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Der Ausleger, den Kapitän Sorgi aus den Flößen zusammengesetzt hatte, war eine Viertelmeile lang und hundert Fuß breit, und der größte Teil war für die Pferde eingezäunt. Er schaukelte und schlingerte unter dem düsteren Himmel auf seinem Weg gen Süden, und immer wieder fegten heftige Windstöße mit Graupelschauern darüber hinweg. Es war bitterkalt und die jungen Ritter, die das Auslegerfloß bemannten, waren bis über die Ohren in Pelze gehüllt und kauerten die meiste Zeit im zweifelhaften Schutz der flatternden Zelte.

»Auf die kleinen, aber wichtigen Feinheiten kommt es an, Berit«, erklärte Khalad, während er das Seil am Steuerbordende eines ihrer behelfsmäßigen Segel verknotete. »Jede Arbeit setzt sich im Grunde genommen aus Feinheiten zusammen.« Er blinzelte das vereiste Seil entlang auf das, was eher einem Schneefang glich als einem Segel. »Sperber befaßt sich mit dem großen Plan und überläßt die Feinheiten anderen. Das ist auch gut so, denn er ist ein hoffnungsloser Stümper, wenn es um kleine Dinge und echte Arbeit geht.« »Khalad!« rief Berit schockiert.

»Hast du ihn je gesehen, wenn er mit Werkzeug umzugehen versucht? Schon unser Vater hat uns immer wieder davor gewarnt: ›Laßt Sperber nie nach einem Werkzeug greifen!‹ Kalten ist ziemlich gut als Handwerker; Sperber dagegen ist ein hoffnungsloser Fall. Überläßt man ihm irgendeinen Gegenstand, der mit der Hände Arbeit zu tun hat, verletzt er sich damit.« Khalad riß den Kopf hoch und fluchte. »Was ist los?«

»Hast du es denn nicht gespürt? Die Backbordschlepptaue hängen plötzlich durch! Wecken wir die Seeleute. Wir wollen doch nicht, daß diese träge Schaukel sich wieder breitseits legt.« Die beiden jungen Männer in ihren dicken Pelzen machten sich auf den Weg über die zusammengebundenen vereisten Flöße und plagten sich um den riesigen Pferch herum, in dem sich die Pferde zum Schutz gegen den bitterkalten Rückenwind zusammendrängten.

Der Einfall, aus den Flößen einen Ausleger zu bauen, war in der Theorie sehr gut, doch es ergaben sich ziemliche Probleme mit der Nautik, die sich als weit schwieriger erwies, als sowohl Sorgi wie auch Khalad vermutet hatten. Khalads dicht geflochtene Matten aus Tannenzweigen funktionierten recht gut als Segel und bewegten die Ausleger mit Hilfe von Xanetias Brise stetig südwärts. Doch Sorgis Schiffe sollten die Ausleger auch steuern. Und da begann das Problem. Nicht einmal zwei Schiffe bewegen sich mit exakt der gleichen Geschwindigkeit, auch dann nicht, wenn derselbe Wind sie antreibt. Die fünfzig Schiffe vor ihnen und die fünfundzwanzig entlang jeder Seite des Auslegers mußten navigatorisch genau aufeinander abgestimmt werden, damit das riesige Floß sich in die gewünschte Richtung bewegte. Solange alle genau aufgepaßt hatten, war das gutgegangen, doch nach zwei Tagesreisen lief nicht mehr alles nach Plan. Der Ausleger war seitwärts herum geschwungen, und so sehr die Gefährten sich auch bemüht hatten, ihn wieder in die richtige nautische Position zu bringen – es war unmöglich gewesen. So hatten sie keine andere Wahl gehabt, als die Flöße in der schneidenden Kälte mühevoll auseinander- und wieder neu zusammenzubinden. Anschließend waren sie völlig erschöpft gewesen und hofften, so etwas nicht noch einmal durchmachen zu müssen.

Als sie die Backbordseite des Auslegers erreichten, zog Berit ein verbeultes Messinghorn unter seinem Pelzumhang hervor und zog mit dessen schrillem Klang die Aufmerksamkeit der Backbordschleppschiffe auf sich, während Khalad nach der gelben Fahne griff und sie heftig zu schwenken begann. Die abgesprochenen Signale waren einfach. Die gelbe Flagge bedeutete den Schiffsbesatzungen, mehr Segel zu setzen, um die Schlepptaue straff zu halten; die blaue Flagge wies sie an, Treibanker zu werfen, um den Tauen mehr Spielraum zu geben; und die rote, die Taue zu lösen und sich dann schnellstens in Sicherheit zu bringen.

Die Schlepptaue strafften sich wieder, als Khalads Signal an die Seeleute weitergegeben wurde, welche die eigentliche Arbeit an Bord der Schiffe machten. »Wie schaffst du es eigentlich, das alles im Griff zu behalten?« fragte Berit seinen Freund. »Und woher weißt du immer so schnell, wenn etwas schiefgeht?«

Khalad verzog das Gesicht. »Ich möchte auf keinen Fall mehrere Tage damit vergeuden, dieses Ungetüm auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, während die Gischtspritzer auf mir gefrieren; deshalb achte ich mit aller Aufmerksamkeit darauf, was mein Körper mir verrät. Man kann in den Beinen und den Fußsohlen Veränderungen spüren. Wenn ein Tau an Straffheit verliert, fühlt man, wie die Bewegung des Auslegers sich ändert.« »Gibt es irgend etwas, von dem du nichts verstehst?«

»Ich kann nicht besonders gut tanzen.« Khalad blinzelte in die ersten schmerzenden Eistropfen eines neuerlich aufkommenden Graupelschauers. »Es ist Zeit, die Pferde zu füttern und zu tränken«, brummte er. »Machen wir den Novizen ein wenig Dampf unter dem Hintern. Die Kerle sitzen nur herum und protzen mit ihren Adelstiteln. Ein bißchen Arbeit kann ihnen nicht schaden!«

»Du kannst Aristokraten nicht ausstehen, stimmt's?« fragte Berit, während sie sich am Pferch entlang zu den windgepeitschten Zelten der Ritteranwärter kämpften. »Nein, das ist es nicht. Ich habe nur keine Geduld mit ihnen. Und ich verstehe nicht, wie sie so blind gegenüber allem sein können, was um sie herum geschieht. Ein Titel muß etwas schrecklich Schweres sein, wenn man so sehr daran zu tragen hat, daß man sich um nichts anderes mehr kümmert.«

»Irgendwann wirst du selbst ein Ritter. Das ist dir doch klar, oder?«

»Das war nicht meine Idee! Sperber hat manchmal lächerliche Einfälle. Er bildet sich offenbar ein, meinem Vater Ehre zu erweisen, indem er meine Brüder und mich zu Rittern macht. Ich bin sicher, Vater hätte das als lächerlich empfunden.«

Sie erreichten die Zelte, und Khalad hob die Stimme. »Meine Herren!« rief er. »Steht nicht untätig herum! Macht euch daran, die Pferde zu füttern und zu tränken!« Dann begutachtete er kritisch den Pferch. Fünftausend Pferde hinterlassen eine Menge Beweise für ihre Anwesenheit. »Ich finde, es ist mal wieder an der Zeit, unseren Novizen eine Lektion in der Tugend der Demut zu erteilen«, sagte er leise zu Berit. Dann rief er: »Und wenn ihr damit fertig seid, holt ihr Schaufeln und Schubkarren herbei! Wir möchten doch nicht, daß uns die Arbeit über den Kopf wächst, nicht wahr, meine Herren?«

Berit war noch nicht sehr bewandert, was einige der subtileren Erscheinungen der Magie betraf. Dieser Teil der pandionischen Ausbildung erforderte ein lebenslanges Studium. Doch er war bereits so weit fortgeschritten, daß er eine ›Einmischung‹ erkannte, wenn sie stattfand. Der Ausleger plagte sich scheinbar unendlich langsam vorwärts, doch der ungleichmäßige Wechsel der Jahreszeiten verriet so allerlei. Zum einen hätte es viel mehr Zeit in Anspruch nehmen müssen, der eisigen Kälte des hohen Nordens zu entkommen, und zum anderen hätten die Tage nicht in so kurzer Zeit so viel länger werden dürfen. Wie und von wem das auch bewerkstelligt wurde – viel früher, als es eigentlich menschenmöglich gewesen wäre, landeten die Gefährten an einem goldenen Spätherbsttag nur wenige Meilen nördlich von Matherion an einem Sandstrand und führten die Pferde watend von den schwankenden Flößen an Land.

»Kurze Reise«, stellte Khalad lakonisch fest, während er und Berit beobachteten, wie die Novizen die Pferde abluden.
Berit lachte. »Es ist dir also nicht entgangen.«

»Sie gingen ja auch nicht gerade mit sehr viel Fingerspitzengefühl vor. Als die Gischtspritzer plötzlich von einer Minute zur anderen in meinem Bart gefroren, hab' ich mir so meine Gedanken gemacht.« Er blickte Berit fragend an. »Ist Magie sehr schwer zu erlernen?«

»Die Magie eigentlich nicht – im Unterschied zur styrischen Sprache, die keine regelmäßigen Verben kennt. Außerdem gibt es neun Tempora.«
»Berit, bitte rede in verständlichem Elenisch!«
»Du weißt doch, was ein Verb ist, nicht wahr?«
»So ungefähr. Aber was ist ›Tempora‹?«

Diese Fragen halfen Berit irgendwie, sich ein wenig besser zu fühlen. Khalad wußte nicht alles. »Wir werden daran arbeiten«, versprach er seinem Freund. »Vielleicht hat Sephrenia ein paar Vorschläge.«

Die Sonne ging in einer wahren Farbenpracht unter, als sie durch das schimmernde Tor in Matherion mit seinen schillernden Kuppeln einritten. Als sie die Schloßanlage erreichten, war es bereits dunkel.

»Was haben die Burschen denn alle?« murmelte Khalad, während sie durchs Tor trotteten.
»Wie meinst du das?« fragte Berit verwirrt.

»Benutz deine Augen, Mann! Die Wachen am Tor haben Sperber angestarrt, als hätten sie damit gerechnet, daß er jeden Moment explodiert oder sich in einen Drachen verwandelt! Da stimmt etwas nicht, Berit!«

Der Hauptteil der Ordensritter begab sich über den dunklen Rasen zu ihren Kasernenunterkünften, während die übrigen zu Pferde, mit klappernden Hufen, die Zugbrücke zu Ehlanas Burg überquerten. Auf dem fackelhellen Burghof saßen sie ab und betraten einzeln und in kleinen Gruppen die Burg.

»Hier ist es sogar noch schlimmer«, murmelte Khalad. »Bleiben wir lieber dicht bei Sperber, damit wir ihn zurückhalten können, falls er plötzlich in Wut gerät. Die Ritter an der Zugbrücke schienen sich regelrecht vor ihm gefürchtet zu haben.«

Sie stiegen die Treppe zu den königlichen Gemächern hinauf. Mirtai befand sich nicht an ihrem gewohnten Platz an der Tür, was Berit noch mehr zu denken gab. Khalad hatte recht. Hier stimmte wirklich etwas nicht.

Kaiser Sarabian in seinem purpurnen Lieblingswams und dem farblich abgestimmten hautengen Beinkleid schritt nervös auf dem blauen Teppich des Salons hin und her und zuckte beim Anblick Sperbers und Vanions zusammen.

»Majestät«, grüßte Sperber knapp und neigte den Kopf. »Schön, Euch wiederzusehen.« Er blickte sich um. »Wo ist Ehlana?« erkundigte er sich, während er seinen Helm auf den Tisch legte.

»Äh – gleich, Sperber. Wie seid Ihr am Nordkap zurecht gekommen?«

»Mehr oder weniger wie geplant. Cyrgon hat keine Macht über die Trolle. Aber wir haben jetzt ein neues Problem, das sich als sogar noch schlimmer erweisen könnte.« »Ach?«

»Ihr werdet alles erfahren, sobald Ehlana sich zu uns gesellt hat. Es ist keine so schöne Geschichte, als daß wir sie zweimal erzählen möchten.« Der Kaiser blickte Außenminister Oscagne hilfesuchend an.

»Wir sollten zuerst mit Baroneß Melidere sprechen, Prinz Sperber«, schlug Oscagne vor. »Hier ist … äh, etwas passiert. Melidere war anwesend und kann Eure Fragen deshalb besser beantworten als wir.«

»Gut.« Sperbers Stimme war ebenso ruhig wie sein Blick, wenngleich Sarabians Nervosität und Oscagnes ausweichende Antwort förmlich hinausschrien, daß etwas Furchtbares passiert war.

Baroneß Melidere saß, mit Kissen gestützt, in ihrem Bett. Sie trug ein hübsches blaues Nachtgewand, das ihr gut stand, doch der dicke Verband über ihrer rechten Schulter war ein deutlicher Hinweis, daß etwas Ernstes vorgefallen war. Ihr Gesicht war zwar bleich, doch ihr Blick fest und ruhig. Stragen saß in seinem weißen Satinwams sichtlich besorgt neben dem Bett.

»Endlich!« Melideres Stimme klang lebhaft, aber sachlich. Nach einem vernichtenden Blick auf Sarabian und seine Ratgeber stellte sie fest: »Ich sehe schon. Diese mutigen Herren möchten es mir überlassen, Euch zu berichten, was hier passiert ist, Prinz Sperber. Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen. An einem Abend vor zwei Wochen machten die Königin, Alean und ich uns bereit, zu Bett zu gehen. Es klopfte an der Tür, und vier Männer, die wir für Peloi hielten, traten ein. Ihre Schädel waren glatt rasiert, und sie trugen Peloikleidung. Aber sie waren keine Peloi. Einer von ihnen war Krager. Die drei anderen waren Elron, Baron Parok und Scarpa.« Scheinbar unbewegt sagte Sperber: »Und?«

»Wie ich sehe, habt Ihr Euch entschieden, vernünftig zu reagieren«, sagte Melidere ruhig. »Gut. Nun – erst einmal haben wir ein paar Beleidigungen gewechselt. Dann erteilte Scarpa Elron den Befehl, mich zu töten – nur um der Königin zu beweisen, daß er es ernst meinte. Elron ging mit dem Messer auf mich los, aber ich lenkte den Stoß unmerklich mit dem Handgelenk ab, ließ mich zu Boden fallen und verschmierte das Blut, damit es so aussah, als wäre ich tödlich getroffen. Ehlana warf sich wild schluchzend über mich. Aber es war nur vorgetäuscht. Sie hatte meine Verstellung bemerkt.« Die Baroneß holte einen Rubinring unter dem Kopfkissen hervor. »Für Euch, Prinz Sperber. Eure Gemahlin hat den Ring in meinem Mieder versteckt. Sie sagte: ›Richtet Sperber aus, daß mir nichts fehlt.‹ Und sie wies mich noch an: ›Sagt ihm auch, daß ich ihm verbiete, Bhelliom herzugeben, egal, was die Kerle mir anzutun drohen.‹ Genau das waren ihre Worte. Dann zog sie eine Decke über mich.« Sperber nahm den Ring und steckte ihn an einen Finger. »Ich verstehe«, sagte er mit immer noch ruhiger Stimme. »Was geschah dann, Baroneß?«

»Scarpa sagte zu Eurer Gemahlin, daß er und seine Freunde sie und Alean als Geiseln nehmen würden. Er sagte, Ihr hängt törichterweise so sehr an Ehlana, daß Ihr alles für ihre unbeschadete Rückkehr geben würdet. Offenbar hat er die Absicht, sie gegen Bhelliom auszutauschen. Krager hatte bereits ein Schreiben vorbereitet. Er schnitt eine Locke von Ehlanas Haar ab, die er zu diesem Schreiben legte. Ich nehme an, daß es noch weitere Schreiben gibt, und daß die Kerle jedem eine Strähne von Ehlanas Haar beilegen werden, um durch diese authentischen Beweise ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. – Tja, dann packten sie Ehlana und Alean und gingen.«

»Danke, Baroneß«, sagte Sperber ruhig. »Ihr habt erstaunlichen Mut bewiesen. Dürfte ich das Schreiben haben?«

Wieder langte Melidere unter ihr Kopfkissen. Sie brachte ein Stück zusammengefaltetes und versiegeltes Pergament zum Vorschein, das sie Sperber aushändigte.

Berit hatte seine Königin vom ersten Augenblick an – als er sie von dem Kristall geschützt auf ihrem Thron sitzen sah – geliebt, auch wenn er ihr diese Liebe nie gestanden hatte. Als Sperber nun das Siegel brach, das Pergament öffnete und behutsam die platinblonde Locke hervorholte, wurde Berit von glühender Wut gepackt. Seine Hand krampfte sich um den Schaft seiner Streitaxt.

Khalad faßte ihn am Arm, und geistesabwesend stellte Berit fest, wie kräftig der Griff seines Freundes war. »Das nutzt niemandem, Berit!« sagte er streng. »Wie wär's, wenn du mir die Axt gibst, ehe du etwas Törichtes damit anstellst?«

Berit holte zitternd tief Atem und vertrieb seine plötzliche, sinnlose Wut. »Tut mir leid, Khalad«, entschuldigte er sich. »Ich habe für einen Moment die Fassung verloren.
Aber jetzt geht es schon wieder.« Er blickte seinen Freund an. »Sperber wird dir auftragen, Krager zu töten, nicht wahr?«
»Das hat er gesagt.«
»Möchtest du ein wenig Hilfe?«

Khalad grinste ihn kurz an. »Es ist immer gut, Gesellschaft zu haben, wenn man etwas unternimmt, das bis zur Ausführung mehrere Tage Planung benötigt. Man fühlt sich dann nicht so einsam.«

Sperber las rasch das Schreiben, während seine freie Hand immer noch zärtlich Ehlanas Locke hielt. Berit sah, wie die Gesichtszüge seines Freundes beim Lesen versteinerten. Dann reichte er Vanion das Schreiben. »Ihr solltet den anderen das vorlesen«, bat er düster. Vanion nickte und nahm das Pergament. Er räusperte sich.

»›Nun denn, Sperber‹«, las er laut. »›Ich nehme an, daß Euer Wutanfall inzwischen vorüber ist. Ich hoffe, Ihr habt nicht zu viele von den Männern getötet, die Eure Gemahlin beschützen sollten.

Die Lage dürfte deutlich genug sein. Wir nehmen Ehlana als Geisel. Ihr werdet Euch doch benehmen, alter Junge, nicht wahr? Oder muß ich es ausdrücklich erwähnen? Ihr könnt Eure Frau gern zurückhaben – Ihr braucht uns bloß Bhelliom und die Ringe zum Tausch für sie zu geben. Wir lassen Euch ein paar Tage Zeit, um zu wüten und zu toben und zu versuchen, einen Ausweg zu finden. Dann, wenn Ihr wieder klar und vernünftig denken könnt und erkennt, daß Ihr gar keine andere Wahl habt, als genau das zu tun, wozu man Euch auffordert, werde ich Euch wieder ein paar Zeilen mit genauen Anweisungen zukommen lassen. Seid ein guter Junge und befolgt sie buchstabengetreu. Es würde mir wirklich keinen Spaß machen, Eure Gemahlin gezwungenermaßen zu töten. Zügelt also Euren Einfallsreichtum und versucht keinerlei törichten Schwachsinn.

Gehabt Euch wohl, Sperber, und haltet Ausschau nach meinem nächsten Brief. Ich werde ihm wieder eine Locke Ehlanas beilegen; so werdet Ihr mühelos erkennen, daß der Brief von mir ist. Lest ihn aufmerksam; denn sollte unser Briefwechsel zu lange andauern müssen, werden Eurer Gemahlin die Haare knapp, und ich müßte auf ihre Finger zurückgreifen.‹ Der Brief ist mit ›Krager‹ unterschrieben«, endete Vanion.

Mit wutverzerrtem Gesicht schmetterte Kalten die Faust an die Wand. »Das reicht!« schnaubte Vanion.

»Was werden wir tun?« rief Kalten heftig. »Wir müssen doch irgend etwas unternehmen!«

»Wir werden jedenfalls nicht acht Fuß hoch in die Luft springen und dann blindlings losstürmen«, erwiderte Vanion scharf.

»Wo ist Mirtai?« fragte Kring in plötzlich aufkommender Panik.

»Es geht ihr gut, Domi«, versicherte Sarabian. »Sie war allerdings ein bißchen aus der Fassung, als sie herausfand, was geschehen war …«

»Ein bißchen?« murmelte Oscagne. »Es bedurfte zwölf Mann, sie zu beruhigen. Sie ist in ihrer Kammer, Domi Kring – ans Bett gekettet, um ehrlich zu sein. Wir haben dort einige Wachen abgestellt, um zu verhindern, daß sie sich selbst etwas antut.« Kring drehte sich wortlos um und verließ Melideres Schlafgemach.

»Wir ermüden Euch, Baroneß, nicht wahr?« fragte Sarabian besorgt.

»Nicht im geringsten, Majestät«, erwiderte Melidere ruhig. Sie ließ den Blick über ihre Besucher schweifen. »Es ist ein wenig eng hier. Wie wär's, wenn wir uns in den Salon zurückziehen? Ich könnte mir vorstellen, daß wir uns noch die ganze Nacht die Köpfe über diese Sache zerbrechen. Da könnten wir es uns auch ein bißchen bequemer machen.« Sie warf die Decken zurück und wollte aus dem Bett steigen. Stragen hielt sie sanft zurück. Dann hob er sie hoch.

»Ich bin nicht zu schwach, meine Beine zu bewegen, Stragen!« protestierte Melidere. »Solange ich in der Nähe bin, werde ich Euch jede Anstrengung ersparen.« Eisige Wut hatte Stragens übliche höfliche Miene verdrängt. Auch er ließ den Blick über die anderen wandern. »Eines möchte ich von vornherein klarstellen, meine Herren. Wenn wir diese Halunken erwischen, gehört Elron mir! Sollte jemand anderes ihn versehentlich töten, wäre ich sehr, sehr böse!«

Baroneß Melidere machte einen höchst zufriedenen Eindruck und lächelte leicht, als sie den Kopf an Stragens Schulter bettete.

Caalador wartete im Salon auf die anderen. Seine Knie und Ellbogen waren schmutzig, und Spinnweben klebten in seinem Haar. »Ich habe es gefunden, Majestät«, meldete er dem Kaiser. »Es kommt aus dem Keller unter der Kaserne, in der die Ordensritter einquartiert waren.« Dann warf er einen prüfenden Blick auf Sperber. »Ich habe gehört, daß Ihr zurück seid. Es ist uns gelungen, einige Informationen für Euch zusammenzutragen.«

»Das weiß ich zu würdigen, Caalador«, bedankte sich Sperber. Die beinahe unmenschliche Ruhe des großen Pandioners machte den anderen insgeheim ziemlich zu schaffen.

»Nach dem Anschlag auf die Baroneß war Stragen mit den Gedanken stets woanders; deshalb mußte ich mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken vorgehen. Ich habe ein paar sehr direkte Schritte unternommen. Es waren ausschließlich meine eigenen Ideen, gebt ihm also nicht die Schuld daran.« »Schon gut, Caalador.« Stragen legte Melidere behutsam eine Decke um die Schultern. »Was du getan hast, hat meine volle Billigung.«

»Gehe ich recht in der Annahme, daß es zu Greueltaten kam?« fragte Ulath. »Laßt mich ganz von vorn beginnen«, bat Caalador. Er strich mit beiden Händen durchs Haar, um die Spinnweben herauszuklauben. »Einer der Männer, die auf unserer Erntedank-Liste standen, konnte meinen Meuchlern entkommen. Er schickte mir eine Nachricht, in der er mir als Gegenleistung für sein Leben Informationen anbot. Ich erklärte mich einverstanden und erfuhr Dinge, von denen ich nichts geahnt hatte. Wir wußten zwar, daß sich unter den Rasenflächen der Schloßanlage Tunnels befinden, wir wußten aber nicht, daß ähnliche Geheimgänge unter der gesamten Stadt verlaufen. So konnten Krager und seine Kumpane unbemerkt in die Schloßanlage gelangen und die Königin mit ihrer Leibmagd ebenso unbemerkt hinausbringen.«

»Einen Moment, guter Meister Caalador«, warf Xanetia ein. »Ich habe in das Gedächtnis des Innenministers geblickt. Von solchen Tunnels wußte er nichts, das ist sicher.«

»Das dürfte nicht schwer zu erklären sein, Anarae«, meinte Patriarch Emban. »Ehrgeizige Untergebene verbergen häufig wichtige Erkenntnisse vor ihren Vorgesetzten. Teovin, der Leiter der Geheimpolizei, hatte wahrscheinlich ein Auge auf Kolatas Amt geworfen und sah sich schon als dessen Nachfolger.«

»So ist es wahrscheinlich, Eminenz«, pflichtete Caalador ihm bei. »Jedenfalls wußte mein Informant, wo wenigstens einige dieser Tunnels verliefen, und ich schickte Männer hinunter, um Ausschau nach weiteren Gängen zu halten, während ich verschiedene ehemalige, jetzt verhaftete Angehörige der Geheimpolizei verhörte. Meine Methoden waren ziemlich direkt. Diejenigen, die das Verhör überlebten, wurden plötzlich sehr mitteilsam.

In jener Nacht, als die Königin entführt wurde, herrschte in den Tunnels reger Verkehr. Die Diplomaten aus der befestigten cynesganischen Botschaft wußten von dem Plan. Ihnen war klar, daß wir die Mauern niederreißen würden, sobald wir entdeckten, daß die Königin verschwunden war. Also versuchten die Botschaftsangestellten, durch die Tunnels zu entkommen. Aber ich hatte bereits meine Männer in diese Rattenlöcher geschickt. Es kam zu einigen ziemlich lauten Begegnungen, und wir erwischten sämtliche Botschaftsleute. Entweder nahmen wir sie fest, oder wir töteten sie. Der Botschafter selbst blieb am Leben und durfte miterleben, wie ich einige Untersekretäre verhörte. Ich mag Königin Ehlana sehr, deshalb habe ich die Leute ziemlich hart angepackt.« Er blickte Sephrenia an. »Ich glaube nicht, daß ich in Einzelheiten gehen muß«, fügte er hinzu. »Danke«, murmelte Sephrenia.

»Der Botschafter wußte nicht sehr viel«, fuhr Caalador fort, und es hörte sich beinahe wie eine Entschuldigung an, »aber er hat mir immerhin gesagt, daß Scarpa und seine Kumpane sich in den Süden begeben – was stimmen kann oder auch nicht. Seine Majestät ließ jedenfalls die Häfen Micae und Saranth schließen und schickte vorsichtshalber atanische Patrouillen auf die Straße von Tosa bis zur Küste. Noch konnten wir die Entführer nicht entdecken, also ist Scarpa uns entweder weit voraus, oder er hat sich vorerst irgendwo in der Nähe verkrochen.«

Die Tür schwang auf, und mit finsterer Miene schloß Kring sich den Gefährten an. »Hast du Mirtai losgekettet?« fragte Tynian.

»Das wäre keine sehr gute Idee, Freund Tynian. Sie fühlt sich persönlich für die Entführung der Königin verantwortlich und will sich umbringen. Ich habe sämtliche Gegenstände mit scharfen Ecken und Kanten aus ihrer Kammer entfernen lassen, aber Mirtai bereits von den Ketten zu befreien, halte ich nicht für ratsam.«

»Habt Ihr auch daran gedacht, ihr den Löffel wegzunehmen?« fragte Talen. Krings Augen weiteten sich. »O Gott!« entfuhr es ihm, und er flitzte zur Tür. »Wenn er wenigstens schreien oder mit den Fäusten an die Wand hämmern oder irgendwas in der Art tun würde«, sagte Berit am nächsten Morgen zu Khalad, als sie sich wieder im blauen Salon versammelt hatten. »Statt dessen sitzt er einfach nur so da!«

»Sperber behält seine Gefühle für sich. Er läßt sich vor den anderen nicht gehen«, erwiderte Khalad.

»Es geht um seine Frau, Khalad! Aber er sitzt da wie ein Klotz, als würde er so etwas wie Gefühle überhaupt nicht kennen!«

»Er ist nicht so gefühllos, wie es den Anschein hat. Aber zur Zeit ist es für ihn viel wichtiger nachzudenken, als sich seinen Gemütsbewegungen hinzugeben. Er hört zu und fügt alles zusammen. Seine Gefühle spart er sich auf, bis er Scarpa erwischt hat.«

Sperber saß, seine Tochter auf dem Schoß, in einem Sessel. Er schien ins Leere zu starren und streichelte abwesend Prinzessin Danaes Katze.

Hochmeister Vanion berichtete dem Kaiser und den anderen von Klæl sowie von ihrer strategischen Aufteilung der Streitkräfte: Die Trolle in den Tamulischen Bergen im südlichen Mitteltamuli, die Ataner in Sarna, und Tikumes Peloi in Samar. Flöte saß still auf Sephrenias Schoß. Berit bemerkte etwas, das ihm bisher nie aufgefallen war. Zuerst blickte er nachdenklich auf Prinzessin Danae, dann auf die Kindgöttin. Sie schienen etwa gleichaltrig zu sein, und in Haltung und Benehmen ähnelten sie einander sehr.

Daß die Kindgöttin bei ihnen war, hatte eine seltsame Wirkung auf Kaiser Sarabian. Ihre Anwesenheit machte den brillanten, jedoch oft launischen Herrscher des Kontinents offenbar sprachlos. Unentwegt starrte er sie an. Sein Gesicht war bleich, und es hatte nicht den Anschein, als würde er auch nur eines von Hochmeister Vanions Worten vernehmen.

Schließlich wandte Aphrael sich ihm zu und starrte ihn ebenso durchdringend an, wie er sie.

»Hat deine Mutter dir nie gesagt, daß es unhöflich ist, jemanden anzustarren, Sarabian?« fragte sie.
»Benimm dich!« rügte Sephrenia.

»Er muß es wissen! Wenn ich angehimmelt werden möchte, dann schaffe ich mir ein Hündchen an.«

»Verzeiht, Göttin Aphrael«, entschuldigte sich der Kaiser. »Aber ich habe selten göttliche Besucher.« Noch einmal musterte er sie eingehend. »Ich hoffe, Ihr nehmt es mir nicht übel, aber Ihr seht Prinz Sperbers Tochter ungemein ähnlich. Habt Ihr die königliche Prinzessin bereits kennengelernt?«

Als wäre ihm ein plötzlicher Einfall gekommen, riß Sperber mit einem seltsamen, wilden Ausdruck in den Augen jäh den Kopf hoch.

»Nun, da Ihr es erwähnt – nein.« Flöte schaute zur Prinzessin hinüber. Berit fiel auf, daß auch Sephrenia ein wenig wirr dreinblickte, als Flöte sich von ihrem Schoß rutschen ließ und zu Sperbers Sessel hinübertrippelte. »Hallo, Danae«, sagte die Kindgöttin gleichmütig.

»Hallo, Aphrael!« erwiderte die Prinzessin in beinahe gleichem Tonfall. »Wirst du etwas unternehmen, daß meine Mutter wieder heimkommt?«

»Ich bin schon dabei. Kümmere du dich um deinen Vater, damit er seine unterdrückte Wut auch weiterhin im Zaum hält. Er nutzt keinem von uns, wenn er in Raserei gerät und wir ihn dann beruhigen müssen.«

»Ich weiß. Ich werde tun, was ich kann. Möchtest du meine Katze auf den Arm nehmen?«

Flöte warf einen Blick auf Murr, deren Augen tiefstes Entsetzen verrieten. »Laß nur«, lehnte sie ab. »Ich glaube, sie mag mich nicht.«

»Ich werde mich um meinen Vater kümmern«, versprach Danae der kleinen Göttin. »Kümmere du dich um die anderen.«

»Ja, das tue ich …« Aphrael hielt inne. »Ich glaube, wir werden gut miteinander auskommen. Hättest du was dagegen, wenn ich mich hin und wieder mal hier sehen ließe?«

»Überhaupt nicht. Du kannst kommen, wann immer du Lust hast, Aphrael.« Irgend etwas sehr Seltsames ging vor. Berit fand zwar nichts Ungewöhnliches an dem Gespräch der zwei kleinen Mädchen, doch Sperbers Gesicht – und Sephrenias – ließ keinen Zweifel daran, wie bestürzt beide waren. Berit behielt seine gleichmütige Miene bei und schaute in die Runde. Alle anderen lächelten nachsichtig, während sie die kleinen Mädchen beobachteten – alle außer Hochmeister Vanion und Anarae Xanetia, deren Gesichter nicht weniger angespannt waren als Sperbers und Sephrenias. Offenbar war soeben irgend etwas sehr Außergewöhnliches geschehen. Doch so sehr er auch darüber nachdachte, Berit kam beim besten Willen nicht darauf, was es gewesen sein könnte.

»Ich finde, wir sollten diese Möglichkeit nicht außer acht lassen«, sagte Oscagne ernst. »Baroneß Melidere hat ihren scharfen Verstand wiederholt bewiesen.« »Oh, danke, Exzellenz«, sagte Melidere entzückt.

»Ich habe es nicht als Kompliment gemeint, Baroneß«, entgegnete er gleichmütig. »Wir müssen uns in der jetzigen Lage Eurer Intelligenz bedienen, wenn wir einen Ausweg finden wollen. Im Unterschied zu uns habt Ihr Scarpa gesehen. Haltet Ihr seinen Verstand tatsächlich für verwirrt?«

»O ja, Exzellenz, Scarpa ist vollkommen unzurechnungsfähig! Das schließe ich nicht nur aus seinem Verhalten. Krager und die anderen haben ihn so vorsichtig wie eine Kobra behandelt. Sie haben Todesangst vor ihm!«

»Das bestätigt einige der Meldungen, die ich aus der arjunischen Unterwelt erhielt«, warf Caalador ein. »Falls auch nur ein Teil der Berichte stimmen, ist Scarpa tatsächlich ein unberechenbarer Irrer.«

»Wenn Ihr versucht, Sperber und mich zu beruhigen, geht Ihr das auf seltsame Weise an, Caalador«, tadelte Kalten. »Ihr laßt durchblicken, daß die Frauen, die wir lieben, Gefangene eines Verrückten sind! Er ist zu allem fähig!«

»Vielleicht ist es nicht ganz so schlimm, wie es aussieht, Ritter Kalten«, meinte Oscagne. »Falls Scarpa nicht bei Verstand ist, wäre es da nicht möglich, daß die Entführung ganz allein seine Idee war? In diesem Fall wäre die Lösung des Problems sehr einfach. Prinz Sperber müßte lediglich die Anweisungen im nächsten Brief genau befolgen. Wenn Scarpa dann mit Königin Ehlana und Alean erscheint, brauchte Sperber ihm bloß Bhelliom auszuhändigen. Wir alle wissen, was Scarpa zustößt, sobald er den Stein berührt!«

»Ihr verwechselt Irrsinn mit Schwachsinn, Oscagne«, widersprach Sarabian. »So läuft die Sache bestimmt nicht ab! Zalasta weiß, daß die Ringe ihn schützen würden, falls es ihm je gelänge, Bhelliom in seinen Besitz zu bringen; deshalb müssen wir davon ausgehen, daß auch Scarpa Kenntnis davon hat. Er wird die Ringe verlangen, bevor er auch nur versucht, die Saphirrose zu berühren.«

»Demnach gibt es drei Möglichkeiten«, folgerte Patriarch Emban. »Entweder hat Cyrgon Zalasta angewiesen, die Entführung vorzunehmen, oder Zalasta hatte diese Idee selbst, oder Scarpa ist so vom Wahn besessen, daß er sich einbildet, Bhelliom würde ohne weiteres seinen Befehlen gehorchen.«

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit, Eminenz«, warf Ulath ein. »Vielleicht hat Klæl bereits gewissermaßen das Kommando übernommen und zwingt Bhelliom, zu ihrem gewohnten Zweikampf zu ihm zu kommen.«

»Was macht das jetzt schon aus?« fragte Sperber plötzlich unerwartet. »Wessen Idee es ist, werden wir erst erfahren, wenn der Betreffende kommt, um den Austausch vorzunehmen.«

»Aber wir täten gut daran, einige Pläne auszuarbeiten, Prinz Sperber«, erklärte Oscagne. »Wir sollten jede Situation durchdenken, damit wir wissen, was zu tun ist.« »Ich weiß bereits, was ich tun werde, Exzellenz«, versicherte Sperber ihm düster. »Im Augenblick können wir gar nichts unternehmen«, warf Vanion schnell ein. »Vielleicht kann der nächste Brief uns Hinweise geben, wessen Idee es wirklich ist.« »Dir ist es auch aufgefallen, nicht wahr?« fragte Berit an diesem Abend Khalad, als sie sich daran machten, zu Bett zu gehen. »Was aufgefallen?«

»Du weißt genau, was ich meine, Khalad. Du siehst doch sonst alles, was sich um dich herum tut. Nichts entgeht dir. Sperber und Sephrenia haben sich sehr ungewöhnlich verhalten, als Flöte und Danae sich unterhielten.« »Stimmt«, gab Khalad gelassen zu. »Na und?« »Interessiert dich denn gar nicht, weshalb?«

»Dir ist wohl noch nicht der Gedanke gekommen, daß dieses ›Weshalb‹ uns nichts angeht?«

Berit ignorierte die Bemerkung. »Ist dir auch aufgefallen, wie sehr die zwei kleinen Mädchen sich ähneln?«

Khalad zuckte die Schultern. »Du bist der Sachverständige für Mädchen.«

Berit errötete heftig und verwünschte sich deshalb insgeheim.

»Du brauchst nicht rot zu werden«, fuhr Khalad fort. »Das ist kein Geheimnis. Kaiserin Elysoun verbirgt ihre Gefühle ebensowenig wie ihren – nun, du weißt schon was.«

»Sie ist ein anständiges Mädchen!« verteidigte Berit die Kaiserin hitzig. »Ihr Volk hat eben andere Moralvorstellungen als das unsere. Treue ist für sie ein Fremdwort, aber es ist nichts Sündhaftes dabei.«

»Das habe ich auch nicht behauptet. Außerdem – wenn ihr Gemahl sich nicht an ihrem Benehmen stört, warum sollte ich es tun? Außerdem bin ich vom Lande. Wir sind in solchen Dingen realistischer. Ich möchte nur nicht, daß du dein Herz zu sehr an sie hängst, Berit. Es könnte ja sein, daß Elysoun mit der Zeit andere Männer besser gefallen.«

»Es ist bereits soweit«, erwiderte Berit. »Aber deshalb will sie unsere Freundschaft nicht beenden. Sie möchte zu mir und zu ihm freundlich sein – und zu dem halben Dutzend anderen, die zu erwähnen sie zuvor vergessen hatte.«

»Die Welt braucht mehr Freundschaft, Berit.« Khalad grinste. »Würden die Menschen freundlicher miteinander umgehen, gäbe es nicht so viele Kriege.« Kragers nächster Brief traf zwei Tage später ein, und wieder wurde seine Echtheit mit einer Locke Ehlanas bestätigt. Der Gedanke, daß der widerliche Säufer mit seinen schmutzigen Händen das platinblonde Haar seiner Königin schändete, erzürnte Berit über alle Maßen. Wieder las Vanion den Brief laut vor, während Sperber ein Stück abseits saß und zärtlich die Locke seiner Gemahlin hielt.

»›Sperber, alter Junge‹«, begann das Schreiben, »›es macht Euch doch nichts aus, wenn ich Euch so nenne, oder? Ich habe es stets bewundert, wenn Martel mit seinen lockeren Sprüchen und dieser respektlosen Anrede daherkam, sobald alles zu seiner Zufriedenheit verlief. Das war allerdings so ziemlich das einzige, das ich an ihm bewunderte. – Doch genug dieser nostalgischen Erinnerungen. Ihr werdet eine Reise machen, Sperber. Wir möchten, daß Ihr und Euer Knappe den üblichen Landweg nach Beresa in Südostarjuna nehmt. Ihr werdet die ganze Zeit beobachtet; also macht keine Abstecher und erlaubt nicht, daß Kalten und die anderen Affen Euch heimlich folgen! Laßt auch nicht zu, daß Sephrenia sich als Mäuschen oder als Floh verwandelt in einer Eurer Taschen versteckt. Und benutzt Bhelliom auf gar keinen Fall, nicht einmal, um ein Lagerfeuer zu entfachen! Ich weiß, daß wir uns auf Euch verlassen können, alter Junge, da Ihr Ehlana nicht mehr lebend wiederseht, wenn Ihr nicht tut, was wir Euch sagen.

Es ist stets eine Freude, sich mit Euch zu unterhalten, Sperber, besonders, wenn Euch die Hände gebunden sind, wie diesmal. Vergeudet keine Zeit mehr! Nehmt Khalad und den Bhelliom und begebt Euch nach Beresa. Dort erhaltet Ihr weitere Anweisungen. Mit freundlichen Grüßen Krager.‹«