33

Irgendwo wurde gekämpft – deutlich waren das Klirren von Stahl auf Stahl und Schreie zu hören – doch Ehlana vernahm diese Geräusche kaum, als sie auf den Platz hinunterstarrte, der zwischen der Tempelruine und dem kaum weniger zerstörten Schloß lag.

Die Sonne stand nun hoch am östlichen Horizont und füllte die antiken Straßen Cyrgas mit hartem Licht. Die Königin von Elenien war erschöpft, doch ihre Gefangenschaft hatte ein Ende, und mit ihr alle Not. Nun verspürte sie nur noch den Wunsch, sich in der Umarmung ihres Gemahls zu verlieren. Ehlana begriff nicht viel von dem, was sie eben gesehen hatte, und sie wußte auch nicht, ob es von Bedeutung für sie war. Sie stand an der Brustwehr, die Kindgöttin auf den Armen, und blickte auf ihren unbesiegbaren Streiter tief unten hinab.

»Meinst du, wir könnten es jetzt unbeschadet wagen, uns hinunterzubegeben?« fragte sie die kleine Göttin.

»Die Treppe ist verschüttet, Ehlana«, meldete Mirtai sich zu Wort. »Das kann ich in Ordnung bringen«, versicherte Flöte.

»Vielleicht sollten wir lieber hier oben bleiben«, meinte Bevier mit besorgter Miene. »Cyrgon und Klæl sind zwar verschwunden, aber Zalasta ist immer noch irgendwo da draußen. Er könnte versuchen, der Königin wieder habhaft zu werden, um sich mit ihr als Geisel die Freiheit zu erkaufen.«

»Das soll er lieber nicht versuchen!« sagte die Kindgöttin mit unheilvoller Stimme. »Ehlana hat recht. Gehen wir hinunter.«

Sie kehrten in den Saal zurück und durchquerten ihn, um zur Treppe zu gelangen. Staubwolken wirbelten auf. Talen blickte Flöte fragend an. »Was hast du getan? Wo sind all die Trümmer?«

Sie zuckte die Schultern. »Ich habe sie zu Staub zerfallen lassen.«

Die Wendeltreppe schlängelte sich an der inneren Turmwand entlang in die Tiefe. Kalten und Bevier, die Schwerter in den Fäusten, stiegen voraus und vergewisserten sich beim Erreichen eines jeden Stockwerks, daß ihnen niemand auflauerte. Die oberen drei oder vier Geschosse waren leer, doch kurz bevor die Gefährten bei einem Stockwerk etwa auf halber Höhe des Turmes anlangten, zischte Xanetia plötzlich scharf: »Da kommt jemand!« »Wo?« erkundigte sich Kalten. »Wie viele?« »Zwei. Sie kommen uns auf der Treppe entgegen.«

»Ich kümmere mich um sie!« murmelte Kalten und packte den Schwertgriff noch fester.
»Tu nichts Törichtes!« mahnte Alean.

»Töricht sind die Burschen, die jetzt diese Treppe heraufkommen, Liebste. Bleib bei der Königin.« Er ging leise voraus.

»Ich komme mit!« erklärte Mirtai. »Bevier, Ihr seid jetzt an der Reihe, Ehlana zu bewachen.«
»Aber …«
»Psst!« befahl sie. »Tut, was ich sage!«
»Jawohl, Herrin.« Mit leichtem Lächeln gab er nach.
Stimmengemurmel war zu vernehmen.
Ehlana erkannte einen der Männer, die näher kamen. »Santheocles!« flüsterte sie.
»Und der andere?« fragte Xanetia.
»Ekatas.«

»Ah!« hauchte Xanetia und zog angespannt die Stirn kraus. »Es ist nicht genau zu erkennen«, entschuldigte sie sich, »aber mir deucht, sie ahnen nicht, daß Ihr frei seid, Königin von Elenien. Sie eilen zu Eurer ehemaligen Zelle – in der Hoffnung, sich freien Abzug durch die Reihen ihrer Feinde zu verschaffen, indem sie Euer Leben bedrohen.«

Ungefähr zwanzig Stufen weiter unten befand sich ein Treppenabsatz. Kalten und Mirtai hielten dort und traten ein Stück auseinander, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen.

Santheocles, der seinen spiegelnden Brustpanzer und den Kammhelm trug, stürmte mit dem Schwert in der Hand herauf, nahm mit jedem Satz zwei Stufen auf einmal. Abrupt hielt er bei Erreichen des Absatzes inne und starrte Mirtai und Kalten verblüfft an. Er fuchtelte mit dem Schwert und stieß hochmütig einen Befehl in seiner Sprache aus. »Was hat er gesagt?« fragte Talen. »Daß sie ihm Platz machen sollen«, antwortete Aphrael. »Ist ihm denn nicht klar, daß sie seine Feinde sind?«

»Das kann ein Mann wie Santheocles sich nicht vorstellen«, erklärte Ehlana. »Er war nie außerhalb von Cyrgas Mauern, und ich bezweifle, daß er in seinem ganzen Leben mehr als zehn Personen gesehen hat, die keine Cyrgai waren. Die Cyrgai gehorchen ihm, ohne zu denken. Infolgedessen hat Santheocles keine Erfahrung in offener Feinseligkeit.«

Ekatas kam hinter Santheocles schnaufend die Treppe herauf. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, und sein runzliges Gesicht wurde aschfahl. Mit scharfer Stimme sagte er etwas zu seinem König, woraufhin Santheocles gelassen zur Seite trat. Ekatas richtete sich hoch auf, bewegte die Hände in der Luft und begann, mit klangvoller Stimme irgend etwas zu rufen. »Haltet ihn auf!« warnte Bevier. »Er wirkt einen Zauber!«

»Er versucht, einen Zauber zu wirken«, verbesserte Aphrael den Ordensritter. »Er wird sein blaues Wunder erleben.«

Die Stimme des Hohepriesters hob sich in einem langen Crescendo; dann zeigte er plötzlich mit einer Hand auf Kalten und Mirtai.
Nichts geschah.

Ekatas hob die leere Hand vors Gesicht und starrte sie ungläubig an.

»Ekatas«, rief Aphrael ihm mit süßer Stimme zu, »ich mache ungern den Unglücksboten, aber du mußt wissen, daß du nun, da Cyrgon tot ist, keine Zauber mehr wirken kannst.«

Er starrte sie an, und allmählich verriet seine Miene, daß er sie erkannte und verstand. Dann wirbelte er herum, schoß durch die Tür links am Treppenabsatz und schmetterte sie hinter sich zu.

Mirtai folgte ihm rasch, warf einen flüchtigen Blick auf die Tür, wich einen Schritt zurück und trat sie ein.

Kalten näherte sich dem höhnenden König der Cyrgai. Santheocles bot sich mit dem ausgestreckten Schild, dem erhobenen Schwert und dem zurückgeworfenen Kopf in Heldenpose dar.

»Er hat keine Chance gegen Kalten«, stellte Bevier fest. »Warum ergreift er nicht die Flucht?«

»Er hält sich für unbesiegbar, Ritter Bevier«, erklärte Xanetia. »Er hat auf dem Übungsplatz viele seiner eigenen Soldaten getötet. Deshalb bildet er sich ein, der größte Krieger der ganzen Welt zu sein. Doch in Wahrheit haben seine Untergebenen nicht zurückgeschlagen, ja, sie durften sich gar nicht verteidigen, da Santheocles ja ihr König war.«

Mit grimmigem Gesicht stürzte Kalten sich rachsüchtig auf den schwachsinnigen Monarchen. Empörung und Entsetzen erfüllten Santheocles' Antlitz, als es zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich jemand wagte, eine Waffe gegen ihn zu erheben.

Es war ein kurzer, unschöner Kampf, dessen Ausgang von vornherein festgestanden hatte. Kalten schmetterte den übergroßen Schild zu Boden und parierte ein paar ungelenke Hiebe nach seinem Kopf; dann stieß er sein Schwert bis zum Griff genau in die Mitte des brünierten Brustpanzers. Santheocles starrte seinen Bezwinger ungläubig an; dann seufzte er, stürzte nach hinten von der Klinge und polterte leblos die Stufen hinunter.

»Ja!« rief Ehlana begeistert, als der widerwärtigste ihrer Peiniger starb.

Von der anderen Seite der zersplitterten Tür ertönte ein langer, verzweifelter Schrei, der auf erschreckende Weise immer leiser wurde. Dann kam Mirtai mit einer Miene düsterer Befriedigung zu den anderen zurück.
»Was habt Ihr mit ihm gemacht?« fragte Kalten neugierig.
»Ihn defenestriert«, antwortete sie schulterzuckend.
»Mirtai!« krächzte Kalten. »Das ist ja furchtbar!«
Sie blickte ihn verwundert an. »Was redet Ihr da?«
»Einem Mann so etwas anzutun ist entsetzlich!«
»Ihn aus dem Fenster zu werfen? Mir sind da eine Menge viel schrecklicherer Dinge eingefallen.«
»Bedeutet ›defenestrieren‹ aus dem Fenster werfen?«
»Natürlich. Stragen hat diesen Begriff in Matherion benutzt.«
»Oh!« Kalten war leicht errötet.
»Was habt Ihr denn gedacht, was das Wort bedeutet?«.

»Äh – schon gut, Mirtai. Vergeßt einfach, daß ich überhaupt etwas gesagt habe.« Er blickte die anderen an. »Gehen wir hinunter«, schlug er vor. »Ich glaube nicht, daß sich uns noch irgend jemand in den Weg stellen wird.«

Ehlana brach plötzlich in Tränen aus. »Ich kann nicht!« jammerte sie. »So kann ich mich vor Sperber nicht sehen lassen!« Sie legte eine Hand auf das Tuch, das ihr geschändetes Haupt bedeckte.

»Machst du dir deshalb immer noch Gedanken?« fragte Aphrael. »Ich sehe einfach grauenvoll aus!«

Aphrael verdrehte die Augen himmelwärts. »Gehen wir da hinein.« Die Kindgöttin blickte zum Saal. »Ich bringe es wieder in Ordnung, wenn es dir so wichtig ist.« »Kannst du das denn?« fragte Ehlana aufgeregt.

»Selbstverständlich.« Aphrael blickte sie an und überlegte. »Soll ich die Farbe ändern? Oder möchtest du es lieber lockig?«

Die Königin schürzte die Lippen. »Vielleicht sollten wir uns darüber noch unterhalten«, meinte sie.


Die Cynesganer, welche die Außenmauer der Verborgenen Stadt bemannten, waren von vornherein keine sonderlich guten Krieger, und als die Trolle aus der Nichtzeit auftauchten und die Mauer zu ihnen hinaufkletterten, vergaßen sie ihre Pflicht und flohen.

»Habt Ihr den Trollen aufgetragen, das Tor für uns zu öffnen?« wollte Vanion von Ulath wissen.

»Jawohl, Hochmeister«, antwortete der Genidianer. »Aber es könnte eine Zeitlang dauern, bis sie sich daran erinnern. Sie sind jetzt sehr hungrig und werden erst einmal frühstücken.«

»Wir müssen hinein, Ulath!« drängte Sephrenia. »Wir müssen die Sklavenpferche beschützen!«

»O Gott!« stieß er hervor. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Die Trolle können die Sklaven nicht von den Cynesganern unterscheiden!«

»Ich sehe mich um!« erbot sich Khalad. Er schwang sich von seinem Pferd und rannte zu dem schweren Holztor. Schon Augenblicke später kam er zurück. »Das dürfte kein großes Problem sein, erhabene Sephrenia«, versicherte er. »Das Tor wird auseinanderfallen, wenn Ihr bloß niest.« »Ich verstehe nicht.«

»Das Holz ist uralt, Erhabene, und völlig morsch. Mit Eurer Erlaubnis, Hochmeister Vanion, suche ich ein paar Männer aus und fertige einen Widder an. Damit rammen wir das Tor.« »Tut das«, erwiderte Vanion. »Komm mit, Berit!« forderte Khalad seinen Freund auf.

»Dieser junge Mann schafft es immer wieder, mir ein Gefühl der Unzulänglichkeit zu vermitteln«, brummte Vanion, während sie dem Paar nachblickten, das zu den wartenden Rittern zurücktrabte.

»Wenn ich mich recht entsinne, hatte schon sein Vater diese Wirkung auf dich«, sagte Sephrenia.

Kring kam um die Mauer zurückgaloppiert. »Freund Bergsten bereitet sich darauf vor, das Nordtor zu stürmen«, meldete er.

»Gebt ihm Nachricht, daß er vorsichtig sein soll, Freund Kring«, riet Betuana. »Die Trolle sind bereits in der Stadt – und sie sind sehr hungrig. Vielleicht wäre es besser, Bergsten würde mit dem Angriff noch eine Weile warten.«

Kring nickte bestätigend. »Eine Zusammenarbeit mit Trollen verleiht den Dingen ganz neue Perspektiven, findet Ihr nicht auch, Betuana-Königin? Im Kampf sind sie sehr gute Verbündete, aber man darf sie auf keinen Fall hungrig werden lassen.« Etwa zehn Minuten später zogen Khalad und mehrere Dutzend Ritter einen gewaltigen Baumstamm vor das Tor, schoben ihn in Seile, die an mehreren behelfsmäßigen Dreibeinen befestigt waren, und rammten ihn gegen das morsche Holz. Roter Staub löste sich aus dem Tor; es begann zu wanken und fiel dann in sich zusammen.

»Los!« erteilte Vanion seiner bunt zusammengewürfelten Armee den Befehl zum Sturm und führte sie in die Stadt. Auf Sephrenias Drängen eilten die Ritter sofort zu den Pferchen, befreiten die geketteten Sklaven und brachten sie aus der Stadt in Sicherheit. Dann erst wandten sich Vanions Streitkräfte der inneren Mauer zu, die den steilen Berg in der Mitte Cyrgas beschützte.

»Wie lange wird das dauern, Ritter Ulath?« Vanion deutete auf eine Schar gierig fressender Trolle.

»Schwer zu sagen, Hochmeister Vanion«, antwortete Ulath. »Ich glaube aber nicht, daß wir viel Unterstützung von ihnen erwarten können, solange hier in der äußeren Stadt noch Cynesganer straßauf und straßab rennen.«

»Das ist vielleicht ganz gut so«, meinte Vanion. »Wir sollten zu Sperber und den anderen, bevor die Trolle sich zu ihnen gesellen.« Er schaute sich um. »Khalad!« rief er. »Weise deine Männer an, den Widder hier heraufzuziehen. Schlagen wir das Tor zur inneren Stadt ein und suchen Sperber.« »Jawohl, Eminenz«, erwiderte Khalad.

Das Tor zur inneren Stadt war viel stabiler, und Khalads Widder verursachte ein gewaltiges donnerndes Krachen, gerade als Patriarch Bergsten die Mauer entlanggeritten kam, begleitet von dem pandionischen Veteranen Ritter Heldin, einem Peloi, den Vanion nicht erkannte, und einem hochgewachsenen, kämpferisch aussehenden atanischen Mädchen.

Vanion stellte verwundert fest, daß sich auch der styrische Gott Setras bei der Gruppe befand. »Was erlaubt Ihr Euch hier, Vanion?« rief Bergsten verärgert. »Wir rammen das Tor, Eminenz«, antwortete Vanion.

»Das meine ich nicht! Was, in Gottes Namen, ist in Euch gefahren, daß Ihr die Trolle mit dem Angriff habt beginnen lassen?«

»Das war nun wirklich keine Frage von lassen, Eminenz. Sie haben nicht gerade um Erlaubnis ersucht.«

»In der äußeren Stadt herrscht das vollkommene Chaos! Meine Ritter können sich nicht auf diese innere Mauer konzentrieren, weil sie immer wieder auf Trolle stoßen! Diese Kreaturen fressen wie verrückt. Zur Zeit verschlingen sie alles, was sich bewegt!«

»Müßt Ihr das so drastisch ausdrücken?« Sephrenia schüttelte sich.

»Oh, hallo, Sephrenia«, grüßte Bergsten. »Ihr seht gut aus. – Wie lange werdet Ihr noch für dieses Tor brauchen, Vanion? Sehen wir zu, daß wir unsere Leute in die innere Stadt schaffen, wo wir uns nur um die Cyrgai sorgen müssen. Eure Verbündeten machen meine Leute sehr nervös.« Er blickte zur Brustwehr der inneren Mauer hinauf, die sich scharf gegen den Morgenhimmel abzeichnete. »Ich dachte, die Cyrgai wären Krieger. Weshalb bemannen sie diese Mauer nicht?« »Sie sind momentan ein wenig … entmutigt«, erklärte Sephrenia. »Sperber hat soeben ihren Gott getötet.« »Er? Ich dachte, Bhelliom würde das übernehmen.«

Sephrenia seufzte. »In gewisser Weise hat er das auch. Es ist zwar nicht so ganz leicht zu begreifen, aber zu diesem Zeitpunkt mußte man die beiden als Einheit betrachten.«

Bergsten schauderte. »Ich glaube, ich will lieber nichts darüber wissen«, gestand er. »Ich stecke bereits in genügend theologischen Schwierigkeiten. Was ist mit Klæl?« »Er ist fort. Er wurde verbannt, kaum daß Sperber Cyrgon getötet hatte.«

»Großartig, Vanion«, sagte Bergsten sarkastisch. »Ihr veranlaßt, daß ich im tiefsten Winter dreitausend Meilen reite, doch noch ehe ich angelangt bin, ist der Kampf schon vorüber!«

»Das bißchen Bewegung hat Euch gewiß gut getan, Eminenz.« Vanion hob die Stimme. »Wie lange braucht ihr noch, Khalad?«

»Nur noch ein paar Minuten, Eminenz«, antwortete Sperbers Knappe. »Das Holz gibt bereits nach.«

»Gut«, sagte Vanion düster. »Ich will Zalasta finden! Ich habe ihm so allerlei zu sagen!«


»Sie sind alle getürmt, Sperber«, berichtete Talen, als er von einer raschen Durchsuchung des zerstörten Schlosses zurückkam. »Die Tore stehen weit offen, und wir sind hier oben die einzigen!«

Sperber nickte müde. Es war eine lange Nacht gewesen, und er war körperlich und geistig ausgelaugt. Doch er konnte noch immer die unendliche Ruhe spüren, die sich seiner bemächtigt hatte, nachdem er die wahre Bedeutung seines Verwandschaftsverhältnisses zu Bhelliom erkannte. Flüchtig verspürte er Neugier und die Versuchung, zu experimentieren und die Grenzen seiner neuen Fähigkeiten zu erkunden. Doch er wollte das Schicksal nicht herausfordern und verwarf diese Gedanken.

Mach schon, Sperber! Flötes Stimme in seinem Innern klang leicht herausfordernd. Er drehte den Kopf ein wenig, um zu dem niemals alternden Kind neben seiner Gemahlin zu blicken. Ehlanas Gesicht war von friedlicher Heiterkeit, als sie mit den Fingern durch ihr langes aschblondes Haar strich.

Was wolltest du denn, das ich tue? sandte Sperber den Gedanken zurück.
Was dir gerade in den Sinn kommt.
Warum?

Bist du denn gar kein bißchen neugierig? Würde es dich nicht interessieren, herauszufinden, ob du einen Berg umstülpen kannst?

Ich kann es, versicherte er ihr, aber ich sehe wahrhaftig keinen Grund, so etwas zu tun.
Du bist abscheulich, Sperber! brauste sie plötzlich auf.
Wo liegt dein Problem, Aphrael?
Du bist ein so schrecklicher Langweiler!

Er lächelte sie zärtlich an. Ich weiß. Aber du liebst mich trotzdem, nicht wahr? »Sperber!« rief Kalten von dem kunstvollen Bronzetor. »Vanion kommt den Berg herauf. Bergsten ist bei ihm!«

Vanion kannte Sperber seit seinem Noviziat, doch der müde aussehende Mann in der schwarzen Panzerrüstung schien ihm fremd zu sein. Irgend etwas war an seinem Gesicht und seinen Augen, das zuvor nicht dagewesen war. Beinahe ehrfürchtig kam der Hochmeister mit Patriarch Bergsten und Sephrenia auf seinen alten Freund zu. Sobald Ehlana Sephrenia sah, rannte sie mit einem Aufschrei zu ihr und umarmte sie heftig.

»Ich sehe, Ihr habt eine weitere Stadt in Trümmer gelegt, Sperber«, sagte Bergsten mit einem breiten Grinsen. »Das kann zur Gewohnheit werden, wißt Ihr.«

»Guten Morgen, Eminenz«, grüßte Sperber. »Wie schön, Euch wiederzusehen.«
»Habt Ihr das alles allein fertiggebracht?« Bergsten zeigte auf den zerfallenen Tempel und das halb zerstörte Schloß.
»Das meiste ist Klæls Werk, Eminenz.«

Der ungeschlachte Kirchenmann straffte die Schultern. »Ich habe von Dolmant Order für Euch«, sagte er. »Ihr sollt mir den Bhelliom übergeben. Wie wär's, wenn Ihr das gleich tut – bevor wir's vielleicht beide vergessen?«

»Ich fürchte, das ist unmöglich, Eminenz.« Sperber seufzte. »Ich habe ihn nicht mehr.«
»Was habt Ihr mit ihm gemacht?«

»Es gibt ihn nicht mehr – jedenfalls nicht mehr in der vorherigen Form. Er wurde aus seiner Gefangenschaft befreit, um seine Reise fortzusetzen.«

»Ihr habt ihn freigelassen, ohne dies vorher mit Eurer Kirche abzusprechen? Wißt Ihr, in welche Schwierigkeiten Ihr Euch damit gebracht habt?«

»Seid doch vernünftig, Bergsten!« sagte Aphrael kopfschüttelnd. »Sperber hat getan, was getan werden mußte. Ich werde es Dolmant später erklären.«

Vanion hingegen war mit seinen Gedanken anderswo. »Das ist ja alles sehr interessant«, sagte er düster. »Aber ich bin jetzt viel mehr daran interessiert, Zalasta zu finden. Hat jemand eine Ahnung, wo er sein könnte?«

»Er könnte unter diesen Trümmern liegen, Vanion.« Ehlana zeigte auf die Tempelruine. »Er und Ekatas wollten dorthin, als sie entdeckten, daß Sperber sich bereits in Cyrga aufhielt. Ekatas entkam, und Mirtai tötete ihn. Zalasta aber könnte von den Trümmern zerschmettert worden sein, als Klæl den Tempel niedertrampelte.«
»Nein«, warf Aphrael ein. »Er ist nirgendwo in der Stadt.«
»Ich möchte ihn wirklich finden, Göttin!« sagte Vanion.

»Setras, mein Lieber«, sagte Aphrael lächelnd zu ihrem Vetter, »würdest du bitte zusehen, daß du Zalasta für mich findest? Es gibt sehr viele Dinge, für die er sich rechtfertigen muß!«

»Ich werde sehen, was ich tun kann, Aphrael«, versprach der gutaussehende Gott, »aber ich müßte wirklich in mein Atelier zurück. Meine ganze eigene Arbeit ist liegengeblieben!«

»Bitte, Setras!« Sie bedachte ihn mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln.

Er lachte hilflos. »Verstehst du nun, wovon ich sprach, Bergsten?« sagte er zu dem hünenhaften Patriarchen. »Sie ist das gefährlichste Wesen des ganzen Universums!«

»Das habe ich gehört.« Bergsten nickte. »Macht Euch lieber gleich daran, zu tun, worum sie Euch gebeten hat, Setras. Letztendlich bleibt Euch ja sowieso nichts anderes übrig.«

»Ah, da bist du ja, Itagne-Botschafter«, hörte Vanion Atana Maris mit trügerisch freundlicher Stimme sagen. Er drehte sich um und sah die anmutige junge Kommandantin der Garnison von Cynestra auf den sichtlich verstörten tamulischen Diplomaten zugehen. »Ich habe dich überall gesucht«, fuhr sie fort. »Wir haben viel zu besprechen. Aus irgendeinem Grund hat mich kein einziger von deinen Briefen erreicht. Ich finde, du sollst deinen Boten rügen!« Itagnes Miene war die einer in die Falle gegangenen Maus.

Kurz vor Mittag, nachdem der letzte der völlig am Boden zerstörten Cyrgai kapituliert hatte, sandte Betuana Läufer nach Matherion. Ritter Ulath wies darauf hin, daß das Schicksal der Cynesganer in der äußeren Stadt ihren Entschluß wahrscheinlich in großem Maße beeinflußt hatte. Patriarch Bergsten betrachtete seinen Landsmann seither wesentlich kritischer und distanzierter. Bergsten war ein rauher Kirchenmann und als solcher nicht gerade rücksichtsvoll und durchaus bereit, um einer Sache willen alle möglichen Regeln zu beugen, doch bei Ulaths geradezu ungehemmtem Ökumenismus schluckte sogar er. »Er ist ein bißchen zu enthusiastisch, Sperber!« klagte der riesenhafte Patriarch. »Gut, ich gebe ja zu, daß die Trolle auf gewisse Weise nützlich waren, aber …« Er suchte nach mildernden Redewendungen, um seine angeborenen Vorurteile in Worte zu fassen.

»Zwischen Ulath und Bhlokw herrscht eine ganz besondere Art von Kameradschaft, Eminenz.« Sperber wechselte rasch das Thema. »Was gibt es für uns hier noch zu tun? Ich würde meine Gemahlin gern in die Zivilisation zurückbringen.«

»Ihr dürft ruhig jetzt schon aufbrechen, Sperber.« Bergsten zuckte die Schultern. »Wir übernehmen das Aufräumen hier. Ihr habt ohnehin nicht viel für uns zu tun übriggelassen. Ich bleibe mit den Rittern hier, um die restlichen Cyrgai zusammenzutreiben. Tikume wird seine Peloi nach Cynestra zurückbringen, um Itagne und Atana Maris zu helfen, die Besatzungstruppen zusammenzustellen, und Betuana wird ihre Ataner nach Arjuna senden, um die Imperiumshoheit wiederherzustellen.« Er verzog das Gesicht. »Es ist wirklich so gut wie nichts mehr übrig, als die Einzelheiten der Verwaltung auszutüfteln. Ihr habt mich um einen guten Kampf betrogen, Sperber!«

»Ich kann nach weiteren von Klæls Soldaten schicken, wenn Ihr möchtet, Eminenz.«

»Schon gut, Sperber«, entgegnete Bergsten rasch. »Ohne diese Art von Kämpfen kann ich recht gut auskommen! Werdet Ihr auf direktem Weg nach Matherion zurückkehren?«

»Nein, Eminenz. Die Höflichkeit erfordert, daß wir Anarae Xanetia nach Delphaeus zurückgeleiten.«

»Sie ist eine sehr ungewöhnliche Dame«, bemerkte Bergsten nachdenklich. »Ich ertappe mich jedesmal gerade im letzten Augenblick, daß ich dabei bin, mich vor ihr auf den Boden zu werfen, wenn sie ein Zimmer betritt.«

»Ja, diese Wirkung hat sie auf uns alle, Eminenz. Wenn Ihr uns hier wirklich nicht mehr braucht, rede ich mit den anderen, und wir machen uns zum Aufbruch bereit.« »Was ist eigentlich tatsächlich passiert, Sperber?« fragte Bergsten gerade heraus. »Ich muß dem Erzprälaten Bericht erstatten, und aus dem, was die anderen mir erzählt haben, werde ich nicht so recht schlau.«

»Ich bin mir nicht sicher, daß ich es erklären kann, Eminenz«, antwortete Sperber. »Bhelliom und ich waren gewissermaßen eine Zeitlang miteinander verbunden. Er brauchte meinen Arm, nehme ich an.«

Es war eine einfache Antwort, die nicht auf die eigentliche Frage einging, über die auch nur nachzudenken Sperber noch nicht bereit war.

»Dann wart Ihr also nur ein Werkzeug?« Bergsten blickte ihn durchdringend an. Sperber zuckte die Schultern. »Sind wir das nicht alle, Eminenz? Werkzeuge Gottes? Dafür werden wir bezahlt.«

»Sperber, Ihr bewegt Euch am Rande der Ketzerei! Werft nicht so leichtfertig mit dem Wort Gott um Euch!«

»Das tue ich nicht, Eminenz. Es ist nur einer Beschränkung der Sprache zuzuschreiben. Es gibt Dinge, die wir nicht verstehen und für die wir keine Namen haben. Wir nehmen sie einfach alle zusammen, nennen sie Gott und belassen es dabei. Ihr und ich, wir sind Soldaten, Patriarch Bergsten. Wir werden dafür bezahlt, loszustürmen, wenn die Trompete erschallt. Überlassen wir Dolmant die theologischen Fragen. Dafür wird er bezahlt!«

Sperber und seine Freunde – von Kring, Betuana und Engessa begleitet – verließen kurz nach dem Morgengrauen des nächsten Tages das zerstörte Cyrga, um nach Sarna zu reiten. Sperber hatte seit seinem Zweikampf mit Cyrgon nichts mehr von Bhelliom gehört und empfand eine eigenartige Enttäuschung darüber. Die Trollgötter waren mit ihren Kindern ebenfalls schon aufgebrochen – nur Bhlokw war geblieben und schlurfte zwischen Ulath und Tynian dahin. Er wich einer Antwort auf die Frage, weshalb er sie begleitete, geflissentlich aus.

Sie ritten nordostwärts durch die kahle Wüste Cynesgas und ließen sich Zeit dabei. Es gab keine zwingende Eile mehr. Sephrenia und Xanetia, die nun wieder zusammenarbeiteten, hatten allen ihre eigenen Gesichter zurückgegeben, und allmählich verlief alles wieder im alten Trott.

Am Vormittag des zehnten Tages nach ihrem Aufbruch von Cyrga, als sie nur noch etwa zwanzig Meilen von Sarna entfernt waren, ritt Vanion nach vorn, um sich Sperber an der Spitze der Kolonne anzuschließen.

»Darf ich Euch mal stören, Sperber? Ich würde gern mit Euch sprechen.«
»Selbstverständlich.«
»Es ist privat.«

Sperber nickte, überließ Bevier die Führung der Kolonne und stupste Faran zum bequemen Kanter an. Als sie sich etwa eine Viertelmeile vor den anderen befanden, ließen Sperber und Vanion ihre Pferde in den Schritt übergehen. »Sephrenia will, daß wir heiraten«, sagte Vanion abrupt.
»Wollt Ihr meine Erlaubnis?«
Vanion blickte ihn durchdringend an.

»Verzeiht«, entschuldigte sich Sperber. »Ihr habt mich überrascht. Es dürfte einige Probleme aufwerfen, wißt Ihr. Die Kirche wird es nie billigen – ebensowenig wie die Tausend von Styrikum. Wir sind zwar nicht mehr ganz so sittenstreng wie früher, doch die Vorstellung einer Ehe zwischen Personen verschiedener Herkunft oder unterschiedlichen Glaubens wird die Gemüter in Wallung bringen.«

»Ich weiß«, murmelte Vanion düster. »Dolmant persönlich hätte wahrscheinlich nichts dagegen, doch ihm sind durch Kirchenrecht und Doktrin die Hände gebunden.«
»Wer soll die Trauung dann vornehmen?«
»Dieses Problem hat Sephrenia bereits gelöst. Xanetia wird uns vermählen.«
Sperber verschluckte sich beinahe.
»Sie ist Priesterin, Sperber!«

»Na ja … im Grund genommen schon.« Plötzlich fing Sperber zu lachen an. »Was findet Ihr daran so komisch?« fragte Vanion verärgert.

»Könnt Ihr Euch Ortzels Gesicht vorstellen, wenn er erfährt, daß ein Hochmeister der vier Orden von einer delphaeischen Priesterin mit einem Mitglied der Tausend von Styrikum getraut wurde?«

»Es verstößt tatsächlich gegen ein paar von den alten Spielregeln, nicht wahr?«
»Ein paar? Vanion, ich bezweifle, daß man irgendeine einzelne Handlung finden könnte, die gegen mehr Regeln verstößt!«
»Seid Ihr auch dagegen?«
»Ich doch nicht, alter Freund! Wenn Ihr und Sephrenia es wünscht, unterstütze ich euch bis zur höchsten Instanz.«
»Würdet Ihr denn auch mein Trauzeuge sein?«

Sperber klopfte ihm auf die Schulter. »Es ist mir eine Ehre, mein Freund.«

»Gut, dann bleibt ja alles in der Familie. Sephrenia hat bereits mit Eurer Gemahlin darüber gesprochen. Ehlana wird ihre Trauzeugin sein.« Sperber lachte. »Das habe ich mir doch fast gedacht.«

Sie ritten durch Sarna, dann nordwärts auf einem schneebedeckten Bergpfad nach Dirgis in Südatan. Hinter Dirgis bogen sie wieder nach Westen ab und ritten tiefer in die Berge.

»Wir hinterlassen einen breiten Pfad, Sperber!« gab Bevier eines schneereichen Spätnachmitttags zu bedenken. »Und dieser Pfad führt geradenwegs nach Delphaeus.«

Sperber drehte sich um und schaute zurück. »Du hast recht. Ich sollte vielleicht mit Aphrael reden. Die Lage hat sich zwar ein wenig verändert, aber ich glaube nicht, daß die Delphae so ganz bereit für Reisende sind, die mal kurz vorbeischauen.« Er wendete Faran und lenkte ihn zu den Damen zurück. Wie üblich ritt Aphrael mit Sephrenia. »Ein Vorschlag, Göttin«, sagte er zögernd. »Du hörst dich ja genauso an wie Tynian!«

Sperber ging nicht darauf ein. »Wie gut kannst du das Wetter beeinflussen?« fragte er.
»Möchtest du lieber Sommer?«

»Nein, einen kleineren Schneesturm. Wir hinterlassen Spuren im Schnee, die geradenwegs nach Delphaeus weisen.« »Was macht das schon?«

»Die Delphae legen vielleicht keinen Wert auf unangemeldete Besucher.«

»Es wird keine geben – weder angemeldet noch unangemeldet. Du hast doch versprochen, ihr Tal zu versiegeln, oder nicht?«

»O Gott!« entfuhr es ihm. »Das hatte ich ganz vergessen. Das dürfte zum Problem werden. Ich habe Bhelliom nicht mehr!«

»Dann sieh zu, daß du dich mit ihm in Verbindung setzt! Ein Versprechen ist ein Versprechen. Xanetia hat ihren Teil der Abmachung erfüllt; deshalb bist du moralisch verpflichtet, den deinen zu erfüllen!«

Sperber nickte nachdenklich. Dann entfernte er sich von den anderen und ritt in ein dichtes Wäldchen junger Kiefern. Dort saß er ab. »Blaurose!« rief er, ohne ernsthaft mit einer Antwort zu rechnen. »Blaurose!«

Ich höre dich, Anakha, vernahm er sofort Bhellioms Stimme im Kopf. Ich hatte schon gedacht, du wärst auf irgendeine Weise unzufrieden mit mir.

Keineswegs, Blaurose. Du hast alles getan, um das ich dich bat und was notwendig war, ja, mehr noch. Unsere Feinde sind geschlagen, und ich bin zufrieden. Ich habe allerdings den Delphae mein Ehrenwort gegeben, als Gegenleistung für ihre Hilfe ihr Tal zu versiegeln, auf daß niemals mehr jemand ihren Frieden stört.

Ich erinnere mich daran, Anakha. Du hast wohl getan, dieses Versprechen zu geben. Doch bald wird es nicht mehr nötig sein.
Ich begreife den Sinn deiner Worte nicht.

Geh in dich, mein Sohn, und du wirst verstehen. Nach einer längeren Pause fügte Bhelliom hinzu: Es ist nicht meine Absicht, dich zu kränken, doch weshalb wendest du dich damit an mich? Ich habe mein Wort gegeben, das Tal zu versiegeln, Vater. Dann tu es!

Ich wußte nicht, ob es mir noch möglich sein würde, mit dir zu reden, um deine Hilfe zu erbitten.

Du bedarfst keiner Hilfe, Anakha – nicht meiner, noch der anderer. Hat dein Kampf mit Cyrgon dich nicht überzeugt, daß dir alles möglich ist? Du bist Anakha und mein Sohn, und es gibt keinen zweiten wie dich im ganzen sternenübersäten Universum. Es war nötig, dich so zu erschaffen, wie du bist, auf daß mein Wille Erfüllung finde. Was immer du durch mich tun konntest, hättest du ebenso mühelos auch allein zu tun vermocht. Die Stimme hielt kurz inne. Doch ich bin erfreut, daß du dir deiner Fähigkeiten nicht bewußt warst, denn es gab mir die Möglichkeit, dich kennenzulernen. Oft werde ich auf meiner weiteren Reise an dich denken. So wollen wir uns denn nun nach Delphaeus begeben, wo dein Kamerad Vanion und unsere geliebte Sephrenia vereint werden und wo du ein Wunder erschauen wirst. Was für ein Wunder, Blaurose?

Es wäre wohl kaum noch ein Wunder für dich, würdest du es vorher schon wissen, mein Sohn. Leichte Belustigung schwang in der Stimme mit, als Bhelliom wieder entschwand.

Es war früh an einem schneereichen Abend, als sie einen Kamm erreichten und zu dem Tal hinabblickten, in dem der glühende Schnee dunstig in den wirbelnden Schneeflocken, in einem Licht schien, das dem des Mondes ähnelte. Cedon, der greise Anari, erwartete sie an dem schlichten Tor dieser anderen verborgenen Stadt. Neben ihm stand Itagnes Freund Ekrasios.

Sie unterhielten sich bis spät in die Nacht; denn es gab von beiden Seiten viel zu erzählen. So kam es, daß Sperber erst am späten Vormittag in dem auf seltsame Weise tiefliegenden Schlafzimmer erwachte, das er mit seiner Gemahlin teilte. Es war eine der Eigenarten delphaeischer Bauweise, daß die meisten Räumlichkeiten sich unterhalb des Erdbodens befanden. Sperber verschwendete kaum einen Gedanken daran, doch Khalad schien davon fasziniert zu sein.

Sperber küßte sanft seine noch schlafende Gemahlin, glitt behutsam aus dem Bett und machte sich auf die Suche nach Vanion.

Er erinnerte sich an seinen eigenen Hochzeitstag und war ziemlich sicher, daß sein Freund Unterstützung brauchen könnte.

Er fand den silberhaarigen Hochmeister mit Talen und Khalad im behelfsmäßigen Pferdestall. Khalads Gesicht war düster. »Was ist denn los?« erkundigte sich Sperber, als er sich zu den anderen gesellte.

»Mein Bruder grämt sich«, erklärte Talen. »Er hat sich mit Ekrasios und den anderen Delphae unterhalten, die Scarpas Truppen drunten in Arjuna versprengten, aber niemand konnte ihm sagen, was aus Krager geworden war.«

»Ich gehe davon aus, daß er noch lebt!« erklärte Khalad. »Er ist ganz einfach zu wendig, als daß er nicht hätte fliehen können.«

»Wir haben Pläne mit dir, Khalad«, sagte Vanion. »Bei deinen Fähigkeiten hast du Wichtigeres zu tun, als dein Leben lang hinter einem wieseligen Suffkopf herzujagen, der vielleicht gar nicht lebend aus Natayos entkommen konnte.«

»So lange wird er gar nicht brauchen, Hochmeister Vanion«, warf Talen ein. »Sobald Stragen und ich wieder in Cimmura sind, reden wir mit Platime, und der wird nach ihm suchen lassen. Falls Krager noch lebt – egal wo auf der Welt – werden wir es erfahren.« »Was machen die Damen?« fragte Vanion nervös.

»Ehlana schläft noch«, antwortete Sperber. »Werdet Ihr und Sephrenia mit uns nach Matherion zurückkehren?«

»Nur für eine kurze Weile«, antwortete Vanion. »Sephrenia möchte sich mit Sarabian über verschiedene Dinge unterhalten. Anschließend begleiten wir Betuana und Engessa bis Atan. Von dort ist es dann nicht mehr weit bis Sarsos. Übrigens, ist Euch aufgefallen, was sich zwischen Betuana und Engessa entwickelt hat?« Sperber nickte. »Betuana ist offenbar zu der Einsicht gelangt, daß die Ataner einen König brauchen. Engessa ist der geeignete Mann – und er ist wahrscheinlich um vieles intelligenter, als Androl gewesen ist.«

»Das besagt kaum etwas, Sperber.« Talen grinste breit. »Androl war nicht viel intelligenter als ein Mauerstein.«

Der Tag zog sich dahin. Die Damen waren natürlich eifrig mit Vorbereitungen beschäftigt, während die Ritter ihr möglichstes taten, Vanion auf andere Gedanken zu bringen.

Ein obskurer Grundsatz des delphaeischen Glaubens bestimmte, daß die Zeremonie genau bei Anbruch der Dunkelheit am Ufer des glühenden Sees zu beginnen hatte. Sperber konnte sich in etwa denken, weshalb dies so passend für die Leuchtenden war, doch die Hochzeit von Vanion und Sephrenia hatte, falls überhaupt, nur wenig mit dem Abkommen zwischen den Delphae und ihrem Gott zu tun. Doch die Höflichkeit erforderte, daß Sperber seine Meinung für sich behielt. Er erbot sich allerdings, Vanion in die traditionelle schwarze Paraderüstung der Pandioner zu kleiden. Doch der Hochmeister entschied sich für eine weiße styrische Robe. »Ich habe meinen letzten Krieg gefochten, Sperber«, erklärte er ein wenig betrübt. »Dolmant wird gar keine Wahl haben, als mich zu exkommunizieren und anschließend aus der Ritterschaft auszustoßen. Das macht mich wieder zum Zivilisten. Ich habe ohnehin nie besonders gern Rüstung getragen.« Er blickte neugierig auf Ulath und Tynian, die vor der Stalltür angestrengt auf Bhlokw einredeten. »Was geht da draußen vor?«

»Sie versuchen ihrem Freund klarzumachen, was eine Hochzeit ist. Aber sie haben offenbar ihre Schwierigkeiten damit.«

»Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß Trolle viel von feierlichen Zeremonien halten.«

»Da habt Ihr allerdings recht. Wenn ein Trollmann Liebesgefühle für eine Trollfrau entwickelt, bringt er ihr etwas – oder jemanden – zu essen. Wenn sie tüchtig zulangt, sind sie verheiratet.«
»Und wenn sie gerade keinen Hunger hat?«

Sperber zuckte die Schultern. »Dann versuchen sie für gewöhnlich, einander zu töten.«

»Habt Ihr eine Ahnung, weshalb Bhlokw nicht mit den anderen Trollen fortgezogen ist?«

»Nicht die leiseste, Vanion. Wir konnten keine vernünftige Antwort aus ihm herausbekommen. Offenbar haben die Trollgötter ihm irgendeinen Auftrag erteilt.« Der Nachmittag schien kein Ende zu nehmen, und Vanion wurde immer gereizter. Unaufhaltsam glitt der Tag in einen grauen Abend, und die Dämmerung senkte sich auf das verborgene Tal von Delphaeus herab.

Der Weg vom Stadttor zum Seeufer war alter Tradition gemäß säuberlich geräumt worden, und Aphrael, die sich nichts dabei dachte, hin und wieder einmal ein bißchen zu schwindeln, hatte ihn mit Blütenblättern übersät. Die leuchtenden Delphae standen zu beiden Seite des Weges und sangen eine Hymne. Vanion wartete mit Sperber am Seeufer; die anderen Gefährten befanden sich in der Nähe und lächelten erwartungsvoll, als Sephrenia, Ehlana an ihrer Seite, aus der Stadt kam, um zum See hinunter zu schreiten.

»Nur Mut, mein Sohn«, murmelte Sperber seinem alten Freund zu.
»Wollt Ihr witzig sein?«
»Heiraten tut nicht weh, Vanion.«

Es geschah, als die Braut und ihr Gefolge etwa die Hälfte des Weges zum See zurückgelegt hatten. Eine Wolke von tintiger Schwärze erschien plötzlich am Rand der schneebedeckten Wiese, und eine gewaltige Stimme brüllte: »Nein!« Ein Funke weißglühenden Lichts, umgeben von einem flackernden Ring aus purpurnem Glühen, löste sich aus der Mitte der Wolke und schwoll bedrohlich an. Sperber erkannte dieses Phänomen.

»Ich verbiete diese Ungeheuerlichkeit!« donnerte die gewaltige Stimme.

»Zalasta!« entfuhr es Kalten, der zu der rasch wachsenden Kugel hinaufstarrte. Der Styriker wirkte ausgemergelt; Kopf- und Barthaar waren verfilzt. Er trug seine übliche weiße Robe und hielt seinen polierten Stab in den zitternden Händen. Er stand innerhalb der glühenden Scheibe, umgeben von ihrem schützenden Strahlenkranz. Sperber spürte, wie ihn eine eisige Ruhe überkam, während sein Geist und seine Seele sich für den unvermeidlichen Kampf wappneten.

»Ich habe dich verloren, Sephrenia!« rief Zalasta. »Aber ich werde nicht dulden, daß du diesen Elenier heiratest!«

Aphraels langes schwarzes Haar flatterte, als sie zu ihrer Schwester rannte. Ihr kleines Gesicht verriet unerbittliche Entschlossenheit.

»Fürchte dich nicht, Aphrael«, sprach Zalasta nun in förmlichem Styrisch. »Ich bin nicht zu diesem verfluchten Ort gekommen, um mich gegen dich oder deine wankelmütige Schwester zu stellen. Ich spreche in dieser Sache für Styrikum, und ich bin erschienen, um diese ungeheuerliche Zeremonie zu verhindern, die eine Schmach für unser gesamtes Volk ist.« Er richtete sich auf und deutete anklagend auf Sephrenia. »Ich fordere dich auf, Weib, diesem widernatürlichen Schauspiel eine Ende zu bereiten! Hebe dich hinweg, Sephrenia von Ylara! Diese Hochzeit wird nicht stattfinden!«

»Sie wird stattfinden!« erschallte Sephrenias Stimme. »Du kannst sie nicht verhindern! Hebe du dich hinweg, Zalasta. Du hast in meinem Innern jedes Gefühl für dich gelöscht, als du versucht hast, mich zu töten!« Sie hob das Kinn. »Bist du gekommen, es noch einmal zu versuchen?«

»Nein, Sephrenia von Ylara. Der Wahnsinn, der mich überkommen hatte, war daran schuld. Doch es gibt noch eine andere Möglichkeit, diese Abscheulichkeit zu verhindern.« Rasch drehte er sich um und richtete seinen tödlichen Stab auf Vanion. Ein greller Funke schoß aus der Stabspitze. Er knisterte im bleichen Abendlicht und zuckte todbringend und pfeilgerade auf Vanion zu, geladen mit Zalastas ganzem Haß.

Doch Anakha, der Wachsame, war bereit. Er wußte sofort, wem Zalastas Angriff gelten würde. Anakha, der Behende, streckte die Hand aus, packte den Funken und schleuderte ihn zurück, wie ein kleiner Junge, mit einem Stein nach einem Vogel wirft. Der Funke explodierte an der Oberfläche der glühenden Kugel. Gut gemacht, mein Sohn! lobte Bhellioms Stimme.

Im Innern der schützenden Kugel zuckte Zalasta heftig zusammen. Bleich und erschüttert starrte er auf die furchterregende Gestalt von Bhellioms Kind.

Anakha, der Methodische, hob die Hand und begann mit Blitz um Blitz jener Art von Kraft, welche Sonnen erschafft, die feurige Hülle zu zerstören, die den verzweifelten Styriker schützte. Beinahe abwesend bemerkte er, daß die Hochzeitsgäste sich verstreuten und Sephrenia an Vanions Seite eilte. Während Anakha immer wieder mit dieser fürchterlichen Kraft zuschlug, studierte er sie, probierte sie aus und bemühte sich, ihre Grenzen zu erkennen. Er fand keine.

Anakha, der Unerbittliche, näherte sich dem hinterlistigen Styriker, der letztendlich der Grund für ein Leben voller Leid und Gram gewesen war. Er wußte, daß er den nun völlig verängstigten Zauberer mit einem Gedanken töten könnte. Er entschied sich dagegen.

Anakha, der Rachsüchtige, schritt vorwärts, zerstörte eine nach der anderen von des Styrikers letzten, verzweifelt errichteten Verteidigungen und wischte Zalastas jämmerliche Bemühungen zur Seite.

»Anakha! Das ist nicht recht!« Die Stimme sprach auf Trollisch.

Verwundert drehte Anakha sich um. Es war Bhlokw, und Bhellioms Kind empfand Achtung vor dem zottigen Priester der Trollgötter.

»Das ist der letzte der Verruchten!« erklärte Bhlokw. »Es ist der Wunsch von Khwaj, ihm weh zu tun. Wird das Kind des Blumensteins auf die Worte von Khwaj hören?« Anakha, der Besorgte, dachte über die Worte des Priesters der Trollgötter nach. »Ich werde auf die Worte von Khwaj hören«, versprach er. »Es ist recht, daß ich das tue, denn Khwaj und ich sind Rudelgefährten.«

Der ungeheuerliche Feuergott erschien und ließ den Schnee auf der Wiese um ihn herum verdampfen. »Wird Bhellioms Kind das Wort seines Rudelgefährten, Ulathvon-Thalesien, ehren?« fragte er mit einer Stimme, die donnerte und prasselte wie ein Schmelzofen.

»Das Wort von Ulath-von-Thalesien ist auch mein Wort, Khwaj«, versicherte ihm Anakha, der Ehrenhafte.
»Dann ist der Verruchte mein!«

Anakha, der Mitleidige, zügelte seinen Zorn. »Die Worte von Khwaj stimmen«, bestätigte er. »Wenn Ulath-von-Thalesien Khwaj jenen Verruchten versprochen hat, werde ich nicht sagen, daß es nicht so ist.« Er blickte den zu Tode erschrockenen Styriker an, der sich verzweifelt um eine Verteidigungsmöglichkeit bemühte. »Er ist dein, Khwaj. Er hat mir viel Schmerz bereitet, und ich würde ihm dafür viel Schmerz bereiten. Doch wenn Ulath-von-Thalesien gesagt hat, daß es Khwajs Recht ist, ihm weh zu tun, dann sei es so.«

»Bhellioms Kind spricht weise. Du hast Ehre, Anakha.« Der Feuergott blickte Zalasta anklagend an. »Du hast große Schlechtigkeit getan, Zalasta-Genannter.« Zalasta starrte Khwaj entsetzt und verständnislos an.

»Sag ihm, was ich gesagt habe, Anakha«, bat Khwaj. »Es muß wissen, warum es bestraft wird.«

Anakha, der Höfliche, sagte: »Das werde ich, Khwaj.« Er blickte den arg mitgenommenen Styriker streng an. »Ihr habt mir viel Schmerz verursacht, Zalasta!« sagte er mit furchteinflößender Stimme auf Styrisch. »Ich wollte Euch heimzahlen, was Ihr meinen Freunden angetan habt, doch Khwaj hat seinen Anspruch auf Euch geltend gemacht, und dies werde ich achten. Ihr hättet nicht hierherkommen sollen, Zalasta. Vanions Rache wäret Ihr nie und nirgendwo entgangen. Doch der Tod ist unbedeutend. Mit ihm verschwindet jeder Schmerz. Was Khwaj mit Euch zu tun beabsichtigt, wird in aller Ewigkeit nicht enden.« »Versteht es?« fragte Khwaj. »In gewissem Maße, Khwaj.«

»Mit der Zeit wird es mehr verstehen, und es hat viel Zeit. Es hat immer Zeit.« Der schreckliche Feuergott trat auf Zalasta zu und blies dessen armselige Verteidigung in den Wind, ehe er dem sich duckenden Styriker eigenartig sanft eine Hand auf den Kopf legte. »Brenn!« befahl er. »Laufe und brenne bis zum Ende aller Tage.«

Anakha, der Mitleidige, seufzte, als er dem Brennenden nachsah, der über die schneebedeckte Wiese rannte und mit wachsender Entfernung immer kleiner wurde. Bald waren auch seine Schreie, die Schmerz und Gram und unbeschreibliche Einsamkeit ausdrückten, nicht mehr zu vernehmen. Zalastas erster Augenblick seiner ewig währenden Strafe hatte begonnen.