Kapitel 10
Jemand hatte das kaputte Fenster
repariert. Daniel stand auf der Terrasse und betrachtete die neue
Glasscheibe, die in der Nachmittagssonne glitzerte. Eine Ecke war
noch mit Fensterkitt verschmiert. Er kratzte mit dem Fingernagel
daran, dann drehte er sich um und betrachtete skeptisch den Garten.
Nach einem Rundgang über das ganze Grundstück wusste er, dass sie
nicht mehr da war. Von ihrem Auto war nichts zu sehen, und die
Zimmer oder das, was er von ihnen sah, wenn er durch die Fenster
schaute, wirkten aufgeräumt. Er glaubte, die Leere förmlich greifen
zu können.
Wütend ging er zur Haustür und fischte aus der
Hosentasche den Schlüssel, den er von einem Haken in der Küche
mitgenommen hatte, bevor er heimgefahren war, um seine aufgebrachte
Frau zu beschwichtigen.
»Verdammt nochmal, du hättest mir sagen können,
dass du über Nacht wegbleibst!« Natalies Stimme dröhnte in seinem
Kopf wie eine Endloskassette. Entnervt verzog er das Gesicht. »Ich
habe mir alle möglichen Schreckensszenarien ausgemalt. Dir hätte
etwas zugestoßen sein können!« Dann hatte sie eine Pause gemacht,
ihre Augen hatten sich verengt. »Wahrscheinlich wirst du behaupten,
du hättest wieder nach Büchern gesucht, aber das stimmt nicht, das
weiß ich doch. Du hast die Nacht bei ihr verbracht! Du
Schwein! Das hätte ich mir gleich denken können. Du warst nicht in
Buchläden, du hast die Englischlehrerin gevögelt!«
Er hatte natürlich alles abgestritten, mehr als
einmal, und schließlich hatte sie ihm offenbar geglaubt. Aber er
musste sicherstellen, dass Jess nichts ausplapperte. Schweiß trat
ihm auf die Oberlippe. Er konnte es sich nicht leisten, seine Ehe
aufs Spiel zu setzen. Nicht jetzt, wo seine Beförderung
anstand.
Vom Fuß der Treppe aus schaute er in den oberen
Stock. Ein einzelner Sonnenstrahl erhellte die Decke und
beleuchtete das Gemälde an der Wand, ein Aquarell mit Felsen und
Eiben ganz ähnlich der Szene, die er draußen vor dem Fenster sah.
Langsam ging er nach oben.
Die Schlafzimmertür stand offen. Er trat ein und
sah sich um. Sie hatte nichts zurückgelassen. Die Schränke und
Schubladen waren leer, auf der Kommode lagen weder ihre Kämme noch
Kosmetik. Er ging zum Bett, das ordentlich gemacht und mit dem
Patchwork-Quilt zugedeckt war. Von plötzlicher Wut übermannt, riss
er ihn fort, fiel auf die Knie und presste sein Gesicht aufs Laken,
atmete ihren schwachen Duft ein, fast überlagert vom Geruch des
Waschmittels. Stöhnend krallte er die Finger in die Kissen. Die
Stille im Raum schien immer dichter zu werden, während er zitternd
dort kniete. Nach einer Weile schaute er schließlich auf.
Wo bist du? Dürfen wir jetzt
rauskommen?
Die Kinderstimme war sehr leise.
Er umklammerte die Kissen noch fester.
Wo bist du?
»Nein!« Das Gesicht vor Angst und Wut verzerrt,
sprang er auf, schleuderte das Kissen quer durchs Zimmer und rannte
zur Tür hinaus nach unten.
In der Küche blieb er stehen und versuchte, sich zu
beruhigen. Einbildung, mehr nicht. Seine Fantasie ging mit ihm
durch. Eine Reaktion auf Jess’ verrücktes Verhalten. Einen Moment
hatte er fast geglaubt, eine fremde Macht habe ihn in der Gewalt.
Ein Zorn, gewaltiger als er ihn je zuvor empfunden hatte. Daniel
ging zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.
Er musste weg von hier, und zwar sofort. Zurück nach Shrewsbury,
bevor Natalie wieder misstrauisch wurde.
Als er zur Tür ging, streiften seine Finger den
Schlüssel in seiner Hosentasche, und er nahm ihn heraus. Jess war
fort, das war offensichtlich. Er würde den Schlüssel nicht mehr
brauchen, also konnte er ihn genauso gut wieder an den Haken
hängen. Dann würde auch niemand erfahren, dass er noch einmal hier
gewesen war. Er ging zur Pinnwand. Da hing ein Zettel, den er beim
letzten Mal nicht gesehen hatte. »Kims Nummer« stand darauf,
gefolgt von vielen Ziffern. Kim. Er grinste. War Jess zu ihr
gefahren? Je länger er darüber nachdachte, desto logischer erschien
ihm der Gedanke. Sie hatte geglaubt, sie könnte vor ihm
davonlaufen. Sich verstecken. Ihrer Schwester lauter Lügen über ihn
auftischen. Allerdings hatte sie vergessen, dass er Kim fast
genauso lange kannte wie sie, dass Kim sogar einmal in ihn
verknallt gewesen war, vor langer Zeit, als sie alle zusammen am
College waren. Er griff zum Telefonhörer. Der Wählton bestätigte,
dass die Leitung repariert worden war. Es gab nur eine Möglichkeit
herauszufinden, wo Jess jetzt steckte und wie viel sie den anderen
erzählt hatte. Langsam wählte er die Nummer. Wenn Jess nach Rom
eingeladen wurde, warum nicht auch er? Er schaute auf den Schlüssel
in seiner Hand. Vielleicht sollte er ihn doch behalten. Wer weiß,
womöglich würde er ihn noch einmal brauchen.
»Was meinst du, wo ich mit meinen Nachforschungen
anfangen sollte?« Jess richtete die Frage an Kim, als sie abends
zu viert beim Essen saßen. Sie nahm ein Stück Focaccia aus dem
Brotkorb.
Kim machte eine vage Geste. »Keine Ahnung. Hast du
schon im Internet geschaut? Vielleicht in Bibliotheken? Museen?
Oder römische Ruinen?« Mit Ofenhandschuhen bewaffnet, holte sie
eine Auflaufform köchelnder Käsepasta aus dem Backofen. »Davon gibt
es in Rom mehr als genug.« Sie stellte die Form auf den Tisch und
warf die Handschuhe auf die Arbeitsfläche. »Und jetzt lasst es euch
schmecken, ragazzi!«
»Hast du deine Geisterstimme jetzt schon mal hier
gehört, in Rom?«, fragte William nachdenklich.
Jess schaute ihn verdutzt an. »Nein. Oder vielmehr
nur im Traum.«
»Dann ist sie dir also nicht gefolgt.«
Jess schüttelte den Kopf. »Das tun Geister doch
nicht, oder? Sind sie nicht an einen bestimmten Ort
gebunden?«
Alle schauten ratlos drein.
»Was wir brauchen, ist ein Gespensterfachmann«,
meinte Steph mit einem Lächeln.
»Carmella!«, sagte Kim sofort. »Sie kennt sich mit
solchen Sachen gut aus. Wir könnten eine Séance abhalten und dein
kleines Mädchen fragen, was sie eigentlich von dir will.«
»Ach, ich weiß nicht so recht.« Jess wiegte den
Kopf. »Sind Séancen nicht gefährlich?«
»Es könnte lustig sein«, warf William ein und
grinste. »Habt ihr in eurer Unizeit nicht auch Tischerücken und
derlei Sachen gemacht? Wir haben uns dabei ein paarmal einen
Höllenschrecken eingejagt!«
»Wir wollen uns keinen Höllenschrecken einjagen,
William«, sagte Steph. Ihr Blick ruhte auf Jess. »Diese Sache ist
ernst. Und ziemlich tragisch. Ich vermute, sie könnte sogar
gefährlich sein. Das kleine Mädchen, das in meinem Atelier spukt,
denkt sich nichts dabei, ab und zu ein paar Sachen zu
zerschlagen.«
Jess fiel die Gabel aus der Hand, konsterniert
drehte sie sich zu ihrer Schwester. »Dann weißt du ja doch mehr
über sie, als du zugegeben hast! Es ist dir also auch passiert! Und
ich habe schon an meinem Verstand gezweifelt! Sie hat in deinem
Atelier ein paar Figuren zerbrochen, und ich dachte, ich sei’s
gewesen oder ein Vogel oder die Zugluft. Und ein anderes Mal hat
sie meine Zeichnungen zerkritzelt und eine Flasche Wein zu Boden
geschmissen.«
»Wie bitte?« Kim starrte sie an. »Kein Wunder, dass
du nicht mehr allein dort bleiben wolltest.«
»Hast du nicht gesagt, sie habe dir keine Angst
gemacht?«, fragte Steph leise. »Ich würde bei so etwas schreckliche
Angst kriegen.«
Jess zuckte mit den Schultern. »Ich habe ja auch
Angst gehabt. Zuerst dachte ich, vielleicht wäre jemand anderes
reingekommen, ich meine, ein richtiger Mensch, und hätte das
gemacht. Anfangs bin ich nicht auf die Idee gekommen, dass sie es
gewesen sein könnte.«
»Und ein richtiger Mensch wäre besser als ein
Gespenst? Wer in Gottes Namen sollte denn so etwas tun?«
Entgeistert sah Steph sie an. »Jess!«
Wieder zuckte Jess mit den Schultern. »Ich konnte
nicht klar denken. Ich wusste nicht, was ich von alldem halten
sollte. Ein Einbrecher dort draußen in der Pampa? Oder das
Hausgespenst. So oder so, ich war kurz vorm Durchdrehen!«
Sie merkte, dass William sie eingehend betrachtete,
und schaute auf ihren Teller. Sie wollte seinem Blick nicht
begegnen.
Kim erhob sich. »Jetzt rufe ich bei Carmella
an!«
»Was, jetzt gleich?« Steph schüttelte unglücklich
den Kopf.
»Warum nicht? Wenn sie euer Findelkind
heraufbeschwören kann, finden wir vielleicht heraus, was sie
quält.«
»Kim, ich weiß nicht.« Jess schaute hilfesuchend
von ihrer Schwester zu William. »Das ist kein Spiel. Sie ist
unglücklich und wütend. Und verwirrt.«
»Und wir können ihr helfen. Und herausfinden, was
in Rom passiert ist. Ach, kommt schon! Das ist doch spannend.« Kim
griff zum Hörer.
Steph lehnte sich im Stuhl zurück und machte eine
hilflose Geste, die an Jess gerichtet war. »Ich fürchte, jetzt ist
sie nicht mehr zu bremsen.«
»Und ich bezweifle, dass irgendetwas dabei
herauskommt«, ergänzte William. »Ich kann mir nicht vorstellen,
dass diese Signora so mir nichts, dir nichts Kontakt zu einem
zweitausend Jahre alten Kind von einem unbekannten britischen Stamm
bekommt.«
Als Kims Stimme zu einen aufgeregten italienischen
Wortschwall anstieg, verstummten alle.
»Steph hat Recht, jetzt ist sie nicht mehr zu
bremsen«, sagte William leise und lächelte Jess verständnisvoll zu.
»Ich vermute, wir sollten gute Miene zum bösen Spiel machen!«
Das Telefongespräch endete mit einem euphorischen
Ciao, a presto!, dann drehte sich Kim triumphierend zu den
anderen um. »Sie kommt in einer halben Stunde. Wir haben gerade
noch Zeit, fertig zu essen. Also, lasst es euch schmecken,
ragazzi. Es wird eine lange Nacht werden!«
»Zuerst lege ich die Karten.«
Sie saßen in Kims behaglichem Wohnzimmer um den
Couchtisch, Steph und William auf dem Sofa, Jess und Kim auf Kissen
am Boden, Carmella in einem Sessel am Kopfende
des Tisches. Auf dem Bücherregal hinter ihr flackerten einige
Kerzen, sonst war es dunkel im Raum. Die Fenster standen offen, vom
Hof drang das Plätschern des Brunnens herauf. In den anderen
Wohnungen brannte nirgends Licht, die meisten Bewohner des Palazzo
waren zu ihren Sommerwohnsitzen in den Bergen oder an der Küste
gefahren. Unwillkürlich schauderte Jess.
»Also gut, beginnen wir.« Carmella warf ein Lächeln
in die Runde. Sie hatte ihr schwarzes Haar mit einem leuchtend
roten Tuch zurückgebunden, das ihre lebhaften dunklen Augen noch
mehr zur Geltung brachte.
Dieses Mal hatte sie ihr eigenes Kartendeck dabei.
Es war in ein Tuch aus schwarzer Seide gewickelt, das sie
ehrfürchtig auffaltete, ehe sie langsam die Karten mischte.
Sie sah zu Jess. »Hast du etwas, das dem Kind
gehört?«, fragte sie.
Jess schüttelte den Kopf. »Sie hat vor fast
zweitausend Jahren gelebt!«
»Ah so.« Die Auskunft schien Carmella nicht weiter
zu beeindrucken. »Macht nichts. Jetzt brauche ich ein bisschen
Ruhe.«
Sie schloss die Augen. Die Stille im Raum wurde vom
Geräusch eines Martinshorns unterbrochen, das irgendwo in der Ferne
schrillte.
»Va bene. Fangen wir an.« Carmella legte den
Stapel auf den Tisch und hob ab. William schaute auf und begegnete
Jess’ Blick. Als er den Mund verzog, lächelte sie. Das würde gar
nichts bringen, aber wenn die anderen ihr Vergnügen daran hatten,
wollte sie ihnen den Spaß nicht verderben. Entschlossen verdrängte
sie das leise Unbehagen, das sich tief in ihrer Magengrube regte,
trank einen Schluck Wein und betrachtete dabei die Karten, die
Carmella auf dem Tisch verteilte. In der polierten Oberfläche des
alten Holztischs
spiegelte sich warm das Kerzenlicht, kein Lüftchen wehte zu den
Fenstern herein. Die Nacht war sehr warm und still.
»Gut. Ich fange an mit der Karte des Kindes.«
Carmella griff wie zufällig nach einer Karte und drehte sie um.
»Il fante di bastoni. Hier ist sie ja wieder.«
Jess stockte der Atem. Keiner sagte ein Wort.
Langsam und methodisch drehte Carmella die anderen
Karten in der Auslage um. Eine schwere Stille legte sich über den
Raum. William und Steph tauschten einen Blick, während Carmella
dasaß und die Karten studierte. Sie beugte sich vor und klopfte mit
einem scharlachroten Fingernagel auf den Tisch. Schließlich schaute
sie auf. »Diese junge Dame ist in Gefahr. Jemand aus ihrer
Vergangenheit sucht nach ihr. Jagt sie durch die Jahrhunderte.« Sie
runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Sehr schwierig.
Molto pericoloso. Eine solche Auslage habe ich noch nie
gedeutet. Und ihr wollt, dass ich versuche, mit ihr zu reden?«
Zweifelnd sah sie von Kim zu Jess.
»Ist sie alt geworden?«, fragte Jess im Flüsterton.
»Oder ist sie als Kind gestorben? Kannst du das in den Karten
sehen?«
Carmella betrachtete wieder die Karten auf dem
Tisch. »Sie spricht aus zwei Welten.« Sie fuhr mit den Fingern über
die mittleren Karten. »Du hast gesagt, sie hat vor zweitausend
Jahren gelebt. Das heißt, sie ist jetzt natürlich ein
Geistwesen.«
»Ja, aber wie alt ist sie geworden?« Jess beugte
sich vor. »Kannst du ihre Familie sehen? Sie hat einen Bruder und
eine Schwester verloren. Sind die beiden auch da?«
»Die Karten sprechen von Qualen und Angst. Sie
sprechen von Entschlüssen.« Carmella klopfte wieder mit dem Finger
auf den Tisch. »Sie sprechen von Verlust und Zorn
und Trauer. Und sie sprechen von Liebe. Am Ende ihres Lebens hat
sie Liebe gefunden, aber für wie lange und mit wem, das kann ich
dir nicht sagen.« Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht war es im
Augenblick ihres Todes.« Kopfschüttelnd fegte sie die Karten zu
einem Haufen zusammen und lehnte sich zurück. »Ich weiß nicht
recht, ob wir sie wirklich rufen sollen.«
»Wie bitte?« Kim starrte sie an. »Natürlich tun wir
das. Wie soll Jess sonst herausfinden, was mit dem Mädchen passiert
ist? Sie hat mit ihr gesprochen, und Steph auch. Die beiden kennen
sie schon. Sie hat mit ihnen in Wales kommuniziert. Jetzt möchten
wir, dass sie mit uns hier in Rom spricht. Kannst du das
bewerkstelligen?«
Mit einem Schulterzucken griff Carmella nach ihrem
Weinglas, das auf dem Regal hinter ihr stand, und trank
nachdenklich einen Schluck. »Für Geistwesen sind alle Orte und
Zeiten gleich. Es ist völlig egal, wo man ist«, wandte sie sich
wieder an die anderen.
»Es sei denn, sie ist fest mit dem Haus in Wales
verbunden. Oder stimmt das nicht? Bleibt ein Geist nicht immer an
dem Ort, an dem etwas Bestimmtes passiert ist?«, warf William ein
und hob die Augenbrauen.
Carmella entging sein skeptisches Lächeln nicht.
»Du glaubst nicht daran. Das macht nichts. Wenn sie reden will, tut
sie es so oder so. Kommt.« Sie setzte ihr Weinglas ab und rutschte
auf den Rand ihres Sessels vor. »Wir halten uns an den Händen.« Sie
streckte die Arme aus und reichte Kim eine Hand, William die
andere. Nach kurzem Zögern ergriff er sie und streckte seine andere
Hand nach Jess aus.
Eine ganze Minute schwiegen sie, dann begann
Carmella zu sprechen. Ihre Stimme war tief und rauchig. »Sag mir
noch einmal den Namen von diesem Mädchen in Wales.«
»Eigon«, flüsterte Jess.
Carmella nickte. »Gut. Und jetzt bleibt still
sitzen. Schließt die Augen. Ich werde sie rufen.«
Jess hielt die Luft an. Neben ihr saß William, er
hatte die Augen wie befohlen geschlossen, um seine Lippen spielte
ein Lächeln. Seine Hand lag warm und fest in ihrer. Stephs Hand auf
der anderen Seite war etwas feucht. Jess öffnete ein Auge und warf
einen Blick zu ihr. Im Kerzenlicht sah sie sehr blass aus, ihr
Gesicht war ruhig und unbewegt wie Marmor.
»Eigon, wir möchten mit dir sprechen. Zeig dich
hier bei uns. Vielleicht können wir dir in deinem Unglück helfen.«
Carmellas kehliger italienischer Akzent hallte in den Schatten.
»Eigon, ich bitte dich, hier bei uns zu erscheinen. Steph und Jess
kennst du, du hast sie schon mehrmals um Hilfe gebeten. Wir sind
jetzt hier, weil wir deine Bitten erfüllen möchten.«
Carmella verstummte. Die Kerzen hinter ihr
flackerten, eine leichte Brise wehte zum Fenster herein. Dort
draußen im Äther war jemand, der lauschte, sich wappnete. Carmella
runzelte die Stirn. »Bitte, komm zu uns, Eigon. Wir sind für dich
da.« Ihre Stimme wurde heller und lauter. Jetzt bat sie nicht mehr,
sie befahl. »Komm und erzähl uns deine Geschichte, Eigon von
Wales!«
»Wales gab es damals noch nicht«, flüsterte Jess,
die Augen fest geschlossen.
Carmella zuckte mit den Achseln. »Eigon von den
Stämmen, kannst du mich hören? Die Karten sprechen von Liebe und
Trauer und Angst. Erzähl uns deine Geschichte. Wir hören dir
zu.«
Der Lärm einer Sirene, die in der Ferne irgendwo im
Stadtzentrum schrillte, vertiefte nur die Stille im Raum, in dem
die Kerzen wieder flackerten. Eine der Flammen brannte herab und
erlosch mit einem leisen Zischen. Jess
bekam einen trockenen Mund und wurde sich bewusst, dass sie
Williams und Stephs Hände fest umklammerte.
»Bene. Sie kommt«, hauchte Carmella. Ihre
Augen waren geschlossen, ihre Gesicht unbewegt. »Spürt ihr sie auch
hier im Raum?«
Das plötzliche Scheppern der Türglocke, das durch
die Wohnung hallte, zerriss die Atmosphäre mit erschreckender
Brutalität.
»Dio!« Ärgerlich öffnete Carmella die Augen.
»Das ist so gefährlich! Welcher Idiot läutet zu mezzanotte
an der Tür?« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »So spät ist
es schon!« Alle starrten sich benommen an.
Kim rappelte sich auf, ging zur Tür und knipste das
Licht an. »Mein Gott, das tut mir wirklich leid. Ich habe keine
Ahnung, wer so spät noch kommen könnte. Wer immer es ist, ich
schicke ihn fort, dann machen wir weiter.«
»Zu spät! Sie ist weg!« Carmella griff nach ihrem
Glas und leerte es in einem Zug. »Der Bann ist gebrochen. Jetzt
kommt sie nicht mehr.«
»Doch.« Jess hatte sich nicht bewegt, sie starrte
noch auf den Tisch, die Augen fest auf den Kartenhaufen gerichtet.
»Ich spüre sie. Sie ist noch da.«
Kim blieb zögernd in der Tür stehen. »Ich schicke
die Leute weg, wer immer sie sind. Das Mädchen kommt bestimmt
wieder, Carmella. Es will mit Jess reden.«
Wieder klingelte es. Kim verschwand im Flur.
William holte die Weinflasche und schenkte allen nach. »Du glaubst
wirklich, dass sie sich zeigen wollte?«, fragte er leise.
Jess nickte. »Ich habe sie gespürt, sie war hier
bei uns im Raum.«
Carmella sah sie über den Tisch hinweg an. »Wozu
brauchst du mich? Du kannst es doch selbst. Du rufst sie, und sie
kommt.«
Jess presste die Lippen aufeinander. »So leicht
kann das doch nicht sein.«
»Warum nicht? Die Toten sind immer bei uns. Hat
nicht einer eurer englischen Dichter das gesagt? Du als
Englischlehrerin müsstest das ja wissen.«
»Die Vergangenheit. Die Vergangenheit ist immer bei
uns«, sagte Jess und lächelte. »L. P. Hartley.«
»Ist das nicht dasselbe?«
»Nein, nicht ganz.«
»Also gut, wie wär’s dann mit Il n’y a pas de
morts. Das war doch Maeterlinck, oder?«
Jess lächelte wieder. »›Es gibt keine Toten,
sondern nur Lebende, die ihre Form geändert haben.‹ Das passt schon
eher. Hast du sie gesehen, Carmella?«
Carmella schüttelte den Kopf. »Ich habe gespürt,
wie sie in den Schatten schwebt.«
»Will sie wirklich in Kontakt …« Jess brach ab, als
Kim in der Tür erschien.
»Ratet mal, wer gekommen ist! Jetzt ist unser
College-Treffen perfekt!« Sie trat zur Seite.
Hinter ihr stand Daniel.
Blanke Angst überkam Jess, als er in die Runde
lächelte. »Wie ich sehe, hat Kim vergessen, euch zu sagen, dass ich
komme. Welche Überraschung, zu erfahren, dass ihr alle hier seid!«
Er hatte eine elegante lederne Reisetasche in der Hand, die er auf
den Boden fallen ließ, ehe er in den Raum trat. »Jess! Wie geht’s?«
Bevor sie sich zur Seite drehen konnte, hatte er ihr einen Kuss auf
die Wange gegeben. »Steph, William - ein College-Treffen in der
Tat! Und das ist …?« Er verbeugte sich leicht vor Carmella, die ihn
bestürzt anstarrte.
»Meine Freundin Carmella Bianchi«, stellte Kim
rasch vor. »Es tut mir leid, ganz so bald hatte ich nicht mit dir
gerechnet,
Daniel.« Sie warf einen entschuldigenden Blick zu Jess. »Wir haben
gerade eine Séance abgehalten. Aber die können wir bestimmt
unterbrechen, damit du nach deiner Reise etwas in den Magen
bekommst.«
»Nicht nötig«, wehrte Daniel ab. »Ich habe im
Flugzeug etwas zu essen bekommen. Bitte macht einfach weiter. Ich
will wirklich nicht stören. Und eine Séance - das klingt spannend.«
Er setzte sich auf die Armlehne der Couch zwischen Steph und Jess,
die am Boden zu seinen Füßen saß. »Wirklich, macht weiter.«
»Nein!« Carmella stand auf. »Nein, jetzt ist die
Zeit nicht richtig. Wir versuchen es ein anderes Mal wieder. Die
Energien haben sich verändert. Das Kind ist fort.«
»Das Kind?« Daniel hob fragend die Augenbrauen.
»Lasst mich raten. Das Kind aus Ty Bran?«
»Sie haben sie gesehen?« Wieder starrte Carmella
ihn fassungslos an.
»Natürlich. Als ich bei Jess zu Besuch war.« Er sah
zu Jess und lächelte. Seine braunen Augen funkelten vor
Boshaftigkeit. Allerdings schienen sie sich etwas verändert zu
haben, im Kerzenlicht waren sie bernsteinfarben. »Hat sie euch
nicht erzählt, dass ich sie besucht habe?« Er legte ihr eine Hand
auf den Arm.
»Doch«, sagte Jess kalt. »Ich hab’s erwähnt.« Ihr
entging nicht, dass Steph und William sie verwundert beobachteten.
Sie stand auf und ging langsam auf die Tür zu. »Wenn Carmella jetzt
sowieso geht, dann lege ich mich gleich ins Bett. Ich bin sehr
müde.« Sie warf einen Blick zu Carmella. »Können wir es ein anderes
Mal versuchen?«
»Du brauchst mich nicht«, antwortete Carmella leise
und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Dormi bene, Jess.
Stammi bene, sì?« Sie schaute über Jess’ Schulter hinweg kurz
zu
Daniel. »Die Karten, die ich für dich gelegt hatte«, flüsterte
sie. »Neulich. Ich habe ihn gesehen. Pass auf, dass du nie allein
bist, ja?«
Jess blickte sie fragend an.
Mit einem Achselzucken griff Carmella nach ihrer
Handtasche, sammelte ihre Karten ein und wickelte sie in den
Seidenschal. Dann steckte sie sie in die Tasche und zog den
Reißverschluss zu. »Ciao! Bis bald!«
Kim sah ihr enttäuscht nach. »Es tut mir leid,
Jess. Wir waren so nah dran! Es war unheimlich aufregend!«
»Habe ich gestört?« Daniel klang zerknirscht. »Ich
hätte vom Flughafen anrufen sollen. Ich habe einen früheren Flug
bekommen, als ich dachte, und wollte euch überraschen.« Sein Blick
streifte Jess und kehrte zur Gastgeberin zurück. »Ich habe
Mitbringsel dabei, Kim. Zur Wiedergutmachung, ja? Draußen in meiner
Tasche. Whisky, Shortbread und ein paar nette Kleinigkeiten.«
»Und wo ist Natalie?«, fuhr Jess dazwischen.
»Mit den Kindern in Shrewsbury.« Daniels Stimme war
kalt. »Wir dachten, dass Rom im Sommer für die Kinder nicht gerade
ideal ist. Vor allem nicht, wenn ihre Großeltern sie von vorn bis
hinten verwöhnen.«
»Und was hast du so dringend in Rom zu erledigen?«,
fragte Jess brüsk. William und Steph betrachteten sie mit
wachsender Verwunderung.
Daniel lächelte. »Erinnerst du dich nicht, Jess?
Ich habe dir doch genau erklärt, was ich hier zu tun habe. Ich habe
Natalie gesagt, dass ich an einer Konferenz über Bildungsfragen
teilnehme.«
»Von der höre ich das erste Mal.« Es gelang ihr,
ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. Sie ging zur Tür. »Gute
Nacht«, sagte sie in die Runde.
»Gute Nacht, Jess«, sagte William leise.
Sie warf ihm ein Lächeln zu. Einen Moment hatte sie
ganz vergessen, dass er da war.
Im Korridor blieb sie kurz stehen und versuchte,
sich zu sammeln und einen klaren Gedanken zu fassen. Aus dem
Wohnzimmer drang lautes Lachen. Was in aller Welt sollte sie jetzt
tun?
Als sie die Tür ihres Zimmers hinter sich zuzog,
stellte sie fest, dass im Schloss ein riesiger, kunstvoll
geschmiedeter Schlüssel steckte, der sich mühelos drehen ließ. Mit
der Hand auf der Klinke blieb sie stehen und redete sich selbst gut
zu. Im Moment konnte Daniel ihr nichts anhaben. Er würde es nie
schaffen, die schwere Tür einzutreten. Davon abgesehen, was konnte
er hier, mit drei anderen Leuten in der Wohnung, überhaupt
tun?
Sie ging zum Fenster, öffnete die Läden und sah
nach draußen. Die anderen drei Seiten des Palazzo lagen alle in
Dunkelheit da. Der Hof unter ihr mit den Töpfen und Statuen und dem
Brunnen war nicht auszumachen. Nur das Plätschern des Wassers trieb
durch die heiße Nachtluft zu ihr herauf. Sie ließ die Fenster offen
stehen und drehte sich zum Bett um.
Gut drei Meter vor ihr stand eine Gestalt auf dem
verblichenen Aubusson-Teppich.
»Eigon?«, flüsterte sie. Ein eiskalter Schauer lief
ihr über den ganzen Körper.
Es war ganz eindeutig Eigon: klein und zierlich,
ihr wirres dunkles Haar im Nacken zu einer Art Knoten
zusammengefasst. Sie trug eine helle lange Tunika, um ihre
Handgelenke lagen Silberreifen. Jess starrte das Mädchen an. »Du
bist gekommen. Du hast Carmella gehört …« Doch die Gestalt begann
vor ihren Augen zu verblassen. Zuerst sah Jess durch den feinen
Stoff der Tunika den Teppich, dann das Bett, und schließlich war
Eigon völlig verschwunden.
»Eigon!«, rief Jess. »Warte! Ich will dir
helfen!«
Sie ließ sich in den tiefen Samtsessel neben dem
Fenster sinken und merkte, dass sie am ganzen Leib bebte. Sie hatte
das Kind gesehen, hatte ihm in die Augen geblickt. Eigon war zu ihr
gekommen.
Jess schaute zur Tür. Sie wollte zu Steph. Sie
wollte mit Steph reden. Aber dafür musste sie das Zimmer
verlassen.
Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und legte das
Ohr gegen das schwere Holz. Warum zum Teufel war Daniel nach Rom
gekommen? Weshalb war er ihr gefolgt? Trotz ihrer Angst regte sich
Wut in ihr. Wollte er sie derart einschüchtern, dass sie
Stillschweigen bewahrte? Oder wollte er sie immer noch
umbringen?
Kopfschüttelnd trat sie von der Tür zurück und rief
sich selbst zur Ordnung. Das war doch Unsinn. Natürlich wollte er
sie nicht umbringen, das hatte er nie gewollt. Das war
melodramatischer Quatsch. Er hatte ihr einen Schrecken eingejagt,
und sie hatte überreagiert. Sie brauchte ihm nur zu versichern,
dass sie niemandem erzählen würde, was er getan hatte. Schon aus
Selbstschutz würde sie das nicht. Oder doch? Plötzlich zitterte sie
wieder. Eine kühle Brise wehte zu den Fenstern herein, selbst die
schweren Vorhänge bewegten sich.
Vom Gang war ein Knarzen zu hören. Jess erstarrte.
Da draußen war jemand. Sie drückte das Ohr wieder an die Tür und
lauschte angestrengt. Stille. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr
auf der anderen Seite jemand gegenüberstehen. »Daniel?« Sie hauchte
das Wort tonlos in die Stille. Langsam bewegte sich die Klinke, die
Tür ächzte leise, als jemand sich von außen dagegenstemmte. Das
Schloss gab nicht nach. Jess hörte ein leises Lachen. Ein
männliches Lachen.
Sie lief zum Fenster und schaute hinaus. Vom Hof
konnte unmöglich jemand in ihr Zimmer gelangen. Die Mauer
war zu hoch, und es gab weder Rankpflanzen noch Regentraufen. Quer
vor den unteren Teil des Fensters verlief ein schmiedeeiserner
Rost, eher ein Halter für Topfpflanzen als ein Schutzgitter. Von
dort konnte niemand hereinkommen. Aber einen Fluchtweg gab es auch
nicht.