27

»Sie sind jetzt außer Sichtweite«, zischte Talen. »Schnell, holt ihr die Karre!« Kalten und Sperber sprangen aus den Büschen, schnappten sich die halb mit Brennholz beladene Karre und zogen sie außer Sicht. Es war gegen Mittag. »Ich finde immer noch, daß es eine vollkommen verrückte Idee ist!« brummte Kalten. »Angenommen, man hält uns tatsächlich nicht auf, wenn wir versuchen durchs Tor zu gehen – dann bleibt immer noch die Frage, wie wir unsere Waffen und Kettenhemden abladen sollen, ohne gesehen zu werden? Und wie wollen wir aus den Sklavenpferchen kommen, um sie uns zu holen?« »Vertraut mir.« »Dieser Junge wird noch mein Sargnagel!« stöhnte Kalten.

»Es könnte uns durchaus gelingen, den Plan in die Tat umzusetzen, Kalten«, meinte Bevier. »Xanetia sagte, daß die cynesganischen Aufseher kaum auf die Sklaven achten. Aber jetzt sollten wir erst einmal zusehen, daß wir diese Karre wegschaffen, bevor die Burschen, denen sie gehört, zurückkehren und feststellen, daß sie verschwunden ist.«

Sie zogen die wacklige, zweirädrige Karre den schmalen Pfad entlang zu der Stelle, wo Xanetia und Mirtai sich im Gebüsch versteckt hatten. »Seht, seht«, sagte Mirtai trocken in ihrem Versteck, »unsere Helden kehren mit der Kriegsbeute zurück.« »Ich liebe Euch, kleine Schwester«, entgegnete Sperber, »aber Ihr habt eine zu spitze Zunge! Kalten hat vielleicht nicht ganz so unrecht. Die cynesganischen Aufseher mögen vielleicht zu dumm sein, zu bemerken, was wir tun, doch den Sklaven fällt es wahrscheinlich auf. Und der erste, der den Mund auftut, erntet womöglich eine Menge Aufmerksamkeit.«

»Ich arbeite schon dran, Sperber«, erklärte der Junge in der gedehnten Sprechweise Caaladors. Er kniete nieder und begutachtete die Unterseite der Karre. »Kein Problem«, sagte er zuversichtlich, stand wieder auf und bürstete sich den Schmutz von den nackten Knien. Die Gefährten hatten die cynesganischen Roben ein wenig umgeändert, indem sie die Ärmel und Kapuzen entfernt und die Gewänder über den Knien abgeschnitten hatten. Die so entstandenen Kleidungsstücke ähnelten den Kitteln der Sklaven, die auf den Feldern und in den Wäldern um Cyrga arbeiteten. Während die anderen sich im Wald verteilten, um von den Sklaven gehauenes Brennholz zu stehlen, blieb Talen zurück und werkelte an der Unterseite der Karre herum. Bis er damit fertig war, hatten die anderen einen beachtlichen Haufen Holz zusammengetragen. Als Sperber wieder einmal mit einem Armvoll Brennholz zurückkehrte, beendete der Junge gerade seine Arbeit. »Möchtet Ihr Euch das ansehen, Sperber?« fragte er unter der Karre hervor.

Sperber kniete nieder, um des jungen Diebes Werk zu begutachten. Talen hatte die Enden geschmeidiger Gerten zwischen den Bodenbrettern der Karre verkeilt und sie dann zu einem flachen Korb geflochten, der nun an der Unterseite des Fuhrwerks hing und kaum zu sehen war. »Bist du sicher, daß er sich nicht löst oder auseinanderfällt, wenn die Karre zu sehr holpert?« erkundigte Sperber sich skeptisch. »Es könnte sehr peinlich werden, falls unsere Waffen und Kettenhemden sich selbständig machen, wenn wir die Karre gerade durchs Tor ziehen.«

»Ich setze mich selbst hinein, wenn Ihr möchtet«, sagte Talen.

Sperber brummte: »Binde die Schwerter zusammen, damit sie nicht klappern, und stopf Gras in und zwischen die Kettenhemden, um zu verhindern, daß sie rasseln.« »Jawohl, glorreicher Führer. Und wie viele weitere Dinge, um die ich mich bereits gekümmert habe, wollt Ihr mich noch erledigen lassen?«

»Tu ganz einfach alles, was du davon noch nicht getan hast, Talen, und halte keine schlauen Reden!«

»Versteht es nicht falsch, Mirtai!« sagte Kalten, »aber Eure Beine sind nun mal schöner als die meinen.«

Mirtai hob ganz leicht einen Zipfel ihres Kittels, betrachtete kritisch ihre langen, bronzefarbenen Beine und dann Kaltens behaarte Gehwerkzeuge. »Na ja«, meinte sie.

»Ich will damit sagen, daß die Beine nicht so auffällig wären, würdet Ihr sie ein bißchen mit Schlamm bestreichen. Ich glaube nicht, daß die Torwächter blind sind, und wenn einer Eure hübschen Knie mit den netten Grübchen sieht, wird ihm wahrscheinlich klar, daß Ihr kein Mann seid. Und dann entschließt er sich vielleicht, der Sache nachzugehen.« »Das soll er besser bleibenlassen!« sagte sie eisig.


»Es sind nicht so viele Baue von Menschendingen an diesem Ort, wie es in dem Ort Sopal oder dem Ort Arjun gewesen waren«, bemerkte Bhlokw, als er und Ulath auf das Dorf Zhubay hinunterblickten. Es hatte den Anschein gehabt, daß sie mehrere Tage unterwegs gewesen waren, doch sie alle wußten es besser.

»Stimmt«, bestätigte Ulath. »Es ist ein kleinerer Ort mit weniger Menschendingen.« »Aber es gibt viele Baue aus Stoff auf der anderen Seite vom Wasserloch.« Der Troll deutete auf die große Zeltstadt auf der gegenüberliegenden Seite der Oase. »Dort sind jene, die wir jagen«, erklärte Ulath.

»Bist du sicher, daß wir diese Menschendinge töten und essen dürfen?« vergewisserte sich Bhlokw. »Du und Tin-jan habt es mich weder an dem Ort Sopal noch dem Ort Arjun tun lassen, nicht einmal an dem Ort Nat-os«

»Hier ist es erlaubt. Wir haben Köder ausgelegt, um sie zu diesem Ort zu locken, damit wir sie als Futter jagen können.«

»Was für Köder nimmst du, um Menschendinge anzulocken?« fragte Bhlokw interessiert. »Wenn der Verstand der Götter je wieder gesund wird und sie uns wie früher Menschendinge jagen lassen, wäre es gut, das zu wissen.«

»Die Köder sind Gedanken, Bhlokw. Die Menschendinge in den Bauen-aus-Stoff sind zu diesem Ort gekommen, weil einige unserer Rudelkameraden es ihren Gedanken eingaben, daß die großen Menschendinge mit der gelben Haut hier sein werden. Jene in den Bauen-aus-Stoff sind hierher gekommen, um gegen die Großen mit gelber Haut zu kämpfen.«

Bhlokws Gesicht verzog sich zu einem gräßlichen Grinsen. »Das ist ein guter Köder, U-lat«, lobte er. »Ich werde jetzt Ghworg und Ghnomb rufen und ihnen sagen, daß wir jagen werden. Wie viele von ihnen dürfen wir töten und essen?« »Alle, Bhlokw. Alle.«

»Das ist kein guter Gedanke, U-lat. Wenn wir sie alle töten und essen, können sie sich nicht fortpflanzen, und es wird keine neuen zum Jagen geben. Der gute Gedanke ist immer, genügend weglaufen zu lassen, damit sie neue gebären können und die Zahl ihrer Herde gleichbleibt. Wenn wir sie jetzt alle essen, wird es bald gar keine mehr geben.«

Ulath dachte über Bhlokws Worte nach, während dieser die kurze Trollbeschwörung rief, mit der er Ghworg und die anderen herbeiholte. Er beschloß, nicht darauf einzugehen. Die Trolle waren Jäger, keine Krieger, und hatten von ihrem Standpunkt aus recht.

Im grauen Licht der Nichtzeit hielt Bhlokw eine längere Rücksprache mit den gewaltigen Erscheinungen seiner Götter. Dann hob er sein grobschlächtiges Gesicht und rief die Trolle.

Während Ulath und Tynian im stahlgrauen Licht der gefrorenen Zeit von der Hügelkuppe zuschauten, schien die riesige zottige Masse vom Berg hinunterzufließen, auf die Ortschaft und den Wald aus Zelten jenseits der Oase zu. Die Trolle bildeten zwei Gruppen und ließen die Ortschaft zwischen sich liegen, um zu den cynesganischen Zelten zu gelangen. Dort schwärmten sie einzeln aus, und jede der mächtigen Bestien erwählte seine Beute. Dann, offenbar auf ein Zeichen Bhlokws, flackerte das kalte Licht, und die Sonne kehrte zurück.

Natürlich gellten Schreie; aber das war zu erwarten gewesen. Auf der ganzen Welt gab es wohl kaum jemanden, der nicht schreien würde, wenn ein ausgewachsener Troll plötzlich aus dem Nichts vor ihm erscheint.

Das Gemetzel auf dem riesigen Schlachtplatz jenseits der Oase war grauenvoll, da die Trolle nicht die Absicht hatten, gegen die Cynesganer zu kämpfen, sondern sie – in Vorfreude auf das nachfolgende köstliche Mahl – zu zerreißen.

»Einige entkommen«, bemerkte Tynian und deutete auf eine größere Schar panikerfüllter Cynesganer, die ihre Pferde verzweifelt peitschten und nach Süden trieben.
Ulath zuckte die Schultern.
»Zuchttiere«, brummte Ulath.
»Wie bitte?«

»Das ist bei Trollen so üblich, Tynian. Es ist für sie die Garantie, daß die Nahrungskette nicht unterbrochen wird. Würden die Trolle sie heute alle verzehren, wären keine übrig, wenn morgen der Magen knurrt.«

Tynian schüttelte sich angewidert. »Was für eine grauenhafte Vorstellung, Ulath!« »Ja, ein wenig schon. Aber es zeugt von vornehmer Gesinnung, wenn man die Sitten und Gebräuche seiner Verbündeten achtet, findest du nicht?«

Nachdem auch das letzte Zelt niedergetrampelt und für die Arterhaltung gesorgt war, ließen die Trolle sich zu ihrem Festmahl nieder. Die cynesganische Bedrohung im Norden war beseitigt, und die Trolle konnten sich nun satt und zufrieden dem Marsch auf Cyrga anschließen.


Khalad setzte sich plötzlich auf und schlug seine Decken zurück. »Berit!« rief er scharf.
Berit erwachte sofort und griff nach dem Schwert.
»Nicht nötig!« versicherte Khalad ihm. »Es wird jetzt nicht gebraucht. Weiß du, was Schlagwetter ist?«
»Nie gehört.« Berit gähnte und rieb sich die Augen.

»Dann werde ich selbst mit Aphrael reden müssen. Wie lange wird es dauern, bis du mir den Zauber beigebracht hast?«

»Kommt darauf an. Kannst du Aphrael nicht durch mich übermitteln, was du ihr zu sagen hast?«

»Nein. Ich habe ein paar Fragen an sie, und du würdest nicht verstehen, wovon ich rede. Ich muß persönlich mit ihr sprechen. Es ist sehr wichtig, Berit! Ich brauche die Sprache doch nicht zu verstehen, um die Worte nachzusprechen, oder?« Berit runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher.«

»Versuchen wir's. Dann sehen wir schon, ob ich sie erreichen kann.«

Sie brauchten fast zwei Stunden. Berit, dem die Lider immer schwerer wurden, weil er dringend mehr Schlaf brauchte, wurde zuletzt ziemlich gereizt.

»Ich werde die Worte nie richtig aussprechen«, sagte Khalad schließlich. »Ich kann tun was ich will, ich schaffe es nie, meine Zunge so zu verdrehen, daß solche Laute herauskommen. Laß es uns einfach so versuchen und hoffen, daß es klappt.« »Du wirst sie verärgern!« warnte Berit.

»Sie wird es überleben. Ich probier' es jetzt!« Khalad begann zögernd, den Zauber zu sprechen, und seine Finger vollführten stockend die begleitenden Gesten. »Was, in aller Welt, soll das, Khalad?« Aphraels Stimme flüsterte fast in seinem Ohr. »Tut mir leid, Flöte«, entschuldigte er sich, »aber es ist wirklich sehr dringend.« »Berit ist doch nichts zugestoßen, oder?« fragte sie besorgt.

»Nein, es geht ihm gut. Aber ich muß unbedingt selbst mit dir reden. Weißt du, was Schlagwetter ist?«

»So etwas geschieht in Kohlebergwerken, wenn Grubengas sich mit Luft mischt.« »Du hast gesagt, daß Klæls Soldaten so etwas Ähnliches wie Sumpfgas atmen.« »Stimmt. Aber warum willst du das wissen? Ich bin zur Zeit sehr beschäftigt.« »Hab Geduld, Göttin. Mir ist es selbst noch nicht ganz klar. Berit hat dir doch mitgeteilt, daß wir einige von diesen Fremden in eine Höhle laufen sahen, nicht wahr?« »Ja, aber ich weiß trotzdem nicht, was …«

»Ich dachte, Klæl hätte diese Höhle mit Sumpfgas gefüllt, damit seine Soldaten darin atmen können. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht war das Gas bereits darin.«
»Würdest du bitte zur Sache kommen!«

»Wäre es möglich, daß Grubengas und Sumpfgas ziemlich ähnlich sind?«

Aphrael stieß einen ihrer aufreizend übergeduldigen Seufzer aus. »Sehr ähnlich, Khalad – was nur zu verständlich ist, da es sich um ein und dasselbe Gas handelt.«
»Ich liebe dich, Aphrael!« Er lachte erfreut.
»Womit habe ich das denn verdient?«

»Ich wußte, daß es irgendeine Verbindung gibt! Das hier ist eine Wüste, in der es wahrhaftig keine Sümpfe gibt. Ich hab' mir den Kopf darüber zerbrochen, woher Klæl das Sumpfgas nahm, um diese Höhle zu füllen. Aber das mußte er gar nicht, habe ich recht? Wenn Sumpfgas dasselbe ist wie Grubengas, brauchte er nur eine Höhle mit einer Kohleader zu finden.«

»Na also. Darf ich mich jetzt, da ich deine Fragen beantwortet und deine wissenschaftliche Neugier befriedigt habe, endlich zurückziehen?«

»Eine kleine Frage noch, Göttin Aphrael.« Khalad rieb sich zufrieden die Hände. »Könntest du nicht ein bißchen von unserer Luft in diese Höhle pusten, damit die Luft sich mit dem Grubengas vermischt, das diese Soldaten einatmen?«

Nach einer langen Pause rief Aphrael bestürzt. »Das wäre ja entsetzlich, Khalad!« »Und was Hochmeister Abriel und Hochmeister Vanions Rittern widerfuhr – war das etwa nicht entsetzlich?« erwiderte er unbeirrt. »Wir führen einen Krieg, Aphrael, den wir unbedingt gewinnen müssen! Wenn Klæls Soldaten in solche Höhlen fliehen können, um Luft zu holen, werden sie wieder herausstürmen und unsere Freunde angreifen, kaum daß wir abgezogen sind. Das wäre jetzt eine Möglichkeit, sie unschädlich zu machen! Kannst du uns zu der Höhle zurückbringen, in der wir die Soldaten gesehen haben?« »Wenn es unbedingt sein muß«, antwortete sie. »Worüber hast du mit ihr gesprochen?« wollte Berit wissen.

»Über eine Möglichkeit, den Krieg zu gewinnen, Berit. Packen wir unsere Sachen zusammen. Aphrael wird uns zur Höhle zurückbringen.«


»Kommen sie immer noch?« rief Vanion Ritter Endrik zu, der ein Stück hinter den anderen ritt.

»Ja, Eminenz!« brüllte Endrik. »Aber einige fallen bereits zurück.«

»Gut. Offenbar verläßt sie schon die Kraft.« Vanion blickte über die vor ihnen liegende steinige Öde. »Wir haben genug Platz«, versicherte er Sephrenia. »Wir führen sie hinaus auf die Ebene und hetzen sie eine Weile herum.« »Das ist grausam, Vanion«, schimpfte sie.

»Sie müssen uns ja nicht folgen, Liebste.« Er richtete sich in den Steigbügeln auf. »Etwas schneller, meine Herren!« forderte er seine Ritter auf. »Ich möchte, daß diese Teufel ordentlich ins Schwitzen kommen!«

Die Ritter trieben ihre Pferde zum Galopp an und lenkten sie hinaus auf die weite Ebene.

»Sie halten an!« rief Ritter Endrik, der noch immer die Nachhut bildete, nach einer guten halben Stunde.

Vanion befahl mit erhobener Hand, ebenfalls anzuhalten. Dann zügelte er sein Pferd und blickte sich um.

Die maskierten Riesen hatten die Verfolgung aufgegeben und rannten nun stolpernd nach Westen auf Felsen zu, die einige Meilen entfernt waren.

»Das ist es, was bisher alle verwirrte«, erklärte er Sephrenia. »Wie wir von Aphrael wissen, haben die anderen die gleiche Erfahrung gemacht. Klæls Soldaten nehmen eine Zeitlang die Verfolgung auf, brechen sie plötzlich ab und stürmen auf die nächsten Berge zu. Welche Hilfe erwarten sie, dort zu finden?« »Ich habe keine Ahnung, Liebster.«

»Das ist ja alles schön und gut«, sagte Vanion stirnrunzelnd, »aber wenn wir unseren Marsch auf Cyrga beginnen, werden wir keine Zeit haben, die Ungeheuer hinter uns herzulocken, bis sie erschöpft sind. Und nicht nur das – Klæl wird sie wahrscheinlich zu größeren Einheiten zusammenziehen, als wir bisher gesehen haben. Wenn uns nicht bald etwas einfällt, wie wir sie auf Dauer unschädlich machen können, stehen unsere Chancen nicht sehr gut, Cyrga lebend zu erreichen.«

»Hochmeister Vanion!« rief ein Ritter erschrocken. »Da kommen noch mehr von diesen Ungeheuern!«
»Wo?« Vanion schaute sich um.
»Aus dem Westen.«

Vanion blickte den Fliehenden nach. Da sah er sie! Auf der Ebene befanden sich zwei Regimenter von Klæls Soldaten! Das erste, das sie hinter sich hergelockt hatten, taumelte stolpernd auf die Berge am Horizont zu. Das andere jedoch kam ihnen von jenen Bergen entgegen und zeigte keine Spur von Erschöpfung.


»Das ist geradezu lächerlich!« murmelte Talen, während er mit geschickten Fingerspitzen das Vorhängeschloß an seiner Kette betastete.

»Du hast behauptet, daß du sie aufkriegst!« flüsterte Kalten bestürzt.

»Kalten, die würdet sogar Ihr aufkriegen. Das sind die lächerlichsten Schlösser, die mir je untergekommen sind!«

»Es genügt, wenn du sie öffnest, Talen«, flüsterte Sperber. »Du brauchst keinen Vortrag zu halten. Wir müssen ja auch noch aus diesen Pferchen rauskommen!« Sie hatten sich unter die echten Holzfäller gemischt und waren in dem Moment, da die Sonne unterging, ohne den geringsten Verdacht zu erregen, durchs Tor von Cyrga gekommen.

Sie hatten die Sklaven zu einem freien Platz in der Nähe des Tores begleitet, ihre Karre auf einen der Holzhaufen entleert, die dort standen, und sie dann, wie die anderen, an eine steinerne Wand gelehnt. Anschließend waren sie wie fügsame Ochsen in den großen Sklavenpferch getrottet und hatten sich von cynesganischen Aufsehern an rostige Eisenringe an der hinteren Pferchwand ketten lassen. Die Gefährten hatten eine dünne, wäßrige Suppe gegessen und sich dann, um auf die Dunkelheit zu warten, in Haufen schmutzigen Strohs gelegt, das entlang der Mauer aufgehäuft war. Xanetia war nicht bei ihnen. Lautlos und ungesehen streifte sie inzwischen durch die Stadt.

»Haltet Euer Bein ruhig, Kalten!« zischte Talen. »Ich kann die Kette nicht entfernen, wenn Ihr so herumzappelt.«
»Entschuldige.«

Der Junge konzentrierte sich kurz, und schon schnappte das Schloß auf. Sofort kroch er durch das raschelnde Stroh zum nächsten Gefährten.

»Nimm dir keine Freiheiten heraus«, murmelte Mirtai in der Dunkelheit. »Verzeiht, ich habe nur nach eurem Fußgelenk getastet.« »Es ist am anderen Ende des Beins!«

»Ja, das ist mir inzwischen auch aufgefallen. Es ist dunkel, Atana. Ich kann nicht sehen, was ich tue!«

»He, was macht ihr da?« Es war eine winselnde, beinahe unterwürfige Stimme, die aus dem Stroh irgendwo hinter Kalten kam. »Das geht dich nichts an«, knurrte Kalten. »Schlaf weiter!«

»Ich will wissen, was ihr treibt. Wenn ihr es mir nicht sagt, ruf ich die Aufseher!« »Ihr bringt ihn besser zum Schweigen, Kalten!« murmelte Mirtai. »Es ist ein Spitzel!« »Ich kümmere mich darum«, versprach Kalten finster. Er schlich durch das raschelnde Stroh.

»Was machst du da?« fragte der Sklave mit der winselnden Stimme. »Wie bist du …« Seine Stimme erstarb, und plötzlich waren nur noch ein heftiges Umsichschlagen im Stroh und ein röchelndes Keuchen zu hören, das in einem würgenden Gurgeln endete.

»Was geht da draußen vor?« ertönte eine barsche Stimme aus den Unterkünften der Aufseher. Die Tür wurde aufgerissen, und Licht fiel auf den Hof.

Es erfolgte keine Antwort; nur noch ein heftiges Rascheln im Stroh erklang. Kalten atmete schwer, als er zu seinem Platz zurückkehrte, rasch die Kette um sein Fußgelenk wickelte und es mit Stroh bedeckte.

Sie warteten angespannt, doch der cynesganische Aufseher hatte offenbar nicht vor, wirklich nachzusehen. Er schloß die Tür hinter sich und tauchte den Hof dabei wieder in Dunkelheit.

»Passiert so was oft? Unter Sklaven, meine ich?« flüsterte Bevier Mirtai zu, während Talen sein Schloß öffnete.

»Ständig«, murmelte sie. »Unter Sklaven gibt es keinen Zusammenhalt. Für eine zusätzliche Scheibe Brot verrät einer den anderen.«
»Traurig.«

»Sklaverei? ›Traurig‹ ist wohl kaum das richtige Wort für diese Barbarei!« »Gehen wir«, forderte Sperber die Gefährten auf.

»Wie finden wir Xanetia?« flüsterte Kalten, während sie durch den Pferch schlichen »Wir sie gar nicht, aber sie uns.«

Talen hatte das Tor im Handumdrehen offen; dann schlichen sie alle auf die dunkle Straße hinaus bis zu dem großen Platz, wo das Brennholz aufgestapelt war. Dort hielten sie an, ehe sie ins Freie traten.

»Sieh dich um, Talen«, forderte Sperber ihn auf.

»Mach' ich.« Der junge Dieb verschmolz mit der Dunkelheit. Die anderen warteten angespannt.

»Die Luft ist rein«, hörten sie wenige Minuten später Talens Flüstern. »Die Karren stehen hier drüben.«

Sie folgten dem Klang seiner leisen Stimme und erreichten alsbald die Reihe der an der Wand lehnenden Holzkarren. »Hast du irgendwelche Wächter gesehen?« fragte Kalten.

»Wer würde schon die ganze Nacht aufbleiben, nur um Holzstöße zu bewachen?« Talen legte sich auf den Bauch und schlängelte sich unter die Karre. Ein schwaches Knarren der dicht geflochtenen Gerten des behelfsmäßigen Korbes war zu hören. »Da!« murmelte Talen, und eine Schwertspitze schlug gegen Sperbers Schienbein. Sperber griff nach dem Schwert und gab es Kalten; dann beugte er sich hinunter. »Reich es mit dem Knauf voraus an«, sagte er zu Talen. »Stich mich nicht noch mal mit der Spitze.«

»Tut mir leid.« Talen nahm die restlichen Waffen heraus; anschließend verteilte er die Kettenhemden und Kittel. Alle fühlten sich gleich besser, als sie wieder bewaffnet waren.
»Anakha?« Die Stimme war weich und sehr hell.

»Seid Ihr es, Xanetia?« Die Worte waren noch nicht ganz über Sperbers Lippen, als ihm bewußt wurde, wie dumm diese Frage war.

»Wahrlich«, antwortete sie. »Sehen wir zu, daß wir von hier wegkommen. Wer Heimliches im Sinne hat, der flüstert, und Flüstern ist des Nachts weithin zu vernehmen. Wir wollen fort sein, ehe jene, die diese schlafende Stadt bewachen, dem Ursprung unseres unvorsichtigen Gesprächs nachgehen.«


»Wir müssen ein Weilchen warten«, erklärte Khalad. »Aphrael bläst erst Luft in diese Höhle.«

»Bist du sicher, daß das etwas nutzen wird?« fragte Berit zweifelnd.

»Nein, eigentlich nicht. Aber einen Versuch ist es wert, nicht wahr?«

»Du weißt ja nicht einmal, ob sie sich überhaupt noch in der Höhle aufhalten.« »Das spielt keine so große Rolle. Ob ja oder nein – sie werden sich in Zukunft nicht mehr in der Höhle verstecken können.« Khalad wickelte vorsichtig einen mit Öl getränkten Lappen um einen Armbrustbolzen. Dann stellte er sich so, daß sein Körper die aufsprühenden Funken verbergen würde, und machte sich daran, Feuerstein und Stahl zusammenzuschlagen. Als sein Zunder Feuer gefangen hatte, brachte er eine Kerze zum Brennen und stellte diese vorsichtig hinter einen größeren Stein.

»Aphrael scheint nicht sehr glücklich darüber zu sein, Khalad«, sagte Berit, als ein kühler Wind aufkam.

»Ich war auch nicht sehr glücklich über das Schicksal Hochmeister Abriels«, entgegnete Khalad düster. »Ich hatte große Hochachtung vor dem alten Ritter, und diese gelbblütigen Ungeheuer haben ihn in Stücke gerissen.« »Dann handelst du aus Rache?«

»Nein, eigentlich nicht. Das ist nur die einfachste Methode, diese Bestien loszuwerden. Sag Aphrael, sie soll mir bitte Bescheid geben, wenn sich genug Luft in der Höhle befindet.«
»Wie lange wird das etwa dauern?«

»Ich habe keine Ahnung. Alle Bergleute, die damit in Berührung kamen, sind tot.«

Khalad kratzte sich am Kopf. »Ich weiß nicht so recht, was da drinnen passiert, Berit. Wenn Sumpfgas Feuer fängt, brennt es einfach weg, und die Flammen verlöschen. Grubengas ist ein bißchen wirkungsvoller.«

»Wozu eigentlich Luft in die Höhle blasen?« wollte Berit wissen.

Khalad zuckte die Schultern. »Feuer ist etwas Lebendiges. Es muß atmen können.« »Du vermutest das alles nur, oder? Du weißt nicht, ob es funktionieren wird oder nicht – und wenn, was geschehen wird, nicht wahr?«

Khalad lächelte dünn. »Na ja, praktisch habe ich mich mit diesem Problem noch nicht auseinandergesetzt.«

»Ich glaube, du bist verrückt. Du könntest mit diesem verrückten Experiment die ganze Wüste in Brand setzen.«
»Oh, dazu wird es vermutlich nicht kommen.«
»Vermutlich?«
»Es ist ziemlich unwahrscheinlich. Ich kann die Höhlenöffnung von hier gerade noch sehen. Ich werde es mal versuchen.«
»Und wenn du daneben triffst?«

Wieder zuckte Khalad die Schultern. »Dann schieße ich noch einmal.«

»Das habe ich nicht gemeint. Ich …« Berit unterbrach sich und lauschte angespannt. »Aphrael sagt, daß die Mischung jetzt stimmt. Du kannst schießen, wenn du soweit bist.«

Khalad hielt die Spitze des Armbrustbolzens in die Kerzenflamme und drehte ihn bedächtig, bis der ölgetränkte Lappen gleichmäßig brannte. Dann führte er den brennenden Bolzen in die Rinne, legte die Säule seiner Armbrust auf einen Stein und zielte sorgfältig. »Jetzt!« Langsam preßte er den Drücker.

Der brennende Pfeil schoß durch die Dunkelheit und verschwand in der schmalen Höhlenöffnung.
Nichts tat sich.
»Soviel zu Theorie und Praxis«, sagte Berit spöttisch.

Khalad fluchte und hieb die Faust auf den Kies. »Es muß funktionieren, Berit! Ich habe alles genau …«

Der Lärm war ohrenbetäubend, als der Berg explodierte und ein Feuerball mit einem Durchmesser von Hunderten von Fuß himmelwärts aus dem Krater schoß, der plötzlich anstelle des Berges zu sehen war. Ohne zu überlegen warf Khalad sich über Berits Kopf und bedeckte seinen eigenen Nacken mit den Händen.

Glücklicherweise fielen nur kleine Kieselsteine auf sie herab. Die größeren Steine und Felsbrocken stürzten weit entfernt in die Wüste.

Mehrere Minuten lang hagelte es Kies, während die beiden jungen Männer arg mitgenommen und erschüttert auf dem Boden lagen und die kataklysmischen Ergebnisse von Khalads Experiment über sich ergehen ließen. Allmählich ließ der Steinhagel nach.

»Du Idiot!« schrie Berit. »Du hättest uns beide umbringen können!«

»Ich hab' mich wohl ein kleines bißchen verrechnet!« gab Khalad zu und schüttelte den Schmutz aus seinem Haar. »Ich werde ein wenig daran arbeiten müssen, bevor wir es noch einmal versuchen.«
»Noch einmal versuchen? Was redest du da?«

»Schließlich funktioniert es, Berit! Einige winzige Kleinigkeiten müssen noch verbessert werden … Feinabstimmung, sozusagen. Experimente müssen nun mal wiederholt werden, ehe es zu einem perfekten Ergebnis kommt.« Er stand auf und schlug sich mit dem Handballen an die Kopfseite, in der Hoffnung, daß das Klingeln in seinen Ohren aufhören möge. »Ich bekomme das schon hin, Berit«, versprach er und half dem Freund auf die Füße. »Das nächste Mal wird es nicht halb so schlimm. So, und jetzt bitte Aphrael, daß sie uns zum Lager zurückbringt. Vermutlich werden wir beobachtet – da sollten wir keinen Verdacht erregen.«