Prolog
In ihrem Traum stand Jess auf dem
Pfad, der in den Wald führte. Die knorrigen alten Eichen und die
etwas höheren stattlichen Eschen hoben sich als dunkle Silhouetten
vor dem Himmel ab. Hinter ihr lag das weiß getünchte, aus Stein
gebaute Bauernhaus ihrer Schwester, das der Mond in der Stille der
warmen Sommernacht in ein sanftes Licht tauchte. Der süße Duft des
Lavendels und Rosmarins in den Töpfen vermischte sich mit dem
Geruch des wilden Thymians.
»Wo bist du?« Die Kinderstimme kam aus der Tiefe
des Waldes und war in der Stille deutlich zu hören. »Spielen wir
das Spiel immer noch?«
Zur Antwort rauschten die Blätter sanft in der
leichten Brise.
»Hallo?« Jess trat einen Schritt vor. Von dort,
wo sie stand, konnte sie den weiteren Verlauf des Pfads nicht
ausmachen.
Sie bekam keine Antwort.
Jess ging weiter auf die Bäume zu. »Bist du da?«
Ein Frösteln kroch über ihre Haut, sie schauderte.
Im Haus hinter ihr war es still, in den Fenstern
brannte kein Licht. Vor einigen Sekunden war sie sich noch bewusst
gewesen, dass dort Menschen schliefen. Ihre Schwester, Freunde
ihrer Schwester. Ihre eigenen Freunde. Jetzt wusste
sie in der unaufgeregten Logik ihres Traums, dass das Haus
unbewohnt war. Die vorhanglosen Fenster glichen ausdruckslosen
Augen, die Feuerstelle war kalt.
»Wo bist du?« Jetzt war die Kinderstimme näher.
Die Angst war ihr deutlich anzuhören.
»Ich bin hier.« Sie lief noch etwas näher auf den
Wald zu. »Folge meiner Stimme, komm zu mir. Ich bin hier. Auf dem
Pfad!«
Jetzt hörte sie den Wind im Tal, sein leises
Murmeln nahm an Kraft zu, die Zweige der Bäume wiegten sich sacht.
Das Geräusch kam näher, das Flüstern wurde zu einem Brüllen. Jess
spürte die Kälte im Gesicht, dann auch in ihrem Haar. Mondschatten
jagten über das weite Tal und die dunklen Berge.
»Komm her, mein Herz. Du willst doch nicht im
Unwetter draußen sein. Bei mir bist du in Sicherheit. Komm, wir
verstecken uns im Haus!«
Ihre Stimme war zu einem Schreien angestiegen,
sie schleuderte die Worte gegen das Raunen der peitschenden
Äste.
Und dann, als die schwarzen Wolken das Tal herauf
auf sie zurasten, sah sie das Kind im Mondlicht. Ein Mädchen mit
flachsblondem Haar und einem langen Kleid, das in den dunklen
Schatten farblos wirkte, ihre Füße waren bloß. Verzweifelt hielt
sie die Arme vor sich ausgestreckt, die Augen in ihrem
verängstigten Gesicht waren weit aufgerissen.
»Komm, mein Herz! Ich bin hier!« Jess lief ihr
entgegen, jetzt war sie nur noch wenige Meter von ihr entfernt, in
einer Sekunde würde sie das Kind sicher in die Arme
schließen.
Für einen Moment verschwand der Mond hinter einer
Wolke. Als er wieder erschien, war der Sturm verebbt, die Nacht war
still. Das Mädchen war nicht mehr da.
»Jess?« Die Stimme hinter ihr war die ihrer
Schwester. »Jess! Komm ins Haus. Du solltest in der Dunkelheit
nicht allein draußen sein.«
Im Schlaf drehte Jess sich um und drückte das
Kissen an sich. Tränen rannen ihr über die Wangen. Der Traum war
bereits fort.