19

Kring traf am Spätnachmittag jenes Tages in Sarna ein, an dem Aphrael Sephrenia und die anderen von Dirgis dorthin gebracht hatte. Mirtai begab sich hinunter auf den Hof der atanischen Garnison, um ihren O-beinigen Verlobten zu begrüßen. Die beiden umarmten sich ein wenig förmlich und betraten dann das Gebäude. »Sie kommt mir sehr zurückhaltend vor«, sagte Vanion leise zu Betuana. Die beiden hatten die Verlobten durch das Fenster des Sitzungssaals beobachtet.

»Es ist unziemlich, in der Öffentlichkeit Zuneigung zu zeigen, Vanion-Hochmeister«, erklärte die Königin. »Die Schicklichkeit muß gewahrt werden, auch wenn das Herz es viel lieber anders hätte.«
»Aha.«

»Ho, Freund Vanion!« rief Kring, als er und seine hochgewachsene Liebste den Saal betraten. »Euch hab' ich gesucht.«

»Ich freue mich ebenfalls, Euch wiederzusehen, Freund Kring. Wie ist die Lage in Samar?«

»Ruhig. Die Cynesganer haben sich von der Grenze zurückgezogen. Tut sich etwas im Süden, worüber ich nicht unterrichtet wurde?«
»Nicht, daß ich wüßte. Wieso fragt Ihr?«

»Die Cynesganer hatten sich unmittelbar gegenüber von uns an der Grenze gesammelt. Wir rechneten damit, daß sie jeden Augenblick herüberkommen würden, um Samar zu belagern. Dann aber, vor wenigen Tagen erst, traten sie den Rückzug an und ließen nur ein paar kleinere Einheiten an der Grenze zurück. Die ganze restliche Armee marschierte gen Süden.«

Vanion runzelte die Stirn. »Warum haben sie das getan?« fragte er sich.

»Wahrscheinlich, um den Ordensrittern gegenüberzutreten«, antwortete Aphrael. Überrascht drehte Vanion sich um und sah die Kindgöttin ruhig an ihrem Lieblingsplatz sitzen – auf Sephrenias Schoß. Einen Augenblick zuvor war sie ganz bestimmt noch nicht dort gewesen. Doch es wäre sinnlos, sie darauf anzusprechen. Aphrael würde sich nie ändern. »Die Ordensritter kommen nicht aus dieser Richtung, Göttin«, versicherte Vanion.

»Das wissen wir, aber Stragen und Talen sind in Beresa nicht untätig gewesen. Sie konnten diesen dazitischen Spion davon überzeugen, daß im Golf von Dakonien eine riesige Flotte unter dem Kirchenbanner Stellung bezieht. Offenbar hat der Daziter diese Nachricht weitergeleitet, und das Oberkommando der Cynesganer hat sie so ernst genommen, daß es den Großteil seiner Streitmacht los schickte, um Südcynesga zu verteidigen.«

»Aber sie wissen doch, daß die Ordensritter auf dem Landweg durch Astel kommen!«

»Das wissen sie von dieser Streitmacht, Hochmeister Vanion«, warf Itagne ein. »Nun aber sind sie anscheinend überzeugt, daß sich eine weitere auf dem Seeweg nähert.«
»So viele sind wir gar nicht, Itagne.«

»Das wißt Ihr, und das weiß ich, Eminenz. Aber hier in Tamuli ist man allgemein der Ansicht, daß es mindestens eine Million von euch gibt. Der Begriff Ordensritter beschwört Visionen von Armeen herauf, die sich von Horizont zu Horizont erstrecken.«

Vanion zog die Brauen zusammen. »Oh!« sagte er schließlich. »Ich glaube, ich verstehe jetzt. Während der Zemochischen Kriege haben wir uns mit den Armeen der Könige von Eosien zusammengeschlossen. Die tamulischen Beobachter müssen geglaubt haben, jeder Krieger in Rüstung sei ein Ordensritter.«

»Ich glaube, ich werde mich mal mit dem Kaiser unterhalten«, sagte Itagne nachdenklich. »Euer Diebespaar hat es sich meines Erachtens verdient, in den Adelsstand erhoben zu werden. Diese erfundene Flotte hat offenbar die halbe cynesganische Armee von der Grenze abgezogen und auch die Arjuner in helle Aufregung versetzt. Wahrscheinlich befinden sich jetzt schon alle auf dem Marsch nach Süden.«

Vanion grinste. »Es ist eine großartige kleine Flotte – und die Seeleute brauchen nicht einmal verköstigt zu werden. Wir sollten bei dieser Geschichte bleiben.« Er blickte die Kindgöttin an. »Könntest du für ein paar Trugbilder sorgen, Aphrael?« »Drachen? Engelscharen?«

»Wie wär's statt dessen mit tausend Schiffen, Seite an Seite am Horizont?« »Was bekomme ich dafür?« »Benimm dich«, rügte Sephrenia sie mit sanftem Lächeln. »Wo hättest du deine Trugschiffe denn gern, Vanion?«

Er dachte nach. »Laß sie doch einfach an der Küste von Dakonien und Westarjuna auf und ab schaukeln«, schlug er vor. »Das dürfte die Cynesganer und Arjuner auf Trab halten, weil sie sich entscheiden müssen, wo sie ihre Verteidigungsstellungen einrichten.«

»Ich kümmere mich sofort darum«, versprach Aphrael und rutschte vom Schoß ihrer Schwester, »bevor ich es vergesse.«

Sephrenia lächelte. »Wann hast du jemals etwas vergessen?«

»Ich weiß nicht. Aber irgendwann einmal bestimmt. Wahrscheinlich habe ich nur vergessen, wann genau das war.« Sie bedachte alle mit einem schalkhaften Lächeln und verschwand.

Kring saß neben Mirtai, blickte nachdenklich zur Decke und strich sich dabei geistesabwesend über den stoppeligen Kopf. Die andere Hand konnte er nicht benutzen, da Mirtai Besitz von ihr ergriffen hatte. Ihre zufriedene Miene sagte deutlich, daß sie nicht die Absicht hatte, Krings Hand so bald loszulassen.

»Wenn Aphrael diese cynesganischen Truppen lange genug ablenken kann, werden Tikume und ich Samar ohne Hilfe halten können«, versicherte der Domi. »Erst recht, da wir jetzt wissen, wie Klæls Soldaten beizukommen ist.« Er rieb sich noch heftiger den Kopf.

»Hör auf damit. Ich werde dich rasieren, sobald wir hier fertig sind«, versprach Mirtai. »Ja, Liebste«, entgegnete er erleichtert.

»Ach, bevor ich's vergesse«, warf Vanion ein. »Sperber hat sich mit Bhelliom unterhalten. Klæls Soldaten können unsere Luft höchstens einen Tag lang atmen, dann sterben sie. Der Vorgang wird durch körperliche Anstrengung noch beschleunigt. Wenn Ihr ihnen wieder begegnet, dann macht ihnen Beine, daß sie ins Schnaufen kommen.«
Kring nickte.

Ein überdurchschnittlich großer Ataner kam ins Zimmer und murmelte Itagne etwas zu.

»Ich bin jetzt wirklich sehr beschäftigt, alter Junge«, wehrte Itagne ihn ab. »Er besteht darauf, Itagne-Botschafter.«

»Also gut.« Itagne erhob sich. »Ich bin gleich wieder zurück, Hochmeister Vanion«, entschuldigte er sich und folgte dem Ataner aus dem Zimmer.

»Hat Sperber herausgefunden, aus welchem Land Klæls Soldaten stammen, Freund Vanion?« wollte Kring wissen. »Ich würde einen weiten Bogen darum machen.« »Ich glaube nicht, daß Ihr Euch Gedanken darüber machen müßt, Domi Kring.« Sephrenia lächelte. »Klæls Soldaten wurden von irgendeinem Ort jenseits der Sterne hierher gebracht.«

Kring runzelte die Stirn. »Ihr solltet vielleicht mit Sperber reden, Freund Vanion«, riet er. »Ich habe nichts gegen einen guten Kampf, aber wenn Sperber die Absicht hat, dem ganzen Universum den Krieg zu erklären, sollte er uns in seine Pläne einweihen.«

»Ich werde bestimmt mit ihm darüber reden, Domi Kring«, versprach Vanion. Dann seufzte er. »Ich wollte, wir hätten schon von Anfang an über Klæls Soldaten Bescheid gewußt. Die Ordensritter wurden im Gebirge von Zemoch in einen Kampf mit ihnen verwickelt. Gut die Hälfte fiel oder wurde schwer verwundet.«

»Das tut mir leid, Freund Vanion. Habt Ihr viele gute alte Kameraden verloren?« »Viele, Domi Kring«, antwortete Vanion düster. »Sehr viele.«

Kring wandte sich an Betuana. »Wie ist Freund Engessas Zustand?«

»Aphrael sagte, daß seine Genesung Fortschritte macht, Domi. Aber das möchte ich gern mit eigenen Augen sehen.«

Itagne kehrte mit einem Tamuler in ziemlich altmodischer Kleidung zurück. »Sorgt bitte dafür, daß wir nicht gestört werden«, wies er die atanische Wache auf dem Korridor an. Dann schloß und verriegelte er die Tür. »Ich habe zur Abwechslung einmal gute Neuigkeiten«, sagte er und legte dem Fremden die Hand auf die Schulter. »Das ist Ekrasios, ein guter Freund … wenngleich ich ihn eben erst kennengelernt habe.«

Betuana runzelte die Stirn. »Das ist kein tamulischer Name«, stellte sie fest. »Stimmt, Majestät«, bestätigte Itagne. »Es ist ein delphaeischer. Die Sprache der Delphae ist sehr melodisch. Wahrscheinlich rührt es daher, daß sie sich noch immer des klassischen Tamulisch befleißigen. Mein Freund ist nur rasch hierher gekommen, um uns wissen zu lassen, daß die Delphae beschlossen haben, ihre wundersame Abgeschiedenheit wenigstens zeitweise zu verlassen. Ekrasios, das ist Hochmeister Vanion, der enge Freund von Anakha. Diese majestätische Dame ist Betuana, die Königin der Ataner. Der nicht sehr große Mann ist Domi Kring von den Westpeloi. Das sehr hochgewachsene hübsche Mädchen, das Domi Kring die Hand zu zerquetschen droht, ist Mirtai, seine Verlobte, und die schöne, zierliche Styrikerin ist Sephrenia, die Hohepriesterin der Göttin Aphrael.«

»Eine edle Gesellschaft.« Ekrasios verbeugte sich formvollendet. »Ich bringe Grüße von dem geliebten, hochverehrten Edaemus. Die Göttin Aphrael hat ihn überzeugt, daß wir in der gegenwärtigen Lage zusammenhalten müssen. Er hat deshalb das uns seit Jahrhunderten auferlegte Verbot gelockert. Ich wurde zu Euch gesandt, Hochmeister Vanion, um Euch wissen zu lassen, daß ich und viele meiner Gefährten Euch zur sofortigen Verfügung stehen. Wo könnten wir am wirkungsvollsten eingesetzt werden, um unserer gemeinsamen guten Sache zu dienen?«

»Gestattet Ihr, Hochmeister Vanion?« fiel Itagne ein. »Mir kam soeben der Gedanke, daß die Delphae vielleicht am besten geeignet wären, die Ruinen in den arjunischen Urwäldern zu leeren. Wenn Ekrasios und seine Freunde in ihrer ganzen leuchtenden Pracht dort unten an den Toren sämtlicher Lager Scarpas erschienen, würden die Rebellen wahrscheinlich vor Entsetzen die Waffen fallen lassen und zurück nach Hause eilen, um friedlicheren Beschäftigungen nachzugehen – so schnell sie nur können!« »Das ist gut«, murmelte Mirtai beipflichtend.


»Er kommt ganz schön rum, findest du nicht auch?« wandte Ulath sich an Tynian, während der Bierwagen, mit Sperber und Kalten hoch oben auf den Fässern, über die uralte Straße rumpelte. »Vor kurzem war er doch angeblich noch in Dirgis.« »Für den ollen Sperber gibt's eben keine natürlichen Regeln nicht«, versuchte Tynian mehr schlecht als recht Caalador nachzuahmen. »Was meinst du, sollten wir in die Echtzeit zurückkehren? Oder lieber bleiben, wo wir sind?«

»Ich finde, wir können nützlicher sein, wenn wir uns außer Sicht halten«, antwortete Ulath.

»Ist mir durchaus recht. Aber wie können wir Sperber und die anderen darauf aufmerksam machen, daß wir hier sind?«

»Ich steck' ihm einen Zettel in die Tasche – oder puste ihm ins Ohr.« »Das dürfte seine Aufmerksamkeit erregen!«

Bhlokw schlurfte über die Straße heran. Die Enttäuschung in seinem affenähnlichen Gesicht war nicht zu übersehen. »Gibt keine Hunde hier«, berichtete er auf Trollisch. »Soldaten halten sich normalerweise keine, Bhlokw«, erklärte Tynian.

»Ich habe aber Hunger, Tin-in! Ob die Menschendinge hier wohl eines aus ihrer Herde vermissen würden? Ein ganz kleines, vielleicht?«

»Ich fürchte, wir haben hier ein echtes Problem«, flüsterte Tynian Ulath zu. »Es ist auf jeden Fall in unserem Interesse, daß unser Freund genug zu essen bekommt.« Ulath kratzte seine jetzt glattrasierte Wange. »Wir können ihn nicht einfach frei schalten und walten lassen. Er würde Aufmerksamkeit erregen, wenn er sich Leute grapscht und in seine Nichtzeit entführt.« »Er ist unsichtbar, Ulath!«

»Schon, aber wenn irgendein Arjuner plötzlich verschwindet und seine Knochen aus dem Nirgendwo geworfen werden, fällt das mit Sicherheit auf.« Er wandte sich wieder dem Troll zu. »Es ist unser Gedanke, daß es nicht gut wäre, wenn du hier Menschendinge tötest und ißt, Bhlokw. Wir jagen hier Gedanken, und wenn du Menschendinge tötest und ißt, wirst du die Gedanken verscheuchen.«

»Ich mag dieses Jagen von Gedanken nicht, U-lat«, beklagte sich Bhlokw. »Es macht Dinge nicht-einfach.«

»Der Wald ist nah, Bhlokw«, sagte Tynian. »Es muß dort viele Dinge geben, die gutzu-essen sind.«

»Ich bin kein Oger, Tin-jan«, entrüstete sich Bhlokw leicht gekränkt. »Ich esse keine Bäume!«

»Es müßte dort zwischen den Bäumen Kreaturen geben, die gut-zu-essen sind, Bhlokw«, versicherte Ulath ihm. »Das wollte Tin-jan damit sagen. Es war nicht sein Gedanke, dich zu beleidigen.«

Bhlokw funkelte Tynian kurz an. »Ich gehe jetzt jagen!« sagte er abrupt. Damit drehte er sich um und schlurfte davon.

»Du mußt vorsichtig sein, Tynian«, warnte Ulath seinen Freund. »Wenn du es darauf anlegst, daß ein Troll über dich herfällt, brauchst du nur durchblicken zu lassen, daß er möglicherweise ein Oger ist.«
»Haben die tatsächlich Vorurteile?« staunte Tynian.

»Und wie«, erwiderte Ulath. »Trolle und Oger hassen einander seit Anbeginn der Zeit.«

»Und ich dachte, Voreingenommenheit wäre ausschließlich eine unschöne Eigenschaft der Menschen.«

»Leider nicht. Komm, folgen wir Sperber und machen ihn auf uns aufmerksam. Vielleicht hat er was für uns zu tun.«

Sie folgten der Bierkarawane, die soeben die geräumten Straßen verließ und sich jenem Teil von Natayos näherte, der noch von Gestrüpp überwuchert war. Die Wagen holperten über einen erst kürzlich freigeräumten Weg und bogen dann zur Rückseite eines mit Zeltplanen bedeckten Gebäudes ein, an dem ein schlichtes Schild mit der Aufschrift »BEI SENGA« hing.

»Auf eine Sache kann man sich verlassen«, sagte Tynian. »Wo es Bier gibt, ist Kalten nicht weit.«

»Das stimmt«, bestätigte Ulath. »Warte hier. Ich sag' Sperber Bescheid, daß wir in Natayos sind.« Er schlenderte hinüber zu Sperber, Kalten und Bevier, die – mit ihren veränderten Zügen ungewohnt aussehend – ein wenig abseits standen, während Senga das Entladen der Fässer überwachte. »Widderhorn«, sagte Ulath leise. »Laßt euch nichts anmerken und fangt nicht an, euch umzuschauen. Ihr könnt mich nicht sehen.« »Ulath?« staunte Kalten.

»Stimmt genau. Tynian, Bhlokw und ich kamen gestern an. Wir haben uns inzwischen umgesehen.«

»Wie ist es euch gelungen, unsichtbar zu bleiben?« fragte der scheinbar einäugige Bevier.

»Wir sind es eigentlich gar nicht. Ghnomb bricht die Sekunden in zwei Teile. Wir sind nur während des kleineren Teils gegenwärtig. Deshalb könnt ihr uns nicht sehen.«
»Aber ihr könnt uns sehen?«
»Ja.«
»Das ist gegen jede Logik!«

»Ich weiß, aber Ghnomb glaubt, daß es funktioniert, und ich nehme an, daß sein Glaube stärker ausgeprägt ist als sein logisches Denkvermögen. Wie dem auch sei, Tynian und ich sind hier, und niemand kann uns sehen. Habt ihr etwas für uns zu tun?«

»Könnt ihr euch in das Haus beim Tor einschleichen?« fragte Sperber rasch. »Das mit den vergitterten Fenstern?«

»Unmöglich. Wir haben es bereits in Erwägung gezogen. Viel zu viele Wachen an den Türen! Bhlokw hat sogar versucht, durchs Dach hineinzukommen, aber es ist ihm nicht gelungen.«

»Meine Frau ist in diesem Haus, Ulath!« stieß Sperber hervor. »Soll das heißen, daß ihr versucht habt, einen Troll hineinzuschicken?«

»Bhlokw hätte ihr ganz bestimmt nichts getan, Sperber – vielleicht hätte er sie ungewollt erschreckt, aber er hätte ihr wirklich nichts angetan. Wir dachten, es könnte ihm vielleicht gelingen, durchs Dach einzudringen, sich Ehlana und Alean unter die Arme zu klemmen und rauszutragen.« Ulath machte eine Pause. »Im Grunde war es gar nicht unsere Idee, Sperber. Bhlokw hat sich erboten – na ja, eigentlich nicht einmal das. Er ist einfach die Wand hinaufgeklettert, ehe wir ihn aufhalten konnten. Er sagte: ›Ich werde sie holen. Ich werde Anakhas Gefährtin und ihre Freundin herausbringen, dann können wir alle diese Kinder von Cyrgon töten und essen.‹ Bhlokw ist manchmal ein wenig impulsiv, aber er hat das Herz am rechten Fleck. Ich gebe es ungern zu, aber so langsam mag ich ihn.« Kalten schaute sich nervös um. »Wo ist er jetzt?« fragte er.

»Auf Jagd. Als wir uns in den Küstenstädten herumtrieben, konnten wir ihn davon abbringen, Menschen zu fressen und statt dessen lieber Hunde zu vertilgen. Seitdem hat er sich von Hunden ernährt. Sie schmecken ihm wirklich vorzüglich. Aber hier in Natayos gibt es keine Hunde. Deshalb schaut er sich im Wald um – wahrscheinlich jagt er Elefanten oder dergleichen.« Aus den Augenwinkeln sah Ulath plötzlich einen eigentümlich flackernden Lichtschein. »Was, in Gottes Namen, ist das?« entfuhr es ihm. »Was?« fragte Kalten und schaute sich verblüfft um.

»Da kommt gerade irgendwas um die Hausecke, das wie aus Regenbogen gemacht ist!« Offenen Mundes starrte Ulath auf die buntschimmernde Gestalt, die auf sie zukam. Das vielfarbige Licht blendete ihn.

»Das ist Xanetia«, erklärte Sperber. »Kannst du sie tatsächlich sehen?«
»Soll das heißen, ihr könnt sie nicht sehen?«
»Sie ist unsichtbar, Ulath!«
»Für mich ganz bestimmt nicht.«

»Es muß etwas mit der eigentümlichen Zeit zu tun haben, in der du dich aufhältst, mein Freund«, meinte Bevier. »Du solltest Xanetia lieber wissen lassen, daß du sie sehen kannst. Es könnte sich möglicherweise irgendwann einmal als wichtig erweisen.«

Der schimmernde Regenbogen hielt ein paar Schritte entfernt an. »Anakha«, sagte Xanetia leise.
»Ich höre Euch, Anarae«, erwiderte Sperber.

»Es schmerzt mich, gestehen zu müssen, daß ich versagt habe«, gestand sie. »Scarpas Verstand ist dermaßen verwirrt, daß ich seinem Gedächtnis keine zusammenhängenden Gedankengänge entnehmen kann. Ich bin jedoch behutsam in das Gedächtnis einiger seiner Anhänger eingedrungen und muß Euch nun leider sagen, daß Eure Königin nicht mehr hier in Natayos ist. Als unsere Feinde unsere List mit dem jungen Ritter Berit aufdeckten, hat Zalasta im Schutz der Dunkelheit mit Eurer Gemahlin und ihrer Kammermaid Natayos verlassen. Ich werde mich bemühen, aus den Gedanken anderer ihren neuen Aufenthaltsort zu erfahren.« Ulaths Herz schmerzte vor Mitgefühl, als er sah, wie sich plötzlich quälende Verzweiflung auf Sperbers Gesicht ausbreitete.

In schier endlosen Regimentern rannten die hochgewachsenen Krieger mit knapper Rüstung und ihren im kühlen Dämmerlicht schimmernden bronzefarbenen Armen und Beinen leichtfüßig dahin. Der sie fast alle überragende König Androl lief an der Spitze seiner Armee. Es tat gut, wieder auf dem Marsch zu sein, und die Aussicht auf eine Schlacht berauschte ihn. Kampf war bedeutungsvoll, und man konnte die Ergebnisse sehen. Die Abwesenheit seiner Gemahlin hatte dem unvorbereiteten Androl unzählige kleine Verwaltungspflichten aufgebürdet, und natürlich füllte es ihn nicht aus, Entscheidungen über Dinge zu treffen, die ihn nicht interessierten und die er nicht verstand. Doch es war noch enttäuschender und ermüdender, keine sofortigen Ergebnisse zu sehen, die ihm verraten hätten, ob seine Entscheidungen richtig gewesen waren.

Wieder einmal dankte der König der Ataner seinem Gott, daß er ihm Betuana zur Gemahlin gegeben hatte. Sie ergänzten einander großartig. Nie verlor die Königin den Überblick, weder in großen noch in kleinen Dingen, und nie übersah sie die kleinste Kleinigkeit. Sie hatte einen regen Verstand, und im Unterschied zu ihrem Gemahl entgingen ihr keine Feinheiten, keine Nuancen. Androl dagegen war praktischer veranlagt, ein Mann der Tat. Nur zu gern überließ er es seiner Gemahlin, die lästigen Entscheidungen in Politik und Verwaltung zu treffen. Niemals stellte er in Frage, was Betuana beschlossen hatte, und führte alle ihre Anweisungen aus. Und so war es auch besser. Der König von Atan war sich im klaren darüber, daß er nur auf dem Schlachtfeld eine gute Figur machte, nicht aber auf diplomatischem Parkett. Und er wußte, daß seine Gemahlin liebevoll darüber hinwegsah, wenn er hin und wieder seine Herrscherpflichten vernachlässigte. Er hoffte nur, daß er sie nicht zu sehr enttäuschte.

Betuanas Vorschlag – in militärischen Belangen erteilte sie Androl nie Befehle – daß er die Hauptmacht ihrer Streitkräfte zum Südufer des Samasees führen solle, um sich auf eine große Schlacht bei Tosa vorzubereiten, war genau die Art kriegerischer Unternehmungen, die Androl liebte. Alles lief einfach und unkompliziert ab; es brauchten keine lästigen Entscheidungen getroffen zu werden, die Feinde waren bekannt und die langweiligen Einzelheiten aus dem Weg geräumt.

Er lächelte, als er seine Armee in die letzten Ausläufer des Gebirges etwa hundertfünfzig Meilen südöstlich von Tualas führte. Betuanas Nachricht hatte angedeutet, daß die Schlacht bei Tosa titanisch zu werden versprach: ein gewaltiger Waffengang ebenso gewaltiger Armeen, die so erbittert gegeneinander kämpften, daß das Klirren der Schwerter bis zum Himmel schallte. Nach dieser Schlacht würde Betuana stolz auf ihn sein; das wußte Androl.

Der Weg durch die Ausläufer des Gebirges führte zu einem langen Grat hinauf, dann durch einen schmalen Paß und von dort hinunter zur tiefen Klamm eines Wildbachs, der diese Schlucht im Laufe von Jahrtausenden aus dem Felsen genagt hatte. König Androl atmete ein wenig schwer, als er den Grat überquerte und seine Streitkräfte durch den Paß führte. Ein Feldzug war zwar anstrengend, aber bei weitem nicht so sehr wie die nutzlosen Gespräche mit Botschafter Norkan, die ihn wertvolle Zeit gekostet und die Geduld geraubt hatten. Ein Krieger sollte sich nie vom Übungsplatz fortlocken lassen.

Androl rannte ein wenig schneller, während er seine Armee am Südufer des tosenden Wildbachs hinunter in die Klamm führte. Er ging davon aus, daß seine Krieger ebenfalls Ermüdungserscheinungen zeigten und hoffte, am Samasee eine geeignete Stelle für ein Lager mit riesigem Übungsgelände zu finden, auf dem die notwendigen Waffen- und Körperübungen durchgeführt werden konnten, um die Männer wieder in Höchstform zu bringen. Insgeheim war Androl sicher, jeden Gegner besiegen zu können, solange seine Krieger gut ausgebildet und in bester körperlicher Verfassung waren.

»Androl-König!« brüllte General Pemaas über das Tosen des Wildbachs hinweg. »Seht!«

»Was ist?« rief Androl zurück und griff zum Schwert, während er sich bereits umdrehte. »Oben an der Klamm – rechts!«

Androl legte den Kopf weit in den Nacken, um die steile Felswand hinaufzuspähen. Der König von Atan hatte in seinem Leben schon vieles gesehen, doch nichts glich dieser gigantischen, monströsen Gestalt, die sich plötzlich über ihnen erhob. Das Monstrum war von glänzendem Schwarz, wie poliertes Leder, und besaß ungeheure, ausgebreitete Schwingen, die in der Form jenen von Fledermäusen ähnelten. Feurige Augenschlitze und ein klaffendes Maul, aus dem Feuer troff, ließen seinen keilförmigen Kopf noch furchterregender erscheinen.

König Androl betrachtete das Ungeheuer und überlegte. Das Problem bestand natürlich darin, daß die monströse Gestalt sich dort oben am Rand der Klamm befand, während er und seine Krieger unten auf der Sohle standen.

Natürlich könnte er den Weg, den er gekommen war, zurück und hinauf zum Paß rennen, um die Felsblöcke klettern und auf diese Weise den Rand erreichen. Aber das würde der Kreatur eine zu gute Gelegenheit verschaffen, die Flucht zu ergreifen, und er müßte ihr nachjagen, um sie töten zu können. In seiner derzeitigen Verfassung wäre das ziemlich umständlich. Natürlich könnte er einfach die Felswand hinaufklettern, doch auch das würde Zeit kosten. Außerdem könnte die Kreatur ihn vermutlich sehen und würde zu fliehen versuchen.

Erstaunlicherweise sorgte die riesige Kreatur selbst für die Lösung des Problems. Sie erhob die gewaltigen Arme und begann mit irgend etwas, das ein Feuer besonderer Art zu sein schien, auf den Fels über der Klamm einzuschlagen.

Androl lächelte, als die steinerne Wand langsam nach außen kippte und donnernd in die Klamm rutschte. Die einfältige Bestie sorgte zuvorkommend für die Möglichkeit ihrer eigenen Vernichtung. Wie konnte sie nur so dumm sein?

König Androl wich geschickt einem herabpolternden Felsblock aus und schätzte sorgfältig den rasch wachsenden Geröllhaufen ab, der sich um den Fuß der Klammwand bildete.

Die Bestie hatte doch tatsächlich die Absicht, anzugreifen! Androl lachte erfreut. Die Kreatur war ebenso töricht wie tapfer, doch Tapferkeit war eine Eigenschaft, die er auch an seinen Feinden bewunderte. Schließlich wußte das ganze Universum, daß Androl von Atan unbesiegbar war. Dennoch wollte dieses arme, hirnlose Vieh seine kümmerliche Kraft gegen den mächtigsten Krieger aller Zeiten einsetzen.

Androl blickte abwartend auf den steilen, zusehends wachsenden Geröllhang, ohne auf die Schreie jener Soldaten zu achten, die nicht behende genug waren, der auf sie herabpolternden Steinlawine auszuweichen. Ah, fast hoch genug! Nur noch ein paar Fuß… … und dann besaß der Hang nach Androls Schätzung die richtige Höhe, ihm Zugang zu der dummen Kreatur zu gewähren, die da hoch oben brüllte und mit den mächtigen Flügeln schlug. Androl wich einem weiteren Felsbrocken aus und begann seinen Ansturm. Kletternd, ausweichend, springend, näherte er sich rasch der dem Untergang geweihten Bestie hoch über ihm.

Als er fast oben war, blieb er kurz stehen, zog sein Schwert und wappnete sich für den Angriff.

Und dann stürmte er mit einem wilden Schlachtruf das letzte Stück des Hanges hinauf, ohne den flüchtigen Anflug von Mitleid zu beachten, den er für die tapfere, aber so schrecklich dumme Kreatur empfand, die er jetzt töten würde.


»Wo wollt ihr hin?« Ein fetter Daziter in schäbigem Uniformwams richtete einen Langspieß auf Sperber und Kalten, die einen wackligen, mit zwei großen Fässern beladenen Karren um die Hausecke zogen.

»Wir haben eine Lieferung von Senga für Meister Krager«, antwortete Kalten dem Dicken.
»Das kann jeder sagen!«
»Frag ihn doch«, schlug Kalten vor.
»Ich möchte ihn lieber nicht stören.«

»Dann solltest du uns durchlassen. Meister Krager wartet schon geraume Zeit auf diesen Wein. Wenn du verhinderst, daß wir ihn liefern, dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken. Vielleicht wird Meister Krager dann so wütend, daß er sich an Durchlaucht Scarpa wendet.«

Die plötzliche Angst des Wächters war unverkennbar. »Wartet hier!« wies er Sperber und Kalten an, drehte sich um und schritt die Rückseite des Hauses entlang zu der schweren Tür.

»Ich halte mich im Hintergrund, wenn wir im Haus sind«, flüsterte Sperber seinem Freund zu. »Falls er fragt, dann sag einfach, du hättest mich unterwegs aufgelesen, um dir zu helfen, den Karren zu ziehen.«
Kalten nickte.
»Seid Ihr hier, Anarae?« Sperber schaute sich um, obwohl er wußte, daß er sie gar nicht sehen könnte.
»An Eurer Seite, Anakha«, erwiderte sie leise.

»Wir werden versuchen, ihn möglichst lange reden zu lassen. Wahrscheinlich ist er betrunken. Stellt das ein Problem für Euch dar?«

»Ich habe die Gedanken dieses Krager früher schon gelesen. Bis sie unverständlich werden, kann er sehr viel trinken. Falls es Euch möglich ist, lenkt seine Aufmerksamkeit auf das Haus, in dem Eure Königin gefangengehalten wurde. Dann denkt er vielleicht an Dinge, die von Interesse für uns sein könnten.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann, Anarae«, versprach Kalten.

Der dazitische Wächter kam zurück. »Er empfängt euch«, sagte er knapp.

Kalten feixte. »Das habe ich nie bezweifelt. Meister Krager ist regelrecht versessen auf diesen Wein.«

Er und Sperber hoben die Deichselstangen und zogen den Karren über den unebenen steinigen Boden an der Rückseite der halb wiederhergerichteten Ruine, die offenbar Scarpas Hauptquartier war.

Krager erwartete sie bereits aufgeregt an der Tür. Sein Schädel war geschoren; ansonsten aber sah er kaum anders aus als früher. Er hatte einen Stoppelbart und war unordentlich gekleidet; seine kurzsichtigen Augen waren blutunterlaufen, und seine Hände zitterten.

»Bringt sie herein!« befahl er in seiner vertrauten, rostig klingenden Stimme. Kalten und Sperber setzten die Deichselstangen auf dem Bogen auf, lösten die Stricke, mit denen die beiden Fässer festgebunden waren, und stellten ein Faß einstweilen behutsam auf den Boden. Dann maß Kalten mit einem Stück des Strickes die Höhe des Fasses, anschließend die Breite der Tür. »Knapp«, stellte er fest. »Kipp es vorsichtig um, Fron. Wir können es hineinrollen.«

Sperber hob das Faß auf die Längsseite; dann rollten er und sein Freund es durch die Tür in das unordentliche Zimmer dahinter. An einer Wand stand ein ungemachtes Bett, und fast überall auf dem Boden lagen Kleidungsstücke herum. Es stank säuerlich nach billigem Fusel und Kragers ungewaschenem Körper. In einer Ecke häuften sich leere Fässer und Scherben irdener Flaschen.

»Wo sollen wir die Fässer hinstellen, Meister Krager?« fragte Kalten. »Egal. Irgendwohin«, antwortete Krager ungeduldig.

»Das ist nicht wohl überlegt«, sagte Kalten kritisch. »Sie sind zu schwer, als daß Ihr sie allein heben könntet. Sucht lieber jetzt gleich einen passenden Platz für sie aus.« »Da mögt Ihr recht haben.« Blinzelnd schaute Krager sich im Zimmer um. Dann trat er zu einer Stelle neben dem Kopfende des Bettes und stieß die dort herumliegende Kleidung mit den Zehen aus dem Weg. »Stellt die Fässer hier auf«, wies er die Männer schließlich an.

»Äh … bevor wir weitermachen, sollten wir vielleicht kassieren. Das ist sehr teurer Wein, Meister Krager.«
»Wieviel?«
»Fünfzig Kronen pro Faß. Senga sagte, arzischer Roter ist sehr schwer zu bekommen, so weit von Arzium entfernt.«
»Fünfzig Kronen?« rief Krager.

»Pro Faß!« wiederholte Kalten. »Er befahl mir auch, die Fässer für Euch zu öffnen.« »Ich weiß, wie man ein Weinfaß öffnet, Col!«

»Daran zweifle ich nicht, aber Senga ist ein ehrlicher Geschäftsmann. Er sagte, ich muß dafür sorgen, daß Ihr auch wirklich zufrieden seid, bevor ich Euer Geld nehme.« Er rollte das Faß zur Wand. »Hilf mir, es aufstellen, Fron«, bat er Sperber. Gemeinsam richteten sie das Faß auf; dann zog Kalten einen Beitel unter dem Gürtel hervor. »Mit Bier ist das viel einfacher«, bemerkte er. »Man sollte diese arzischen Winzer mal auf die Vorteile eines Spundlochs an der Faßseite aufmerksam machen!«

Vorsichtig stemmte er den Faßdeckel auf, während Krager, einen Becher in der Hand, erwartungsvoll neben ihm stand.

»Na, dann kostet mal, Meister Krager.« Kalten hob den Deckel ab und trat zur Seite. Krager tauchte seinen Becher in die dunkelrote Flüssigkeit, hob ihn mit zitternder Hand an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. »Köstlich«, seufzte er glücklich. »Ich werde Senga ausrichten, daß Ihr zufrieden seit.« Kalten lachte. »Von einem Halsabschneider sollte man so was eigentlich nicht erwarten, aber Senga ist sehr darauf bedacht, seine Kunden zufriedenzustellen. Könnt Ihr Euch vorstellen, daß er uns sogar ein Faß ausleeren ließ, weil das Bier darin sauer geworden war? – Komm, Fron, holen wir das zweite Faß. Meister Krager soll auch davon probieren, dann kassieren wir.«

Die beiden gingen hinaus und holten das zweite Faß vom Karren.

»Frag ihn, warum sie die Wachen von dem Haus beim Tor abgezogen haben«, murmelte Sperber.

»Mach' ich«, ächzte Kalten, als sie das Faß auf dem Boden hatten.

Sie rollten es in Kragers Zimmer und stellten es neben das erste. Kalten stemmte den Deckel auf, und Krager kostete den Wein.
»Zufrieden?« fragte Kalten.
»Und ob«, antwortete Krager. Er schenkte seinen Becher noch einmal voll und ließ sich glücklich auf sein Bett sinken. »Hervorragend!«
»Gut, dann bekommen wir hundert Kronen von Euch.«

Krager zog einen schweren Säckel unter seinem Gürtel hervor und warf ihn achtlos Kalten zu. »Da, nehmt das Geld selber raus. Aber stehlt nicht zuviel.«

»Das ist eine geschäftliche Angelegenheit, Meister Krager!« sagte Kalten. »Wenn ich Euch berauben wollte, würde ich Euch meinen Dolch an die Kehle drücken.« Mit dem Arm fegte er einige Kleidungsstücke und steinharte Brotscheiben von einem Tisch; dann öffnete er den Säckel und begann, Münzen herauszuzählen. »Uns ist aufgefallen, daß alle Wachen von dem Haus mit den Gitterstäben abgezogen wurden«, sagte er. »Noch vor zwei Tagen konnte man nicht einmal auf zwanzig Schritt Entfernung daran vorübergehen, doch heute morgen haben Fron und ich den Karren direkt an der Vordertür vorbeigezogen, und niemand achtete auch nur auf uns. Was immer darin so Wertvolles aufbewahrt wurde – hat Durchlaucht Scarpa es woanders hinbringen lassen?«

Kragers aufgedunsenes Gesicht wurde plötzlich wachsam. »Das geht Euch gar nichts an, Col!«

»Hab' ich auch nicht behauptet. Aber vielleicht solltet Ihr Durchlaucht Scarpa mal darauf hinweisen, daß er nichts verändern soll, wenn er nicht möchte, daß den Leuten so was auffällt. Er hätte die Wachen lassen sollen, wo sie waren. Senga und wir anderen sind allesamt Räuber, wißt Ihr, und wir waren mehr oder weniger davon überzeugt, daß Durchlaucht Scarpa das Haus als seine Schatzkammer benutzt hat. Bei dem Wort Schatz spitzen wir die Ohren.« Krager starrte ihn an; dann begann er zu lachen.

»Was ist daran so komisch?« Kalten blickte von den Münzen auf.

»Es war in der Tat ein Schatz, Col …« Krager grinste. »… aber nicht von der Sorte, die man zählen kann.«

»Wie Ihr schon gesagt habt – es geht mich nichts an. Aber jeder, der in Sengas Schenke arbeitet, weiß, daß der Schatz an einen anderen Ort gebracht wurde. Ich bin sicher, es dauert nicht mehr lange, dann werden die Leute auf Suche nach der neuen Schatzkammer in sämtlichen Ruinen herumstochern.«

»Sollen sie.« Krager zuckte die Schultern. »Der Schatz ist inzwischen schon sehr weit fort von hier.«

»Ich hoffe, ihr habt ihn gut bewacht. Im Urwald da draußen wimmelt's von Burschen wie Fron und mir. – Würdet Ihr jetzt hierher kommen und nachzählen, was ich aus Eurem Beutel genommen habe?«
»Ich traue Euch, Col.«
»Dann seid Ihr ein Narr.«

»Nehmt noch zehn Kronen für Euch und Euren Helfer heraus«, forderte Krager ihn freigebig auf. »Und dann laßt mich mit meinen beiden neuen Freunden hier allein.« »Ihr seid sehr großzügig, Meister Krager.« Kalten nahm noch einige Münzen aus dem Säckel und verstaute sie zusammen mit denen, die er zuvor abgezählt hatte, in der Seitentasche seines Kittels.

»Gehen wir, Fron«, wandte er sich an Sperber. »Meister Krager möchte allein sein.« »Richtet Senga meinen Dank aus«, Krager füllte seinen Becher aufs neue, »und bittet ihn, die Augen nach weiteren Fässern von diesem köstlichen Jahrgang offenzuhalten. Ich nehme jedes, das er finden kann.«

»Ich werde es ihm ausrichten, Meister Krager. Einen schönen Tag noch.« Kalten verließ mit seinem Freund das übelriechende Zimmer.

Sperber schloß die Tür hinter ihnen und streckte die Hand aus. »Was willst du?« fragte Kalten.

»Meine fünf Kronen«, sagte Sperber. »Wir wollen doch gerecht teilen, nicht wahr?« »Ihr seid sehr schlau, Ritter Kalten«, hörten sie Xanetias Flüstern. »Ihr habt seine Gedanken außerordentlich geschickt in die für uns günstigste Richtung gelenkt.« Kalten zählte bedächtig eine Münze nach der anderen in Sperbers Hand. »Was habt Ihr herausgefunden, Anarae?« fragte er angespannt.

»Vor etwa zwei Tagen fuhr eine geschlossene Kutsche von diesem Ort nach PanemDea, nachdem sie mit übertriebenem Getue – unter schwerer Bewachung – an der Tür des Hauses angehalten hatte, auf das unsere ganze Aufmerksamkeit gerichtet war. Diese Kutsche diente lediglich zur Vorspiegelung falscher Tatsachen. Jene, die wir suchen, befinden sich nicht darin. Sie sind schon lange zuvor mit Zalasta von Natayos aufgebrochen.« »Weiß Krager, wohin Zalasta sie brachte?« fragte Sperber.

»Nein. Zalasta wollte es offenbar niemanden hier wissen lassen«, antwortete Xanetia. »Aber Krager ist stets wachsam, sobald er einen Vorteil für sich wittert. Wenn er von Zalastas Vorhaben erfuhr, konnte es ihn das Leben retten, falls dabei etwas schiefging. Deshalb bemühte er sich unverdrossen, des Styrikers Pläne zu erfahren. Indem er vortäuschte, sinnlos betrunken zu sein, gelang es ihm, an Informationen zu kommen, als Zalasta sich mit seinem Kameraden Cyzada unterhielt. Die beiden redeten Styrisch miteinander, doch Krager versteht diese Sprache ein wenig, was keiner von uns wußte. Auf diese Weise konnte er dem Gespräch der beiden genau jene Information entnehmen, die ihn – und uns – am meisten interessiert.«

»Das ist ja ein Ding!« sagte Kalten erstaunt. »Krager ist ein schlauer Fuchs, ob betrunken oder nüchtern. Wohin bringt Zalasta die Damen, Anarae?«

Xanetia seufzte. »Es ist keine gute Neuigkeit, Ritter Kalten. Ich fürchte, Zalasta will die Königin und ihre Kammermaid nach Cyrga bringen, in das verborgene Land, wo Cyrgon herrscht. Und er hat die Macht zu bewirken, daß wir jene, die wir lieben, niemals finden können.«