehe dich an, Anakha, sprich nicht laut! Deine Stimme ist wie Donnerhall in meinen Ohren. Sprich leise in den Räumen deines Bewußtseins. Ich werde dich hören.

Wie ist das möglich? formte Sperber den Gedanken. Du bist eingeschlossen!
Wer hat die Macht, mich einzuschließen, Anakha? Wenn du allein bist und dein Kopf frei ist von störenden Gedanken, können wir uns auf diese Weise unterhalten.
Das wußte ich nicht.
Bis jetzt war es nicht notwendig, daß du es erfährst.
Ich verstehe. Und jetzt ist es nötig?
Ja.

Wie ist es dir gelungen, die Barriere aus Gold zu überwinden?

Für mich ist es keine Barriere, Anakha. Andere dürfen mich nicht innerhalb des Gefängnisses deines kostbaren Behälters aufspüren. Ich aber kann auf diese Weise nach dir greifen. Vor allem, wenn wir einander so nahe sind.

Sperber legte die Hand auf den Lederbeutel, der an einer Lederschnur um seinen Hals hing, und spürte die eckige Form der Schatulle.

Und falls es sich als notwendig erweisen sollte, darf ich dann auf diese Weise mit dir reden?
So, wie du es jetzt tust, Anakha.
Gut zu wissen.
Ich spüre deine Unruhe, Anakha, und ich teile deine Besorgnis um das Wohlergehen deiner Gefährtin.
Das ist freundlich von dir, Blaurose.

Setze alles ein, um die Freigabe deiner Königin zu sichern, Anakha. All deine Kraft, all dein Wissen. Täusche unsere Feinde und vernichte sie. Der Edelstein unter Sperbers Hand hielt kurz inne. Hör gut zu, mein Freund, fuhr Bhelliom dann fort, solltest du keine andere Möglichkeit sehen, dann scheue nicht, mich gegen die Freiheit deiner Gefährtin einzutauschen. Das werde ich nicht – denn sie hat es mir verboten.

Sorge dich nicht, falls es dazu kommen sollte, Anakha. Ich werde mich Cyrgon nicht unterwerfen – auch nicht, wenn mein eigen Kind, das ich liebe wie du deines, dadurch in Gefahr gerät. Möge das Wissen dich trösten, daß ich nicht zulasse, daß mein Kind – noch du und alle deinesgleichen – von Cyrgon versklavt werden – oder schlimmer noch, von Klæl. Dazu wird es nie kommen, du hast mein Wort! Sollte es den Anschein haben, daß wir unser Ziel doch nicht erreichen können, gebe ich dir hiermit das feierliche Versprechen, daß ich dieses mein Kind vernichten werde und alle, die hier leben, um ein so widriges Schicksal zu verhindern. Soll ich mich jetzt besser fühlen, Blaurose?