32

Talen ließ sich vorsichtig von dem kleinen Fenster zurück auf die Brustwehr fallen. »Ich kann mich hindurchzwängen!« flüsterte er zuversichtlich. »Und was ist mit dem Eisengitter?« fragte Kalten skeptisch.

»Reines Zierwerk, und noch dazu mindestens zwei Jahrhunderte alt. Ist ein Kinderspiel für mich, das Gitter abzunehmen.«

»Warten wir noch, bis Xanetia zurück ist«, entschied Sperber. »Wir können erst dann etwas tun, wenn wir die Lage im Griff haben und wissen, was hier vor sich geht.« »Ich möchte dich ja nicht kränken«, wandte Mirtai sich leise an Talen, »aber ich weiß wirklich nicht, was du uns nutzen kannst, wenn du dich bei Beginn der Kampfhandlungen in der Zelle befindest und ein halbes Dutzend Cyrgai hineinstürmen, um Ehlana und Alean zu töten.«

»'s nutzt insoweit, als sie gar nicht in die Zelle kommen, Schätzchen«, antwortete er mit breitem Grinsen. »Weil nämlich die Tür zugesperrt ist!« »Sie haben einen Schlüssel!«

»Ich brauche etwa eine halbe Minute mit dem Schloß, dann nutzt ihnen ihr Schlüssel gar nichts mehr. Sie kommen nicht hinein, glaubt es mir!«

»Gibt es irgendwelche anderen Möglichkeiten?« fragte Bevier.

»Nicht in der kurzen Zeit, die uns vor Tagesanbruch noch bleibt«, antwortete Sperber mit einem besorgten Blick zum östlichen Horizont. »Kalten, steig hoch und sieh dir das Gitter an.«

»Mach' ich.« Der blonde Pandioner kletterte zu dem kleinen Fenster hinauf, legte beide Hände um das alte Schmiedeeisengitter und zog daran. Steinchen und kleine Mörtelbrocken hagelten auf die anderen hinunter.
»Psst!« zischte Mirtai mahnend zu ihm hinauf.

»Es ist bereits locker!« flüsterte Kalten zurück. »Der Mörtel ist zerbröckelt.« Er ließ das Gitter los und drückte sich ans Fenster. »Ehlana möchte mit dir sprechen, Sperber!« rief er leise hinunter.

Sperber stieg wieder zum Fenster hinauf. »Ja, Liebste?« flüsterte er in die Dunkelheit.

»Was hast du vor, Sperber?« fragte Ehlana raunend. Es klang so nahe, daß er vermeinte, sie berühren zu können.

»Wir werden das Gitter entfernen. Dann klettert Talen durchs Fenster und sorgt dafür, daß die Burschen von draußen nicht in die Zelle hinein können. Anschließend werden wir uns auf die Wachen stürzen. Ist Zalasta irgendwo in der Nähe?« »Nein. Er und Ekatas haben sich zum Tempel begeben. Zalasta weiß, daß ihr hier seid, Sperber. Irgendwie hat er deine Nähe gespürt. Santheocles läßt jetzt die Stadt nach euch absuchen.«

»Ich glaube, wir sind ihnen voraus. Wahrscheinlich ahnen sie nicht, daß wir bereits hier oben sind.«

»Wie seid ihr denn heraufgekommen, Sperber? Alle Treppenaufgänge werden bewacht!«

»Wir sind an der Außenseite des Turmes hinaufgeklettert. Wann treten die Wachen ihren Dienst wieder an?«

»Für gewöhnlich, sobald es hell wird. Sie kochen hier oben in der Wachstube irgendein scheußliches Essen. Dann bringen zwei von ihnen Alean und mir einen Fraß, den sie Frühstück nennen.«

»Auf euer Frühstück werdet ihr heute wohl ein bißchen länger warten müssen, Liebling«, flüsterte Sperber grinsend. »Die Köche werden bald mit etwas anderem beschäftigt sein.«
»Sei vorsichtig, Sperber!«
»Selbstverständlich, meine Königin.«
»Sperber!« rief Mirtai leise hinauf. »Xanetia ist zurück.«
»Ich muß jetzt wieder hinunter, Liebste«, flüsterte er in die Dunkelheit. »Wir holen euch bald da raus. Ich liebe dich!«
»Wie wundervoll, das wieder zu hören!«
Sperber stieg rasch zur Brustwehr zurück. »Schön, daß Ihr zurück seid, Anarae«, begrüßte er Xanetia.
»Eure gute Laune verwundert mich, Anakha.«

»Ich habe mich soeben mit meiner Gemahlin unterhalten, Anarae«, entgegnete er.

»Das hebt stets meine Stimmung. – Mit wie vielen Wachen werden wir es zu tun haben?« »Ich fürchte, sie zählen nahezu zwei Dutzend, Anakha.«

»Das könnte sich als Problem erweisen, Sperber«, meinte Bevier. »Es sind Cyrgai. Sie sind zwar nicht sonderlich klug, aber zwei Dutzend könnten uns doch Schwierigkeiten machen.«

»Vielleicht nicht«, widersprach Sperber. »Aphrael sagte, daß es hier oben nur drei Räume gibt: den Saal, die Zelle, in der Ehlana und Alean gefangengehalten werden, und die Wachstube. Hatte sie recht, Anarae?«

»Wahrlich«, bestätigte Xanetia. »Die Zelle und die Wachstube befinden sich hier an der Nordseite. Der Saal erstreckt sich an der Südseite, oberhalb von Cyrgons Tempel. Aus den schläfrigen Gedanken der Cyrgai, die noch wach sind, konnte ich entnehmen, daß König Santheocles sich gern auf diesen Hauptturm zurückzieht, um sich von diesem Wehrgang aus am Anblick seines Reiches zu erfreuen – und in allem genießt er die Verehrung seiner Untertanen in der Stadt unter ihm.«

»Verrückt«, brummte Mirtai. »Hat er nichts Besseres zu tun?«

Xanetia lächelte leicht. »Für alles andere fehlte ihm der Verstand, Atana. Sogar seine Gardisten, so beschränkt sie selbst auch sind, halten ihren König nicht für sehr klug. Doch seine Intelligenz – oder vielmehr der Mangel daran – ist nicht von großer Bedeutung. Santheocles ist von königlichem Geblüt und hat nur eine Aufgabe: festlich gewandet und mit der Krone auf dem Haupt standesgemäß aufzutreten.« »Das könnte ein Hut- oder Kleiderständer auch«, bemerkte Talen. »Wahrlich.«

»Halten die Wachen sich an einen festen Ablauf?« wollte Bevier wissen.

»Nein, Herr Ritter. Sie halten sich lediglich in Bereitschaft, die Befehle ihres Königs zu befolgen. Ihre Hauptbeschäftigung besteht darin, dem Volk mit Fanfarengeschmetter anzukündigen, daß Santheocles sich an der Brustwehr zeigen wird, um gnädigst die Huldbezeugungen der Cyrgai entgegenzunehmen.«

»Ansonsten sitzen sie wartend in der Wachstube herum?« erkundigte sich Sperber. »Von jenem Paar abgesehen, das Wache vor der Zelle der Königin hält, und dem anderen Paar, welches die Treppe zu den unteren Geschossen dieses Turmes bewacht.«

»Können sie von der Wachstube aus in die Zelle der Königin gelangen?« fragte Bevier angespannt.
»Nein. Es gibt nur diese eine Tür.«

»Und wie breit ist die Türöffnung zwischen der Wachstube und dem Saal?« »Sie erlaubt nur jeweils einer Person Zugang, Ritter Bevier.«

»Kalten und ich werden uns mit dieser Tür beschäftigen, Sperber.«

»Gibt es sonst noch Möglichkeiten, in die Wachstube zu gelangen?« fragte Kalten.
Xanetia schüttelte den Kopf.
»Irgendwelche großen Fenster?«

»Nein, es gibt nur eines, und das ist nicht größer als jenes da oben, doch ohne Gitter.«

»Das beschränkt die Zahl unserer direkten Gegner also auf jene vier Wachen im Saal«, stellte Kalten fest. »Bevier und ich wären allein imstande, die anderen eine ganze Woche in der Wachstube gefangenzuhalten, wenn es sein müßte.«

»Und Sperber und ich können uns die übrigen vor der Zellentür und am Kopfende der Treppe vornehmen«, fügte Mirtai hinzu.

Sperber blickte wieder nach Osten, wo sich bereits ein leichtes Grau am Himmel ausbreitete. »Sehen wir zu, daß wir Talen in die Zelle kriegen!«

Kalten kletterte wieder die Wand zum Fenster hinauf und bohrte seinen schweren Dolch in den Mörtel.

»Seht Euch noch ein wenig um und haltet Wache, Anarae«, flüsterte Sperber. »Gebt uns Bescheid, falls jemand die Treppe heraufkommen sollte.« Sie nickte und verschwand um die Turmecke.

Sperber stieg nun zu Kalten hinauf und machte sich am Mörtel der linken Gitterverankerung zu schaffen, während sein Freund weiterhin an der rechten arbeitete. Nach kurzer Zeit zerrte Kalten an dem rostigen Eisen. »Die untere Befestigung hat sich gelöst«, raunte er. »Machen wir oben weiter.«

»Ist gut.« Sie hackten und bohrten im Mörtel der oberen Verankerung. »Paß auf, sobald das Zeug sich löst«, mahnte Sperber. »Es wäre nicht ratsam, wenn es auf die Brustwehr klappert.«

»Meine Seite ist frei!« wisperte Kalten. »Ich halte das Gitter fest, bis auch deine Seite lose ist.« Er langte nach innen, fand mit der Rechten einen guten Halt, und packte das Gitter mit der Linken.

Sperber bohrte tiefer, und es hagelte kleine Mörtelstücke auf die Brustwehr unter ihnen. »Ich glaube, das wär's!« flüsterte er.

»Versuchen wir es mal!« Kaltens Schultern strafften sich, und ein knirschendes Geräusch war zu hören, als das uralte Ziergitter sich aus der Wand löste. Mit einer weit ausholenden Bewegung schleuderte Sperbers kräftiger Freund das schwere Hindernis über die Brustwehr hinweg.
»Was machst du?« stieß Sperber erschrocken hervor.
»Ich schaffe uns das Ding vom Hals!«

»Hast du eine Ahnung, was für einen Krach das Gitter machen wird, wenn es unten aufschlägt?«

»Na und? Es sind gut fünfhundert Fuß bis nach unten! Soll es doch so viel Krach machen, wie es nur will. Falls gerade irgendein Cyrgai oder ein cynesganischer Sklavenaufseher darunter steht, wird es eine schlimme Überraschung für ihn geben. Aber wir können damit leben, stimmt's?«

Sperber streckte den Kopf durch die nun freie Fensteröffnung. »Ehlana?« flüsterte er. »Bist du da?«
»Wo sollte ich sonst sein, Sperber?«

»Entschuldige. Dumme Frage. Wir haben das Gitter entfernt und schicken jetzt Talen zu euch hinein. Schrei oder tu sonst irgendwas, sobald er das Schloß zerstört hat und die Wachen nicht mehr aufschließen können.«

»Geht mir aus dem Weg, Sperber!« zischte Talen direkt unter ihm. »Wie soll ich hineinkommen, wenn Ihr das Fenster versperrt!«

Sperber bewegte sich zur Seite, und der behende junge Bursche wand sich durch die Öffnung. Plötzlich hielt er inne. »Es geht nicht«, murmelte er. »Zieht mich raus!« »Was ist los?« fragte Kalten bestürzt.

»Fragt nicht, zieht mich einfach raus, Kalten. Für Erklärungen reicht die Zeit nicht!« Sperbers Herz wurde schwer, als er und Kalten den jungen Einbrecher zurückzogen. »Haltet mal kurz!« Talen drehte sich um, bis er auf der Seite war; dann streckte er die Arme hoch über den Kopf. »Schiebt jetzt!« »Du wirst bloß wieder steckenbleiben!« protestierte Kalten.

»Dann müßt ihr eben fester schieben! Das hat man nun von diesem nahrhaften Essen, den Körperübungen und dem geregelten Leben, das Ihr mir aufdrängt, Sperber. Ich bin so in die Länge und Breite gegangen, daß ich meine Schultern nicht mehr durchkriege!« Wieder begann er, sich durch die Öffnung zu winden. »Schiebt, meine Herren!« wies er sie an.
Die beiden stemmten die Hände gegen Talens Fußsohlen.
»Fester!« ächzte er.
»Du schabst dir die ganze Haut ab!« warnte Kalten.
»Ich bin jung. Bei mir heilt alles rasch. Schiebt!«

Nach einiger Mühe und mit vielen heftigen Verwünschungen gelang es Talen schließlich, sich in die Zelle zu schlängeln.

»Alles in Ordnung?« flüsterte Sperber heiser durch die Fensteröffnung.

»Mir geht's gut, Sperber«, wisperte Talen zurück. »Macht ihr euch jetzt lieber an die Arbeit. Ich werde nicht lange brauchen.«

Sperber und Kalten ließen sich zurück auf die Brüstung fallen. »Los!« zischte Sperber, und die drei Ritter sowie die atanische Riesin eilten auf der schmalen Brustwehr zur Südseite des Turmes.

»Leise, Anakha!« Xanetias Stimme schien aus dem Nichts zu kommen. »Rühren die Posten sich bereits, Anarae?« wisperte Bevier.

»Einige Geräusche sind aus der Wachstube zu vernehmen«, antwortete ihre Stimme leise.

Auf der Vorderseite des Turmes befanden sich zwei große Lichtluken, eine zu jeder Seite der breiten Tür. Vorsichtig hob Sperber den Kopf über den Sims der linken Luke und spähte hindurch. Wie Aphrael gesagt hatte, war der Raum dahinter sehr groß, jedoch nur spärlich mit zwei Bänken, einigen Hockern und zwei niedrigen Tischen möbliert. Primitive Öllampen spendeten flackerndes, trübes Licht. An der rechten Seite der hinteren Wand befand sich eine kleine Tür, an der zwei statuengleiche Cyrgai Wache hielten. Die ebenfalls bewachte Treppe auf der linken Seite des Saales war an drei Seiten von einer niedrigen Wand umgeben. Die zweite Tür, die zur Wachstube führte, befand sich ebenfalls links, unweit des Kopfendes der Treppe.

Sperber beobachtete die Wachen und blickte prüfend auf ihre Waffen und Rüstung. Es waren muskulöse Männer in archaischem Brustpanzer, Kammhelm und kurzem Lederkilt. Jeder hielt einen großen Rundschild mit der linken Hand, mit der rechten einen acht Fuß langen Speer. Von ihren Gürteln hingen Schwerter und schwere Dolche.

Sperber wandte den Kopf vom Fenster ab. »Ihr solltet euch das lieber auch einmal anschauen!« forderte er seine Freunde leise auf.

Einer nach dem anderen richteten sich Kalten, Bevier und Mirtai leicht auf und spähten in den Saal.

»Ist diese Tür verschlossen, Anarae?« wisperte Sperber und deutete auf die, welche zum Wehrgang führte.

»Ich hielt es nicht für klug, das festzustellen, Anakha. Cynesganer sind keine geschickten Handwerker. Ich glaube, in der ganzen Stadt gibt es keine Türen, die sich lautlos öffnen ließen.«

»Da habt Ihr vermutlich recht«, flüsterte Sperber. »Ziehen wir uns um die Ecke zurück«, wies er die anderen an und führte sie zur Ostseite. »Es wird heller.« Kalten deutete zum Horizont.

Sperber zuckte die Schultern. »Wir steigen durch die Fenster«, entschied er. »Um einen Überraschungsangriff durch die Tür zu wagen, sind wir zu viele. Wir würden dabei wertvolle Zeit verlieren. Bevier, Ihr und Mirtai steigt durch das Fenster, das sich gegenüber der Tür befindet. Kalten und ich nehmen das Fenster auf dieser Seite. Seid vorsichtig. Diese Speere sind offenbar ihre Hauptwaffen. Das bedeutet, sie haben viel Übung damit. Geht schnell vor, und verschließt die Tür zur Wachstube. Wir müssen ihnen aber auch den Weg über die Treppe versperren.«

»Das erledige ich, Sperber«, erklärte Mirtai. »Konzentriert Ihr Euch darauf, unsere Freunde aus der Zelle zu holen.«

»Gut«, bestätigte er. »Sobald sie frei sind, kommt Bhelliom zum Einsatz. Das dürfte unsere Chancen hier oben beträchtlich erhöhen.«

Da vernahmen sie eine klare Stimme in einem sehnsuchtsvollen Lied, das durch die Dämmerung zu ihnen klang.

»Das Signal!« erklärte Kalten. »Das ist Alean! Talen ist fertig! Gehen wir es an!« »Ihr habt es gehört!« sagte Sperber. Er trat zur Seite, um Bevier und Mirtai vorbeizulassen. »Ich gebe das Zeichen, dann steigen wir alle gleichzeitig hinein.« Bevier und Mirtai duckten sich, während sie am vorderen Fenster vorbeirannten, um dann unter den Fenstern jenseits der Tür abzuwarten. »Haltet Ihr Euch heraus, Anarae«, murmelte Sperber der unsichtbaren Xanetia zu. »Das ist nicht Eure Art von Kampf.« Dann runzelte er die Stirn, denn er spürte ihre Anwesenheit nicht. »Also gut, Kalten«, sagte er schließlich. »Gehen wir es an.«

Die beiden schlichen mit dem Schwert in der Hand lautlos vorwärts und duckten sich unter das breite Fenster. Sperber richtete sich flüchtig auf, um die Brustwehr entlangzublicken. Bevier und Mirtai warteten angespannt auf seinen Befehl. Sperber holte tief Luft und wappnete sich. »Jetzt!« brüllte er, stemmte die Hand auf den Fenstersims und schwang sich in den Saal.

Zuvor hatten sich vier Cyrgai im Saal aufgehalten. Jetzt waren es zehn!

»Wachwechsel, Sperber!« rief Bevier und schwang seine tödliche Lochaber mit beiden Händen.

Sie hatten zwar immer noch den Überraschungseffekt auf ihrer Seite, doch die Lage hatte sich drastisch geändert. Sperber fluchte und hieb einen Cyrgai nieder, der einen Eimer trug – vermutlich das Frühstück der Gefangenen. Dann stürmte er auf die vier Wachen los, die vor der Zellentür standen und offenbar nicht wußten, was sie tun sollten. Einer plagte sich mit dem Schloß ab, während die anderen drei sich mühten, Verteidigungsstellung zu beziehen. Obwohl sie nicht die besten Soldaten zu sein schienen, stellten ihre langen Speere tödliche Probleme dar.

Sperber stieß eine wilde Verwünschung aus und holte mit seinem schweren Breitschwert zu einem heftigen Hieb auf die Speere aus. Kampfgeräusche drangen auch von der anderen Saalseite herüber, doch Sperber war zu sehr darauf bedacht, zu dem Cyrgai vorzudringen, der die Zellentür mit Gewalt öffnen wollte, als daß er sich umgedreht hätte, um nachzusehen, woher die Geräusche stammten.

Zwei Speere waren inzwischen zerbrochen, und die Cyrgai hatten sie fortgeschleudert und ihre Schwerter gezückt. Der dritte Soldat, dessen Speer noch unversehrt war, wich ein Stück zurück, um seinen Gefährten zu schützen, der sich fieberhaft mit dem Schloß abplagte.

Sperber riskierte einen raschen Blick zur anderen Saalseite und sah, wie Mirtai in diesem Moment einen zappelnden Soldaten über den Kopf hob und ihn die Treppe hinunterwarf, wo er krachend aufschlug. Zwei weitere Cyrgai lagen tot oder sterbend in der Nähe. So, wie damals in Othas Thronsaal in Zemoch, hielt Sperber vor der Tür zur Wachstube die Stellung, während Mirtai wie eine riesige goldene Wildkatze unter den anderen Soldaten am Kopfende der Treppe wütete. Sperber wandte seine Aufmerksamkeit rasch wieder seinen unmittelbaren Gegnern zu.

Die Cyrgai waren mittelmäßige Schwertkämpfer, und ihre übergroßen Schilde behinderten sie in der Bewegung. Sperber fintierte rasch nach dem Kopf des einen; der Mann riß sofort seinen Schild hoch, und Sperber duckte sich und stieß sein Schwert nach oben in den glänzenden Brustharnisch. Der Cyrgai schrie auf und stürzte nach hinten, während Blut aus der Wunde unter dem aufgeschlitzten Harnisch quoll.

Doch damit war der Kampf in diesem Raum noch nicht zu Ende. Der Cyrgai an der Zellentür, der sich mit dem Schloß abgeplagt hatte, warf sich nun mit der Schulter gegen die Tür. Das Splittern von Holz war deutlich zu hören. Verzweifelt wollte Sperber sich auf ihn stürzen, denn wenn die Tür erst aufgebrochen war … Plötzlich schwang das Türblatt wie von selbst nach innen. Triumphierend riß der Cyrgai, der die Tür hatte aufbrechen wollen, sein Schwert aus der Scheide. Aus dem Triumphgeschrei wurde ein Schrei des Entsetzens, als sich in der Zelle helles Licht ausbreitete.

Leuchtend wie die Sonne stand Xanetia an der Tür und streckte eine Hand aus. Der Cyrgai schrie aufs neue, wich zurück und stolperte über seine verwundeten Kameraden. Als er wieder auf die Füße kam, rannte er zum Fenster und tauchte hindurch.

Er rannte immer noch, als er die Brustwehr erreichte und mit einem langen, verzweifelten Schrei in den Abgrund sprang.

Die beiden anderen Cyrgai an der Zellentür ergriffen ebenfalls die Flucht und stürmten wie verschreckte Mäuse umher. »Mirtai!« brüllte Sperber. »Macht Platz. Laßt sie laufen!«

Die Atana hatte soeben einen weiteren zappelnden Krieger über den Kopf gehoben. Sie warf ihn die Treppe hinunter und wirbelte herum. Dann sprang sie zur Seite, um die entmutigten, verzweifelten Cyrgai entkommen zu lassen.

»Tretet zur Seite, Herr Ritter«, wies Xanetia Bevier an. »Ich werde diese Tür versperren, und seid versichert, niemand wird an mir vorbeikommen!«

Bevier warf einen Blick auf ihr leuchtendes Gesicht und wich zur Seite.

Die Cyrgai in der Wachstube starrten Xanetia an und knallten hastig die Tür zu. »Jetzt könnt ihr unbesorgt herauskommen, Ehlana«, rief Sperber.

Talen trat als erster durch die Tür. Er war bleich und sichtlich erschüttert. Der Kittel des Jungen war an mehreren Stellen zerrissen, und eine lange, blutende Schürfwunde an einem Arm verriet, welche Schwierigkeiten er gehabt hatte, sich durch das enge Fenster zu winden. Er starrte Xanetia ehrfürchtig an. »Sie ist in einer Rauchwolke durchs Fenster gekommen, Sperber!«

»Dunst, junger Talen«, verbesserte Xanetia ihn. Immer noch glühend, stand sie der Wachstubentür zugewandt. »Rauch wäre unpassend für menschliches Fleisch.« Aus der Wachstube war nun lautstarker Lärm zu hören. »Sie rücken da drinnen Möbelstücke herum, Sperber.« Bevier lachte. »Bestimmt wollen sie die Tür verbarrikadieren.«

In diesem Moment kam Alean aus der Zelle gerannt und warf sich in Kaltens Arme, und unmittelbar hinter ihr trat Ehlana aus ihrem Gefängnis. Sie war noch bleicher als sonst und hatte dunkle Ringe um die Augen. Ihre Kleidung hing in Fetzen von ihrem Körper, und sie hatte sich eine Art Nonnenschleier um den Kopf gewickelt. »O Sperber!« rief sie leise und streckte ihm die Arme entgegen. Er eilte zu ihr und drückte sie heftig an sich.
Von tief unten erschallte wildes Gebrüll.
Anakha! donnerte Bhellioms Stimme in Sperbers Kopf. Cyrgon ist erwacht! Er ist sich der Gefahr für ihn bewußt! Laß mich heraus!
»Was ist das für ein Aufruhr dort unten?« fragte Talen.

»Cyrgon weiß, daß wir Ehlana befreit haben!« erwiderte Sperber angespannt, während er Kuriks Schatulle aus dem Beutel zog. »Öffnen!« befahl er.

Der Deckel sprang auf, und das blaue Leuchten Bhellioms erstrahlte. Behutsam nahm Sperber den Stein heraus. »Sie kommen die Treppe herauf, Sperber!« warnte Mirtai.

»Geht zur Seite!« forderte er sie auf. »Blaurose«, sagte er dann, »kannst du unseren Feinden, die in diesem Augenblick jene Treppe heraufeilen, den Weg verwehren?« Bhelliom antwortete nicht, doch die hüfthohe Mauer um das Kopfende der Treppe stürzte ein, und die Trümmer polterten krachend und in einer gewaltigen Staubwolke die Stufen hinunter.

Gib Aphrael Kunde, daß ihre Mutter in Sicherheit ist! befahl Bhelliom knapp. Gib das Zeichen zum Angriff!

Sperber wirkte den Zauber. Aphrael! sagte er scharf. Wir haben Ehlana! Gib den anderen Bescheid, in die Stadt zu kommen!

Kann Bhelliom Cyrgons Täuschung aufheben, damit Aphrael und ihre Gefährten ihre Kräfte gegen diesen verfluchten Ort einzusetzen vermögen? Es wird geschehen, wie du es sagst, mein Sohn.

Nach einer flüchtigen Pause schien die Erde leicht zu erbeben, und ein gewaltiges Schimmern zog wie Wellen über den Himmel.

Aus dem schorfigen weißen Tempel tief unten gellte ein schmerzhaftes Kreischen. »Meine Güte!« hauchte Flöte, als sie plötzlich mitten im Saal erschien. »Ich habe noch nie die Aufhebung eines zehntausend Jahre alten Zaubers erlebt. Ich wette, es ist unvorstellbar schmerzhaft! Es muß eine durch und durch grauenvolle Nacht für den armen Cyrgon sein!«

»Die Nacht ist noch nicht vorüber, Kindgöttin«, ließ Bhelliom sich aus Kaltens Mund vernehmen. »Spar dir deine unziemliche Schadenfreude auf, bis alle Gefahr überstanden ist!«
»Also wirklich!«

»Schweig Aphrael! – Wir müssen nach unserer Verteidigung sehen, Anakha. Was Cyrgon weiß, weiß auch Klæl. Die große Auseinandersetzung steht bevor. Wir müssen uns wappnen!«

»So ist es«, bestätigte Sperber. Er ließ den Blick über seine Gefährten schweifen. »Gehen wir's an! Wir verteilen uns entlang der Brustwehr. Und haltet die Augen offen. Klæl kommt, und ich möchte nicht, daß er sich von hinten anschleicht. Ist der Treppenschacht völlig blockiert?«

»Nicht einmal eine Maus könnte einen Weg durch all den Schutt finden«, versicherte Mirtai ihm.

»Um die Wachen brauchen wir uns nicht zu sorgen!« Bevier nahm das Ohr von der Wachstubentür. »Sie rücken immer noch die Möbelstücke umher.«

»Gut.« Sperber stieß die Tür auf, die zur Brustwehr führte. »Keine falsche Tapferkeit!« warnte er seine Freunde. »Der Kampf findet zwischen Bhelliom und Klæl statt. Verteilt euch und haltet Wache!«

Der östliche Horizont war bleich vom nahenden Tag, als sie auf die Brustwehr hinaustraten. Cyrgons qualvolles Kreischen hallte in der Verborgenen Stadt wider. »Dort!« Talen deutete auf den Basalthang jenseits des Sees im Süden.

Eine große Anzahl Personen, winzig klein wegen der Entfernung und im Morgengrauen erst schemenhaft erkennbar, strömten aus dem Tal der Helden in Richtung von Cyrgas Tor.

»Wer sind sie?« Ehlana umklammerte plötzlich Sperbers Arm.

»Vanion«, antwortete Sperber, »mit fast allen anderen – Betuana, Kring, Ulath mit den Trollen, Sephrenia …«
»Sephrenia?« rief Ehlana. »Aber sie ist tot!«

»Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, ich würde zulassen, daß Zalasta meine Schwester tötet, Ehlana?« entrüstete sich Flöte.

»Aber er sagte doch, er habe ihr den Dolch ins Herz gestoßen!«

Die Kindgöttin zuckte die Schultern. »Das hat er auch. Doch Bhelliom heilte die Wunde. Und mach dir keine Sorgen – Vanion läßt Zalasta nicht ungestraft davonkommen!«

Talen kam von der Rückseite des Turmes auf der Brustwehr herbeigerannt. »Bergsten marschiert von der anderen Seite ein!« meldete er. »Seine Ritter haben soeben drei Regimenter Cyrgai niedergeritten, ohne dabei ihren Vormarsch zu unterbrechen.«

»Müssen wir uns hier auf eine Belagerung gefaßt machen?« fragte Kalten mit besorgter Miene.

»Das ist unwahrscheinlich«, antwortete Bevier. »Die Verteidigungsanlagen sind lächerlich schwach, und Patriarch Bergsten ist ein sehr ungeduldiger Mann.« Tief unten war es zu einer plötzlichen Explosion gekommen. Das Dach des bleichen Tempels flog in die Luft, und Kalksteinblöcke wurden in alle Richtungen davongeschleudert, als sich die unendliche Schwärze Klæls einen Weg aus dem Hause Cyrgons brach. Seine gewaltigen ledrigen Schwingen breiteten sich weit aus, und seine feurigen Schlitzaugen blickten wild umher.

»Bitte heb mich hoch, Anakha, auf daß mein Bruder mich erblickt.« Die Stimme aus Kaltens Mund klang gleichmütig.

Sperbers Hand zitterte, als er die Saphirrose über den Kopf hielt.

Mit ein wenig hölzernen Bewegungen befreite Kalten sich sanft aus Aleans Umarmung und trat zur steinernen Balustrade vor der Brustwehr. Er rief etwas in einer Sprache, die keine menschliche Zunge zu formen imstande wäre, und seine Worte hätten vermutlich selbst in Chyrellos gehört werden können, eine halbe Welt entfernt.

Langsam erhob sich der ungeheure Klæl aus den Ruinen von Cyrgons Tempel und wandte seinem Widersacher die spitzwinkelige Fratze zu. Seine Antwort donnerte in unverständlichen Geräuschen aus dem mit Fängen bewehrten, flammenspeienden Maul.

Höre, was ich zu sagen habe, Anakha! Bhellioms Stimme in Sperbers Kopf war völlig ruhig. Ich werde meinen vom Wege abgekommenen Bruder höhnen, und wutschnaubend wird er zum Kampfe gegen mich antreten. Bleibe du standhaft im Angesicht dieses nahenden Scheusals, denn unser Erfolg oder Mißerfolg beruht einzig auf deinem Mut und der Kraft deines Armes.

Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst, Blaurose. Soll ich mich Klæl zum Zweikampf stellen?

Nein, Anakha. Deine Aufgabe ist, mich zu befreien!

Die Bestie der Finsternis trat heftig die Kalksteintrümmer zur Seite, kam mit erderschütternden Schritten und ausgestreckten Armen auf das Schloß zu und wischte das schwere Tor mit einer Geißel aus Blitzen aus dem Weg, die sie mit ihrer ungeheuren Pranke umklammerte.

Kalten setzte seine ohrenbetäubende Verhöhnung fort, und Klæl brüllte seine Wut hinaus, während er auf seinem unaufhaltsamen Weg zum Turm die tieferliegenden Nebengebäude in Trümmer legte und eine Spur der Verwüstung hinterließ.

Dann hatte er den Turm erreicht. Er packte die rauhen Steine mit beiden gewaltigen Pranken und begann ihn zu erklimmen. Seine mächtigen Schwingen durchschnitten die Morgenluft, während er höher und höher kletterte.

Wie kann ich dich befreien, Blaurose? fragte Sperber eindringlich.

Mein Bruder und ich müssen flüchtig wiedervereint werden, mein Sohn, antwortete Bhelliom, um eins zu werden, wie wir es einstens waren. Wenn das nicht glückt, werde ich für immer und alle Zeit in diesem blauen Kristall gefangen bleiben – so, wie Klæl seine derzeitige monströse Gestalt beibehalten muß. Durch eine zeitweilige Wiedervereinigung werden wir beide befreit. Vereinigung? Wie?

Sobald Klæl diese nicht unbeträchtliche Höhe erreicht hat und sein ohrenbetäubendes Triumphgebrüll ausstößt, mußt du mich geradenwegs in seinen klaffenden Rachen werfen!
Was soll ich tun?

Er möchte mich mit ganzer Seele verschlingen! Ermögliche es ihm! Im Augenblick unserer Vereinigung werden Klæl und ich von unseren derzeitigen Gestalten befreit – dann wird unser Zweikampf beginnen. Enttäusche mich nicht, mein Sohn, denn dies ist deine Bestimmung, für die ich dich erschuf.

Sperber holte tief Atem. Ich werde dich nicht enttäuschen, Vater! gelobte er inbrünstig.

Wutschnaubend kletterte Klæl an der Vorderseite des Schloßturmes höher und höher empor und versuchte dabei, seine ledrigen Schwingen vor den Gewalten des immer stärker werdenden Sturmes zu schützen. Sperber spürte plötzlich, wie jedes Gefühl der Angst von ihm abfiel. Er blickte dem Höllenfürsten ungerührt voll ins Gesicht. Seine Aufgabe könnte nicht einfacher sein. Er brauchte lediglich die Saphirrose in den klaffenden Rachen der Bestie zu werfen. Sollte sich keine geeignete Gelegenheit dazu ergeben, würde er sich selbst hineinstürzen, mit Bhelliom in der ausgestreckten Hand. Er empfand kein Bedauern, ja, nicht einmal eine Spur von Traurigkeit, als sein Entschluß nun unabänderlich feststand. Besser so, als in einer bedeutungslosen, schnell vergessenen Schlacht in irgendeinem zweifelhaften Krieg zu fallen, wie bereits so viele seiner Freunde. Dies hier war von gewaltiger Bedeutung; besseres konnte ein Soldat sich nicht erhoffen.

Und immer näher kam Klæl, immer höher kletterte er und streckte gierig die Klaue nach seinem verhaßten Bruder aus. Nur noch wenige Fuß unter ihm war die Bestie. Klæls Schlitzaugen leuchteten in grausamem Triumph, und von seinen schartigen Fängen troff Feuer, als er seine Herausforderung hinausbrüllte.

Da sprang Sperber auf die uralte Brustwehr und hob Bhelliom in seiner Faust. »Für Gott und meine Königin!« rief er trutzig.
Klæl langte mit furchterregender Pranke hinauf.

Sperber schlug blitzschnell zu. Sein Arm peitschte hinab. »Geh!« schrie er, als er den leuchtenden Edelstein losließ.

Im gleichen Moment, als Klæl den Rachen noch weiter aufriß, schoß Saphirrose wie ein Pfeil aus Sperbers Hand und verschwand in dem feurigen Rachen.

Der Turm erbebte, als ein Schauder die glänzende Schwärze des Ungeheuers durchzog, und Sperber kämpfte auf der Brustwehr um sein Gleichgewicht, während Kalten nach hinten auf den Wehrgang stürzte.

Klæls Schwingen erstarrten in ihrer ganzen Breite und zuckten unter schrecklichen Qualen. Die ungeheure Bestie schwoll an, wurde noch größer. Dann zog sie sich schrumpfend zusammen.
Und explodierte!

Die Detonation erschütterte die Erde. Sperber wurde von der Brustwehr geschleudert und prallte neben Kalten auf den Wehrgang. Er rollte sich herum, kam auf die Füße und stürmte zurück zur Brustwehr.

Keine zehn Fuß entfernt rangen zwei Lichtwesen in der leeren Luft, eines von glühendem Blau, das andere von rußigem Rot. Es war ein elementarer Kampf, ein wildes Aufeinanderprallen von Willen und Kraft. Die Wesen besaßen keine Gesichter, und die Form ihrer Körper war nur annähernd menschlich. Aneinandergeklammert schwankten sie hin und her wie zwei Ringer auf einem Volksfest. Jeder trachtete mit aller ihm innewohnenden Kraft, seinen vollkommen gleichwertigen Gegner zu bezwingen.

Sperber und seine Freunde standen wir erstarrt entlang der Brustwehr und ließen keinen Blick von diesem urtümlichen Kampf.

Da lösten sich die zwei unsterblichen Brüder voneinander und standen sich mit gebeugtem Rücken und halb ausgestreckten Armen in stummer, unbegreiflicher Zwiesprache gegenüber.

Nun ist es an dir, Anakha. Bhellioms Stimme in Sperbers Kopf war vollkommen ruhig. Sollten Klæl und ich weiterkämpfen, würde diese Welt gewiß zerstört, wie viele Welten zuvor. Du bist von dieser Welt und mußt deshalb mein Streiter sein. Dir sind Grenzen gesetzt, die für mich keine Gültigkeit haben. Auch Klæls Streiter ist von dieser Welt; so wie du unterliegt auch er diesen Beschränkungen.

Es wird geschehen, wie du gesagt hast, mein Vater, antwortete Sperber. Ich werde dein Streiter sein. Gegen wen muß ich kämpfen?

Ein gewaltiger Wutschrei erschallte in der Tiefe, und eine lebende Flamme schoß aus den Trümmern des zerfallenen kreideweißen Tempels.

Dort ist dein Gegner, mein Sohn, erwiderte der blaue Geist. Klæl hat ihn herbeigerufen, auf daß er gegen dich kämpfe.
Cyrgon!
Kein anderer.
Aber er ist ein Gott!

Bist du das nicht?

In Sperbers Kopf drehte sich alles.

Schaue in dein Inneres, Anakha: Du bist mein Sohn, und ich habe dich zum Gefäß meines Willens gemacht. Ich übertrage diesen Willen nun dir, auf daß du der Streiter dieser Welt sein mögest. Spüre, wie seine Macht dich erfüllt!

Es war, als öffnete sich eine Tür, die bisher immer verschlossen gewesen war. Sperber spürte, wie sein Wille und sein Geist ins Unendliche wuchsen, und eine unbeschreibliche Ruhe überkam ihn.

Nun bist du wahrlich Anakha, mein Sohn, frohlockte Bhelliom. Dein Wille ist jetzt mein Wille. Nun ist dir alles möglich. Es war dein Wille, der Azash bezwang. Ich war nur dein Werkzeug. Jetzt aber wirst du meines sein! Setze deinen unbezwingbaren Willen für die Aufgabe ein. Nimm ihn in die Hände und forme ihn. Schmiede Waffen mit deinem Geist und stelle dich Cyrgon entgegen. Wenn dein Herz rein ist, kann er dir nichts anhaben. Geh jetzt! Cyrgon wartet auf dich.

Sperber holte tief Atem und blickte hinunter auf den nun von Trümmern übersäten Platz. Die Flamme, die aus der Ruine aufgestiegen war, hatte sich zu einer leuchtenden menschlichen Gestalt verdichtet, die vor der Tempelruine stand. »Komm, Anakha!« donnerte sie. »Unser Zweikampf wurde schon vor Anbeginn der Zeit vorhergesagt! Dies ist deine Bestimmung! Dir wird die unübertreffliche Ehre zuteil, durch meine Hand den Heldentod zu sterben.«

Mit voller Absicht enthielt Sperber sich der bombastischen Schwülstigkeit, auf archaische Art zu reden. »Feiere den Sieg nicht, bevor du ihn in der Tasche hast, Cyrgon!« erwiderte er. »Lauf nicht fort, ich bin gleich bei dir!« Dann stemmte er eine Hand auf die Brustwehr und schwang sich darüber.

Mitten in der Luft blieb er hängen. »Laß los, Aphrael!« stieß er hervor.
»Was tust du?« rief sie.
»Nun mach schon! Tu, was ich sage! Laß los!«
»Du wirst fallen!«

»Nein, werde ich nicht. Ich weiß, was ich tue. Misch dich nicht ein! Cyrgon wartet auf mich, also laß mich bitte los!«

Es war kein richtiges Fliegen, wenngleich Sperber sicher war, daß er könnte, wenn es erforderlich gewesen wäre. Er verspürte eine eigentümliche Leichtheit, während er zu der Ruine des Hauses von Cyrgon schwebte. Er war nicht schwerelos; es war eher so, daß sein Gewicht keine Bedeutung mehr hatte. Sein Wille triumphierte über die Schwerkraft. Mit dem Schwert in der Faust schwebte er wie ein Racheengel in die Tiefe.

Cyrgon wartete unten. Die brennende Gestalt des antiken Gottes zog sein Feuer um sich und ließ die weißglühende Flamme zur antiken Rüstung erstarren, wie sie ansonsten von seinen Anbetern getragen wurde: glänzender stählerner Harnisch, Kammhelm, großer Brustschild und ein Schwert in der Hand.

Während Sperber in die Tiefe schwebte, kam ihm eine seltsame Erkenntnis. Cyrgon war nicht unbedingt dumm, er hielt bloß hartnäckig an den alten Überlieferungen fest. Es war die Veränderung, die er haßte, die er fürchtete. Deshalb hatte er seine Cyrgai auf ewig in der Zeit erstarren lassen und aus ihren Köpfen jegliche Möglichkeit getilgt, Veränderungen vorzunehmen oder Neuerungen zu ersinnen. Unberührt vom Fluß der Zeit würden die Cyrgai für immer so bleiben, wie ihr Gott sie einst in die Welt gesetzt hatte. Dieserart hatte Cyrgon nach seiner Vorstellung ein Ideal geschaffen, hatte den Cyrgai seine Vorliebe für Rituale und seine Abneigung gegen Veränderungen aufgezwungen – und hatte sie derart in alten Bräuchen erstarren lassen, daß sie dem Untergang geweiht waren, seit der erste Cyrgai den Fuß auf die sich ständig wandelnde Welt gesetzt hatte.

Sperber lächelte schwach. Cyrgon brauchte ganz offensichtlich Unterricht, was die Vorteile von Veränderungen betraf, und seine erste Lektion war eine Einführung in die Vorzüge moderner Ausrüstung, Bewaffnung und Taktik. Sperber dachte: Panzer, und steckte augenblicklich in einer schwarz emaillierten Plattenrüstung. Gleichmütig entledigte er sich seines schlichten Alltagsschwerts, und schon hielt er seine schwerere und längere Paradeklinge in der Faust. Jetzt war er ein vollständig gerüsteter pandionischer Ritter, ein Soldat Gottes – mehrerer Gottheiten, verbesserte er diesen Gedanken ein wenig verlegen. Und zwangsläufig war er nicht nur der Streiter seiner Königin, seiner Kirche und seines Gottes, sondern auch – wenn er Bhellioms Gedanken richtig deutete – seiner schönen und mitunter eitlen Schwester, der Welt.

Er schwebte weiter in die Tiefe und landete zwischen den Trümmern des zerstörten Tempels.
»Sei gegrüßt, Cyrgon!« sagte er höflich.

»Sei gegrüßt, Anakha«, erwiderte der Gott. »Ich hatte dich falsch eingeschätzt. Nunmehr bist du würdig, mein Gegner zu sein. Ich hatte an dir gezweifelt, hatte befürchtet, du würdest dein wahres Wesen nie erkennen. Deine Lehrjahre waren lange und, wie mir deucht, durch deine unziemliche Verbindung zu Aphrael behindert.«

»Wir vergeuden Zeit, Cyrgon!« unterbrach Sperber die gezierten Höflichkeiten. »Laß uns beginnen. Ich möchte mein Frühstück nicht noch länger hinausschieben.« »So sei es denn, Anakha!« Cyrgons klassische Züge drückten Zustimmung aus. »Verteidige dich!« Er hieb sein Schwert mit gewaltigem Schwung nach Sperbers Kopf.

Doch Sperber hatte bereits zum Schlag ausgeholt, und so schmetterten ihre Waffen wie bei einem Vorgeplänkel klirrend aufeinander.

Es tat gut, wieder zu kämpfen. Hier war keine Staatskunst erforderlich, keine verwirrende Wortfechterei, keine verlogenen Versprechungen, nur das Klirren von Stahl auf Stahl und das geschmeidige Dehnen und strecken von Muskeln und Sehnen.

Cyrgon war behende – so flink und geschickt, wie Martel es in seiner Jugend gewesen war. Und ungeachtet seines Hasses auf Neuerungen lernte er schnell. Die komplizierten Bewegungen von Handgelenk und Arm und Schulter, die den Meister des Schwertes auszeichneten, schienen wie von selbst und beinahe gegen seinen Willen zu diesem Gott der Antike zu kommen. »Sehr erfrischend, nicht wahr«, keuchte Sperber grinsend und verpaßte dem Gegner einen blitzschnellen Stich in die Schulter. »Es gibt noch viel zu lernen, Cyrgon. Überraschende kleine Dinge wie diese.« Seine Klinge zuckte vor, und ihre Spitze biß in Cyrgons Schwertarm. Der Unsterbliche stürmte auf Sperber ein, rammte den gewaltigen runden Schild gegen ihn und versuchte, den erfahreneren Gegner mit wuchtigen Hieben in die Knie zu zwingen.

Sperber blickte in das makellose Gesicht und sah Bedauern und Verzweiflung darin. Er schob die Schulter vor, wie Kurik es ihn gelehrt hatte, und fing den Hagel von Hieben mit seinem Schild und leichten Parierstreichen mit der Klinge ab. »Gib auf, Cyrgon«, rief er, »wenn du leben willst. Ergib dich. Wir werden Klæl für immer vertreiben. Es ist unsere Welt, Cyrgon. Mögen Klæl und Bhelliom sich um andere Welten streiten. Wähle das Leben und zieh mit deinem Volk ab. Dann wird dein Blut nicht vergossen.«

»Dein beleidigendes Angebot verlangt nach einer angemessenen Antwort, Anakha!« brüllte Cyrgon.

»Ich glaube, damit ist den Anforderungen der Ritterlichkeit Genüge getan«, murmelte Sperber mit einer gewissen Erleichterung zu sich selbst. »Der Himmel mag wissen, was ich getan hätte, wärst du auf den Handel eingegangen.« Er hob die Klinge. »Dann also Kampf, Bruder. Es scheint, daß für uns beide ohnehin nicht genug Platz auf dieser Welt ist.« Er sammelte alle Kraft. Körper und Wille wurden eins. »Paß auf, Bruder«, zischte er mit schmalen Lippen. »Paß gut auf! Zeit, dir eine Lektion zu erteilen.«

Der fünfhundertjährigen Waffenerfahrung und dem gewaltigen Zorn Sperbers war dieser arme ohnmächtige Gott, der die Welt um den Frieden gebracht hatte, nicht gewachsen. Der Grimm um diesen verlorenen Frieden, nach dem er sich seit seiner Rückkehr aus dem rendorischen Exil gesehnt hatte, führte Sperbers Klinge. Mit dem klassischen Vierpas schlug er Cyrgon eine tiefe Wunde in den Schenkel. Mit Martels genialem Neunerparadepas zerschnitt er ihm das makellose, klassische Gesicht, und mit Vanions Täuschungsmanöver Drei durchhieb er die obere Hälfte von Cyrgons übergroßem rundem Schild. Unter allen Ordensrittern waren die Pandioner im Umgang mit den Waffen unerreicht, und von allen Pandionern war Sperber der Beste. Bhelliom hatte ihn gottgleich genannt, doch Sperber focht den Kampf eines Sterblichen – perfekt ausgebildet, ein wenig aus der Übung vielleicht und allmählich zu alt für diese Dinge, doch ganz und gar zuversichtlich, daß das Schicksal der Welt noch immer gut in seinen Händen aufgehoben war.

Sein Schwert blitzte im Schein der aufgehenden Sonne, zuckte schimmernd durch die Luft – in immer neuen Figuren, die der Gott aus uralter Zeit verzweifelt zu parieren suchte.

Dann bot sich die Gelegenheit, und sie hätte in Sperbers Augen nicht passender sein können. Cyrgon, der nie mit dem Schwert zu kämpfen gelernt hatte, bot dem schwarzgerüsteten Pandioner dieselbe Blöße wie Martel einst in Azashs Tempel. Martel war sich über den Ausgang dieser Kombination von Hieben im klaren gewesen. Nicht so Cyrgon. Der Stoß, der ihn durchbohrte, kam für ihn völlig unerwartet. Der Gott erstarrte, und das Schwert entfiel seiner kraftlosen Faust, als er zurückschwankte.

Sperber richtete sich auf und hob salutierend die blutige Klinge. »Neue Technik, Cyrgon«, sagte er scheinbar gleichmütig. »Du bist wirklich nicht schlecht, aber man muß stets auf dem neuesten Stand sein, verstehst du.«

Cyrgon sank auf den gepflasterten Hof, und sein unsterbliches Leben floß aus dem klaffenden Schnitt in seinem Harnisch. »Wirst du dir nun die Welt nehmen, Anakha?« keuchte er.

Sperber kauerte sich neben den niedergestreckten Gott. »Nein, Cyrgon«, antwortete er müde. »Ich will die Welt nicht. Nur ein ruhiges, kleines Fleckchen davon.« »Warum hast du dich mir dann in den Weg gestellt?«

»Weil ich auch nicht wollte, daß du sie bekommst. Denn hättest du sie gehabt, wäre mir mein kleines Stück nicht sicher gewesen.« Er griff nach der bleichen Hand des Gegners. »Du hast gut gekämpft, Cyrgon. Sei meiner Achtung gewiß. Heil dir!« Cyrgons Stimme war nur noch ein Wispern, als er erwiderte: »Heil dir, Anakha.« Ein ohrenbetäubendes, verzweifeltes Wutgeheul erschallte. Sperber schaute auf und sah einen rußigroten menschenähnlichen Schemen zum morgengrauen Himmel emporschießen, als Klæl seine endlose Reise zum fernsten Stern und darüber hinaus fortsetzte.