Kapitel 35
Julius stand am Kai von Portus Dubris und schaute sich um. Sie waren auf ihrer Reise quer durch Gallien rasch und ohne größere Zwischenfälle vorangekommen, und an der Küste angelangt, war es nicht schwer gewesen, eine Überfahrt auf einem der schnellen Handelsboote zu finden, die den Hafen von Gesoriacum ansegelten. In Britannien war es, wie Eigon ihm immer mit einer gewissen Wehmut erzählt hatte, nass und kalt und windig. Doch der Wind hatte ihn rasch übers Meer getrieben, also störte ihn das nicht weiter. Er heuerte einen ortskundigen Führer an, und wenig später saßen er und sein junger Begleiter Drusus im ersten anständigen Gasthaus, das sie gefunden hatten, am lodernden Feuer vor einer heißen Mahlzeit. Der Hafen war wie jeder andere Hafen auch - laut, dreckig und voll Menschen. Aber am Kai standen solide Gebäude und fachkundig reparierte Lagerhäuser, von denen gute Straßen zu einem betriebsamen Markt führten.
»Ja, und wie finden wir jetzt heraus, wohin sie gegangen sind?« Drusus schaute von seinem heißen Eintopf auf. Auf seinem Kinn hatte er etwas Soße verschmiert. Liebevoll grinste Julius ihm zu und verschwieg den Fleck taktvoll. Er hatte diesen frühreifen Sohn der Ärztin mit seinen wilden dunklen Haaren, dem ansteckenden Lachen und den schlaksigen Gliedmaßen ins Herz geschlossen. »Ich habe keine Ahnung, was wir jetzt machen.« Er zuckte mit den Schultern.
»Weißt du viel über Britannien?« Der junge Mann nahm sich einen weiteren Kanten Brot.
Julius pulte ein Stück Getreidehülse zwischen den Zähnen heraus. »Nur das, was Eigon mir erzählt hat. Sie sagte, es würde hier viel regnen.« Sie schauten zur Tür, durch die gerade eine kleine Gruppe Männer eintrat, und hörten den Regen, der auf die Pflastersteine trommelte und die Dachrinnen hinablief. »Sie hat auch gesagt, es sei wunderschön und sanft und grün, und überall gebe es Berge.«
»Dann kann es nicht dieser Teil von Britannien gewesen sein«, schlussfolgerte Drusus. »Der Mann, mit dem wir auf dem Boot gesprochen haben, sagte, die Berge seien im Norden und weiter drüben im Westen.« Er nahm einen Bissen und kaute nachdenklich. »Wie groß ist Britannien eigentlich? Weißt du das?«
Julius lachte. »Ziemlich groß. In diesem Land gibt es noch gewaltige Gebiete, die nicht zum Reich gehören. Und überall leben wilde Stämme.«
»Und deine Freundin ist eine wilde Stammesfrau?« Der Junge sah ihn keck an.
Julius nickte nachsichtig. »Das kann gut sein. Ihr Vater wurde zwar gefangen genommen, aber damit war der Widerstand der Silurer meines Wissens längst nicht gebrochen. Wenn überhaupt, begehrten sie sogar noch mehr gegen uns auf. Und weiter im Norden gibt es Stämme, die noch wilder sind. Ich glaube, wir sollten nach Silurien, dorthin wird Eigon sicher als Erstes gegangen sein. Das Volk ihrer Mutter kam von dort, und ich glaube, sie liebte die Gegend. Ihr Vater war ursprünglich König der Catuvellaunen und Trinovanten, die sich mittlerweile großteils mit der römischen Herrschaft abgefunden haben, obwohl ich fürchte, was wir in Rom gehört haben, ist nicht unbedingt die ganze Wahrheit.« Er schauderte unwillkürlich.
»Nun denn.« Drusus nahm sich eine weitere Portion Eintopf aus der Schüssel und würzte sie mit einem kräftigen Schuss Fischsoße aus dem Gefäß, das danebenstand. »Dann müssen wir herausfinden, wie man nach Silurien kommt.«
Offenbar mussten sie zunächst nach Londinium, dann die Richtung nach Calleva einschlagen, der Stadt der Atrebaten, und sich von dort entweder nach Aquae Sulis oder nach Glevum wenden. Als sie sich erkundigten, wie lange diese Reise dauern würde, bekamen sie nur Achselzucken und Kopfschütteln zur Antwort. Die Leute streckten die Hände aus, zählten an den Fingern ab und kamen zu dem Schluss, dass eine Reise zu einem derart abgelegenen Ort Wochen, wenn nicht gar Monate oder Jahre in Anspruch nehmen könnte. Julius wurde zunehmend bedrückt, doch zu seinem Glück fand Drusus dieses Abenteuer immer noch sehr aufregend und steckte voll praktischer Ratschläge, wenn es darum ging, Pferde auszuwählen und mit den Einheimischen zu verhandeln. Solange Drusus regelmäßig und reichlich zu essen bekam, waren seine Reserven an Kraft und guter Laune schier unerschöpflich, das war Julius schon sehr bald klargeworden.
Sie erstanden zwei stämmige Pferde und brachen auf. Der Knecht, der ihnen den Weg zum Stadttor wies, meinte, es seien rund dreißig Meilen nach Durovernum. Das zumindest konnte er ihnen offenbar mit Gewissheit sagen, und als sie die Stadt hinter sich ließen, lichtete sich langsam der Nebel, und eine fahle Sonne schien auf die Straße.
 
Dreißig römische Meilen entfernt saß Eigon nahe dem Stadttor bei der Festung an eine Wand gelehnt. Sie trug einen warmen Umhang, der Korb hing ihr am Arm, sie hatte sich lange Zeit nicht mehr bewegt. Anfangs hatten Männer sie im Vorbeigehen lüstern angesprochen, eine Frau hatte sie als Straßenhure beschimpft, eine andere hatte ihr Arbeit angeboten, aber Eigon hatte sie alle ignoriert, und schließlich hatte man sie in Ruhe gelassen. Ihre Augen waren auf das Stadttor gerichtet, doch im Kopf war sie in der Festung, beobachtete ihre Gefährten, folgte ihnen und betete für sie.
Erst nach einer ganzen Weile bemerkte sie den Mann, der im Schatten des Tores stand und nachdenklich zu ihr herübersah. Sein Gesicht war nicht richtig zu erkennen, da die schwache Morgensonne nur auf die Straße fiel, aber sie bemerkte seine wachsame Haltung, die Aufmerksamkeit, mit der er sie betrachtete. Instinktiv wich sie weiter zurück und wandte sich halb ab. Wer immer er war, sie wollte nicht, dass er sie erkannte.
Vorsichtig drehte sie sich wieder um, hatte die Kapuze ihres Umhangs tief ins Gesicht gezogen. Er stand immer noch da und beobachtete sie.
Gemächlich ging sie ein paar Schritte davon und bog in die erste Seitenstraße. Dann begann sie zu laufen, die Straße entlang zur nächsten Kreuzung, wo sie wieder in eine schmale Gasse abbog und beinahe dort landete, wo sie zuvor gewartet hatte. Die Gestalt war verschwunden. War der Mann ihr gefolgt? Besorgt warf sie einen Blick über die Schulter. Es war nichts von ihm zu sehen. Ein Wagen ratterte langsam an ihr vorbei auf das Stadttor zu. Er blieb stehen, ein Wachposten trat vor, um mit dem Kutscher zu sprechen. Der Mann beugte sich herab und wedelte mit den Armen durch die Luft. Dann lachten beide.
Jemand berührte sie am Arm, und sie fuhr zusammen. »Eigon!« Es war Drusilla.
»Wie bist du da herausgekommen, ohne dass ich dich gesehen habe? Was ist passiert? Wo ist Commios?« Eigon fasste sie am Arm.
»Er ist in Sicherheit«, flüsterte Drusilla. »Bevor der Wagen wieder hinausfährt, packen sie ihn hinein. Sie haben volle Amphoren angeliefert, die ersetzen sie gerade durch unzerbrochene leere und bringen sie zum Lagerhaus zurück. Du gehst jetzt. Titus ist hier, wie immer fragt er überall nach dir und bietet eine Belohnung an. Zum Glück hat er sich offenbar ziemlich arrogant aufgeführt. Die Männer, mit denen ich gesprochen habe, freuen sich, wenn sie ihm eins auswischen können. Ihr Schaden soll’s nicht sein, sie werden ein ganzes Stück reicher sein, wenn sie tun, was ich will.« Lächelnd klopfte sie auf die Börse unter ihrem Umhang. »Seine Belohnungen werden immer magerer. Entweder glaubt er, dass die Leute hier bereit sind, mehr für weniger Geld zu tun, oder seine Reserven gehen zur Neige! Du verschwindest, solange es noch möglich ist. Nimm das Westtor und geh die Straße entlang, bis du zu einer Villa kommst, die rechter Hand liegt. Es ist das erste große Haus, auf das du triffst, es dient als eine Art Raststation. Ungefähr drei Meilen sind es bis dorthin. Warte da auf uns. Gott behüte dich!« Damit war sie wieder fort.
Eigon starrte ihr nach, aber sie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie hüllte sich fester in ihren Umhang, nahm den Korb an sich und machte sich auf die Suche nach dem Westtor.
Commios wusste, was er zu tun hatte. Als der Wachposten ihm ein Zeichen gab, stand er auf und hielt sich bereit. Der Mann hob eine Hand, um ihn kurz zurückzuhalten, während er prüfend zur Tür hinausschaute, dann winkte er ihn in den Durchgang und von dort in den äußeren Hof. Im Handumdrehen war Commios in den Wagen gesprungen, jemand warf einen Stapel Säcke über ihn und deckte ihn so gut wie möglich mit einigen leeren Amphoren zu, dann wurden die zwei verschlafenen Ochsen mit lauten Rufen und Peitschenknallen in Gang gesetzt. Commios blieb still liegen, sein Herz raste, jeden Moment erwartete er, einen Aufschrei zu hören, einen Alarmruf, dass seine Flucht entdeckt worden war. Aber nichts dergleichen geschah. Schlingernd und mit quietschenden Rädern drehte der Wagen um und setzte sich dann richtig in Bewegung. Durch ein Loch zwischen den Säcken sah Commios den massigen Bogen in der Festung, den der Wagen passieren musste, ehe er auf die Hauptstraße einbog. Commios war wieder frei. Lange Zeit wagte er nicht, sich zu rühren, bis eine Stimme vorne im Wagen rief: »He, du da hinten! Spring runter, solange niemand herschaut!«
Das brauchte Commios nicht zweimal zu hören. Im Nu hatte er die Säcke zurückgeworfen und war aus dem Berg herumrollender Amphoren über die Seite des Wagens auf die Straße gesprungen.
Drusilla packte ihn am Arm und zog ihn in den Schatten. »Das war knapp. Ich war mir sicher, dass jemand mit einem Schwert im Wagen herumstochern würde, um sicher zu gehen, dass sich niemand darin versteckt. Das haben sie mit einigen Wagen gemacht, die in die Stadt hineingefahren sind.«
»Großartig!« Commios atmete tief durch und versuchte, sich ein wenig zu beruhigen. »Wo ist Eigon?«
»Ich habe sie vorausgeschickt. Es war zu gefährlich für sie, in der Stadt zu warten. Offenbar hat Titus wirklich überall Spione. Sie wartet auf uns auf der Straße nach Londinium.« Sie fasste ihn am Arm. »Hast du noch Geld?«
»Nicht viel. Sie haben mir die Börse abgenommen, und alles Übrige auch. In dem Beutel, der mir um den Hals hängt, sind noch ein paar Münzen - der ist ihnen entgangen, aber damit kommen wir nicht weit.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Warum?«
»Wir haben unser ganzes Geld dafür aufgebraucht, dich da rauszuholen«, sagte sie schlicht. »Wir mussten Titus überbieten.«
Commios brummelte, aber zu leise, als dass Drusilla ihn verstehen konnte. »Dann müssen wir wohl wieder für unser Abendessen singen!«, meinte er dann grinsend und hängte sich bei ihr ein. »Los, jetzt gehen wir zu Eigon und schauen zu, dass wir fortkommen. Schließlich reisen wir ohne das viele Gepäck jetzt viel unbeschwerter!«
Bei der Villa war von Eigon nichts zu sehen. Besorgt schaute Drusilla sich um. »Ich habe ihr gesagt, es sei das erste größere Haus, auf das man trifft. Ich habe ihr genau erklärt, wo es ist. Und es ist auch genau da, wo ich es ihr beschrieben habe.« Verwirrt blickte sie sich um. Die Villa lag ein Stück von der Straße zurückgesetzt in einer leichten Senke. Das Haus war nicht zu verfehlen, und ebenso unverkennbar war, dass es als Raststation für Reisende diente. Schon liefen Sklaven herbei und fragten, ob sie etwas zu trinken oder Pferde mieten wollten, und sie sahen ein oder zwei Händler, die ihre Ware an den Tischen feilboten, die nahe des Tors aufgestellt waren.
Commios setzte sich. »Sie wird schon kommen. Gott wird sie zu uns leiten.« Er fischte aus seinem Beutel eine Münze und bestellte einen Krug Dünnbier für sie beide. »Nach dem Schrecken haben wir eine Belohnung verdient«, sagte er mit Nachdruck.
Sie blieben sehr lange dort sitzen, aber auch, als es dämmerte und die Reisenden nacheinander aufbrachen, war von Eigon noch immer nichts zu sehen. Schließlich blieben die beiden ganz allein an der dunklen, windigen Straße zurück.
Rhodri stürzte ins Haus. »Wo ist Meryn?«, rief er. Die anderen saßen am Küchentisch zusammen. Von der Polizei war nichts zu sehen.
Meryn stand auf. »Was ist denn passiert?«
»Das Kind. Eigons Schwester. Sie hat Jess!« Sein Gesicht war weiß, er atmete schwer. »Sie ist mir da oben am Berg erschienen. Daniel war auch da, das Schwein. Er hat gedroht, mich umzubringen, aber dann ist sie aufgetaucht, und er hat Fersengeld gegeben. Das kleine Kind war zu viel für ihn!« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Andererseits, vielleicht hat er ja Recht. Sie ist böse und gehässig. Sie ist nicht das liebe kleine Ding, für das wir sie alle gehalten haben. Sie wirft Jess vor - sie wirft Eigon vor -, dass sie nicht gekommen ist, um nach ihr zu suchen.« Ihm war bewusst, dass die anderen ihn bestürzt ansahen, nur Meryn beobachtete ruhig sein Gesicht. Jemand schob ein Glas zu ihm, er leerte es mit einem Zug. Es war Whisky. »Ist das möglich? Hat sie Jess irgendwo versteckt? An einem anderen Ort? In einer anderen Dimension? Heiliger Strohsack!« Er schüttelte den Kopf. »Was sollen wir bloß machen?« Unvermittelt sah er sich um. »Wo ist die Polizei? Ist niemand gekommen?«
»Sie sind hier. Sie haben die ganze Gegend abgeriegelt.« Steph seufzte. »Sie wollen nicht, dass wir das Haus verlassen. Der Hubschrauber ist schon oben, und sie holen Leute von der Bergwacht. Ich glaube nicht, dass wir sonst noch etwas tun können.«
Meryn legte Rhodri beruhigend die Hand auf die Schulter. »Jetzt kommen Sie erst mal wieder zu Atem. Ich schaue mich ein paar Minuten draußen um, dann können Sie und ich vielleicht nochmal auf den Berg gehen, wenn die Polizei uns nicht davon abhält. Machen Sie sich keine Sorgen, wir finden sie schon.«
Draußen blieb Meryn mit geschlossenen Augen stehen. Er spürte die Luft um sich, spürte die Fäden von Angst und Zorn und Kummer, die sich dicht um ihn woben. Er verzog das Gesicht. Er durfte seine Gedanken nicht schweifen lassen. Er musste sich konzentrieren. Warum hatte er das alles nicht gespürt? Warum konnte er Jess nicht spüren? Was, wenn Rhodri Recht hatte und sie wirklich in eine andere Dimension entführt worden war? Sollte das wirklich der Fall sein, würde er ihr folgen müssen. Er ging zum Atelier, die Tür war nur angelehnt. Er trat ein. Dieser Raum stand im Mittelpunkt der ganzen Geschehnisse. An diesem Ort war vor zweitausend Jahren ein Kind grausam vergewaltigt worden, eine Familie war auseinandergerissen, Menschen waren ermordet worden. Ein anderes Kind war gekommen und hatte den Ort verlassen vorgefunden, nur ein paar Blutlachen zeugten vom Grauen. Sie hatte nach ihrer Mutter und ihrer Schwester gerufen und wusste plötzlich, dass sie an einen Ort gegangen waren, an den sie ihnen nicht folgen konnte. Überwältigt vor Angst, hatte sie sich auf die Suche nach ihrem kleinen Bruder gemacht und musste feststellen, dass auch er nicht mehr da war. Er hatte sich zu einer kleinen Kugel zusammengerollt, und sein Geist hatte sich verflüchtigt. Sie war allein.
Plötzlich merkte er, dass Rhodri schweigend in der Tür stand und ihn beobachtete. Er spürte wohl, dass die Gedanken, die Meryn durch den Kopf gingen, nicht unterbrochen werden durften.
»Wie hieß sie gleich, Eigons kleine Schwester?«, fragte Meryn nach einer ganzen Weile.
»Sie haben sie Glads genannt.«
»Gut. Sie braucht einen Namen. Wir müssen herausfinden, was mit ihr passiert ist, nachdem sie den Unterstand verlassen hat. Geben Sie mir noch ein bisschen Zeit, Rhodri.«
Rhodri verschwand, Meryn hörte seine Schritte über den Hof hallen. Dann erstarb das Geräusch, er blieb mit einer unbelebten Stille zurück. Er lauschte. Das arme, verstörte Kind - war sie zu einer Frau herangewachsen, oder war auch sie auf diesem erschreckenden Berg oder in dem gottverlassenen Tal dort unten gestorben?
Gottverlassen. Er schaute zu Boden. Wenn er es recht verstand, war Eigon als Christin aus Rom nach Britannien zurückgekehrt. Durchaus möglich. Die Männer, denen die Christianisierung der britischen Inseln zugeschrieben wurde - Patrick, Kolumban, Augustinus -, waren alle erst sehr viel später gekommen. In einem Reich, durch das sich gut instand gehaltene Handelsstraßen zogen, reisten Ideen so schnell wie das schnellste Pferd. Die Kunde von der neuen Religion würde hier etwa zur gleichen Zeit eingetroffen sein wie in Rom, auf den westlichen Routen übers Mittelmeer vielleicht sogar noch früher. Die Legende, dass Josef von Arimatäa mit dem jungen Jesus der Route des Zinnhandels gefolgt war, ließ sich nicht so ohne weiteres von der Hand weisen. Er schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit für solche Überlegungen. Es genügte zu wissen, dass Eigon im Rom Neros, zur Zeit von Petrus und Paulus, gelebt hatte und ihnen begegnet war. Eine Tatsache. Laut Jess.
Jess, wo bist du? Er seufzte.
Jetzt hörte er eilige Schritte im Hof, Rhodri erschien wieder in der Tür. »Falls Sie das auch wissen müssen, der kleine Junge hieß Togo, nach Caratacus’ Bruder, der gestorben war.« Er zögerte. »Müssen Sie immer noch allein sein?«
Meryn warf dem großen, kräftigen Mann einen prüfenden Blick zu. Trotz seiner etwas großspurigen Art war er in vieler Hinsicht sehr einfühlsam: Zu ihm hatte das Kind gesprochen, ihm hatte es sich zu erkennen gegeben. Er schüttelte den Kopf. »Haben Sie eine Taschenlampe dabei? Dann zeigen Sie mir doch, wo Sie sie gesehen haben.«
Auch als sie durch das Tor traten, war von der Polizei nichts zu sehen. Nach einem knappen Kilometer verließ Rhodri den Pfad. »Ich weiß, dass es hier war. Die verkrüppelte Eibe ist mir aufgefallen.« Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Äste eines Nadelbaums. »Dann bin ich hier durch die Rhododendronbüsche gegangen und auf eine Quelle zu. Die habe ich in der Ferne gehört. Daniel ist in die Richtung davongelaufen.« Er deutete mit der Taschenlampe, so dass der Lichtstrahl wild über das Blätterdach tanzte.
»Und die Polizei?« Meryn blieb kurz stehen. »Wo sind die hin?«
Rhodri zuckte mit den Achseln. »Ich habe den Hubschrauber gehört, aber gesehen habe ich niemanden.«
»Wir wüssten, wenn sie noch irgendwo in der Nähe wären.« Meryn machte ein paar Schritte ins Gebüsch und blieb abrupt stehen. Ganz unvermittelt spürte er es. Eine Mauer, eiskalt und abweisend. Er schaute kurz zu Rhodri zurück, der in dem Moment fröstelnd schauderte. Er wirkte beklommen.
»Wir kommen näher, stimmt’s?«, flüsterte Rhodri.
Meryn nickte. »Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Ja.«
»Was haben Sie gesagt?«
»Ich habe versucht, freundlich zu sein. Aber darauf hat sie sich gar nicht eingelassen. Sie klang ziemlich aufgebracht. Sie hat den Menschen vorgeworfen, dass sie sie verlassen haben, sie hat Jess Vorwürfe gemacht.«
»Vergessen Sie nicht«, sagte Meryn leise, »den Schmerz und die Wut und das Gefühl, hintergangen worden zu sein, hat sie nie überwunden. Das hat die ganze Zeit in ihr gegärt, und vielleicht hat sie auch nie ganz verstanden, was passiert ist. Ihr ist nicht klar, dass ihre Schwester nicht kommen konnte, um sie zu holen.«
»Sie haben nach ihr und Togo gesucht, sehr lange sogar. Das hat Jess mir erzählt. Die ganze Legion hat die Gegend durchkämmt. Schließlich war sie die Tochter des Königs, und sie wollten möglichst viele Familienmitglieder als Gefangene nach Rom mitnehmen.«
»Tja, wo ist sie dann hingegangen? Was ist mir ihr passiert?«, fragte Meryn nachdenklich. Er schaute zu Rhodri. »Geben Sie Bescheid, wenn Sie meinen, wir haben den Platz erreicht, an dem Sie mit ihr gesprochen haben.«
Rhodri machte eine vage Geste. »Irgendwo hier, es sieht überall gleich aus.«
Meryn nickte. »Das stimmt. Haben Sie nach ihr gerufen?«
»Nein. Sie ist einfach erschienen. Sie stand hinter Daniel. Ich habe mit ihr gesprochen und …« Er machte eine verlegene Geste. »Ich glaube, sie hat mich verstanden. Sie ist irgendwie verblasst, dann war sie plötzlich wieder da, und dieses Mal klang sie richtig bösartig. Sie hat mir gedroht. Und sie hat gesagt, sie habe die Frau.«
»Und hat sie gesagt, was sie mit ihr tun würde?«
»›Ich werde sie dafür büßen lassen, dass sie meinen Bruder umgebracht und mir meine Schwester weggenommen hat‹, etwas in der Art.«
Meryn runzelte die Stirn. »Das ist seltsam. Wie könnte Jess Schuld daran haben?«
»Hält sie sie vielleicht für jemand anderen? Für Eigon?«
»Rufen Sie sie doch nochmal.« Jetzt wusste Meryn, wie er vorgehen musste. »Sie weiß, dass wir hier sind. Rufen Sie sie. Sie hat Kontakt mit Ihnen aufgenommen, jetzt schauen wir doch mal, ob sie mit sich handeln lässt.«
»Glads?«, rief Rhodri. Er schaute konzentriert in die Bäume und Büsche um sich. »Bist du da? Wir wollen dir helfen. Willst du kommen und mit uns reden?«
Sie warteten schweigend.
»Bitte, sag uns doch, was wir für dich tun können«, wiederholte Rhodri nach einer Weile. »Du willst doch, dass dieses ewige Spiel aufhört, oder nicht? Komm, lass es uns doch versuchen, ja?«
Rhodri brach ab, als Meryn ihm warnend eine Hand auf den Arm legte und mit dem Kopf in eine Richtung wies. Da, im dunkleren Schatten einer uralten Eiche, war jemand. Die Umrisse eines Mädchens. »Komm, Kleine. Bitte rede mit uns«, fuhr er leiser fort. »Lass uns dir helfen.«
Meryn hob einen Finger an die Lippen und trat vor. »Seid gegrüßt, Herrin. Ich bin ausgebildet, um mit den Göttern zu sprechen. Wenn ich vermitteln kann, tue ich es gern.«
Es schien, als habe sie sich genähert. Jetzt konnten die beiden Männer ihr Gesicht ausmachen, ihr flachsblondes Haar, ihre großen, unglücklichen Augen. In ihnen lag blanke Verzweiflung. »Wer hat sich um Euch gekümmert?«, fuhr Meryn fort. »Wer hat Euch gefunden an dem Tag, an dem Eure Schwester weggebracht wurde?«
Es kam keine Antwort.
»Bitte, sagt es mir«, bat Meryn sanft. »Ich möchte Euch helfen.«
»Fragen Sie sie, wo Jess ist«, murmelte Rhodri.
Meryn verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Meine Kleine, willst du mit mir reden?« Jetzt übernahm er Rhodris Anrede.
Seid ihr gekommen, um mit mir zu spielen?
Sie hörten ihre Stimme, aber ihre Lippen hatten sich nicht bewegt.
»Ja, wir sind da, um mit dir zu spielen«, sagte Meryn freundlich. »Genau deswegen sind wir gekommen.«
Wo ist Eigon?
»Sie sucht nach dir. Sie hat alles getan, um dich zu finden. Sie hat mit der Frau gesprochen, mit Jess. Jess hilft ihr bei der Suche nach dir.« Meryns Aufmerksamkeit war ganz auf die schattenhafte Gestalt gerichtet. »Ist Jess bei dir, Glads?«
Jess?
Plötzlich schallte der Name rund um sie in den Bäumen, hallte von Gipfel zu Gipfel und durch die Eichen quer über das Tal.
Jess, Jess, Jess!
»Guter heiliger Gott!« Voller Angst sah Rhodri sich um.
»Wo ist Jess?« Meryn hob die Stimme. »Ich muss sie sehen!« Sein Blick war unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet.
Jess! Jess ist hier, um mit mir zu spielen. Jess ist hier bei mir im Wald!
»Ich muss sie sehen, Glads!« Jetzt sprach Meryn mit strenger Stimme. »Auf der Stelle.« Ein Wind kam auf, unvermittelt wiegten sich die Äste über ihnen, die Blätter rauschten in der Dunkelheit.
»Wo ist sie?«, rief Meryn wieder.
Das Kind verblasste.
»Komm zurück. Bitte rede mit mir!«
Aber sie war fort.
Meryn seufzte. »Ich konnte sie nicht festhalten.«
»Ist Jess tot?« Rhodri klang verzweifelt. »Wollte sie das damit sagen?«
»Ich glaube nicht.« Meryn seufzte. »Ich habe nicht das Gefühl, dass sie tot ist. Hier passiert so vieles gleichzeitig, so viele unterschiedliche Geschichten laufen parallel.«
»Was ist mit Titus?«
»Ich spüre ihn nicht in der Nähe. Schon länger nicht. Ich weiß nicht, ob er Daniel folgt. Irgendwie bezweifle ich das. Die Verbindung zwischen den beiden ist momentan unterbrochen, aber das heißt nicht, dass er nicht noch in der Gegend ist. Wenn er es wirklich darauf abgesehen hat, Eigon zu fassen, ist es gut möglich, dass er hier in der Nähe ist. Vielleicht hat er sich mit der Energie dieses Kindes verbunden.« Er schüttelte den Kopf. »Wir bewirken hier nichts Gutes. Ich glaube, wir sollten kehrtmachen.«
»Nein! Wir dürfen nicht weg! Noch nicht. Wir müssen nach Jess suchen. Was, wenn sie sich verletzt hat und irgendwo hier liegt? Vielleicht ist sie bewusstlos.« Rhodri klang außer sich vor Sorge.
»Der Gedanke ist mir auch gekommen. Das könnte erklären, warum sie halb in dieser Welt ist und halb nicht.«
»Das spüren Sie?« Entsetzt sah Rhodri zu ihm.
»Ich bin mir nicht sicher, was ich spüre.« Meryn seufzte wieder. »Ich bekomme sehr widersprüchliche Signale. Jemand verschleiert das Bild, und zwar absichtlich. Eine Frau, die das sozusagen von der Pike auf gelernt hat. Sie wehrt mich ab und verbirgt alles, was passiert, vor mir.«
»Aber die können Sie doch überlisten, oder nicht?«
Meryn zuckte mit den Schultern. »Das hatte ich auch immer geglaubt. Aber diese Person ist sehr mächtig, ausgesprochen mächtig.« Er streckte die Hände aus und spreizte die Finger, als wolle er die klebrige Luft um sich trennen. »Marcia.« Er lächelte. »Einen kurzen Moment hat sie nicht achtgegeben, und ich habe sie gespürt.« Lange herrschte Stille, er hatte die Augen geschlossen. Beklommen beobachtete Rhodri ihn.
»Marcia Maximilla. Jetzt lässt sie mich sie sehen. Sie glaubt, sie habe nichts zu befürchten. Sie verhöhnt mich mit ihren Fähigkeiten. Sie ist die Beste.« Er lächelte finster.
»Ist sie eine Römerin?« Ehrfurcht schwang in Rhodris Flüsterstimme mit.
»O ja, sie ist eine Römerin.« Meryn lächelte. »Eine grandiose Herausforderung.«
»Und weiß sie, wo Jess ist?«
Meryn schwieg einige Sekunden. »Tja, das werden wir abwarten müssen.«
 
Der Wagen hatte Eigon bei einer Villa abgesetzt, die gleich an der Hauptstraße lag, genau, wie sie es erwartet hatte. Aber ohne ihr Wissen waren sie einer Straße gefolgt, die von Durovernum wieder nach Süden Richtung Portus Lemanis führte. Ganz in der Nähe fand sie ein mansio, das auf Reisende eingestellt war. Dort wartete sie den ganzen Nachmittag und die folgende Nacht, die sie in ihren Umhang gehüllt auf einer Bank verbrachte, da sie sich ein Bett nicht leisten konnte. Schließlich wurde ihr klar, dass Commios und Drusilla nicht mehr kommen würden. Unglücklich fragte sie sich, was sie jetzt tun solle. Aber sie unterdrückte die Panik, die in ihr aufzusteigen drohte, und überschlug im Kopf, wie viel Geld noch in ihrer Börse war - so gut wie keines. Sie hatte nichts als den Korb, den Umhang und ein paar feste Schuhe. Eine Weile weigerte sich ihr Verstand, klare Gedanken zu fassen. Die Vorstellung, ohne ihre Freunde weiterzureisen, kam nicht in Frage, und den Gedanken, was ihnen zugestoßen sein könnte, wollte sie nicht weiter verfolgen. Waren sie gefasst worden? Sollte sie umkehren? Aber wie sollte sie sich gegen Titus zur Wehr setzen? Wo war er? War er ihr auf den Fersen, oder hatte er inzwischen ihre Spur verloren?
Vielleicht konnte sie mit ihm verhandeln. Vielleicht konnte sie ihm anbieten, sich selbst auszuliefern, wenn er ihre Freunde freiließe. Bei der Idee musste sie an Julius denken und an einen anderen Plan, der gescheitert war. In Rom. Tränen traten ihr in die Augen. Mit steifen Gliedern, hungrig und fröstelnd stand sie schließlich auf und schlug den Weg zurück nach Durovernum ein. Fast sofort erbot sich ein Bauer, sie ein Stück auf seinem Wagen mitzunehmen. Da erst wurde ihr klar, dass sie an der falschen Straße gewartet hatte. Der Bauer erbarmte sich ihrer und gab ihr etwas Brot und ein Stück von dem riesigen, in Blätter gewickelten Käselaib, den er auf dem Markt gekauft hatte, während sie schließlich doch noch die für Eigon richtige Richtung einschlugen.
Erst am späten Nachmittag gelangte sie zu dem Treffpunkt, an dem Commios und Drusilla so lange vergeblich auf sie gewartet hatten. Sie waren schon längst fort, hatten aber in der Villa bei einem Sklaven eine Nachricht für sie hinterlassen, falls sie doch noch auftauchen sollte. Der Sklave erkannte Eigon anhand der Beschreibung sofort und zeigte ihr ein Wachstäfelchen, auf das Commios etwas geschrieben hatte. Zunächst machte ihr Herz einen Satz vor Freude über die Nachricht, dass beide tatsächlich frei waren, doch beim Weiterlesen wurde ihr bang. Sie wollten ihrem ursprünglichen Plan folgen und nach Westen Richtung Venta Silurum gehen. Beim Lesen berührte Eigon die Tafel kurz mit der Fingerspitze. Die Botschaft war mit dem Zeichen des Fisches unterzeichnet.
Die beiden waren ohne sie aufgebrochen. Sie sagten weder, welcher Straße sie folgen wollten, noch welche Städte an ihrer Route lagen. Der Sklave beobachtete sie schweigend. »Die haben dich verlassen, was?«, sagte er nach einer Weile und lächelte wehmütig.
Sie nickte. »Sie müssen die Hoffnung aufgegeben haben, mich je wiederzusehen.«
»Und was machst du jetzt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich muss ihnen folgen, aber ich habe kein Geld.«
Er deutete mit dem Kopf auf das Täfelchen, das sie in der Hand hielt. »Das Fischzeichen kenne ich.« Er schaute zu ihr. »Ich kenne jemanden, der dir wahrscheinlich helfen kann.«
Erstaunt schaute sie zu ihm auf. »Wer?«
Er warf einen prüfenden Blick über die Schulter, ob ihnen auch niemand zuhörte. »Er wohnt im Wald, am Fuß der Downs. Das ist nicht weit von hier. Ich bitte einen Träger, dich zu dem Meilenstein mitzunehmen, wo die Leute manchmal Lebensmittel und Vorräte für ihn deponieren. Von dort musst du dem Pfad folgen, er wird dich finden. Er ist ein großartiger Mensch.« Er sah sich wieder um. »Ich sage niemandem, dass du hier warst, aber du solltest sobald wie möglich aufbrechen. Deine Freunde haben gesagt, dass Soldaten hinter dir her sind.« Offenbar hatten sie diesem Mann vertraut. Er bemerkte ihren musternden Blick und grinste. »Keine Sorge, ich kann die römische Armee genau so wenig leiden wie du. Dieser Mann hilft dir, das verspreche ich dir.«
Gut zwei Stunden später kam er zu ihr an den Platz in der Ecke, an dem sie auf seinen Vorschlag hin gewartet hatte. Er brachte ihr einen Krug Dünnbier und eine Pastete, die er von seinem Trinkgeld bezahlt hatte. »Ich habe jemanden gefunden, der dich hinbringt«, flüsterte er. »Nur gut, denn in der Zwischenzeit ist jemand hier gewesen, der nach dir gefragt hat. Ein Soldat.« Als sie entsetzt die Augen aufriss, schüttelte er beruhigend den Kopf. »Keine Sorge, ich habe ihn in die andere Richtung geschickt.« Er zwinkerte. »Zieh dir die Kapuze tief ins Gesicht und komm mit mir.«
Sie befolgte seinen Rat und ließ sich dann von ihm auf die Sitzbank eines schwer beladenen Fuhrwerks helfen. Der Kutscher würdigte sie keines Blickes und blieb stumm neben ihr sitzen. Fest in ihren Umhang gehüllt, saß sie eine schier endlos lange Zeit dort, bis der Wagen schließlich schlingernd und rumpelnd von der befestigten Straße auf einen Weg bog, der kurz darauf in die dicht bewaldete Hügellandschaft führte.
Es wurde schon dunkel, als der Kutscher schließlich anhielt. Dort am Weg stand tatsächlich ein großer Meilenstein, aber es war kein römischer. Eigon sah die keltische Inschrift und auch die Inschriften an der Seite, die in der geheimen Schrift der Druiden geschrieben waren. Mit einem Lächeln des Danks glitt sie vom Wagen, während der Kutscher einige Bündel herunterhob und neben den Stein stellte. Er verneigte sich ein wenig, und immer noch wortlos schwang er sich auf die Zugstange, wo er mit baumelnden Beinen sitzen blieb. Ohne einen Befehl abzuwarten, setzten sich die Ochsen wieder in Gang, und innerhalb erschreckend kurzer Zeit war das Fuhrwerk in die Dunkelheit der Bäume verschwunden, und Eigon blieb ganz allein zurück.
Befangen sah sie sich um. Auf allen Seiten war sie von Bäumen umgeben. Im schwindenden Licht konnte sie keinen Pfad ausmachen, und das einzige Geräusch war der Wind, in dem das trockene Herbstlaub leise raschelte. Langsam wurde es kalt. Sie versuchte, ihrer Angst Herr zu werden, hüllte sich fester in ihren Umhang, zog die Kapuze vor der Kälte ins Gesicht und setzte sich auf den Boden, den Rücken an den Stein gelehnt. Vermutlich würde dieser Mann früher oder später kommen, um seine Vorräte abzuholen. Sie brauchte nur zu warten.
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie eingeschlafen war, aber plötzlich standen ihre Augen weit offen. Es war finster. Angespannt schaute sie sich um und versuchte festzustellen, was sie geweckt hatte. Sie spitzte die Ohren. Ein Fuchs, ein Dachs, ein Wildschwein? Ein Wolf? Schaudernd presste sie sich an den Stein und spürte seine Kälte durch ihren Umhang dringen. Dann hörte sie es wieder. Der leise Ruf einer Eule. Sie schaute nach oben und kniff die Augen zusammen, um den Vogel irgendwo in den Bäumen auszumachen. Er beobachtete sie und gab jemandem eine Botschaft weiter. Langsam erhob sie sich. Vielleicht war dieser Jemand ein Druide.
Sie sah ihn gar nicht kommen. Zuerst war die Stille um sie leer, dann sah sie ihn neben sich, auf seinen Stab gestützt. Lautlos flog die Eule davon und verschwand in der Nacht.
»Entschuldige. Hätte ich gewusst, dass ich Besuch habe, wäre ich früher gekommen.« Er sprach leise im lokalen Dialekt, den sie aber mühelos verstand. »Meine Freunde haben mir gerade erst gesagt, dass du hier bist.« Er deutete mit dem Kopf zu dem Ast, auf dem die Eule gesessen hatte.
Eigon lächelte, ihre Angst hatte sich in Nichts aufgelöst. »Verzeih, dass ich ohne jede Ankündigung hier aufgetaucht bin.«
»Komm.« Er bückte sich nach den Bündeln. »Jetzt gehen wir zu mir ins Haus, dort kannst du mir den Grund für deinen Besuch erzählen. Du bist in meinen Wäldern willkommen.«
Sie wusste nicht genau, wie lange sie durch die Bäume wanderten. Sie konnte keinen Pfad ausmachen, doch das Gehen war unbeschwerlich, und der Mann war rücksichtsvoll, fand sich in der Dunkelheit mühelos zurecht und blieb immer wieder wartend stehen, damit sie zu ihm aufschließen konnte.
Plötzlich standen sie auf einer Lichtung, und vor sich sah Eigon ein rundes Haus von der Art, die sie so gut aus ihrer Kindheit kannte. Davor brannte ein Feuer, das abgedeckt war, damit die Glut erhalten blieb, bis der Mann zurückkehrte. Daneben befand sich eine Kochstelle. Dem würzigen Duft nach zu urteilen, der von der aufgehäuften Erde aufstieg, garte dort eine herzhafte Mahlzeit. Eigon lächelte müde, als der Mann ihr freundlich bedeutete, sich auf den Stamm zu setzen, der vor dem Feuer stand und als Sitz diente. Im Handumdrehen hatte er die Erde und Asche weggefegt und die Glut mit Reisig wieder entfacht.
Der Mann bestand darauf, dass sie sich erst ein wenig ausruhte und sie beide aßen, ehe er ihr gestattete, ihre Geschichte zu erzählen. Schweigend hörte er ihr zu, sah den Funken nach, die in den Nachthimmel stoben, ab und zu stand er auf und legte ein Holzscheit nach. Als Eigon schließlich zum Ende kam, schwieg er lange Zeit. Sie warf einen kurzen Blick zu ihm. Er war groß und im fortgeschrittenen Alter, sein Gesicht war tätowiert und voller Narben. Wie sie vermutet hatte, war er ein Druide und lebte zurückgezogen in den Wäldern. Als sie fragte, ob er keine Angst habe, tat er die Gefahr mit einem Achselzucken ab. Immerhin waren Druiden in Gallien seit der Zeit Julius Cäsars verboten, hier in Britannien seit dem Einmarsch Claudius’.
»Der Mann beim mansio meinte, du seiest freundlich zu Christen«, sagte Eigon schließlich. Sie presste die Lippen aufeinander. Sie hatte gehofft, dass sie zu einem Christen geführt würde, aber das war eindeutig nicht der Fall. »Er erkannte das Zeichen des Fisches auf der Botschaft, die dort für mich lag, und meinte, du würdest mir vielleicht helfen.«
Ihr neuer Freund lächelte nachdenklich. »Er hat Recht. Ich helfe Leuten, unabhängig welchem Gott sie folgen, auch Christus. Ich habe viel über diesen Jesus gehört. Ich sehe keinen Widerspruch zwischen dem, was er predigt, und meinem eigenen Glauben. Vielleicht kannst du mir mehr über ihn erzählen, während du mein Gast bist.« Er warf ein weiteres Scheit in die Flammen.
Über ihnen rief im Baum die Eule. Eigon lächelte. »Sie ist dir nach Hause gefolgt.«
Er nickte. »Sie wacht gern über mich.«
Er hieß Gort. Als er sah, dass Eigon die Augen zufielen, zeigte er ihr das runde Haus und überließ ihr sein eigenes Bett. Er sagte, er wolle ohnehin die restliche Nacht draußen unterwegs sein. Sie würden sich am Morgen weiter unterhalten. Zum ersten Mal seit langer Zeit war ihr warm, sie fühlte sich sicher und gut aufgehoben. Sie schlief sofort ein, gewiegt vom Geräusch des Windes in den Bäumen und dem ruhigen Ruf der Eule, die Gort von seinem Haus tief in den Wald folgte.
Am nächsten Morgen wachte Eigon zum munteren Prasseln des Feuers und dem Duft von frisch gebackenem Brot auf. Als sie sich beim Frühstück gegenübersaßen, betrachtete er sie mit einem bohrenden Blick. »Du hast mir nicht gesagt, dass du die Tochter Caradocs bist.«
Sie erstarrte. »Woher weißt du das?«
»Ich habe Erkundigungen eingezogen.« Er zog die Stirn kraus. »Willst du in das Land vom Volk deines Vaters oder deiner Mutter zurück?«
»Das meiner Mutter. Dort bin ich zu Hause.«
»Werden sie dich freundlich empfangen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich gehe nicht als Kriegsführerin dorthin.«
»Als solche werden sie dich auch nicht akzeptieren. Also, weshalb willst du dorthin?«
»Jesu Apostel Petrus meinte, ich solle nach Hause gehen.«
»Um uns von deinem Gott zu lehren?« Forschend sah er sie an.
»Das ist ein Gedanke, der ihm immer sehr am Herzen lag. Sie haben mich aber auch fortgeschickt, damit ich außer Gefahr bin.«
»Dieser Mann Titus?«
Sie nickte. Sie hatte ihm am Abend zuvor ihr ganzes Leben erzählt; nur ihre Familienherkunft hatte sie ihm verschwiegen.
»Und du willst herausfinden, was mit deinem Bruder und deiner Schwester passiert ist?«
Wieder nickte sie. »Frieden finde ich erst, wenn ich das weiß.«
»Du hast gesagt, dass der Druide Melinus dich in die Heilkunst der Druiden eingewiesen hat.«
Sie lächelte. »Er hatte auch das Gefühl, dass Christus zu dienen sehr gut zum Leben eines Druiden passte.«
Er nickte und betrachtete sie weiter. »Ich spüre große Kraft in dir, Eigon. Ich glaube, du unterschätzt deine Fähigkeiten. Ich spüre, dass du alles erreichen kannst, was du dir zum Ziel setzt.« Er wandte sich ab und schaute eine Weile schweigend ins Feuer, dann drehte er sich wieder zu ihr. »Wenn du einen Begleiter auf deiner Reise nach Westen möchtest, ich komme gerne mit dir.«
Fassungslos starrte sie ihn an. »Aber du kannst doch nicht einfach weggehen. Du hast hier ein Zuhause.«
Er lächelte. »Mein Zuhause ist überall dort, wo ich bin. Ich lösche das Feuer, ich bitte meine Freunde, die Vögel und Tiere, mein Haus für mich im Auge zu behalten.« Er deutete auf die umstehenden Bäume. »Sie werden noch hier sein, wenn ich wiederkomme.«
»Und meine Freunde?«, fragte sie beklommen. »Commios und Drusilla? Was ist mit ihnen?«
»Wenn sie wirklich nach Venta Silurum wollen, wirst du sie dort wiedersehen.«
»Und Titus?«
Er verzog das Gesicht. »Ich fürchte, den wirst du auch wiedersehen. Er ist sehr nah.« Er seufzte. »Ihr werdet aufeinandertreffen, Eigon, aber mit Hilfe deines Gottes und meines werden wir siegen. Er wird in die Finsternis verbannt werden.«
Die Tochter des Königs
ersk_9783641053253_oeb_cover_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_toc_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_tp_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_fm1_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_fm2_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_fm3_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c01_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c02_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c03_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c04_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c05_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c06_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c07_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c08_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c09_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c10_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c11_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c12_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c13_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c14_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c15_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c16_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c17_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c18_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c19_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c20_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c21_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c22_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c23_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c24_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c25_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c26_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c27_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c28_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c29_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c30_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c31_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c32_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c33_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c34_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c35_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c36_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_ata_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_cop_r1.html