1

Aus der Wiese stieg kalter Nebel auf, und dünne Wolken trieben vom Westen her über den trostlosen Himmel. Keine Schatten fielen auf den unnachgiebigen, eisenhart gefrorenen Boden. Der Winter verstärkte unerbittlich seine Macht über das Nordkap.

Sperbers Armee, gerüstet in Stahl und Leder und viele tausend Mann stark, war im frostklirrenden Gras der Wiese nahe den Ruinen von Tzada in breiter Front angetreten. Ritter Berit saß inmitten der schwergepanzerten Ordensritter auf seinem Pferd und mußte das grauenvolle Mahl beobachten, das keine Viertelmeile vor ihnen stattfand. Berit war ein junger und idealistischer Ritter, und es fiel ihm schwer, sich mit den Sitten ihrer neuen Verbündeten anzufreunden.

Glücklicherweise waren die Schreie der Entfernung wegen nur gedämpft zu hören, lediglich als Hauch einer unbeschreiblichen Qual, und jene, die schrien, waren genaugenommen auch gar keine richtigen Menschen. Sie waren zu einem Trugleben beschworene Tote, die Abbilder längst verstorbener und vergessener Krieger. Außerdem waren sie Feinde – Angehörige einer grausamen, wilden Rasse, die einen schrecklichen Gott verehrte.

Doch in der eisigen Luft stieg Dampf von ihnen auf, und diese entsetzliche Beobachtung vermochte Ritter Berit nicht abzuschütteln. Zwar sagte er sich immer wieder, daß diese Cyrgai tot waren, leblose Phantome, herbeigerufen durch Cyrgons Magie; aber daß Dampf von ihren ausgeweideten Leibern aufstieg, während die ausgehungerten Trolle sie verschlangen, ließ Berit bis tief in sein Inneres erschauern. »Schlägt's dir auf den Magen?« fragte Sperber mitfühlend. Sein schwarzer Panzer war stellenweise mit Eis überzogen, und sein verwittertes Gesicht wirkte düster. Berit schämte sich plötzlich. »Nein, Sperber«, log er rasch. »Es ist nur …« Er suchte nach den passenden Worten.

»Ich weiß. Es macht mir auch zu schaffen. Aber die Trolle sind nicht bewußt grausam, Berit. Für sie sind wir lediglich Futter. Es ist ihnen angeboren. Man kann nichts dagegen tun.«

»Das ist ein Teil des Problems, Sperber. Die Vorstellung, gefressen zu werden, läßt mir das Blut gefrieren.« »Würde es dir helfen, wenn ich sagte: ›Lieber sie als wir?‹«

»Nicht besonders.« Berit lachte humorlos. »Vielleicht bin ich noch nicht abgebrüht genug. Den anderen scheint es nichts auszumachen.«

»Es gibt niemanden, dem es nichts ausmacht. In dieser Beziehung geht es uns allen genauso wie dir. Halte durch! Wir sind diesen Armeen aus der Vergangenheit schon früher begegnet. Sobald die Generäle der Cyrgai von den Trollen vernichtet worden sind, müßten die übrigen Krieger verschwinden, und dann hat die Sache ein Ende.« Sperber runzelte die Stirn.

»Suchen wir Ulath. Mir ist da eben etwas eingefallen. Ich würde ihm gern eine Frage stellen.«

»Gut«, erklärte Berit sich rasch einverstanden. Die beiden schwarz gepanzerten Pandioner wendeten ihre Pferde und ritten durch das mit Reif bedeckte Gras die Front der geschlossenen Formation ihrer Streitkräfte entlang.

Nach etwa dreihundert Metern stießen sie auf Ulath, Tynian und Bevier. »Ich muß dich etwas fragen, Ulath.« Sperber zügelte Faran vor den Freunden.

»Mich? Ach, wirklich, Sperber?« Ulath nahm seinen kegelförmigen Helm ab und polierte die glänzend schwarzen Ogerhörner am Ärmel seines grünen Wappenrocks. »Was gibt es für ein Problem?«

»Bisher ist jedesmal dasselbe geschehen, wenn wir diesen Kriegern aus der Vergangenheit begegnet sind. Nachdem wir ihre Anführer getötet hatten, lösten sich die lebenden Toten in ihre Bestandteile auf. Wie werden die Trolle darauf reagieren?« »Woher sollte ich das wissen?«

»Angeblich bist du doch Sachverständiger, wenn es um Trolle geht.«

»Überleg doch, Sperber! So etwas hat es bisher noch nie gegeben. Was in einer völlig neuen Situation geschehen wird, kann niemand vorhersagen.« »Dann versuch, es zu erraten«, knurrte Sperber gereizt. Die beiden funkelten einander an.

»Warum gehst du Ulath damit auf die Nerven, Sperber?« fragte Bevier beinahe sanft. »Sag doch den Trollgöttern, was passieren wird, und überlaß es ihnen, mit dem Problem fertig zu werden.«

Sperber fuhr sich nachdenklich übers Gesicht. Seine Hand verursachte ein schabendes Geräusch, als er über die bartstoppelige Wange strich. »Verzeih, Ulath«, entschuldigte er sich. »Dieser Lärm von dem Bankett da vorn raubt mir jeden klaren Gedanken.«

»Ich weiß genau, wie du dich fühlst.« Ulath verzog das Gesicht. »Aber ich bin froh, daß du diese Sache zur Sprache gebracht hast. Die Trolle werden sich nicht mit Dörrfleisch zufriedengeben, wenn ein paar hundert Meter entfernt frisches Fleisch zu haben ist!« Er setzte seinen Helm wieder auf. »Aber die Trollgötter werden das Versprechen einhalten, das sie Aphrael gegeben haben. Schon deshalb sollten wir sie von der Sachlage unterrichten. Es ist mir sehr wichtig, daß sie ihre Trolle fest im Griff haben, wenn denen das Abendessen schlecht wird. Ich lege nämlich keinen Wert darauf, als ihre Nachspeise zu enden.« »Ehlana?« rief Sephrenia entsetzt.

»Pst! Nicht so laut!« mahnte Aphrael und schaute sich um. Sie ritten zwar ein Stück hinter der Nachhut, waren aber nicht allein. Aphrael streckte die Hand aus und legte sie flüchtig auf Ch'iels gesenkten weißen Hals, worauf Sephrenias Zelter sich sofort gehorsam ein kleines Stück von Kalten und Xanetia entfernte, scheinbar, um an einigen gefrorenen Grashalmen zu zupfen. »Ich kann keine Einzelheiten erfahren«, murmelte die Kindgöttin. »Melidere ist schwer verwundet, und Mirtai tobt vor Wut, so daß sie in Ketten gelegt werden mußte.« »Wer hat es getan?«

»Ich weiß es nicht, Sephrenia. Niemand spricht zu Danae. In Gedanken kann ich nur das Wort Geisel vernehmen. Es ist jemandem gelungen, in die Burg einzudringen, Ehlana und Alean zu überwältigen und sie aus der Schloßanlage zu schaffen. Sarabian ist außer sich. Er hat überall Wachen aufgestellt, und Danae kann ihr Gemach nicht verlassen, um herauszufinden, was wirklich passiert ist.« »Wir müssen Sperber Bescheid geben!«

»Auf keinen Fall! Sperber gerät außer sich, wenn er Ehlana in Gefahr weiß. Erst muß er seine Streitkräfte sicher nach Matherion zurückbringen, ehe wir zulassen dürfen, daß er zum Berserker wird.«
»Aber …«

»Nein, Sephrenia. Er wird es schnell genug erfahren. Aber bevor es soweit ist, müssen alle in Sicherheit sein. Uns bleibt nur noch eine Woche, dann verschwindet die Sonne hier auf Monate, und alles und jeder hier oben erstarrt zu Eis.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, gestand Sephrenia ein. Sie überlegte und starrte auf den mit Reif überzogenen Wald hinter der Wiese. »Das Wort Geisel erklärt alles, glaube ich. Besteht eine Möglichkeit, festzustellen, wo genau sich deine Mutter befindet?«

Aphrael schüttelte den Kopf. »Nicht, ohne sie in Gefahr zu bringen. Wenn ich meine Gedanken auf die Suche nach ihr schicke, wird Cyrgon es bemerken und Mutter vielleicht etwas antun, ehe er sich der Situation bewußt wird. Nein, wir müssen uns zuerst einmal darum kümmern, daß Sperber nicht durchdreht, sobald er erfährt, was geschehen ist.« Abrupt sog sie den Atem ein, und ihre dunklen Augen weiteten sich. »Was hast du?« fragte Sephrenia bestürzt. »Was ist los?« »Ich weiß es nicht!« rief Aphrael. »Etwas Furchtbares!«

Für einen Moment blickte sie heftig um sich, wurde dann ruhiger, um in völliger Konzentration zu erstarren, ehe sie wieder von plötzlicher Wut übermannt wurde.
»Jemand bedient sich eines der verbotenen Zauber, Sephrenia!« Ihre Stimme war so hart wie der gefrorene Boden.
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Die Luft stinkt danach!«

Djarian, der Totenbeschwörer, war ein ausgemergelter Styriker mit tiefliegenden Augen und hagerer, ja, knochiger Gestalt, die einen eigenartigen, beinahe modrigen Körpergeruch verströmte. Wie die anderen styrischen Gefangenen war auch Djarian gekettet und wurde von entschlossenen Ordensrittern bewacht, die Erfahrung darin hatten, sich erfolgreich gegen styrischen Zauber zur Wehr zu setzen.

Als Sperber und die anderen endlich dazu kamen, die Gefangenen zu befragen, senkte sich ein kaltes, bedrückendes Zwielicht auf das Lager herab, das sie bei den Ruinen von Tzada aufgeschlagen hatten. Die Trollgötter hatten ihre Kreaturen bereits fest im Griff gehabt, als die Freßorgie abrupt geendet hatte. Nun hatten die Trolle sich um ein riesiges Feuer auf der Wiese geschart, mehrere Meilen entfernt. Es sah aus, als hielten sie eine religiöse Andacht.

»Tu so als ob, Bevier«, riet Sperber dem cyrinischen Ritter leise, als Djarian vor sie gezerrt worden war.

»Stell ihm irgendwelche unwichtigen Fragen, bis Xanetia uns das Zeichen gibt, daß sie alles aus seinem Gedächtnis herausgeholt hat.«

Bevier nickte. »Ich kann es so sehr in die Länge ziehen, wie du möchtest, Sperber. Fangen wir an.«

Die flackernden Flammen verliehen Ritter Beviers strahlendweißem Wappenrock einen rötlichen Schimmer, so daß der Cyriniker wie ein Priester aussah, der eine rituelle Handlung vornahm. Ehe er mit dem Verhör begann, rezitierte er feierlich ein langes Gedicht; dann wurde er vollkommen sachlich.

Djarian beantwortete die Fragen knapp und angespannt mit hohlklingender Stimme, die sich anhörte, als käme sie aus einem tiefen Gewölbe. Bevier achtete scheinbar nicht auf das mürrische Benehmen des Gefangenen. Er wirkte überkorrekt, ja pedantisch, und er steigerte diesen Eindruck, indem er fingerlose Handschuhe trug, wie Schreiber und Schriftgelehrte es bei kaltem Wetter tun. Wiederholt stellte er bereits beantwortete Fragen und wies dann auf Unstimmigkeiten in den Antworten des Gefangenen hin.

Nur einmal war Djarian nicht so kurz angebunden, als er in einem plötzlichen Wutanfall Zalasta – und Cyrgon – wortreich verwünschte, weil sie ihn hier, auf diesem verfluchten Schlachtfeld, im Stich gelassen hatten.

»Bevier hört sich genau wie ein Advokat an«, flüsterte Kalten Sperber zu. »Ich kann Advokaten nicht ausstehen!«

»Das tut er mit Absicht«, erklärte Sperber. »Advokaten stellen gern unerwartete Fragen, und das weiß Djarian. Bevier zwingt ihn, gezielt an jene Dinge zu denken, die er nicht verraten sollte; mehr braucht Xanetia nicht. Wir unterschätzen Bevier immer wieder.«

»Das liegt an seiner ewigen Beterei«, meinte Kalten abfällig. »Es ist nicht einfach, jemanden ernst zu nehmen, der ständig betet.«

»Wir sind die Ritter der Kirche, Kalten – Angehörige religiöser Orden!« »Was hat das damit zu tun?«

»Er betrachtet sich mehr als tot denn als lebend«, berichtete Xanetia später, nachdem die Freunde sich um eines der großen Feuer geschart hatten, das die Ataner zum Schutz gegen die bittere Kälte schürten. Die Flammenglut spiegelte sich im Antlitz der Anarae ebenso wie auf ihrem Gewand aus ungebleichter Wolle. »Hatten wir recht?« fragte Tynian. »Verstärkt Cyrgon die Wirkung von Djarians Zauber, auf daß er ganze Armeen beschwören kann?« »Ja«, antwortete sie.

»War seine plötzliche Wut auf Zalasta echt?« erkundigte sich Vanion.

»Durchaus, Eminenz. Die Unzufriedenheit Djarians und seiner Kumpane über Zalastas Führung wächst ständig. Sie betrachten ihn nicht als wahren Kameraden. Es gibt keine gemeinsame Sache mehr für sie. Jeder ist nur noch bemüht, aus ihrem zweifelhaften Bündnis soviel wie möglich für sich selbst herauszuholen. Und jeder giert insgeheim nach dem alleinigen Besitz des Bhelliom.«

»Unfriede zwischen Gegnern ist stets zu begrüßen«, bemerkte Vanion. »Aber ich glaube, wir dürfen die Möglichkeit nicht außer acht lassen, daß sie sich nach den heutigen Ereignissen wieder fest zusammenschließen. Konntet Ihr irgend etwas über ihre möglichen weiteren Absichten erfahren, Anarae?«

»Nein, Hochmeister Vanion. Sie waren überhaupt nicht auf das heutige Geschehen vorbereitet. Eines jedoch beherrschte die Gedankengänge dieses Djarian, und das könnte zur Gefahr werden. Alle Geächteten, die sich um Zalasta geschart haben, fürchten Cyzada von Esos, denn nur er beherrscht zemochische Magie, und nur er vermag die Hand durch jenes Tor zur Unterwelt zu strecken, das von Azash geöffnet wurde. Er kann unvorstellbares Grauen in die Welt bringen. Dieser Djarian hat sich vorgestellt, daß Cyrgon – nachdem alle ihre bisherigen Pläne scheiterten – in seiner Verzweiflung Cyzada befehlen wird, sich seines scheußlichen Könnens zu bedienen, um Kreaturen der Finsternis zu rufen und gegen uns in den Kampf zu schicken.« Vanion nickte ernst.

»Wie hat sich Stragens Plan auf sie ausgewirkt?« fragte Talen gespannt.

»Es hat sie ungemein aus der Fassung gebracht«, erwiderte Xanetia. »Sie hatten fest mit jenen gerechnet, die nun tot sind.«

»Stragen wird sich freuen, das zu hören. Was hatten sie eigentlich mit all diesen Spionen und Spitzeln vor?«

»Da Zalasta und seine Mitverschwörer über keine Streitkräfte verfügen, die sie gegen die Ataner einsetzen können, wollten sie die geheimen Mitarbeiter des Innenministeriums einsetzen, um nach einem genau durchdachten strategischen Plan tamulische Beamte in den Vasallenkönigreichen zu meucheln, was zu einem unübersehbaren Chaos in Regierungskreisen geführt hätte.« »Das solltest du dir gut merken, Sperber!« meinte Kalten. »Ach, wirklich?«

»Kaiser Sarabian hatte starke Skrupel, als er Stragens Plan schließlich zustimmte. Gewiß wird er sich viel besser fühlen, wenn er erfährt, daß Stragen im Grunde genommen nichts anderes getan hat, als unseren Feinden zuvorzukommen und deren Leute zu morden, ehe sie dies mit den unseren tun konnten.«

»Das ist aber keine moralische Rechtfertigung für ungesetzliche Handlungen«, warf Bevier mißbilligend ein.

»Ich weiß«, gestand Kalten. »Aber je schneller man so etwas hinter sich bringt, um so schneller kann man nach dem Ausnahmezustand wieder den Normalzustand herstellen.«

Am nächsten Morgen war der Himmel bedeckt. Dicke dunkle Wolken zogen von Westen her über die Köpfe der Gefährten hinweg. Da es Spätherbst war und sie sich im hohen Norden befanden, konnte man den Eindruck gewinnen, die Sonne ginge im Süden auf. Sie tönte den Himmel über Bhellioms Steilwand feurig orange und langte mit schwachen, rötlichen Strahlen unter die dahineilenden Wolken, um sie mit glühenden Pinseln zu bemalen.

Die Lagerfeuer wirkten kraftlos und winzig gegen die überwältigende Kälte hier auf dem Dach der Welt. Die Ritter und ihre Gefährten trugen Pelzumhänge und kauerten sich dicht an die Feuer.

Aus dem Süden erklang tiefes Grollen, und zuckendes fahles Licht war zu sehen. »Gewitter?« Kalten blickte Ulath fragend an. »Zu dieser Jahreszeit?«

»So was kommt hin und wieder vor.« Ulath zuckte die Schultern. »Einmal geriet ich nördlich von Heid in ein Gewitter, das einen Schneesturm auslöste: Das war ein recht unerfreuliches Erlebnis.«

»Wer ist heute eigentlich mit dem Kochen dran?« fragte Kalten beiläufig. »Du!« antwortete Ulath prompt.

Tynian lachte. »Du solltest besser aufpassen, was du sagst, Kalten. Schließlich kennst du die Antwort auf diese Frage genau.« Brummelnd machte Kalten sich daran, das Feuer zu schüren.

»Ich finde, wir sollten heute zur Küste zurückkehren, Sperber«, meinte Vanion mit ernstem Gesicht. »Bis jetzt sind wir von Unwettern verschont geblieben, aber ich glaube nicht, daß wir uns noch allzu lange darauf verlassen können.« Sperber nickte.

Das Donnern schwoll an, und die feuerroten Wolken über ihnen erblaßten unter zuckenden Blitzen.
Plötzlich ertönte ein gewaltiges rhythmisches Pochen.
»Schon wieder ein Erdbeben?« rief Kring erschrocken.

»Nein«, beruhigte Khalad ihn, »dann wäre das Geräusch unregelmäßiger. Es hört sich fast so an, als würde jemand eine riesige Trommel schlagen.« Er blickte zur Krone von Bhellioms Mauer hinauf. »Was ist denn das?«

Es sah aus, als rage eine Hügelkuppe aus dem Wald jenseits des scharfen Klippengrates. Das Gebilde ähnelte sogar sehr einer Hügelkuppe – nur daß es sich bewegte.

Da die Sonne sich dahinter befand, waren Einzelheiten nicht zu erkennen. Doch als das Gebilde sich immer weiter erhob, nahm es die Form einer abgeflachten Kuppel an, die zu beiden Seiten Auswüchse besaß, die riesigen Schwingen ähnelten. Und immer noch wuchs es dem Himmel entgegen. Bald war zu erkennen, daß es sich nicht um eine Kuppel handelte. Statt dessen erinnerte das Gebilde an ein ungeheures, auf den Kopf gestelltes Dreieck, bei dem die Basis nach oben zeigte; die schwingengleichen Auswüchse befanden sich an den Seitenschenkeln und unterhalb der Spitze, die in eine massive Säule eingesetzt zu sein schien. Durch das Licht dahinter wirkte es schwarz wie die Nacht; es hob sich und schwoll zur ungeheuren Finsternis an. Dann hielt es inne. Und seine Augen öffneten sich.

Zuerst zu schmalen, feurigen Schlitzen, dann immer weiter. Sie waren schräg wie Katzenaugen und glühten heller als die Sonne. Die Vorstellungskraft schauderte vor der Ungeheuerlichkeit dieses … Etwas zurück. Was zuerst wie gewaltige Schwingen ausgesehen hatte, waren die Ohren dieser Kreatur.

Jetzt öffnete sie das Maul und brüllte. Die Gefährten erkannten, daß es nicht Donner gewesen war, das sie zuvor gehört hatten.

Wieder brüllte das Wesen. Seine Fänge funkelten wie zuckende Blitze, und Flammen troffen herab wie Blut.
»Klæl«, schrie Aphrael schrill.
Wie zwei gewaltige Kuppelberge erhoben sich die Schultern der Bestie über den Klippengrat; schwarzen Segeln gleich ragten Flügel daraus hervor, ähnlich jenen von Fledermäusen.
»Was ist das?« rief Talen entsetzt.
»Es ist Klæl!« kreischte Aphrael.
»Was ist ein Klæl?«

»Nicht was, du Dummkopf! Wer! Azash und die anderen Älteren Götter haben ihn verbannt. Und nun hat irgendein Narr ihn zurückgeholt!«

Das Monstrum hinter der Klippe richtete sich immer weiter auf, und gigantische Arme mit vielfingrigen Pranken wurden sichtbar. Der Rumpf war ungeheuerlich; Blitze zuckten unter der Haut und beleuchteten mit ihrem Flackern scheußliche Einzelheiten.

Und dann erhob dieser monströse Koloß sich zur vollen Größe und ragte achtzig oder gar hundert Fuß über die Klippe.

Sperber schauderte. »Blaurose!« rief er scharf. »Hilf! Tu etwas!«

»Das ist nicht nötig, Anakha.« Vanions Stimme klang ganz ruhig, als Bhelliom wieder durch seine Lippen sprach. »Klæl ist Cyrgons Griff nur flüchtig entkommen, und gewiß wird Cyrgon seine Kreatur nicht der Gefahr einer Auseinandersetzung mit mir preisgeben.« »Dieses – Ungeheuer gehört Cyrgon?«

»Im Augenblick. Doch das wird sich ändern, und Cyrgon wird Klæl gehören.« »Was tut es?« rief Betuana.

Das Monstrum über der Klippe hatte eine Riesenfaust erhoben und hämmerte mit Blitzen auf die Erde ein. Die steinerne Mauer erbebte; Sprünge durchzogen sie; Trümmer lösten sich, rollten krachend hinab und schmetterten in den Wald am Fuß der Klippe – bis endlich Teile der Wand mit ohrenbetäubendem Krachen zerbarsten und sich als ungeheure Lawine ins Tal wälzten.

»Klæl hatte nie Zweifel an der Kraft seiner Schwingen«, bemerkte Bhelliom ungerührt. »Er würde gern zum Kampf gegen mich antreten, doch er fürchtet die Höhe der Mauer. So schlägt er eine Treppe für sich.«

Mit einem donnernden Geräusch, ähnlich dem eines Erdbebens, polterten weitere gewaltige Teile der Wand in die Tiefe und schütteten einen immer höheren Damm aus Steinen auf.

Das Monstrum wütete in rasendem Zorn, bis mehr und mehr Trümmerstücke in die Tiefe rollten und allmählich einen steilen Weg hinauf zur Mauerkrone bildeten. Und dann verschwand Klæl, und ein heulender Wind tobte über die Mauerwand und fegte die brodelnden Staubwolken der Lawine fort.

Ein weiteres Geräusch war zu vernehmen. Sperber drehte sich rasch um. Die Trolle hatten sich zu Boden geworfen und kreischten vor Angst und Entsetzen.

»Wir haben schon immer von ihm gewußt«, sagte Aphrael nachdenklich. »Wir haben uns gegenseitig Angst eingejagt, indem wir Geschichten über ihn erzählten. Es machte auf verderbte Weise Spaß, sich selbst eine Gänsehaut zu verschaffen. Ich glaube, ich habe mir nie eingestehen wollen, daß es Klæl tatsächlich gibt.« »Was, genau, ist er denn?« wollte Bevier wissen.

»Böse!« Sie zuckte die Schultern. »Wir sind die Guten – jedenfalls reden wir uns das ein – und Klæl ist das Gegenteil, das Abbild all dessen, was wir uns unter dem Bösen vorstellen. Gäbe es Klæl nicht, müßten wir zugeben, daß das Böse in uns selbst ist. Aber das läßt unsere Eigenliebe nicht zu.« »Dann ist dieser Klæl der Fürst der Hölle?« fragte Bevier.

»Na ja … gewissermaßen. Nur ist die Hölle kein Ort, sondern ein Geisteszustand. Der Sage nach gab es Klæl bereits, als die Älteren Götter erschienen – Azash und die anderen. Doch sie wollten die Welt für sich, und er war ihnen im Weg. Nachdem mehrere Götter im Alleingang versucht hatten, Klæl loszuwerden, statt dessen aber selbst zu Nichts wurden, haben die übrigen sich zusammengetan und ihn vertrieben.«

»Woher kam er? Ursprünglich, meine ich?« erkundigte sich Bevier. Der Arzier war sehr am Wesen aller Dinge interessiert.

»Wie, in aller Welt, soll ich das wissen? Ich war nicht da. Frag doch Bhelliom.« »Mich interessiert weniger, woher dieser Klæl stammt, als was er tun kann«, erklärte Sperber. Er holte Bhelliom aus dem Beutel an seinem Gürtel. »Blaurose«, sagte er, »ich glaube, wir sollten uns über diesen Klæl unterhalten.«

»Das wäre vielleicht angebracht, Anakha«, erwiderte der Edelstein aufs neue durch Vanions Lippen.

»Woher kam er – oder es? Weißt du etwas über seinen Ursprung?«

»Klæl hat keinen Ursprung, Anakha. Es hat ihn immer gegeben – so wie mich!« »Was ist es? Oder er?«

»Notwendig. Ich möchte dich nicht kränken, Anakha, aber die Notwendigkeit Klæls übersteigt dein Begriffsvermögen. Die Kindgöttin hat Klæl hinreichend erklärt – soweit sie seine Existenz versteht.«
»Das ist – das ist …«, stammelte Aphrael empört.
Ein schwaches Lächeln huschte über Vanions Lippen. »Versteh es nicht falsch, Aphrael. Ich liebe dich auch so – trotz deiner Beschränkungen. Du bist noch jung.
Das Alter wird dir Weisheit und Verständnis bringen.«
»So geht das nicht, Blaurose!« warnte Sephrenia.

»Also gut.« Bhelliom seufzte. »So wollen wir es denn angehen. Klæl wurde tatsächlich von den Älteren Göttern vertrieben, genau wie Aphrael es erzählt hat, doch sein Geist verweilt nach wie vor im Gestein dieser Welt – wie in allen anderen, die ich erschuf. Und was die Älteren Götter zu tun vermochten, können sie auch ungeschehen machen – und die Magie, die Klæl zurückholte, war ein Teil jenes Zaubers, der ihn vertrieben hatte. Offenbar hat ein Sterblicher, der mit dem wundersamen Wirken der Älteren Götter vertraut ist, den Vertreibungszauber umgekehrt, und Klæl ist wieder erschienen.« »Kann er – oder es – vernichtet werden?«

»Wir sprechen weder von einem ›er‹, noch von einem ›es‹. Wir sprechen von Klæl.
Nein, Anakha, Klæl kann nicht vernichtet werden – genausowenig wie ich. Klæl ist ewig.«
Sperber erschauerte unwillkürlich.

»Ich fürchte, wir befinden uns in Schwierigkeiten«, murmelte er seinen Freunden zu. »Es ist in gewissem Maße meine Schuld. Ich war so sehr mit der Geburt dieses meines letzten Kindes beschäftigt, daß ich darüber notwendige Pflichten vergaß. Bei der Erschaffung einer neuen Welt pflege ich Klæl zu einem gewissen Zeitpunkt daraus zu vertreiben. Dieses Kind jedoch erfreute mich so sehr, daß ich mir mit der Vertreibung Zeit ließ. Da stieß ich auf den roten Staub, der mich zum Gefangenen machte, und die Pflicht, Klæl zu verstoßen, fiel den Älteren Göttern zu, die diese Aufgabe aber nur sehr unvollkommen erledigten, da sie selbst unvollkommen waren. Dies machte es möglich, Klæl zurückzuholen.« »Durch Cyrgon?« fragte Sperber dumpf.

»Der Zauber der Vertreibung – und Rückholung – ist styrisch. Cyrgon könnte ihn nicht sprechen.«

»Dann war es vermutlich Cyzada«, erklärte Sephrenia. »Er könnte den Zauber durchaus gekannt haben. Ich glaube aber nicht, daß er ihn freiwillig gesprochen hat.« »Vermutlich hat Cyrgon ihn dazu gezwungen, kleine Mutter«, warf Kalten ein. »In letzter Zeit lief für Cyrgon und Zalasta nicht alles so, wie sie's erwartet hatten.« »Aber Klæl rufen!« Aphrael schauderte.

Kalten zuckte die Schultern. »Verzweifelte Menschen lassen sich zu Verzweiflungstaten hinreißen. Warum sollte es bei Göttern anders sein?«

»Was sollen wir tun, Blaurose?« fragte Sperber. »Wegen Klæl, meine ich.« »Du kannst nichts tun, Anakha. Als du Azash gegenüberstandest, hast du deine Sache gut gemacht. Zweifellos wird das bei Cyrgon nicht anders sein. Gegen Klæl aber wärst du hilflos.«

»Dann sind wir dem Untergang geweiht.« Sperber fühlte sich plötzlich völlig niedergeschlagen.

»Dem Untergang geweiht? Keineswegs! Weshalb läßt du dich auf einmal so leicht entmutigen, mein Freund? Ich habe dich nicht erschaffen, daß du dich gegen Klæl stellst. Das ist meine Sache. Natürlich wird Klæl uns in bestimmtem Maße zu schaffen machen, wie es eben seine Art ist. Und dann werden Klæl und ich einander gegenübertreten, wie üblich.« »Und du wirst ihn wieder vertreiben?«

»Das steht zuvor nie fest, Anakha. Aber ich verspreche dir, daß ich mein möglichstes tun werde, uns von Klæl zu befreien – so, wie er alles tun wird, mich loszuwerden. Unser Zweikampf liegt in der Zukunft, und wie ich dir schon oft sagte, ist uns die Zukunft verborgen. Aber ich sehe diesem Zweikampf voll Zuversicht entgegen. Zweifel schwächt die Entschlußkraft, und zaghafte Unsicherheit belastet den Geist. Man soll leichten Herzens und frohgemut in die Schlacht ziehen.«

»Du redest manchmal ganz schön salbungsvoll daher, Weltenmacher«, sagte Aphrael ein wenig boshaft. »Sei brav«, rügte Bhelliom sanft.

»Anakha!« Es war Ghworg, der Gott des Tötens. Die riesige Gestalt pflügte einen dunklen Pfad durch die silberbereifte Wiese. »Ich werde die Worte Ghworgs anhören«, erwiderte Sperber.

»Hast du Klæl gerufen? Glaubst du, er wird uns helfen, Cyrgon Schmerzen zuzufügen? Es ist nicht gut, wenn du das glaubst! Laß Klæl zurückkehren.« »Ich habe ihn nicht geholt, Ghworg, ebensowenig der Blumenstein. Wir vermuten, daß Cyrgon ihn gegen uns beschworen hat.« »Hat der Blumenstein Macht über Klæl?«

»Das ist nicht sicher. Die Macht Klæls ist der des Blumensteins ebenbürtig.« Der Gott des Tötens hockte sich auf das gefrorene Gras und kratzte mit einer gewaltigen Pranke das zottige Gesicht. »Cyrgon ist noch nicht so wichtig, Anakha«, brummte er in seiner einfältigen Art. »Wir können Cyrgon morgen etwas antun oder irgendwann später. Aber gegen Klæl müssen wir jetzt vorgehen. Wir dürfen nicht bis später warten.«

Sperber stützte ein Knie auf der eisigen Wiese auf. »Deine Worte sind weise, Ghworg.«

Der Gott des Tötens verzog die Lippen zu einem gräßlichen Grinsen. »Das Wort, das du da benutzt hast, ist bei uns nicht üblich, Anakha. Würde Khwaj sagen, ›Ghworg ist weise‹, würde ich ihm Schmerzen zufügen!« »Ich habe es nicht gesagt, um dich zu erzürnen, Ghworg.«

»Du bist kein Troll, Anakha. Du kennst dich bei uns nicht aus. Wir müssen Klæl Schmerzen zufügen, damit er weggeht. Wie können wir das tun?«

»Wir können ihm nichts anhaben. Nur Blaurose kann ihn vertreiben!«

Ghworg knurrte grauenvoll und schmetterte die Faust auf den gefrorenen Boden. Sperber hob eine Hand. »Cyrgon hat Klæl gerufen, damit er uns Schmerzen zufügt. Deshalb müssen wir Cyrgon jetzt weh tun, nicht erst irgendwann später. Wenn wir Cyrgon Schmerzen zufügen, wird er Angst haben, Klæl zu helfen, sobald der Blumenstein sich daran macht, Klæl Schmerzen zuzufügen und ihn zu vertreiben.« Ghworg bemühte sich, diese Worte zu verstehen, und grübelte darüber nach. »Was du sagst, ist gut, Anakha«, erklärte er schließlich. »Weißt du denn auch, wie wir Cyrgon am besten Schmerzen zufügen können?«

Sperber überlegte. »Cyrgons Verstand ist nicht wie deiner, Ghworg, noch ist er wie meiner. Wir denken direkt und geradeaus, Cyrgon dagegen gewunden. Er ist verschlagen und hinterlistig. Hier, in den Landen des Winters, hat er eure Kinder gegen unsere Freunde geschickt, auf daß wir hierherkommen und gegen sie kämpfen. Doch eure Kinder waren nicht seine, Cyrgons Hauptstreitmacht. Diese wird aus den Landen der Sonne kommen, um unsere Freunde in der schimmernden Stadt anzugreifen.«

»Ich habe diesen Ort gesehen. Dort hat die Kindgöttin zum erstenmal mit uns gesprochen.«

Sperber zog die Stirn in Falten und versuchte, sich an die Einzelheiten auf Vanions Landkarte zu erinnern. »Es gibt hohes Gelände hier und in Richtung Süden«, sagte er.
Ghworg nickte.

»Noch weiter südlich wird dieses hohe Gelände niedriger, und dann wird es flach.« »Ich sehe es«, sagte Ghworg. »Du beschreibst es gut, Anakha.« Sperber war erstaunt. Offenbar konnte Ghworg sich den gesamten Kontinent vorstellen.

»In der Mitte dieses flachen Geländes wiederum befindet sich eine hohe Stelle, welche die Menschenwesen die Tamulischen Berge nennen.« Ghworg nickte bestätigend.

»Die Hauptstreitmacht von Cyrgons Kindern wird an dieser hohen Stelle vorbeikommen, um zu der schimmernden Stadt zu gelangen. An der hohen Stelle ist es kalt; also müssen eure Kinder nicht unter der Sonne leiden.«

»Ich verstehe, wohin deine Gedanken führen, Anakha«, sagte Ghworg. »Wir werden unsere Kinder zu jener hohen Stelle bringen und dort auf Cyrgons Kinder warten. Unsere Kinder werden Aphraels Kinder nicht fressen. Statt dessen werden sie Cyrgons Kinder fressen.«

»Das wird Cyrgon und seinen Dienern Schmerzen zufügen, Ghworg.«

»Dann machen wir es!« Ghworg drehte sich um und deutete zu dem Damm, der sich aus den Steinen der zerstörten Mauer gebildet hatte. »Unsere Kinder werden Klæls Treppe hinaufsteigen, noch ehe die Sonne sich heute schlafen legt.« Er erhob sich abrupt. »Gute Jagd«, brummte er, drehte sich um und kehrte zu seinen Mitgöttern und den immer noch verstörten Trollen zurück.

»Wir müssen vorgehen, als wäre alles völlig normal«, sagte Vanion, nachdem die Freunde sich am frühen Nachmittag wieder ums Feuer geschart hatten. Die Sonne ging bereits unter, wie Sperber bemerkte. »Wahrscheinlich kann Klæl jederzeit an jedem beliebigen Ort auftauchen. Wir können sein Erscheinen ebensowenig planen oder vorausberechnen wie das eines Schneesturms oder Wirbelwinds. Und wenn man eine Gefahr nicht vorausberechnen kann, lassen sich lediglich einige Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Ansonsten muß man die Gefahr ignorieren.« »Das ist die richtige Einstellung«, lobte Königin Betuana. Sie und Vanion kamen gut miteinander aus.

»Was sollen wir denn tun, Freund Vanion?« erkundigte sich Tikume.

»Wir sind Soldaten, Freund Tikume«, antwortete Vanion. »Wir tun, was Soldaten tun. Wir machen uns bereit, gegen Armeen zu kämpfen, nicht gegen Götter. Scarpa zieht aus den Urwäldern von Arjuna herauf, und ich vermute, daß es zu einem weiteren Angriff aus Cynesga kommen wird. Wahrscheinlich werden die Trolle Scarpa im Weg sein. Doch sie können sich des Klimas wegen nur ein Stück aus den Bergen von Südtamuli entfernen. Nach dem ersten Schock, dort plötzlich Trollen gegenüberzustehen, wird Scarpa vermutlich versuchen, sie weitläufig zu umgehen.« Vanion studierte seine Karte. »Wir müssen an Ort und Stelle Streitkräfte bereit haben, um entweder gegen Scarpa oder eine aus Cynesga anrückende Armee vorzugehen. Ich würde sagen, Samar dürfte der geeignetste Ort dafür sein.« »Sarna!« widersprach Betuana.

»Sowohl als auch«, warf Ulath ein. »Wenn wir Truppen in Samar stationieren, können sie gegen jeden Feind ziehen, vom Südrand des Atanischen Gebirges bis zum Binnenmeer von Arjun. Zugleich können sie im Osten zuschlagen, südlich der Tamulischen Berge, falls Scarpa den Trollen aus dem Weg geht. Streitkräfte in Sarna wiederum können die Invasionsroute durchs Atanische Gebirge blockieren.« »Er hat recht«, pflichtete Bevier bei. »Es spaltet zwar unsere Streitkräfte in zwei Teile, aber ich fürchte, wir haben keine andere Wahl.«

»Wir könnten die Ritter und die Peloi in Samar postieren, und die Ataner als Fußsoldaten in Sarna«, fügte Tynian hinzu. »Das untere Sarnatal ist ideal für den Einsatz Berittener, und die Berge um Sarna sind das natürliche Umfeld für Ataner.« »Beide Positionen sind Verteidigungsstellungen!« wandte Engessa ein. »Kriege lassen sich nicht aus Verteidigungsstellungen heraus gewinnen.«

Sperber und Vanion wechselten einen langen Blick. »In Cynesga einfallen?« fragte Sperber zweifelnd.

»Noch nicht«, entschied Vanion. »Laßt uns damit warten, bis die Ordensritter aus Eosien hier sind. Erst wenn Komier und die anderen die Westgrenze von Cynesga überqueren, dringen wir aus dem Osten ein. Wir werden Cyrgon in die Zange nehmen. Wenn er von beiden Seiten von so gewaltigen Heeren angegriffen wird, kann er jeden Cyrgai beschwören, der je gelebt hat, und wird trotzdem unterliegen.« »Bis zu dem Augenblick, da er Klæl von der Kette läßt«, fügte Aphrael düster hinzu. »Nein, Göttin«, beruhigte Sperber sie. »Bhelliom will, daß Cyrgon Klæl gegen uns ins Feld schickt. Wenn wir es so machen, wie wir es gerade besprochen haben, zwingen wir Cyrgon geradezu, diesen Angriff zu einem Zeitpunkt und an einem Ort zu führen, die für uns günstig sind. Wir suchen uns den Ort aus, Cyrgon wird Klæl freilassen, und ich setze Bhelliom auf ihn an. Dann brauchen wir uns bloß noch zurückzulehnen und zuzuschauen.«

»Wir werden denselben Weg die Mauer hinauf nehmen wie die Trolle, VanionHochmeister«, sagte Engessa am folgenden Morgen. »Wir können ebensogut klettern wie sie.«

»Wir werden allerdings etwas länger dafür brauchen«, fügte Tikume hinzu. »Wir müssen Felsbrocken aus dem Weg schaffen, damit unsere Pferde den Hang hinaufkommen.« »Wir helfen euch dabei, Tikume-Domi«, versprach Engessa.

»Das wär's dann«, meinte Tynian. »Die Ataner und die Peloi begeben sich von hier aus gen Süden, um ihre Stellungen in Sarna und Samar zu beziehen. Wir kehren mit den Rittern zur Küste zurück, und Sorgi wird uns nach Matherion bringen. Von dort aus nehmen wir den Landweg.«

»Was mir Sorgen macht, ist die Schiffsreise«, warf Sperber ein. »Sorgi wird mindestens ein halbes Dutzend Mal fahren müssen.«
Khalad seufzte und rollte die Augen himmelwärts.

»Ich nehme an, du willst mich wieder einmal vor allen anderen blamieren«, sagte Sperber. »Was habe ich diesmal übersehen?«

»Die Flöße, Sperber! Sorgi sammelt sie ein, um sie zu den Holzmärkten im Süden zu schaffen. Er wird sie zu einem langen Ausleger zusammenbinden. Teilt die Ritter auf die Schiffe auf und bringt die Pferde auf den Ausleger, dann gelangen wir alle mit einer einzigen Fahrt nach Matherion.«

»Ich habe die Flöße ganz vergessen«, gestand Sperber verlegen.

»Mit dem Ausleger werden wir nicht sehr schnell vorankommen«, gab Ulath zu bedenken.

Xanetia hatte aufmerksam zugehört. Sie blickte Khalad an; dann fragte sie schüchtern: »Würde eine steife Brise hinter den Flößen helfen, junger Herr?« »Und ob, Anarae!« rief Khalad begeistert. »Aus Zweigen und Ruten können wir grobe Segel flechten.«

»Wird Cyrgon – oder Klæl – es denn nicht spüren, wenn Ihr den Wind beschwört, teure Schwester?« fragte Sephrenia.

»Cyrgon vermag delphaeische Magie nicht zu spüren, Sephrenia«, entgegnete Xanetia. »Sperber kann Bhelliom fragen, ob Klæl es ebenfalls nicht vermag.« »Wie habt Ihr das geschafft?« erkundigte sich Aphrael neugierig.

Nun wirkte Xanetia ein wenig verlegen. »Es sollte uns vor Euch und Euresgleichen verbergen, Göttin Aphrael. Als Edaemus seinen Fluch wirksam machte, tat er es so, daß unsere Magie von unseren Feinden nicht erkannt werden konnte, denn zu jener Zeit betrachteten wir Euch als Feinde. Kränkt Euch das, Göttin?«

»Nicht unter diesen Umständen, Anarae.« Flöte warf sich in Xanetias Arme und küßte sie herzlich.