23

»Starb er einen Heldentod?« fragte Betuana. Sie war sehr bleich, ließ sich ihr Leid aber nicht anmerken.

»Es war ein Tod, der eines Heerführers würdig ist, Betuana-Königin«, antwortete der Bote. »Wir befanden uns in einer Schlucht, und diese Klæl-Bestie zerschmetterte die Felswände und schleuderte die Trümmer auf uns herunter. Androl-König griff das Ungeheuer an. So gelang es vielen zu entkommen. Ohne den Angriff des Königs hätten sie ihr Leben verloren.«

Betuana dachte darüber nach. »Ja«, erklärte sie schließlich. »Er starb würdig und wird in der Erinnerung unseres Volkes weiterleben.«

»Wir haben viele Verwundete, Betuana-Königin, und Tausende liegen in der Klamm unter dem Geröll begraben. Wir haben uns nach Tualas zurückgezogen, um dort Eurer Befehle zu harren.«

»Es sollen einige Männer dortbleiben, um sich der Verwundeten anzunehmen. Alle anderen werden sich sofort hierher in Marsch setzen. Für Tosa besteht keine Gefahr mehr. Die Gefahr ist nun hier.«

»Ich werde Euren Befehl weitergeben, meine Königin.« Der Bote schlug salutierend mit der Faust auf den Brustpanzer.

Die Königin der Ataner erhob sich. Ihr noch immer bleiches Gesicht verriet keine Regung. »Ich möchte nun allein sein und nachdenken, Itagne-Botschafter«, sagte sie förmlich.

»Das ist verständlich, Betuana-Königin«, entgegnete er. »Ich teile Euer Leid.« »Aber nicht meine Schuld.« Sie drehte sich um und verließ den Raum.

Itagne blickte Engessa ins düstere Gesicht. »Ich gebe den anderen Bescheid.« Engessa nickte.

»Könntet Ihr mit dem Boten sprechen, bevor er aufbricht, Engessa?« bat Itagne. »Hochmeister Vanion muß das ungefähre Ausmaß der Verluste erfahren, ehe er seine Strategie ändern kann.«

»Ich werde die Zahl der Gefallenen und Verwundeten in Erfahrung bringen und dem Boten mitteilen, Itagne-Botschafter.« Engessa neigte den Kopf und ging.

Itagne fluchte und hämmerte die Faust auf den Tisch. »Mußte das ausgerechnet jetzt passieren!« tobte er. »Wenn dieser Narr nur noch ein wenig gewartet hätte, bevor er sich umbringen ließ!«

Betuana hatte nichts falsch gemacht, und ihre Besorgnis um Engessa hatte kein Hauch von Unehrenhaftigkeit angehaftet. Wären ihr noch ein oder zwei Wochen geblieben, darüber hinwegzukommen, wäre ihr wirklich grundlos schlechtes Gewissen vergessen gewesen, wie auch all die persönlichen Gefühle, die es verursacht hatten. Doch Androls Tod, gerade zu diesem Zeitpunkt … Wieder fluchte Itagne. Die atanische Königin mußte klar denken und handeln können, aber diese Krise könnte ihr Urteilsvermögen beeinträchtigen. Itagne schloß nicht aus, daß Betuana sich jetzt in ihrem Gemach darauf vorbereitete, sich ihr Schwert ins Herz zu stoßen. Er erhob sich und suchte nach Papier und Federkiel. Er mußte Vanion darauf aufmerksam machen, ehe hier in Sarna alles in die Brüche ging.


»Es ergab alles einen Sinn, als ich hörte, wie der alte Mann ihren kleinen Teich ›den Brunnen von Cyrgon‹ nannte«, erklärte Talen. »Ogerajin hat genau dieselben Worte benutzt!«

»Ich weiß nicht recht, ob das soviel zu bedeuten hat«, warf Mirtai zweifelnd ein. »Die Cynesganer bezeichnen alle ihre Oasen als ›Brunnen‹.«

»Aber das Entscheidende ist, daß dieser hier einer der Orientierungspunkte ist, die Ogerajin erwähnt hat!« gab Bevier zu bedenken. »Wie ist es überhaupt zu diesem Thema gekommen?« fragte er Talen.

»Stragen und ich haben Valash eine unserer Lügengeschichten aufgetischt«, antwortete der Junge. »Ogerajin war gerade von Verel angekommen und saß mit langsam verrottendem Hirn in einem Sessel. Stragen berichtete Valash von irgendwas, das wir angeblich belauscht hatten – irgendein Kerl erzählte einem anderen, daß Scarpa auf Anweisungen von Cyrga wartete. Auf diese Weise haben wir versucht, Informationen aus Valash herauszulocken. Stragen fragte ihn scheinbar gleichmütig, welchen Weg man nehmen müsse, um nach Cyrga zu gelangen. Da horchte Ogerajin auf. Er fing an, vom ›Brunnen von Cyrgon‹ zu reden, und von der ›Salzebene‹ und anderen Orten mit Namen, die sich anhörten, als würden sie aus einem Märchenbuch stammen. Ich dachte, er redet nur wirres Zeug, doch Valash regte sich schrecklich auf und hat versucht, ihn vom Reden abzuhalten. Da wurde ich hellhörig – und hatte das Gefühl, daß Ogerajin Stragen eine genaue Wegbeschreibung nach Cyrga gab, doch diese Beschreibung enthielt viele von diesen Märchennamen. Als ich dann später noch einmal die Bezeichnung ›Brunnen von Cyrgon‹ hörte, fragte ich mich, ob diese Wegbeschreibung tatsächlich so wirr war, wie ich ursprünglich geglaubt hatte.«

»Wie lauteten seine genauen Worte, junger Talen?« fragte Xanetia.

»Er sagte: ›Der Weg führt dicht am Brunnen von Cyrgon vorbei‹, da versuchte Valash, ihn vom Reden abzubringen, aber er achtete nicht darauf. Er sagte irgendwas davon, daß er Stragen den Weg weise, damit er sich nach Cyrga begeben und vor Cyrgon niederknien könne. Er sagte, er solle vom ›Brunnen von Cyrgon‹ aus nordwestwärts weiter zu den Verbotenen Bergen ziehen.«

Sperber studierte seine Karte. »Es gibt mehrere Bergketten in Mittelcynesga. Es ist das ungefähre Gebiet, auf das Aphrael auf ihrer Insel gezeigt hat. Was hat er sonst noch gesagt, Talen?«

»Na ja, es war ein wenig zusammenhanglos. Er sprach von den ›Verbotenen Bergen‹ und ›Cyrgons Säulen‹; dann stammelte er etwas über die ›Salzebenen‹, von denen aus man diese ›Verbotenen Berge‹ sehen müßte. Er sagte auch irgendwas über ›feurige weiße Säulen‹ und eine ›Ebene der Gebeine‹. Er behauptete, die Skelette wären die jener ›namenlosen Sklaven, welche sich bis zum Tod für Cyrgons Auserwählte plagen‹. Wenn so ein Sklave in Cyrgai stirbt, wird er offenbar in der Wüste ausgesetzt.«

»Dann dürfte dieser Knochenacker nicht allzu weit von der Stadt entfernt sein«, murmelte Kalten nachdenklich.

»Es paßt alles zusammen, Sperber«, meinte Bevier. »Die Cynesganer selbst sind zum Großteil Nomaden; deshalb dürften sie keine Verwendung für größere Mengen von Sklaven haben. Ogerajin sprach von ›Cyrgons Auserwählten‹. Das dürften die Cyrgai sein. Wahrscheinlich sind sie es, die Sklaven kaufen.«

»Das würde bedeuten, daß die Sklavenkarawane, die wir gesehen haben, auf dem Weg nach Cyrga ist, nicht wahr?« fügte Talen aufgeregt hinzu.

»Und sie zog nordwestwärts«, warf Mirtai ein, »genau in die Richtung, von der Ogerajin sprach.«

Wieder zog Sperber seine Karte zu Rate; er mußte sie festhalten, da der heftige Wüstenwind sie ihm zu entreißen drohte. »Wir wissen, daß Cyrga irgendwo in den Bergen von Mittelcynesga liegt«, murmelte er. »Also werden wir uns auf jeden Fall in diese Richtung halten. Falls Ogerajin nur im Wahn sprach und seine Wegbeschreibung nirgendwohin führt, gelangen wir trotzdem in die richtige Gegend, wenn wir ihr folgen.«

»Es ist jedenfalls besser, als bloß herumsitzen und auf Berit und Khalad zu warten«, sagte Kalten ungeduldig. »Ich muß irgendwas tun – und wenn ich nur im Kreis in der Wüste umherreite!«

Sperber legte dem alten Freund beruhigend eine Hand auf die Schulter. Seine eigene, verzweifelte Besorgnis war zumindest ebenso groß wie die Kaltens, doch er wußte, daß er nicht zuviel darüber nachdenken durfte. Verzweifelte Menschen machen Fehler, und ein Fehler könnte Ehlana in noch größere Gefahr stürzen. Seine Gefühle wühlten in seinem Innern, doch grimmig und unerbittlich verschloß er sich ihnen.


»Anakha würde sich freuen, wenn wir das tun«, sagte Ulath auf Trollisch zu den riesenhaften Erscheinungen.

Ghworg, der Gott des Tötens, beklagte sich: »Anakhas Gedanke ist wie der Wind. Einmal sagt er zu uns: ›Geht zu dem Ort, den die Menschendinge die Tamulischen Berge nennen, um die Kinder von Cyrgon zu töten.‹ Jetzt sagt er zu uns: ›Geht zu dem Ort, den die Menschendinge Zhubay nennen, um die Kinder von Cyrgon zu töten.‹ Kann er sich denn nicht entscheiden, welche Kinder von Cyrgon wir töten sollen?«

»Das ist das Wesen der Jagd, Ghworg«, erklärte Tynian. »Die Kinder von Cyrgon sind nicht wie das Rotwild, das immer im gleichen Revier äst. Sie sind wie die Rentiere, die im Laufe der Jahreszeiten von Ort zu Ort ziehen, um genug Futter zu finden. Zuvor begaben sie sich zum Fressen an den Ort, den wir Tamulische Berge nennen, doch jetzt begeben sie sich zu dem Ort Zhubay, um zu fressen. Würden wir nun in den Tamulischen Bergen jagen, fänden wir kein Wild, das wir töten und essen könnten.«

»Es spricht gut«, lobte Ghnomb, der Gott des Essens. »Es ist nicht Anakhas Gedanke, der sich ändert, sondern der Pfad der Kreaturen, die wir jagen. Das Wesen der Jagd sagt uns, daß wir dorthin gehen müssen, wo sie äsen, wenn wir sie finden und töten und essen wollen.«

»Diese Jagd wird immer mehr nicht-einfach!« brummelte Ghworg.

»Das liegt daran, daß die Menschendinge mehr nicht-einfach sind als die Wilddinge«, erklärte ihm Khwaj, der Gott des Feuers. »Der Gedanke von Tynian-von-Deira ist gut. Wer jagt, wo es kein Wild gibt, bekommt nichts zu essen.«

Ghworg dachte darüber nach. »Wir müssen dem Weg der Jagd folgen!« entschied er. »Wir bringen unsere Kinder zu dem Ort Zhubay, um die Kinder von Cyrgon zu jagen. Wenn sie zum Äsen kommen, werden unsere Kinder sie töten und essen.« »Es würde uns freuen, wenn Ihr das tut«, bedankte sich Tynian höflich.

»Ich werde unsere Kinder in die Zeit bringen, die-sich-nicht-bewegt«, versprach Ghnomb. »Sie werden an dem Ort Zhubay sein, bevor die Kinder von Cyrgon dort ankommen.«

Schlee, der Gott des Eises, steckte einen gewaltigen Finger in den Schlamm. Die Erde erbebte leicht und verzerrte sich zu seinem Bild des Kontinents. »Zeig uns wo, Ulath-von-Thalesien«, forderte er ihn auf. »Wo ist der Ort Zhubay?«

Ulath stapfte ein Stück am Südwestrand der winzigen Berge von Atan entlang und starrte angespannt auf den Boden. Dann bückte er sich und berührte einen Punkt unweit dem nördlichen Ende der Wüste von Cynesga. »Er ist hier, Schlee.« Ghworg, der Gott des Tötens, stand auf.

»Wir werden unsere Kinder dorthin bringen«, erklärte er. »Laßt uns Anakha froh machen.«


»Wir werden beobachtet, Vanion«, sagte Sephrenia leise.

Er lenkte sein Pferd näher zu dem ihren. »Von Styrikern?« fragte er ebenso leise. »Sie haben nur einen dabei«, erwiderte sie. »Und er ist nicht sehr erfahren.« Sie lächelte leicht. »Um seine Aufmerksamkeit zu erregen, müßte ich ihm wahrscheinlich einen Schlag auf den Schädel versetzen.«

»Tu, was du für richtig hältst, Liebste.« Vanion blickte über die Schulter auf die Kolonne von Rittern hinter ihnen; dann schaute er nach vorn. Sie kamen die Berge herunter, und das Sarnatal vor ihnen wurde allmählich breiter. »Morgen müßten wir die Brücke erreichen«, meinte er. »Und nachdem wir den Fluß überquert haben, sind wir in Cynesga.«
»Ja, Liebes, ich habe die Karte gesehen.«

»Wie wär's, wenn du den Zauber wirkst?« schlug er vor. »Geben wir deinem unfähigen Styriker da draußen eine Chance, sich seinen Unterhalt zu verdienen.« Er blickte sie ernst an. »So langsam mache ich mir Sorgen, Sephrenia. Klæl ist immer noch irgendwo dort draußen, und wenn er glaubt, daß Sperber mit Bhelliom bei dieser Kolonne ist, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen.«

»In einer Situation wie dieser ist man immer gefährdet, Vanion.« Sie lächelte ihn zärtlich an. »Du hast gesagt, du würdest mich nie aus den Augen lassen. Wenn du also darauf beharrst, dich an gefährliche Orte zu begeben, muß ich dich wohl oder übel begleiten. Aber jetzt entschuldige mich. Ich werde diesen Styriker aufwecken.« Sie begann, leise in Styrisch zu sprechen und zugleich mit den Fingern den Zauber zu weben.

Verwirrt schaute Vanion ihr zu. Er war stolz darauf, daß er die meisten Zauber kannte, doch diesen hatte er noch nie gesehen oder gehört. Er beobachtete Sephrenia noch angespannter.

»Starr mich nicht so an«, sagte sie und unterbrach den Zauber. »Den hier brauchst du nicht zu kennen.«
»Aber …«
»Schau ganz einfach da hinüber, Vanion. Ich schaffe das ohne jede Hilfe.« Sie hielt inne. »Tu mir den Gefallen, Liebster. Eine Frau braucht wenigstens ein paar Geheimnisse.«
Er lächelte und drehte sich um.

Etwa dreißig Fuß entfernt schien die Luft zu verschwimmen, und plötzlich sah Vanion Sperber auf seinem übelgelaunten Fuchs erscheinen. Diese Erscheinung war so wirklich, daß Fliegen von dem Pferd angelockt wurden.

»Großartig!« rief Vanion, sandte einen prüfenden Gedanken aus und stieß sogar auf das vertraute Gefühl von Sperbers Gegenwart. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich schwören, daß er wirklich hier ist. Kannst du diese Illusion aufrechterhalten?«

»Natürlich«, antwortete sie mit geradezu aufreizender Gleichmütigkeit. Dann lachte sie, streckte die Hand aus und streichelte ihm zärtlich über die Wange.


»Warum hast du so lange gebraucht?« fragte Talen die Kindgöttin, als sie am nächsten Morgen am Rand ihres Lagers bei Vigayo erschien.

»Ich hatte zu tun«, antwortete sie schulterzuckend. »Immerhin ist es eine ziemlich aufwendige Sache, weißt du. Schließlich wollen wir alle zu ungefähr derselben Zeit dort eintreffen, nicht wahr? Und was gibt es hier für ein Problem, Sperber?« »Vielleicht hatten wir zur Abwechslung sogar einmal ein bißchen Glück«, antwortete er. »Talen und ich waren gestern im Ort. Wir hörten, wie ein Bewohner ihre Oase als ›Brunnen Cyrgons‹ bezeichnete.« »Ja, und?« »Erzähl du es, Talen.«

Der junge Dieb wiederholte das Gespräch, das zwischen Ogerajin und Stragen in Beresa stattgefunden hatte.
»Was hältst du davon?« fragte Kalten die Kindgöttin.
»Hat jemand eine Karte?«

Sperber ging zu seinen Sattelbeuteln, holte die fest zusammengerollte Landkarte heraus und brachte sie ihr.

Flöte breitete die Karte auf dem Boden aus, kniete sich davor und studierte sie eingehend. »Es gibt wirklich einige Salzböden da draußen«, gab sie zu.

»Und sie befinden sich an den richtigen Stellen«, warf Bevier ein.

»Ogerajin war dort«, fügte Talen hinzu. »Jedenfalls behauptet er das. Also müßte er den Weg tatsächlich kennen, nicht war?«

»Es gibt auch eine Route der Sklavenhändler, die nach Nordwesten führt«, sagte Mirtai. »Wir haben eine Karawane gesehen, die diesen Weg nahm, als wir hier ankamen. Und Ogerajin erwähnte, daß die Cyrgai Sklaven halten. Also kann man davon ausgehen, daß die Karawane nach Cyrgai unterwegs ist, stimmt's?« »Ihr alle leitet eure Überlegungen von den wirren Worten eines dem Wahn verfallenen Kranken ab«, sagte Flöte skeptisch.

»Du hast selbst gesagt, daß Cyrga irgendwo in Mittelcynesga liegt«, erinnerte Kalten sie, »und alles, was wir beobachtet haben, deutet darauf hin. Selbst wenn Ogerajin einiges ausließ, würden wir doch in die ungefähre Gegend von Cyrga gelangen. Auf jeden Fall wären wir der Stadt bedeutend näher, als wir es jetzt sind.«

»Wenn ihr euch schon alle entschieden habt, frage ich mich, warum ihr mich überhaupt damit belästigt«, sagte Flöte ein wenig gereizt.

Talen grinste sie an. »Wir haben es als unhöflich erachtet, einfach weiterzureiten, ohne dir Bescheid zu geben, Göttin.«
»Das wirst du mir bezahlen, Talen«, drohte sie.

Sperber wandte sich an Mirtai. »Wie weit, glaubt Ihr, ist uns die Karawane inzwischen voraus?«

»Dreißig Meilen«, antwortete sie. »Fünfunddreißig im Höchstfall. Sklavenkarawanen sind nicht sehr schnell.«

»Ich glaube, das ist unsere beste Chance«, meinte er. »Schlüpfen wir in unsere schwarzen Gewänder und reiten los. Wir halten uns etwa drei Meilen hinter der Karawane. Jeder, der uns zufällig sieht, wird uns dann für Nachzügler halten.« »Alles ist besser, als untätig herumzusitzen!« sagte Kalten.

Sperber grinste schwach. »Irgendwie wußte ich, daß du es so sehen würdest.«


»Wir sind hier kaum mehr als Gefangene im goldenen Käfig«, behauptete Kaiserin Chacole und deutete mit weit ausholenden Gesten auf die luxuriöse Ausstattung des Frauenflügels.

Chacole war eine üppige Cynesganerin Mitte dreißig. Sie sprach mit dem müßigen Tonfall der unzufriedenen, gelangweilten Ehefrau, doch ihre Augen blickten hart und verschlagen, als sie Elysoun betrachtete.

Elysoun zuckte die Schultern. »Ich hatte nie Schwierigkeiten, zu kommen und zu gehen, wann ich wollte.«

»Aber nur, weil Ihr Valesianerin seid«, warf Kaiserin Torellia unmutig ein. »Euch macht man Zugeständnisse, uns anderen hingegen nicht. Das halte ich nicht für gerecht.«

Wieder zuckte Elysoun die Schultern. »Gerecht oder nicht – es ist so üblich.« »Warum solltet Ihr mehr Freiheiten haben als wir anderen?« »Weil ich größere gesellschaftliche Verpflichtungen habe.«

»Gibt es denn im Kaiserinnenflügel nicht genug Männer für Euch?«

»Nicht so gehässig, Torellia. Ihr wärt jung genug, um Euch ebenfalls zu vergnügen.« Elysoun blickte die arjunische Kaiserin abschätzend an. Torellia war ein schlankes Mädchen Mitte zwanzig und wie alle Arjunerinnen, sehr unterwürfig, was Chacole offenbar ausnutzte.

»Niemand beschränkt Cieronnas Bewegungsfreiheit«, sagte Chacole.

»Cieronna ist die erste Gemahlin«, erinnerte Elysoun sie, »und die älteste. Wenn schon aus keinem anderen, sollten wir sie allein aus diesem Grund respektieren.« »Ich denke nicht daran, für eine alternde tamulische Matrone die Dienerin zu spielen«, brauste Chacole auf.

»Sie will Euch gar nicht als Dienerin, Chacole«, versicherte Elysoun ihr. »Sie hat bereits mehr Dienstboten, als sie zählen kann – es sei denn, Liatris hat deren Anzahl wieder ein wenig verringert. Cieronna will nur eines von ganzem Herzen – eine prächtigere Krone, als wir anderen sie haben, und das Recht, bei einer feierlichen Prozession uns voraus an der Spitze zu schreiten. Es braucht nicht viel, sie glücklich zu machen. Sie ist nicht gerade die Klügste.« Torellia kicherte. »Da kommt Gahenas!« zischte Chacole.

Die bis zum Kinn in kratzige Wolle gewandete teganische Kaiserin mit den abstehenden Ohren näherte sich ihnen mit mißbilligendem Gesicht – eine Miene, die sie jedesmal aufsetzte, wenn ihr Blick auch nur flüchtig auf die knapp bekleidete Elysoun fiel. »Meine Damen«, grüßte sie mit steifem Nicken.

»Schließt Euch uns an, Gahenas«, forderte Chacole sie auf. »Wir unterhalten uns über Politik.«

Gahenas' Froschaugen leuchteten auf. Teganer lebten und starben für Politik. »Chacole und Torellia wollen eine Bittschrift bei unserem Gemahl einreichen«, erklärte Elysoun. Sie hob die Arme, gähnte herzhaft und reckte sich, so daß ihr nackter Busen sich Gahenas entgegenstreckte. Die teganische Kaiserin wandte rasch den Blick ab.

»Verzeiht, meine Damen«, entschuldigte sich Elysoun, »aber ich bin in der vergangenen Nacht nicht zum Schlafen gekommen.«

»Sind vierundzwanzig Stunden am Tag nicht viel zu wenig für Eure zahlreichen Aktivitäten?« fragte Gahenas spitz.

»Das ist lediglich eine Sache der Planung, Gahenas.« Elysoun zuckte die Schultern. »Man kann alles mögliche schaffen, wenn man seine Zeit nur richtig einteilt. Warum reden wir nicht von etwas anderem, meine Liebe? Ihr mögt mich nicht, und mir ist das völlig egal.

Wir werden einander nie verstehen. Warum sollten wir da mit einem fruchtlosen Versuch unsere Zeit vergeuden?«

»Ihr könnt Euch in der kaiserlichen Schloßanlage frei bewegen, nicht wahr, Elysoun?« fragte Chacole nachdenklich.

Elysoun täuschte neuerliches Gähnen vor, um ihr Lächeln zu verbergen. Chacole war endlich zur Sache gekommen. Elysoun hatte sich bereits gefragt, wie lange sie dazu noch brauchen würde. »Ich kann mehr oder weniger kommen und gehen, wie ich will«, antwortete sie. »Ich nehme an, daß alle Spitzel es leid geworden sind, mich zu überwachen.« »Dürfte ich Euch um einen Gefallen bitten?« »Aber natürlich, gern, Liebste. Was kann ich für Euch tun?«

»Cieronna kann mich nicht ausstehen, und ihre Spione folgen mir auf Schritt und Tritt. Und ich befasse mich derzeit mit einer Sache, von der sie lieber nicht erfahren sollte.«

»Aber Chacole! Soll das heißen, Ihr habt Euch endlich entschlossen, mit Euren Vergnügungen ein bißchen weiterzugehen?«

Die cynesganische Kaiserin blickte sie verständnislos an. Offenbar wußte sie wirklich nicht, was Elysoun damit andeutete.

»Nur keine Scheu, Liebes«, sagte Elysoun und lächelte verschmitzt. »Wir haben doch alle unsere kleinen Vergnügungen hier im Kaiserinnenflügel – sogar Gahenas.« »Ich ganz gewiß nicht!« wehrte die Teganerin entrüstet ab.

»Ach, wirklich, Gahenas? Ich habe Euren neuen Pagen gesehen. Er ist einfach zum Anbeißen! Wer ist denn Euer neuer Liebhaber, Chacole? Ein strammer junger Gardeleutnant? Soll ich ihn für euch ins Schloß schmuggeln?« »Nichts dergleichen, Elysoun.«

»Natürlich nicht!« sagte Elysoun sarkastisch. »Also gut, Chacole. Ich bringe Eure Liebesbriefe hin und her – wenn Ihr sicher seid, daß Ihr mir in der Nähe Eures Liebsten traut. Aber warum wollt Ihr Euch diese Mühe machen, teure Schwester? Gahenas hat doch diesen süßen jungen Pagen, und ich bin sicher, sie hat ihm so allerlei beigebracht – nicht wahr, Gahenas?« Spöttisch zog sie eine Braue hoch. »Verratet mir doch, Liebste, war er noch unberührt? Ehe Ihr ihn in die Finger bekamt, meine ich?«

Gahenas ergriff entsetzt die Flucht, verfolgt von Elysouns spöttischem Lachen.