Kapitel 28
Jess saß da und schaute zum Fenster hinaus. Am Himmel wurde es dunkler, die Farben verblassten ein wenig. Sie sah auf ihre Uhr und stellte überrascht fest, dass es schon nach acht war. Wo blieb William bloß? Mit steifen Beinen stand sie auf. Könnte sie nur Eigons Gewissheiten haben und Trost finden in einem Glauben, der ihr half, das alles durchzustehen. Eigon hatte den Großteil einer Woche im Gebet verbracht, unterstützt und getröstet von Petrus und einem ganzen Haus voll freundlicher, hilfsbereiter Christen. Petrus war es auch, der dafür gesorgt hatte, dass ihr die grauenhaften Schilderungen der Männer erspart blieben, die zum Bauernhaus gegangen waren, um die Toten zu begraben. Es war Petrus, der jeden Tag mit ihr über die Menschen sprach, die sie verloren hatte, Petrus, der mit ihr betete und sie aufrichtete, Petrus, der ihr erklärte, dass Julius und Antonia und Felicius jetzt bei den Engeln waren, dass sie sie alle eines Tages wiedersehen würde, dass vielleicht sogar ihr Vater und auch ihre Mutter genügend mit dem Wunder Christi in Berührung gekommen waren, um ihn in der Stunde ihres Todes um seinen Beistand zu bitten.
Eigon entsann sich allerdings Petrus’ früherer Worte, sie würde eines Tages ins Land ihrer Geburt zurückkehren. In Rom erwartete sie jetzt nichts als Gefahr und Kummer. Die Reiseplanungen lenkten sie von der schmerzlichen Leere ab. Sie sollte nach Ostia fahren und sich dort nach Massilia einschiffen. Von dort würde sie über Land reisen, auf gut instand gehaltenen Handelswegen immer weiter nach Nordwesten gehen und die Botschaft von der Liebe Christi mit sich führen. Aber sie sollte sich nicht allein auf den Weg machen. Petrus bestimmte zwei Personen zu ihrer Begleitung. Eine davon war Drusilla, die sich in den vergangenen Tagen als zuverlässige, verständnisvolle Freundin erwiesen hatte. Sie war eine kinderlose Witwe, die, wie sich herausstellte, überraschenderweise große Abenteuerlust verspürte. Zum Dritten im Bunde bestimmte Petrus Commios, einen Freigelassenen, der mit seinen Eltern aus Gallien nach Rom gekommen war und jetzt zu Petrus′ vertrautesten Schülern gehörte. Er freute sich sehr, in seine Heimat zurückzukehren.
Es blieb keine Zeit, die Abfahrt genau auszuarbeiten. Gerüchteweise war zu hören, dass Titus Marcus Olivinus überall verlauten ließ, er suche nach Eigon und habe eine beträchtliche Belohnung auf ihre Gefangennahme ausgesetzt. Spione der Prätorianer lauerten überall. Diese Nachricht behielt Petrus allerdings für sich. Er wollte die Last auf Eigons Schultern nicht unnötig vergrößern. Solange er dafür sorgte, dass sie Rom sobald wie möglich verließ, war sie in Sicherheit. Er konnte nicht wissen, dass Titus keine zwei Straßen entfernt im öffentlichen Bad im Dampfraum saß und der hochinteressanten Information eines Händlers lauschte, der an ebendem Vormittag eine Ladung Olivenöl angeliefert hatte.
 
Das Klopfen riss Jess aus ihrer Träumerei. »Signorina?« Es war Margaretta. »Carmella ist da. Sie wartet unten auf Sie.«
Carmella saß im Empfangszimmer. »Jess! Gott sei Dank!« Sie sprang auf. »Ist alles in Ordnung? William hat völlig aufgelöst bei mir angerufen! Ist er schon hier? Er sagte, er werde sofort hierherkommen. Er hat sich solche Sorgen gemacht. Sein Handy hat kein Netz gefunden, und als er dich dann zurückrief, bist du nicht mehr drangegangen, also habe ich ihm versprochen, dass ich herkomme und nach dir schaue.«
»Es tut mir leid. Wie immer habe ich völlig die Zeit vergessen.« Jess ließ sich auf den Stuhl neben sie fallen. »Ich glaube, mein Handy war wieder ausgeschaltet.«
Carmella schüttelte den Kopf. »Du machst dem armen Mann das Leben wirklich schwer, Jess.« Sie seufzte. »Blöderweise habe ich mein Handy verloren. Also konnte ich ihn erst von hier aus wieder anrufen.«
»Daniel hat dein Handy geklaut.« Jess schnitt eine Grimasse. »Kannst du dir das vorstellen? Er ist einfach in deine Wohnung spaziert und hat es mitgenommen. Er sagte, du hättest ihn nicht mal gesehen.«
Carmella wurde blass. »Wann?«
»Du hast jemanden zum Mittagessen erwartet und die Tür einfach geöffnet, ohne nachzusehen. Er hat die Nummer aus deinem Handyspeicher rausgefischt und hier angerufen und sich nach der Adresse erkundigt, und dann ist er hier aufgetaucht. Überhaupt nichts Übernatürliches. Ganz einfach. Sogar diese Pension war letztlich nicht sicher.«
Carmella schüttelte den Kopf. »Ach, Jess, das tut mir wirklich sehr leid. Der Mann ist des Teufels. Aber dir fehlt nichts? Was hat er gemacht?«
Jess lächelte spöttisch. »Man könnte sagen, dass er verjagt wurde.«
Carmella seufzte. »Du brauchst einen Drink. Warte.«
Jess schloss die Augen, während Carmella den Raum verließ. Als sie sie wieder öffnete, hielt Carmella ihr ein kleines Glas vor die Nase. »Geeister Limoncello. Trink das, dann geht’s dir besser. Ich rufe jetzt mal von der Küche aus William an, okay?«
Erschöpft schloss Jess die Augen wieder und lehnte sich im Stuhl zurück. Es war so viel passiert, in den letzten Nächten hatte sie so wenig geschlafen, dass sie sich fragte, ob sie überhaupt die Kraft haben würde, wieder aufzustehen.
War es richtig, mit William nach England zurückzufahren? Reiste denn Eigon jetzt dorthin? Vor Schreck riss sie die Augen auf. Sie wusste nicht, ob Eigon wirklich entkommen war. Titus wusste, wo sie Unterschlupf gefunden hatte. Petrus traf zwar alle Vorbereitungen für ihre Abreise, aber noch war sie nicht fort. Wie lange dauerte es, eine solche Reise zu organisieren? Und was, wenn Titus sie noch vor ihrer Abfahrt erwischte? Jess spürte, wie ihr das Adrenalin durch die Adern schoss.
»Okay, ich habe ihn erreicht.« Carmella kam zu Jess zurück. »Er ist unterwegs.«
»Wie lange braucht er noch?« Panisch starrte Jess sie an.
»Nicht lange.« Carmella setzte sich neben sie. »Mach dir keine Sorgen, Jess. Du stehst das alles durch. Jetzt kann Daniel dich nicht mehr kriegen. Jetzt sind wir alle hier.«
»Nein! Das verstehst du nicht. Es geht nicht um Daniel. Es ist …« Sie fasste Carmella am Arm. »Bitte, du musst mir einen Gefallen tun. Jetzt, bevor er kommt. Was ist passiert? Was ist mit Eigon passiert? Ist sie ihm entkommen? Wo sind deine Karten? Hast du sie dabei?«
Carmella schüttelte den Kopf. »Nein, Jess, die habe ich nicht dabei.« Besorgt schaute sie in Jess’ blasses Gesicht. »Jetzt lass es gut sein, ja? Du hast alles in deiner Macht Stehende getan. Du weißt genug. Schütz dich, Jess. Überlass Eigon der Vergangenheit.«
»Das kann ich aber nicht! Verstehst du das denn nicht? Ich muss es wissen. Es kostet dich nur fünf Minuten. Bitte.« Plötzlich schnippte Jess mit den Fingern. »Ach, ich weiß!« Bevor Carmella etwas sagen konnte, lief sie an ihr vorbei in die Küche. Margaretta stand gerade am Tisch und schnitt Zucchini. Erstaunt sah sie auf, als Jess zur Tür hereinstürzte.
»Bitte, es tut mir leid. Kann ich eine Schüssel Wasser haben? Hier, die ist gut.« Sie griff nach der leeren Salatschüssel, die auf dem Tisch stand, lief damit zum Waschbecken, füllte sie halb mit Wasser und trug sie nach nebenan. Ihre Wirtin starrte ihr mit offenem Mund nach. »Hier, schau hier rein. Du hast gesagt, Wasser funktioniert genau so gut wie deine Kristallkugel.« Sie stellte die Schüssel so heftig auf den Tisch, dass Wasser auf das polierte Walnussholz schwappte.
»Jess …!«
»Jetzt mach schon, schnell, bevor William kommt. Schau einfach rein. Bitte.« Margaretta erschien in der Tür, sie wirkte etwas empört, dass ihr die Schüssel vor der Nase weggeschnappt worden war.
»Carmella?«
Carmella schaute auf. Sie sagte schnell etwas auf Italienisch, aber Jess achtete sowieso nicht darauf. »Jetzt mach schon, schau. Bitte.« Sie blickte auf. Ein Taxi war vor die Pension vorgefahren. »Zwei Minuten. Bevor er reinkommt. Bitte, Carmella!«
Seufzend beugte Carmella sich über die Schüssel, strich sich das Haar aus dem Gesicht und schaute tief ins Wasser. Sie war da. Das rätselhafte Gesicht aus der Vergangenheit, das ihren Blick erwiderte. Sie konnte die Züge der Frau sehen, den Schleier auf ihrem Haar, die intelligenten Augen, die Carmella ebenso beobachteten, wie Carmella sie beobachtete.
Jess war aufgesprungen und fing William an der Tür ab. »Warte. Eine Sekunde noch.« Sie legte einen Finger auf die Lippen. »Nur eine Sekunde.«
William starrte über ihre Schulter zu Carmella. »Was ist denn los?«
»Sie schaut nur etwas für mich nach.«
Abrupt setzte Carmella sich auf. Wer immer es war, es war nicht Eigon. Sie schüttelte den Kopf. »Es geht nicht, Jess. Es tut mir leid. So kann ich das nicht. Ich kann mich nicht konzentrieren. Da kommt nichts.«
»Aber ich muss es wissen.« Jess hörte selbst, wie weinerlich sie klang.
»Ich schaue nach, wenn ich zu Hause bin, Jess. Versprochen.« Carmella stand auf, ging zu ihr und legte ihr fest die Hände auf die Unterarme. »Und du geh jetzt mit William. Ich rufe dich an, das verspreche ich dir. Ich schaue heute Abend in meine Kugel, wenn es still ist und ich mich richtig konzentrieren kann. Und jetzt geh und hol deine Sachen.«
»Hast du ihm gesagt, wohin er fahren soll?«, fragte Jess matt, als sie sich ins Taxi setzten.
»Ich hab’s ihm gesagt.« Seufzend lehnte William sich zurück und schloss die Augen. »Ich dachte, ich hätte dich wieder verloren.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. Ein Teil von ihr war immer noch im Empfangsraum in der Pension und spähte über Carmellas Schulter in die Schüssel mit Wasser. Da war nichts. Carmella hatte Recht. Nur ein unruhiges Wirbelmuster.
»Ich habe vorhin noch schnell bei der Fluggesellschaft angerufen«, sagte William, während das Taxi durch die Straßen sauste. »Wir haben Plätze für den letzten Abendflug nach Stansted.«
Jess lächelte ihm matt zu. »Ich bin wirklich nervig gewesen, ich weiß schon. Ich bin dir so dankbar, William. Du bist mein strahlender Retter in der Not.«
»Wirklich?« Er zuckte mit den Schultern.
»Das weißt du genau. Du hast für mich dein Leben aufs Spiel gesetzt.« Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Er legte den Arm um sie. »Stets zu Diensten.«
Er nahm den Arm nicht fort, während das Taxi durch die Vororte fuhr. »Hast du dir schon überlegt, was du machen willst, wenn das alles vorbei ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Irgendwie kann ich noch nicht so weit denken.«
»Wir können das nicht einfach auf sich beruhen lassen. Wir müssen zur Polizei gehen. Der Mann ist wirklich gefährlich, Jess.«
Sie presste die Lippen aufeinander. »Es gibt keine Beweise, William. Trotz allem, es gibt keine Beweise, für überhaupt nichts. Selbst wenn du ihnen erzählst, was er mit dir gemacht hat, ich wette, es gibt keine Beweise dafür. Die Verletzungen, die hättest du dir auch bei einem Sturz zuziehen können, genauso gut wie ich. Es gibt ja keine Zeugen. Und die Drogen, die er dir gegeben hat - sind die noch nachweisbar? Selbst wenn es noch Spuren in deinen Haaren oder sonst wo gäbe, du kannst nicht beweisen, dass er es war, oder? Das Einzige, womit ich ihn belangen könnte, ist, dass er mir auflauert. Das würdet ihr wahrscheinlich alle bezeugen. Aber nicht mal dafür gibt es irgendwelche Beweise. Nichts. Er braucht einfach nur alles rundweg zu leugnen.«
»Willst du wirklich zulassen, dass er im Herbst einfach wieder zu unterrichten beginnt, als sei nichts passiert? Erwartest du wirklich, dass ich mit ihm zusammen am College arbeite?«
Schweigend schüttelte sie den Kopf.
»Also, was können wir tun?«
»Ich weiß es nicht, William.« Ihre Gesichter waren sich sehr nah, er beugte sich noch ein kleines Stück vor und küsste sie auf die Lippen. »Jess.« Sie bewegte sich nicht, also gab er ihr noch einen Kuss, einen festeren diesmal. »Ich bin wirklich dumm gewesen, Jess. Wir hätten uns nie trennen sollen.« Er umfasste ihr Gesicht mit den Händen und sah ihr tief in die Augen. »Jess?«
Sie schüttelte den Kopf und wich ein Stück von ihm zurück. »Es tut mir leid, William, ich kann nicht. Nicht jetzt. Nicht nach allem, was passiert ist.« Sie drehte sich um und starrte zum Fenster hinaus. Die Sonne war untergegangen, es wurde Abend.
Seufzend lehnte er sich zurück. »Natürlich. Es tut mir leid. Das war dumm von mir.«
»Nein, das stimmt nicht!« Sie wandte sich wieder ihm zu. »Nein, William. Das war nicht dumm von dir. Es war großartig von dir. Das Problem bin ich. Ich kann im Moment einfach nicht darauf reagieren. Irgendwo tief in meinem Inneren ist ein Schalter, der momentan auf Aus steht. Es tut mir wirklich so leid!« Nur mit größter Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten.
Der Taxifahrer warf einen Blick in den Rückspiegel und schürzte mitfühlend die Lippen. Das hatte er so oft schon miterlebt. Ganz unabhängig von der Nationalität und vom Alter. Heutzutage sogar unabhängig vom Geschlecht. Die Liebe war die Hölle! »Die Via Appia«, rief er über die Schulter. »Sehen Sie? Eine antike römische Straße.« Das sagte er jedem Touristen, den er nach Ciampino fuhr.
»Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder einen Mann werde lieben können.« Jetzt schaute Jess wieder zum Fenster hinaus, ihre Stimme war belegt. »Nicht nach dem, was er getan hat.« Die gerade, schmale Straße, die hier zwischen hohen Wänden verlief, wurde von den Scheinwerfern des Taxis hell erleuchtet. Sie schauderte.
William blickte grimmig drein. »Dafür wird er büßen, Jess. Auf die eine oder andere Art, das schwöre ich dir.« Er griff nach ihrer Hand. »Ich bin immer noch dein strahlender Retter in der Not. Du darfst nie denken, dass du allein bist.«
Sie lächelte wehmütig. »Ich weiß. Danke.«
Sie checkten ein und gingen dann direkt in die Abflughalle. Erst dort hörte Jess auf, ständig über die Schulter zu schauen in der Erwartung, jeden Moment Daniel zu sehen.
William entdeckte schließlich zwei Sitzplätze für sie. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte. Allmählich setzte die Erschöpfung ein. Die Augen wurden ihr schwer, die Geräusche von den Fernsehern, die von der Decke hingen, traten in den Hintergrund. Sie war noch in Italien. Warum in Gottes Namen versuchte sie denn nicht, Kontakt mit Eigon aufzunehmen? Sie warf einen Seitenblick zu William. Seine Augen waren geschlossen. Jetzt hatte sie die Gelegenheit, Eigon aus der Vergangenheit herbeizurufen. Sie zu fragen, was passiert war. Jess schloss die Augen, atmete langsam und tief durch und versuchte sich zu entspannen. Ganz in ihrer Nähe lachten zwei Leute lauthals. Sie drehte sich von ihnen fort und kuschelte sich so gut wie möglich in den Stuhl. »Eigon?«, flüsterte sie. »Wo bist du?« Sie schaute angestrengt nach innen, suchte in der Dunkelheit in ihrem Kopf nach Bildern, aber es kam nichts.
»Eigon?«
Unvermittelt setzte sie sich auf und sah sich um. Hatte sie laut gesprochen? Sie warf einen Blick zu William. Er schlief offenbar tief und fest. Jess lehnte sich wieder im Stuhl zurück und schloss erneut die Augen. Wieder versuchte sie, sich das Haus vorzustellen, die hellen, sonnendurchfluteten Räume rings um die Atrien, das Plätschern des Wassers in den Brunnen, Drusillas helles Lachen, nie aufdringlich, immer teilnahmsvoll nach den entsetzlichen Ereignissen der letzten Zeit. Eigon, die mit ihr und Petrus ihre Reiseroute besprach; Commios, der damit beschäftigt war, die Passierscheine zu besorgen und das Geld zu sammeln, das sie für die Reise brauchen würden, und die Gegenstände zu beschaffen, die sie in die Körbe ihrer Maultiere packen würden, die sie nach der Landung in Massilia kaufen wollten.
Sicher hatten sie lange Zeit mit Petrus gebetet. Sicher hatten sie zu seinen Füßen gesessen, seinen Anweisungen gelauscht, seinen Weisheiten und seinen Geschichten über Jesus. Jess kniff die Augen noch fester zusammen und versuchte, die Geschichten aus der Dunkelheit hervorzuholen. Nichts passierte.
Sie schlief ein.
Es kam ihr vor, als seien nur wenige Sekunden vergangen, als William sie an der Schulter schüttelte. »Jetzt komm, Jess. Unser Flug ist aufgerufen.«
»Nein!« Panisch sah sie sich um. »Ich kann noch nicht fahren.«
»Was meinst du damit, du kannst nicht fahren?« Er bückte sich gerade nach seinem Rucksack und drehte sich zu ihr. »Bitte tu mir das nicht an, Jess.« Er klang sehr müde.
»Ich weiß nicht, was mit Eigon passiert …«
Er stöhnte auf. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich freue, den Namen nie mehr wieder zu hören. Vergiss es, Jess. Du kommst jetzt mit.« Er griff nach ihrer Tasche und drückte sie ihr in die Hand. Er wirkte sehr entschlossen. Eingeschüchtert nahm sie die Tasche entgegen. »Ich sollte noch auf die Toilette gehen.«
»Warte, bis wir im Flugzeug sind.«
»Aber …«
»Kein Aber, Jess. Jetzt reicht’s. Wir fliegen nach England.«
 
Daniel streckte sich und öffnete die Augen, zögerlich nahm er das Zimmer mit der hässlichen, zerrissenen Tapete wahr, die billigen, lädierten Möbel, das fadenscheinige Handtuch, das über der Stange hing. Dafür und für die Seife hatte er extra zahlen müssen. Er hatte sich gestern spät am Abend ein Zimmer im billigsten Hotel genommen, das er in der Nähe von Termini gefunden hatte. Er hatte nur eine Nacht in einem Bett schlafen wollen. Er kratzte sich. Irgendetwas hatte ihn nachts gebissen. Seine Schuld, warum war er nicht etwas wählerischer gewesen? Er schaute auf die Uhr. Es war noch früh, aber der Lärm, der von der Straße hereindrang, wurde ständig lauter, und er roch die Abgase des Verkehrs. Er hatte das Fenster nachts einen Spalt breit geöffnet, um den entsetzlichen Zigarettenrauch zu vertreiben. Er wusch sich, zog sich an und ging.
Er fand eine Bar, die schon geöffnet hatte. Nach einem schwarzen Kaffee fühlte er sich fast wieder wie ein Mensch. Er lehnte sich im Stuhl zurück und streckte die Beine vor sich aus. Und was jetzt? Er musste Jess finden. Er stellte sie sich in der hübschen kleinen Pension mit den wunderbaren Antiquitäten und den Zimmern unterm Dach vor und machte ein finsteres Gesicht. Was immer es war, das sie heraufbeschworen hatte, um ihn zu vertreiben - dieses Mal würde er gewappnet sein. Es war nicht real. Titus würde damit fertigwerden. Seufzend bestellte er noch einen Kaffee. Es war dumm von ihm gewesen, sie zurückzulassen, und jetzt musste er sich beeilen, bevor sie Gelegenheit fand, mit der Polizei zu sprechen. Andererseits, glaubwürdig war sie sowieso nicht mehr. Sie würden ihr ihre Geschichte nicht abnehmen. Aber vielleicht würden sie doch ein paar Zweifel bekommen. So oder so, was auch immer passierte, es würde ihm schaden. Er lächelte entschlossen, stand auf und ging zur Tür. Es war Zeit, dass Jess ihrer Paranoia nachgab und sich selbst übertraf. Er trat in den Sonnenschein hinaus und prustete vor Vergnügen. Wo war Titus, wenn er ihn brauchte? Jetzt mussten sie festlegen, wie Jess genau vorgehen sollte. Das konnten er und Titus auf dem Weg zur Pension besprechen.
 
Titus wartete auf Lucius. Der Mann verspätete sich. Vor Ungeduld stampfte er auf, dann ging er rastlos im Zimmer hin und her. Er musste die Nachricht doch erhalten haben? Er brauchte ihn jetzt, heute Morgen, nicht nächsten Monat. Er drehte sich um und schritt wieder durch den Raum. Ihm war bewusst, dass die anderen Offiziere ihn leicht misstrauisch beäugten. Sie distanzierten sich immer mehr von ihm, das wusste er. Und er kannte auch den Grund. Mittlerweile wussten nahezu alle von dem Blutbad im Bauernhaus. Nicht dass sich auch nur einer von ihnen um eine Horde abtrünniger Christen scheren würde, aber die Art, wie sie zu Tode gekommen waren, hatte sie offenbar schockiert. Es war eine persönliche Sache gewesen, bei der nicht nur Sklaven getötet worden waren, die sich dieser neuen Religion mit großem Eifer angeschlossen hatten, sondern auch mehrere römische Bürger, unter ihnen auch Frauen und Kinder. Das war der Unterschied. Titus fragte sich, ob wohl ein Prätor ihn befragen würde. Wenn, dann würde er sich irgendwie herausreden müssen. Bis es dazu kam, musste er eine Person noch zu fassen kriegen. Die einzige Person, um die es ihm im Grunde ging. Und er wusste, wo sie war. Er wartete nur darauf, dass Lucius bei dem Haus vorbeischaute, mit Drusilla sprach, die sich wunderbarerweise als entfernte Verwandte herausgestellt hatte, und er würde Bescheid wissen. Aber Lucius war immer noch nicht zurückgekommen.
»Herr.« Eine schüchterne Stimme neben ihm veranlasste ihn, innezuhalten. Er drehte sich um. »Herr, eine Nachricht.« Es war ein Junge, einer der Stallburschen. Er reichte Titus ein Täfelchen, auf dem eine kurze Notiz stand.
 
Tut mir leid, schaffe es nicht mehr. Habe dienstfrei bis zu den Kalenden nächsten Monat. L.
 
Titus fluchte lauthals. Er trat nach dem Jungen und schleuderte das Täfelchen in die Ecke. »Der Schuft!« Lucius hatte ihn im Stich gelassen. Er wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dienstfrei, von wegen! Im Dienstplan hatte davon nichts gestanden. Um das hinzudrehen, musste er wohl zum Legaten gegangen sein. Na, dafür würde er büßen. Er, Titus, würde dafür sorgen, dass jede Person in dem Haus verhaftet wurde, einschließlich Drusilla! Er schaute sich nach dem Jungen um. Der war geflohen. Die anderen Männer waren alle aufgestanden und verließen nacheinander den Raum. Wieder einmal blieb er allein zurück.
 
Die Razzia wurde von einer Abordnung Prätorianer ausgeführt. Titus begleitete sie nicht. Wütend kehrten sie ins Lager zurück. Das Haus war leer gewesen. Sie hatten niemanden angetroffen, nicht einmal einen Sklaven. Sie erstatteten im Hauptquartier Bericht, sie hätten falsche Auskünfte erhalten, und zogen dann in ein anderes Stadtviertel weiter. Die Spur hatte sich verloren. Titus ging die Straße entlang und schaute nachdenklich zu den verschlossenen Läden hinauf. Er musste sie bald finden, viel Zeit blieb ihm nicht. Wenn sie ihre Geschichte irgendjemandem erzählte, würde sie sich herumsprechen. Wer immer und was immer sie jetzt war, sie war die Tochter eines Königs gewesen. Man würde auf ihn aufmerksam werden. Er schickte einen Spion zur Villa hinaus, um zu sehen, ob sie dort war. Auch diese war verlassen. Aelius und Flavius hatten alles mitgenommen, das sie bei sich tragen konnten, und waren spurlos verschwunden. Alles Verbliebene hatten die Männer des Kaisers mitgenommen. Die Pferde und alles, was sich verkaufen ließ, sollte versteigert werden. Der Rest war auf Wagen fortgebracht worden. Die Villa wartete auf einen neuen Bewohner. Die Gärten waren überwuchert, die Obstgärten kahl, der Herbstwind hatte die großen Blätter der Feigenbäume über den ganzen Hof geweht.
Nachdem Titus den Bericht erhalten hatte, saß er lange Zeit in Gedanken versunken da. Dann wühlte er finster in seiner Geldtruhe nach einem Beutel mit Münzen. Er nahm eine Handvoll heraus, überlegte kurz und fügte noch einige mehr hinzu, dann warf er sich den Umhang über die Uniform und machte sich auf ins Stadtzentrum. Er würde zu Marcia Maximilla gehen. Sie war klug, sie war schön, sie war habgierig, sie war berühmt. Sie war eine Seherin. Wenn sie denn wollte, würde sie Eigon finden, ohne auch nur ihre Liege zu verlassen.
Die Tochter des Königs
ersk_9783641053253_oeb_cover_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_toc_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_tp_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_fm1_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_fm2_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_fm3_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c01_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c02_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c03_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c04_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c05_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c06_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c07_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c08_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c09_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c10_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c11_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c12_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c13_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c14_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c15_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c16_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c17_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c18_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c19_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c20_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c21_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c22_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c23_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c24_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c25_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c26_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c27_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c28_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c29_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c30_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c31_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c32_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c33_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c34_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c35_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c36_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_ata_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_cop_r1.html