Kapitel 14
Sie verbrachten den ganzen Tag in der Villa, besuchten die Galleria Borghese und schlenderten durch die Gärten und den Park, picknickten im trockenen Gras unter einer riesigen Eiche und ruhten sich in der größten Mittagshitze im Schatten der Bäume aus. Als sie sich später langsam auf den Rückweg machten, blieb Jess immer weiter hinter den anderen zurück. Es war hier. Sie war sich sicher. Irgendwo hier hatte die Villa gestanden, in der Eigon gelebt hatte. Es gab nichts, das sie wiedererkennen könnte, keine besonderen Merkmale, an denen sie ihre Überzeugung festmachen konnte, nur das immer stärker werdende Gefühl, dass dies der Ort war, an dem Eigon gewohnt hatte. Jess blieb stehen und sah sich wieder um, spürte die warme Brise im Haar. Es war unangenehm schwül, die Luft war fast zu schwer zum Atmen.
»Eigon?«
War sie hier, zwischen den Bäumen? Jess drehte sich um, strich sich eine Strähne aus den Augen und suchte im Park nach Lebenszeichen. Außer ihr war niemand mehr hier. Vorher war noch eine Gruppe Kinder lärmend zwischen den Bäumen umhergerannt, doch die war fort. Jetzt hörte Jess nur noch das leise Seufzen des Windes in den mächtigen Pinien. Dann erstarb auch das, und sie war von erdrückender Stille umgeben.
Julia!
Die Stimme kam aus großer Ferne.
Julia, wo bist du? Versteck dich nicht!
Jess blieb stehen und versuchte festzustellen, woher die Stimme kam.
Bitte versteck dich nicht. Ich kann das Spiel nicht leiden. Bitte, wo bist du?
»Eigon?«, rief Jess diesmal laut.
»Jess! Jess, was ist denn? Was ist los?« Plötzlich stand Steph neben ihr, hatte sie am Arm gepackt. »Jess, jetzt komm schon, wach auf!« Die Stimme drang laut und scharf an ihr Ohr.
Einen Moment starrte Jess ihre Schwester verständnislos an, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich schlafe nicht«, sagte sie empört. »Ich dachte, ich hätte jemanden rufen gehört. Entschuldige. Die Hitze macht mir zu schaffen.«
»Kim sagt, dass es ganz in der Nähe eine Eisdiele gibt.« Steph schaute sie besorgt an. »Du hast nach Eigon gerufen.«
Matt schüttelte Jess den Kopf. »Ich dachte, sie wäre hier. Ich habe das Gefühl, dass ihre Villa hier gestanden hat. Dieser Ort hat was, eine ganz besondere Atmosphäre.«
William und Kim waren rund fünfzig Meter vor ihnen im Schatten einer Platane stehen geblieben und schauten wartend zu ihnen.
»Bitte sag ihnen nichts davon«, bat Jess und sah ihre Schwester flehend an. »Sie halten mich sowieso schon für verrückt.«
»Das stimmt nicht. Wir haben uns bloß in der Hitze alle überanstrengt, mehr nicht. Jetzt gibt’s ein Eis oder was zu trinken, und dann fahren wir mit dem Taxi nach Hause. Mach dir keine Sorgen, Jess.« Mit einem aufmunternden Lächeln drehte Steph sich um und ging zu den anderen. Jess warf einen Blick über die Schulter zurück. Jetzt sah sie wieder die Gruppe Kinder, hörte sie schreien und rufen. Sie waren überhaupt nicht weit weg. Wie konnte sie sie nicht bemerkt haben?
 
Pomponia Graecinas Nichte, die lebhafte, hübsche Pomponia Julia, war eine von Eigons ersten richtigen Freundinnen gewesen, und seit kurzem wohnte sie sogar bei ihnen. Ihre Mutter war im vergangenen Winter gestorben, und da ihre Geschwister alle wesentlich älter waren als sie, fühlte sich Julia im strengen Haushalt ihres Vaters sehr allein und war überglücklich, bei ihrer Gefährtin Eigon leben zu dürfen. Cerys war weniger erfreut. Julia hatte einen schlechten Einfluss. Sicher, sie war ein aufgewecktes, bildhübsches, intelligentes Mädchen, aber auch von Natur aus rebellisch, und die ernsthafte Atmosphäre, in der Eigon als einziges Kind ihrer Eltern und einzige Schülerin von Melinus aufwuchs, entsprach ihr im Grunde gar nicht.
Melinus hatte einen strikten Tagesablauf eingeführt. Er unterrichtete Eigon täglich und wiederholte das, was sie lernen sollte, so lange, bis sie es wortgenau wiedergeben konnte. Nie ließ er sie etwas aufschreiben, sondern schulte ihr Gedächtnis, und sie sog alles Wissen, das er ihr weitergeben konnte, begierig auf. Ihr einziger regelmäßiger Zeitvertreib war, die Lyra zu spielen und zu singen. Sie hatte eine klare Stimme, die ihren Vater entzückte wie auch jeden anderen, der sie zufällig hörte, und so sang sie häufig, auch wenn sie allein durch den Garten schlenderte.
Dort in den Gärten hörte sie auch manchmal ihre Schwester rufen. Die Stimme kam aus so großer Ferne, dass sie kaum zu verstehen war. Glads spielte immer noch dort auf dem Berg, suchte immer noch nach ihrer Familie, wartete immer noch, dass sie wiederkehrten. Eigon gab sich alle Mühe, sie mit ihren Gedanken zu erreichen, ihr zu versichern, dass sie nicht vergessen war, doch Glads schien sie nicht zu hören, und Eigons Sehnsucht nach ihr wuchs. Es war eine Sehnsucht, von der sie ihren Eltern nichts sagen durfte.
Der Zustand von Eigons Vater verschlechterte sich zusehends. Im Herbst bekam er wieder heftiges Fieber, das ihm alle Kraft raubte. Ihre Mutter wich nicht von seiner Seite. Sie und Melinus berieten sich mit den römischen Ärzten, um ihn zu heilen, damit er das Haus verlassen und den Kaiser aufsuchen konnte, der seine Aufwartung forderte und mit zunehmender Ungeduld auch nach einer Belohnung verlangte für seine großzügige Geste, ihr Leben verschont zu haben. Bisweilen war Caradoc genug bei Kräften, um im Garten am Brunnen zu sitzen. Manchmal saß er nur da und lauschte auf das Plätschern des Wassers und das Zwitschern der Vögel, manchmal bat er auch um Musik, und dann kam Eigon mit ihrer Lyra. Ihre Mutter hatte dafür gesorgt, dass sie ein paar Gefährtinnen hatte, und so spielte und redete sie mit Portia und Julia und Octavia, doch am liebsten wanderte Eigon allein zwischen den viereckigen Beeten des Kräutergartens mit seiner sorgsam gepflegten Symmetrie. Diese Beete waren völlig anders als die Gärten, die sie von zu Hause kannte, hier war die Natur gezähmt und in exakte Formen gezwungen worden. Oft berührte Eigon die gestutzten Pflanzen, sprach mit ihnen und bedauerte sie wegen ihrer Gefangenschaft, die sie vielleicht als Spiegelbild ihrer eigenen betrachtete. Nach einer Weile liebte sie die friedlichen, heilenden Beete mit dem Lavendel und dem Rosmarin, doch sie fühlte sich eingeengt, nie durfte sie in die Stadt hinaus. Wenn der Wind aus der richtigen Richtung kam, hörte sie aus der Ferne das Grollen und Summen der Stadt, sie roch den Gestank, und sie konnte von den Felsen am Ende des Gartens auch auf sie hinabsehen. Und sicher, die Stadt wirkte erschreckend, aber Eigons Neugier auf die Welt dort draußen war sehr groß. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als sie mit eigenen Augen zu sehen.
Die Herrin Pomponia Graecina hatte die Mädchen zu einem Besuch bei sich eingeladen. Eigons Mutter hatte abgelehnt. Sollten die anderen ruhig gehen, aber nicht ihre Tochter. Eigon kannte auch den Grund. Der Mann, der ihr Gewalt angetan hatte, war dort draußen, und er wusste, dass er gefährdet war, bis er sicherstellte, dass Eigon ihn nie identifizieren würde. Und dafür musste er sie töten.
 
Julia langweilte sich, deshalb hatte sie einen Ausflug geplant. »Wir unternehmen etwas! Ich habe alles organisiert. Flavius begleitet uns, er wartet draußen vor dem Tor mit Pferden auf uns. Wir gehen in die Stadt!«
Eigon schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht.«
»Warum denn nicht?« Julia fasste sie am Arm. »Ich kann wirklich nicht verstehen, warum du nicht rausgehen willst. Ich weiß, deine Mutter hat es dir verboten, aber es ist kein Verbot des Kaisers. Du bist hier doch nicht eingesperrt, du kannst gehen, wohin du magst! Komm schon, Eigon. In der Stadt gibt es so viel zu sehen. Und deine Mutter erfährt nichts davon. Wir kommen zurück, bevor sie überhaupt merkt, dass du weg bist.« Das war ein gemeiner Seitenhieb. Eigon wusste, dass ihre Mutter ihre Abwesenheit nicht bemerken würde, selbst wenn sie den ganzen Tag ausblieb und die Nacht noch dazu. Cerys hatte immer weniger Zeit für ihre Tochter, jede Minute verbrachte sie mit ihm gebrechlichen Gemahl oder hing in Gedanken der Vergangenheit nach, in der sie noch drei kleine Kinder hatte, die lachend um sie herumtobten und sich unter ihren Röcken versteckten. Julia packte Eigon an der Hand. »Wenn du nicht mitkommst, dann gehe ich eben allein!«
»Das darfst du nicht. Das ist gefährlich.«
»Das ist überhaupt nicht gefährlich. Ich gehe doch ständig auf den Markt. Solange wir Sklaven dabeihaben, ist es kein Problem. Aber sag Melinus nichts davon. Er macht dich trübsinnig. Du arbeitest zu viel mit ihm.« Julia hatte nur sporadisch Unterricht bekommen. Sie hatte zwar ein gutes Gedächtnis und liebte Geschichten und Gedichte, weshalb sie auch oft bei Eigons Unterricht dabeisaß, aber sobald er sich mit schwierigen, ernsthaften Themen befasste, stahl sie sich davon. Es machte ihr keinen Spaß, über Astronomie und Geschichte und Recht zu sprechen oder über die korrekten Rituale bei der Anbetung der Götter. Sie hatte auch keine Lust, von medizinischen Techniken und den Eigenschaften der Kräuter zu erfahren. Blumen waren dafür da, dass man an ihnen roch, und Sterne waren dafür da, dass man sie bestaunte und - eines Tages ganz bald, wie sie hoffte - sich unter ihnen küsste. Sie war jung und gesund und hatte auch bereits jemanden gefunden, mit dem sie schäkern konnte: Flavius, der Sohn des Haushofmeisters Aelius. Außerdem hatte sie etwas Angst vor Melinus. Er mochte ja dieselbe Tracht wie alle Haussklaven tragen, aber er verströmte eine Macht und Autorität, die sie einschüchterten, und sie merkte, dass er ihre Unbekümmertheit nicht guthieß. Deswegen war sie überzeugt, dass er auch den Ausflug missbilligen würde. »Komm schon. Nur ein paar Stunden. Uns passiert wirklich nichts, das verspreche ich dir.«
Standhaft schüttelte Eigon den Kopf. »Ich kann nicht, das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Du kannst nicht, oder du willst nicht?« Julia kniff ihre kornblumenblauen Augen zusammen. »Hast du vielleicht Angst?«
»Nein, natürlich nicht.« Gut drei Jahre waren seit ihrer Ankunft in Rom vergangen, obwohl es sich für Eigon eher wie dreißig anfühlte. Die Ereignisse, die ihre Mutter zu ihren Warnungen veranlasst hatten, lagen so weit zurück und waren so tief vergraben, dass sie jetzt nicht einmal mehr in ihren Alpträumen auftauchten. Eigon gab nach.
Sobald der Unterricht am nächsten Tag zu Ende war, schlichen sie, in Umhänge gehüllt, zum Tor der Villa. Die Wachposten waren bestochen worden und würden nichts sagen. Zwinkernd traten sie vom Tor zurück und betrachteten angelegentlich den Himmel, während die beiden Mädchen leise kichernd zu der Stelle liefen, wo der schmucke junge Flavius und zwei Sklaven mit Pferden im Eichengebüsch auf sie warteten.
Es war sehr lange her, dass Eigon zu Pferd gesessen hatte, doch das Reiten verlernt man nicht. Mühelos saß sie in den römischen Sattel auf, und im Handumdrehen ging ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich ihrer Mutter widersetzte, in aufgeregte Freude über. Sie merkte gar nicht, dass sie fast sofort ausgeschlossen war, weil Flavius und Julia sich ausschließlich miteinander beschäftigten. Es gab viel zu viel zu sehen. Der Weg durch den Wald ging in eine gepflasterte Straße über, die schnurgerade den Berg hinab zu den Stadttoren führte. Es herrschte reger Verkehr mit Wagen und Reitern, Karren voller Gartenerzeugnisse, Reisenden zu Fuß und ein- oder zweimal einer Sänfte, die von Sklaven vorbeigetragen wurde und deren Vorhänge zum Schutz vor dem Staub geschlossen waren. Sie stellten ihre Pferde bei einem Gasthof kurz hinter der Stadtmauer unter, um von dort zu Fuß zum Markt zu gehen.
Kichernd nahm Julia ihre Freundin an der Hand. »Ist es nicht spannend? Schau doch nur. Hast du Geld dabei?«
Eigon schüttelte den Kopf. Sie besaß kein Geld.
»Macht nichts. Ich borge dir welches. Komm, ganz in der Nähe ist ein Goldschmied, zu dem meine Tante immer geht. Er fertigt wunderschöne Sachen.«
In den engen Straßen war es wegen der hohen Gebäude, die sie säumten und von denen alle Geräusche widerhallten, ohrenbetäubend laut, die Schreie der Händler, das Echo Tausender Gespräche, die lautstark und unter viel Gelächter geführt wurden, dazu bellende Hunde, das Rumpeln der Karren, die über die Pflastersteine geschoben wurden. Eigon klammerte sich fester an Julias Hand. Es war überwältigend. Und die Gerüche auch, die guten wie die schlechten. Sie empfand es als Erleichterung, als sie in der Straße der Juweliere und Goldschmiede in ein Tor traten, das in einen kleinen Innenhof führte. Die Sklaven Demitrius und Volpius setzten sich auf eine Bank, während Flavius die Mädchen durch eine Tür geleitete, hinter der der Goldschmied seinem Handwerk nachging. Als sie eintraten, schaute er auf und erkannte Julia offenbar sofort. »Und ist die Herrin Pomponia Graecina bei dir, Kind?«
Julia schüttelte den Kopf. Die Kapuze ihres Umhangs fiel herab, so dass ihre schwarzen, von einem leuchtend roten Band zusammengehaltenen Locken zum Vorschein kamen. »Ich habe meine Freundin Eigon mitgebracht. Ich möchte, dass sie sich etwas Hübsches aussucht. Wir schreiben es auf die Rechnung meiner Tante.«
Der Goldschmied musterte ihr Gesicht. Er war ein kleiner, stämmiger Mann mittleren Alters mit vielen tiefen Falten und munteren braunen Augen, die die unschuldige Miene des Mädchens sofort erfassten. »Und weiß die Herrin Pomponia Graecina von dem Geschenk, das sie dieser jungen Dame macht?«
Julia bemühte sich, gleichmütig dreinzuschauen, und scheiterte kläglich. »Nein, nicht so ganz. Aber sie wird nichts dagegen haben.«
»Und woher soll ich wissen, dass sie nichts dagegen hat?«
»O bitte«, warf Eigon peinlich berührt ein. »Ich will nichts haben. Ich möchte mir die Dinge nur ansehen.« Ihr Blick war bereits zu dem Tablett mit Broschen und Ringen gewandert, das in ihrer Nähe auf einem Tisch stand. Hinter der Theke, die den Raum teilte, arbeitete der Gehilfe des Goldschmieds mit einer Vielzahl Hammer, Dorne und Meißel und war so in seiner Tätigkeit vertieft, dass er gar nicht aufschaute. Auf der Werkbank um ihn her lagen kleine Schmelztiegel, Zangen und Stücke von Silberdraht.
Der Goldschmied lächelte seine Kundinnen an und schaute dann zu Flavius, der unschlüssig in der Tür stand. »Und dieser junge Mann kommt wieder als dein Begleiter. Und, junger Herr, hast du genug gespart, um deiner jungen Dame ein Geschenk zu kaufen?«
Flavius lief tiefrot an. »Noch nicht, Herr«, brummelte er. Verlegen drehte er sich um und schaute in den Hof. Demitrius und Volpius saßen an einem Tisch, auf dem zur Unterhaltung der Wartenden ein Duodecim-Scripta-Brett mit Steinen stand. Wenn Gemahle und Liebhaber bei diesem Spiel Zerstreuung fanden, drängte es sie weniger, ihre Damen von den Kostbarkeiten in der Werkstatt fortzuführen. Flavius setzte sich zu den beiden und hatte die Mädchen im nächsten Moment völlig vergessen.
Eigon schaute zu Julia, der Flaviusʹ Unbehagen offenbar völlig gleichgültig war. »Es ist nicht recht von dir, so deinen Spott mit ihm zu treiben«, flüsterte sie. »Du solltest ihn nicht herbringen.« Sie empfand die Verlegenheit des Jungen als körperlichen Schmerz. Dann warf sie dem Goldschmied ein entschuldigendes Lächeln zu. »Es tut mir leid, dass wir gekommen sind ohne die Absicht, etwas zu kaufen«, sagte sie freundlich. »Julia wollte mir unbedingt die Schönheit Eurer Geschmeide zeigen und vergaß darüber, dass es für Euch wichtig ist, sie auch zu verkaufen. Wir vergeuden Eure Zeit.«
Stutzend betrachtete der Goldschmied ihr Gesicht eingehender. Normalerweise interessierte es seine Kundinnen keinen Deut, ob sie seine Zeit vergeudeten. Er lächelte ermutigend. »Es wäre mir eine Freude, dir einige meiner Stücke zu zeigen«, sagte er zuvorkommend. »Manchmal genügt es, wenn die Arbeit von einem kundigen Auge bewundert wird, und ich glaube, du hast einen Sinn für Schönheit.« Er rief etwas über die Schulter, und ein Sklave trug ein Tablett herbei, auf dem ein Krug Granatapfelsaft stand. »Ich habe hier mehrere Stücke mit Mustern, die auf die Tradition der Gallier zurückgehen.« Der Goldschmied hatte die keltische Fibel an Eigons Umhang bemerkt sowie ihre helle Haut. Er kannte Pomponia Graecinas Vorliebe für den Schmuck, den sie in der fernen Provinz Britannien erworben hatte, als ihr Gemahl dort Statthalter gewesen war; vielleicht gehörte dieses Mädchen oder seine Eltern auch zu ihrer Sammlung fremdländischer Andenken. »Schau dir das an.« Er ging in den hinteren Teil der Werkstatt und nahm einige Stücke aus den Kästchen, die auf einem Regal standen. »Die keltischen Kunsthandwerker sind uns weit überlegen, aber ich versuche, ihnen meine Ehre zu erweisen und ihren Stil nachzuahmen.«
Auf dem kleinen Holztablett lagen Ringe und Broschen mit den typischen ineinandergewundenen Formen, die hier und da einen Tierkopf, Flügel oder elegante Gliedmaßen andeuteten. Eigon lächelte leise. »Das ist wunderschön.« Sie griff nach einem kleinen Silberring und hielt ihn vor sich.
»Steck ihn an.« Julia sah sie lachend an, dann nahm sie ein anderes Stück vom Tablett. »Nein, nimm den, der ist aus Gold und viel schöner.«
Eigon schaute zu ihrem Gastgeber und sah, dass er sie beobachtete und verständnisvoll lächelte, als sie bedauernd den Kopf schüttelte. »Er ist wunderschön.« Sie konnte das Verlangen in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Aber viel zu prächtig für mich.«
»Eigon!«, rief Julia erbost. »Du bist eine Königstochter! Was könnte für dich zu prächtig sein?«
»Ach, ich glaube, jetzt weiß ich, wer du bist, junge Herrin. Die Tochter des berühmten Caratacus!« Der Handwerker nickte. »Ich war dabei an dem Tag, an dem der Kaiser deinem Vater die Freiheit geschenkt hat.«
Eigon legte den Ring zurück. »Im Grunde sind wir nach wie vor Gefangene.« Sie lächelte verzagt. Der Goldschmied hatte sie an einen Tag erinnert, den sie lieber vergessen wollte. »Mein Vater ist zu krank, um das Haus zu verlassen. Meine Mutter kann nicht von seiner Seite weichen. Und ich werde zu einer Tochter Roms erzogen. Das ist keine Freiheit.« Sie wandte sich zur Tür. »Habt Dank für Eure Gastfreundschaft, aber ich muss zurück, bevor ich vermisst werde.«
»Eigon!« Julia sah ihr zornig nach, als sie in den Eingang trat. Die drei Männer standen hastig auf. »Eigon, warte! Du hast doch noch den ganzen Nachmittag Zeit! Deine Mutter merkt es doch gar nicht, dass du weg bist!« Aber es war zu spät, Eigon ging bereits durch den Eingang auf die Straße hinaus.
Julia warf einen Blick zum Goldschmied. »Es tut mir leid, ich weiß nicht, was in sie gefahren ist.«
Er lachte. »Sie hat Stolz, Pomponia Julia. Der ist in sie gefahren. Und vielleicht hat sie gar nicht so Unrecht.« Seufzend ging er in seine Werkstatt zurück. Ihm war gerade ein Gedanke gekommen.
Während sie durch den Markt zurückgingen, nahm Julia Eigon am Arm. »Hat dir der Ring denn nicht gefallen?«
Eigon nickte. »Doch, er hat mir sehr gefallen.«
»Was ist dann?«
»Ich konnte ihn nicht bezahlen, Julia, darum geht es. Ich hätte gern ein paar seiner Sachen gekauft, liebend gern. Aber ich will dir kein Geld schulden und deiner Tante auch nicht, und dass er Verlust macht, will ich erst recht nicht. Ich brauche keinen Schmuck, ich habe genug.«
»Das stimmt nicht. Du hast eine Brosche, ein paar Reifen und einen Kinderring«, widersprach Julia aufgebracht. »Der obendrein nur noch an deinen kleinen Finger passt!« Entrüstet schrie sie auf, als ein Mann an ihr vorbeirannte und ihr dabei einen so heftigen Stoß versetzte, dass sie beinahe in die Gosse fiel. Sofort war Flavius an ihrer Seite, einige Sekunden lag sein Arm beschützend um sie, während die beiden Sklaven ihre Keulen vom Gürtel rissen.
»Idiot!«, rief Flavius dem Mann nach. Dann wandte er sich besorgt wieder zu Julia. »Ist alles in Ordnung?« Julia nickte erschüttert.
Eigon starrte dem Mann nach, der in der Menschenmenge untergetaucht und außer Sicht verschwunden war. Es war so schnell passiert, er hatte sich ihnen ganz einfach so genähert. Jetzt hatten sie drei Männer zu ihrem Schutz dabei und waren doch völlig hilflos gewesen. Beim Weitergehen legte sie ihre Hand in Julias. »Hast du Angst?«, fragte sie leise. Prüfend schaute sie die Passanten an.
Julia schüttelte den Kopf. »Es ist nichts passiert. Er war kein Dieb. Oder wenn, dann ist er vor jemand anderem davongelaufen.« Sie hüllte sich fester in ihre Stola. »So etwas kann passieren.«
»Wirklich?« Beklommen schaute Eigon in die Menschenmenge. In der Ferne marschierte ein Trupp Soldaten im Gleichschritt vom Stadtzentrum fort zu einer der Kasernen in den Außenbezirken. Die Männer bogen vom Marktplatz ab und verschwanden in einer der engen Straßen außer Sichtweite. Auch nachdem sie verschwunden waren, hallte der Rhythmus ihrer genagelten Sandalen auf den Pflastersteinen noch lange über den Platz.
 
»Er hat dich nicht gesehen. Er hat dich ganz bestimmt nicht gesehen.« Jess sprach im Schlaf. Sie knetete das dünne Laken, während sie im Traum die fünf Berittenen vor der Villa ankommen sah. Die Mädchen glitten aus dem Sattel und liefen mit Flavius in den äußeren Hof, die Sklaven führten die Pferde davon. »Geh nicht wieder raus, es ist zu gefährlich!«
 
Lange Schatten fielen über die Pflastersteine, rund um die Villa roch es nach der mächtigen Pinie draußen auf der Straße, deren Schatten über den Hof geworfen wurde. Niemand war da, um zu sehen, wie die Mädchen ins Haus schlichen und in ihre Zimmer liefen, um den Staub von der Stadt abzuwaschen. Im Haus herrschte absolute Stille. Eigon schlüpfte in ein frisches Gewand, bürstete sich das Haar und band es zurück, dann ging sie wieder hinaus auf die Suche nach ihren Eltern. Ihr Vater schlummerte auf einer Liege im Schatten des Feigenbaums beim Brunnen, ihre Mutter saß in der Nähe an der Spindel.
»Mama?«, flüsterte Eigon.
Cerys sah auf. »Wo bist du gewesen?«
Eigon machte eine ausweichende Geste. »Ich bin im Obstgarten eingeschlafen. Hier unten ist es so heiß.« Sie errötete wegen ihrer Lüge, aber ihre Mutter bemerkte nichts, es kam ihr gar nicht in den Sinn, die Antwort anzuzweifeln. Dann schaute sie zu ihrem Gemahl. »Dein Vater hat den Großteil des Tags geschlafen.« Ihr Gesicht war von Sorge zerfurcht.
»Was hat Melinus gesagt?«
»Er probiert eine neue Medizin aus. Um das Fieber zu senken. Er grämt sich, weil er hier nicht die richtigen Kräuter bekommen kann. Er sagt, er brauche etwas, das nur zu Hause in den Bergen wächst.«
Eigon biss sich auf die Unterlippe. Ihre Mutter sprach praktisch nie von ihrem alten Leben. Es war, als hätte sie das alles aus ihrem Gedächtnis verbannt. »Hat er den Arzt gefragt, der sich um Aelius’ Familie kümmert? Flavius spricht nur das Beste von ihm. Sein Vater lässt ihn kommen, sobald jemand krank wird.« Sie verschwieg, dass Flavius Melinus für einen furchteinflößenden Zauberer hielt.
Cerys sah betrübt aus. »Er sagt mir nur, ich solle am Altar Febris ein Opfer darbringen.«
»Kannst du nicht an eine römische Göttin glauben?« Eigon lächelte. Dann ging sie zu ihrem Vater, setzte sich an den Rand der Liege und ergriff seine Hand. Der kraftvolle Krieger war nur noch ein Schatten seiner selbst, die Narben auf seiner Schulter und am Hals hoben sich als rote Wülste von seiner weißen Haut ab. Kraftlos öffnete er die Augen und lächelte seine Tochter an.
»Sie betet zu jeder Göttin der Heilkunst, die es nur gibt«, sagte er liebevoll. Seine Stimme war belegt. »Aber ich fürchte, unsere Götter hören uns hier aus der Ferne nicht. Ich brauche eine Druidin, die die Fähigkeiten Gruochs hat, sie versorgte meine Wunden, als ich bei Cartimandua zu Gast war.« Seine Stimme wurde bitter. »Sie besaß das Geschick der Göttin. Melinus ist gut, aber ihm fehlt die Hand des geborenen Heilers. Und wie deine Mutter schon sagte, er kann in diesem Klima nicht die richtigen Heilmittel finden.« Er streckte sich und ächzte vor Schmerzen.
»Armer Papa.« Eigon gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
Er lächelte. »Aber du hast diese angeborene Fähigkeit, meine Tochter. Bitte Melinus, dass er dich sein Wissen lehrt.« Er schloss die Augen und seufzte. »Wenn Melinus sich als Arzt einschreiben ließe, würde er freigesetzt und ein römischer Bürger werden. Es ist ein Segen für uns, dass er lieber bei uns bleibt. Lern von ihm, Eigon. So viel du kannst, mein Kind. Und jetzt«, er unterdrückte ein weiteres Stöhnen, als er es sich bequemer zu machen versuchte, »jetzt sing etwas für mich, Eigon. Das tut mir immer gut.«
Eine Weile saß Eigon bei ihm, aber als er in einen unruhigen Schlaf fiel, kehrte sie ins Haus zurück. Ihre Mutter bemerkte gar nicht, dass sie ging. Im Atrium saß Julia zusammen mit Pomponia Graecina.
»Ich habe gehört, dass du heute Nachmittag meinem Lieblingsgeschäft einen Besuch abgestattet hast«, sagte sie zu Eigon.
Eigon warf einen verärgerten Blick zu Julia, weil sie ihr Geheimnis verraten hatte, aber Julia zuckte nur mit den Schultern. »Der Goldschmied hat es ihr erzählt«, sagte sie ungerührt.
»Ich habe euch nicht nachspioniert, Kinder«, warf Pomponia freundlich ein. »Ich war bei ihm, um ein Geschenk für eine Freundin zu besorgen. Und da erzählte er mir, dass ihr gerade gegangen seid. Ich bin nicht verärgert. Ich finde es wunderbar, dass du dich endlich hast nach draußen locken lassen.« Sie lächelte Eigon zu. »Und hat der Ausflug dir gefallen?«
Eigon nickte. Der Schrecken, den sie alle bekommen hatten, verblasste bereits.
»Und du hast seine Handwerkskunst bewundert?«
Wieder nickte sie. »Fast so gut wie die Goldschmiede bei uns zu Hause.« Sie hatte keine rechte Erinnerung an die Goldschmiede zu Hause, aber es gehörte zu den Neckereien zwischen den Mädchen, dass Eigon ihre Ursprünge als Barbarin verteidigte.
»Du würdest also ein Schmuckstück aus seiner Werkstatt nicht ablehnen, wenn es dir geschenkt würde?«
Eigon lachte. »Natürlich nicht.«
»Gut, denn ich habe ein Geschenk für dich.« Pomponia griff in den Korb, den sie auf dem Brunnenrand abgestellt hatte, und holte ein kleines, in Leinen gewickeltes Päckchen heraus.
Eigon nahm es vorsichtig entgegen. »Das hättet Ihr wirklich nicht tun sollen, Herrin Pomponia!« Sie hatte bereits erraten, was das Päckchen enthielt: Der Ring, den sie so bewundert und so widerstrebend zurückgelegt hatte, lag auf ihrer Handfläche.
»Natürlich musste ich das tun, Kind. Du hast ohnehin sehr wenig Vergnügungen, eingeschlossen, wie du hier bist, mit deinem kranken Vater und dem strengen Lehrer, der jeden deiner Schritte überwacht. Steck den Ring an, lass mich sehen, ob er zu deiner Hand passt.«
Er passte perfekt, alle bewunderten ihn. Eigon strahlte.
»Und wie geht es deinem Vater?«, fragte Pomponia Graecina.
»Nicht gut. Das Fieber kommt immer wieder, und die Narben schmerzen ihn. Melinus glaubt, dass die Wunden tief innen entzündet sind.« Melinus wusste, dass er mit der Druidin verglichen wurde, die seinen Herrn in Brigantia gepflegt hatte, und war mittlerweile überzeugt, dass die Krankheit die Folge eines Zaubers dieser Frau war, der erst in der Zukunft wirken und König Caradoc in die Knie zwingen sollte.
»Mein Vater meint, ich solle mich zur Heilerin ausbilden lassen«, fuhr Eigon fort. Das Glitzern des Golds an ihrer Hand fiel ihr ins Auge, und sie streckte die Hand aus, damit der Ring die letzten Sonnenstrahlen einfing. Es war eine unschuldige weibliche Geste, die Pomponia Graecina ans Herz rührte.
»Und? Möchtest du eine Heilerin werden?«, fragte sie.
Eigon nickte. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich meine Hände auf Papas Kopf legen und die Schmerzen herausziehen möchte. Ich merke, dass ich eine besondere Kraft in den Händen habe, aber ich kann sie nicht richtig einsetzen.« Sie machte eine hilflose Geste. »Melinus hat mich in Kräuterkunde unterrichtet und wie man die Pflanzen sammelt, wenn die Sterne und der Mond am stärksten sind. Er weiß, dass ich das alles wissen möchte.«
»Und sie ist gut«, warf Julia ein. »Sie macht, dass mein Kopfweh weggeht. Ihre Hände sind kühl. Sie befehlen den bösen Geistern, die mich plagen, zu gehen.«
Pomponia Graecina hob die Augenbrauen. »Ich wusste nicht, dass du von bösen Geistern geplagt wirst, Julia. Bist du sicher, dass es nicht die Geister der Faulheit sind?«
Julia errötete. »Ich bin nicht faul!«
»Sie hat das Kopfweh jeden Monat«, erklärte Eigon. »Mir ist aufgefallen, dass es ganz regelmäßig kommt und sehr schmerzhaft ist. Das ist Teil des Frauseins.«
Pomponia Graecina sah sie verblüfft an. »Das ist dir von allein aufgefallen?«
Eigon kicherte. »Mit Melinus würde ich über derlei nie reden! Aber ich habe hier in unserem Garten Pflanzen gefunden, aus denen ich eine Mischung mache, die ihr hilft.«
»Und deine Hände«, betonte Julia.
Pomponia Graecina überlegte. »Wenn dein Vater es erlaubt, dann frage Melinus doch, ob er dich mehr in der Medizin unterweisen kann«, meinte sie dann. »Aber dir muss klar sein, dass er ein Gelehrter ist, ein Philosoph. Er studiert zwar die Eigenschaften der Heilpflanzen, aber er ist nicht unbedingt der Richtige, um sie einzusetzen. Das verlangt eine sanfte Freundlichkeit. Ich empfand ihn immer als strengen Mann.« Sie nickte bedächtig. »Betest du zu deinen eigenen Göttern, Eigon?«
Eigon nickte. »Aber Papa glaubt, dass sie unsere Gebete nicht hören, weil sie so weit weg sind. Deshalb bete ich zu den Göttern des Haushalts hier und wegen meines Vaters zu Febris, aber vielleicht ist das falsch, denn ich fürchte, sie hören mich nicht.«
»Die Götter hören einen, wo immer sie sind, Eigon«, sagte Pomponia Graecina kopfschüttelnd. »Wenn deine Götter allmächtig sind, bete zu ihnen. Ich tue es auch. Mir erschienen eure britannischen Götter als mächtig. Warum glaubst du, hätte ich Melinus sonst nach Rom mitgebracht? Er lehrte mich ihre Namen und weshalb ich zu welchen Gottheiten beten solle. Sie mögen in den Bergen und Flüssen Britanniens und Galliens leben, aber ihre Macht erstreckt sich über die ganze Welt.«
»Streiten sie sich nicht mit den Göttern Roms?« Eigon setzte sich auf den Brunnenrand, die Stirn vor Konzentration gerunzelt.
Pomponia Graecina wiegte den Kopf. »Über das Thema musst du dich mit Melinus unterhalten. Rom ist ein Mittelpunkt für alle Götter. Die Götter Griechenlands und Ägyptens, der Gott der Juden, die Götter aus Nordafrika und selbst die Gottheiten der Länder, durch die sich die Seidenstraße zieht, sie alle treffen hier zusammen und werden auf ihre Weise verehrt. Jeder von uns muss mit seinen eigenen Göttern sprechen. In Rom ist es Gesetz, dass es den Menschen freisteht, auf ihre Art zu ihren Göttern zu beten, solange das nicht unsere Ergebenheit gegenüber dem Kaiser in Frage stellt.«
»Der selbst ein Gott ist«, sagte Eigon leise. »Glaubt Ihr das?« Sie warf Pomponia Graecina einen verschwörerischen Blick zu.
Pomponia verzog lächelnd den Mund. »Der Kaiser und ich sind in vielen Dingen nicht einer Meinung«, antwortete sie. »Er weiß, dass ich ihn nicht fürchte.«
»Und Ihr verehrt ihn auch nicht.« Eigon hob die Augenbrauen.
Pomponia wehrte ab. »Solche Gespräche sind gefährlich, Eigon, selbst für mich. Konzentriere du dich auf dein Heilen und bete zu den Göttern, die dir zuhören. Genug für heute. Jetzt gehe ich zu deiner Mutter.«
Julias Gedanken waren abgeschweift, das Gespräch über Götter und Kaiser hatte sie gelangweilt, aber als sie ihre Tante aufstehen sah, war sie sofort wieder bei der Sache. »Du sagst Eigons Mutter aber nicht, dass wir in der Stadt waren?«, fragte sie besorgt.
»Ich sage ihr nichts«, versicherte Pomponia Graecina lächelnd. »Und wenn ihr das nächste Mal etwas unternehmen wollt, kommt doch zu mir.«
Als sie ging, sah Julia ihr eine Weile nach, dann sagte sie: »Das meinst du doch nicht im Ernst, dass du eine Heilerin werden willst?«
»Warum nicht? Ich habe das Gefühl, dass das der richtige Weg für mich ist.«
»Aber es ist so langweilig. Du willst doch nette, gesunde Menschen kennenlernen, keine Kranken!«
»Du meinst junge Männer?« Eigon lächelte.
»Natürlich junge Männer.« Julia kicherte. »Sag mir nicht, dass du dich nicht dafür interessierst.«
Eigon schüttelte den Kopf. »Ich habe niemanden kennengelernt, der mich interessieren würde, Julia. Vielleicht bin ich nicht für die Ehe gedacht. Meine Eltern haben nie davon gesprochen.«
Ihre Eltern hatten mit keinem Wort erwähnt, dass eine Ehe für sie in Frage komme. Sie hatten überhaupt nie über ihre Zukunft gesprochen.
Julia stöhnte übertrieben auf. »Seit wann haben Mädchen darauf gewartet, dass ihre Eltern ihnen das vorschlagen!«
»Würde dein Vater Flavius als deinen Mann billigen?«, fragte Eigon.
»Natürlich nicht. Er ist bloß der Sohn eines Freigelassenen. Papa hat vermutlich einen alten Witwer für mich ausgesucht, dessen Grundstück an unser Gut grenzt.« Julia warf den Kopf in den Nacken. »Deswegen will ich Spaß haben, solange es noch geht. Wenn meine Tante uns schon zu sich eingeladen hat, möchte ich sobald wie möglich zu ihr.«
Eigon schüttelte den Kopf. »Ich habe Angst dort draußen.«
»Angst?« Julia schaute sie schief an. »Du meinst den Mann, der uns geschubst hat? Es ist doch nichts passiert. Wahrscheinlich hat er uns einfach nicht gesehen, weil er so schnell davongelaufen ist. Wahrscheinlich hatte er etwas gestohlen! Sei nicht dumm. Außerdem, wenn wir zum Haus von Aulus Plautius fahren, ihrem Gemahl, kann uns nichts passieren. Sie leben auf dem Palatin, in der Nähe des Kaisers, in einem wunderschönen Haus. Es ist riesengroß, und es sind immer viele Gäste und Verwandte und hübsche junge Musiker da. Denen kannst du deinen neuen Ring vorführen, du kannst dein schönes Haar fliegen lassen und bezaubern, wen immer du willst.«
Eigon wusste, dass sie den Vorschlag nur schwer würde ablehnen können. Auf den Gedanken, dass die kaiserliche Wache nicht weit entfernt sein würde, wenn das Haus in der Nähe des Kaiserpalasts stand, kam sie nicht.
Vielmehr machte sie sich auf die Suche nach Melinus. Sie wollte ihn bitten, so schnell wie möglich mit ihrer Ausbildung zur Heilerin zu beginnen. Sie warf einen Blick zu Julia. Die Arme wusste offenbar nicht, dass sie morgen um diese Zeit mit Kopf- und Bauchweh im Bett liegen würde, wie immer, wenn der Mond in diesem Viertel stand. Also würde sie, Eigon, etwas Mutterkraut und vom Teich in den Formgärten etwas gelbe Schwertlilie schneiden und einen Sud bereiten. Eigon lächelte liebevoll. Es war nur gut, dass jemand auf derartige Dinge achtete. Julia mit ihrem Kopf in den Wolken und ihrer Träumerei würde das nie tun.
 
Als der Mond aufging, fünf Tage, bevor er voll sein würde, fiel sein Licht in den Garten und warf Schatten auf den Weg, über den Eigon zum Teich ging. An ihrem Arm hing ein Korb, in der Hand hatte sie eine kleine Schere, um die Schwertlilie zu schneiden. Sie lächelte in sich hinein. Melinus hatte ihrer Bitte begeistert zugestimmt. Morgen würden sie die Studien, die sie bislang betrieben hatten, zurückstellen - zumindest für eine Weile - und sich Gedanken über ihre Ausbildung in der druidischen Heilkunst machen.
Die Tochter des Königs
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