Kapitel 1
Die Vorhänge waren offen, Stimmen hallten durch ihren Kopf. Ein Kind, das sich verirrt hatte und weinte. Zwei Kinder. Drei …
 
Eine Weile lag Jess still da und schaute verwundert auf den Sonnenstrahl, der fast unmerklich über die Wand und das Gemälde wanderte. Ihr Gemälde. Es zeigte den Wald hinter dem Haus ihrer Schwester, auf dem das Laub nach den ersten Herbstfrösten in allen Farben glühte. Da waren Magenta- und Purpurtöne, die sie nie zuvor gesehen hatte, obwohl sie das Bild doch selbst gemalt hatte. Exquisite, wunderschöne Details, schattenhafte Nuancen, die sie ohne diesen Lichtstrahl nie richtig wahrgenommen hatte. Warum nicht? Warum hatte sie es noch nicht so eingehend studiert? Warum hatte sie das Bild nicht in seiner ganzen Pracht gesehen?
Und wo waren die Kinder?
Als sie den Kopf drehte, um zum Fenster hinauszusehen, erfasste sie eine Woge von Übelkeit und Schwindel. Sie stöhnte auf, das Bild und der Traum waren vergessen. Aus der Ferne hörte sie das Dröhnen der Autos, die die Steigung hinauf zur Ampel an der Kreuzung mit der High Street fuhren, dort kurz zum Halten gezwungen waren und dann weiterrauschten. Als Jess es wieder wagte, die Augen zu öffnen, war der Sonnenstrahl weitergewandert, das Bild hing wieder wie sonst im Schatten.
Mühsam richtete sie sich auf und warf einen Blick auf den Wecker auf dem Nachttisch. »Mist!« Es war Mittag. Kein Wunder, dass im Zimmer alles anders aussah. Ächzend schwang sie die Beine über die Bettkante, in ihrem Kopf drehte sich alles. Wie viel hatte sie am Abend zuvor getrunken? Mühsam stand sie auf und sah sich zufällig im Spiegel. Erschrocken starrte sie sich an. Ihr blondes, schulterlanges Haar war zerwühlt, ihre sonst klaren blaugrauen Augen waren blutunterlaufen und leicht verquollen. Ihr Blick wanderte an sich nach unten, und sie erstarrte vor Entsetzen. Die hübsche neue Bluse, die sie zur Party angezogen hatte, war zerrissen, ihr BH war unter ihre Brüste geschoben, der Rock bauschte sich um ihre Taille. Fassungslos sah sie an sich hinab, strich mit dem Finger über den lilablauen Fleck an ihrem Oberschenkel und den roten Striemen auf ihrem Bauch. An den Armen hatte sie noch mehr blaue Flecke.
»O mein Gott! Wie ist denn das passiert?«
Die Worte hingen lautlos im Raum, während sie ihr Spiegelbild anstarrte. Sie taumelte zur Schlafzimmertür, stützte sich am Rahmen ab und schaute ins Wohnzimmer. Auf dem Sofatisch standen zwei Weingläser mit Rotweinresten, die leere Flasche lag unter dem Tisch. Wer immer in der vergangenen Nacht bei ihr gewesen war, hatte keine weiteren Spuren hinterlassen, weder in der Küche noch im Bad. Die Wohnungstür war geschlossen. Mit zitternden Fingern überprüfte sie die Schlösser. Ein Einbruch war es nicht gewesen. Wer immer hier bei ihr gewesen war, hatte sich nicht gewaltsam Zutritt verschafft. Sie musste ihn selbst gebeten haben mitzukommen.
Sie war auf der Party zum Schuljahresende gewesen, daran konnte sie sich noch vage erinnern. Aber darüber hinaus an nichts. Was hatte sie dort denn getrunken? Wohin war sie nach der Disco gegangen? Und mit wem?
 
Die Disco zur Feier des Schuljahresendes war schon in vollem Gang gewesen, als sie angekommen war. In der Turnhalle des Colleges funkelten kreisende Lichter, der Lärmpegel war gigantisch. Jess stand in der breiten Tür, die weit geöffnet war und die feuchte Luft der Sommernacht hereinließ, und hatte nicht die geringste Lust, hineinzugehen. Am liebsten würde sie die Hände auf die Ohren legen, kehrtmachen und davonlaufen, um nicht in die wummernde Masse schwitzender Körper treten zu müssen, die überwältigend nach billigem Parfüm, Aftershave, Tabakrauch, Marihuana, Schweiß und Alkohol stank. Die Organisatoren hatten es nicht geschafft, alle Schüler zu filzen, aber wozu auch? In der Halle wurde sowieso Alkohol ausgeschenkt, und die meisten der Gäste waren ohnehin in einem Alter, in dem sie legal trinken durften.
»Hallo, Jess!« Aus der wogenden Menge kam jemand auf sie zu. Daniel Nicolson, ihr Fachbereichsleiter, trat auf den asphaltierten Parkplatz vor der Turnhalle und warf ihr ein erschöpftes Lächeln zu. »Für solche Sachen werde ich allmählich zu alt!« Sein schrilles T-Shirt widersprach dieser Behauptung - die Party zum Schuljahresende war das eine Mal im Jahr, dass er sich ohne Anzug am College blicken ließ.
Jess lachte. »Ich bin schon immer zu alt dafür gewesen, Daniel. Du siehst richtig cool aus.« Sein kurzes mausgraues Haar war zu einer Stachelfrisur gekämmt, seine braunen Augen versteckte er hinter einer Designersonnenbrille. »Ich habe gehört, dass du der Unglücksrabe bist, der bis zum bitteren Ende ausharren muss?«
»Und die kopulierenden Kids trennen darf, genau!« Er warf einen Blick zum Himmel. »Es sei denn, ich kann jemand anderen überreden, so lange zu bleiben. Darf ich dir was zu trinken holen?« Er schob sich die Brille auf den Kopf.
Sie nickte. Der Lärm, der zur Tür herausschallte, war ohrenbetäubend, es war sinnlos, sich dagegen zu wehren. Wie es erst innen in der Halle sein würde, wollte Jess sich gar nicht ausmalen, aber sie hatte versprochen zu kommen, und sie hatte auch jemandem einen Tanz versprochen. Ashley.
Ash war ihr vielversprechendster Schüler seit vielen Jahren, der wohl in jedem Fach die beste Note bekommen würde. Sie hatte unendlich viel Zeit und Mühe in diesen jungen Jamaikaner investiert. Und jetzt sah sie ihn auch in der Ferne am Mischpult, wo er die Lautstärke noch mehr aufdrehte. Sie brauchte sich nur zu vergewissern, dass er sie tatsächlich sah, anerkennend den Daumen zu heben und mit den Achseln zu zucken zum Zeichen, dass sie nicht auf den Tanz bestand - wobei Tanzen in dem Gedränge ohnehin fast unmöglich war -, dann konnte sie wieder gehen.
Während Daniel in den Tiefen der Turnhalle verschwand, kam ein anderer Kollege zu ihr. »Hallo, Jess!« William Matthews verzog das Gesicht, sein Kommentar zum Lärm. »Dafür werden die Nachbarn uns Ärger machen.« Er deutete mit seiner halbleeren Bierflasche auf die Türen zur Turnhalle.
Sie und dieser große, gut aussehende blonde Mann waren einen Großteil der drei Jahre, die sie hier an der North Woodley Sixth Form Grade im Süden von London englische Literatur unterrichtete, ein Paar gewesen. Einen Großteil, aber jetzt nicht mehr. William war stellvertretender Fachbereichsleiter in Geschichte, unterrichtete aber auch Basketball, Squash und Leichtathletik. In dem offenen blauen Hemd und den Jeans mit dem auffällig gravierten und beschlagenen Ledergürtel wurde er von mehr als einem jungen Mädchen mit begehrlichen Blicken bedacht.
Jess und William waren in vieler Hinsicht ein Traumpaar gewesen, aber irgendetwas hatte zwischen ihnen einfach nie gestimmt. Vielleicht war es Williams Ehrgeiz gewesen, seine Überzeugung - vermutlich geboren aus der hingebungsvollen Liebe seiner Mutter und seiner zwei jüngeren Schwestern -, dass er unwiderstehlich sei, seine Tendenz, es für selbstverständlich zu erachten, dass seine Arbeit, seine Laufbahn, seine Meinungen wichtiger waren als ihre, seine vermutlich unbeabsichtigt herablassende Einstellung zu Literatur als Beruf und zu ihrer unzweifelhaften Begabung als Aquarellistin. Das hatte sie alles immer schon gestört, und als er sie dann gefragt hatte, ob sie nicht mit ihm zusammenziehen wollte, war ihr klargeworden, dass ihr, trotz ihrer großen Liebe zu ihm, nicht nur diese vielen Kleinigkeiten auf die Nerven gingen, sondern dass sie nicht auch noch ihre Unabhängigkeit verlieren wollte. Das war der Anfang vom unschönen Ende ihrer Beziehung gewesen.
Es gab keine andere Frau, zumindest hatte sie nie von einer gehört. Nur seine Weigerung, Kompromisse zu schließen und ihre Selbstständigkeit anzuerkennen, hatte zur Trennung geführt, und das im Verlauf von gerade zwei oder drei Wochen, an deren Ende Jess wütend und verständnislos und William unglücklich und verbittert zurückgeblieben waren. Nach ihrer schmerzhaften Trennung waren sie sich aus dem Weg gegangen, so gut das im College eben möglich war - schwierig, aber durchaus machbar, wenn man sich bemühte. Und das hatten sie. Bis jetzt.
»Wie wär’s, Jess? Ein Tänzchen um der alten Zeiten willen?« Er lächelte gewinnend.
Sie verzog das Gesicht. »Eher nicht, William.«
»Ach, komm schon. Um zu zeigen, dass wir uns nichts nachtragen? Dann brauchst du mich auch nie mehr zu sehen!«
»Wieso? Gehst du weg?« Jess hob fragend die Augenbrauen.
Er lachte. »Das hättest du wohl gern! Nein. Aber ich verspreche dir, dass ich dich nächstes Trimester meide wie die Pest.«
Sie widerstand dem Drang, ebenfalls zu lächeln. Das Lächeln, das er ihr jetzt wieder zuwarf, war immer schon ihr Verderben gewesen. Es war zu charmant, zu verführerisch, viel zu gewinnend. Sie musste sich dagegen wehren. »Meiden wir uns doch jetzt schon, William, ja? Und jetzt entschuldige mich, ich muss Ash begrüßen.« Sie ließ sich ihre Sehnsucht nicht anmerken, zuckte nur entschuldigend mit den Schultern und ging davon. Dann nahm sie einen letzten Atemzug frischer Luft und drängte sich in das Gewühl der Tanzenden. William sah ihr mit starrem Blick nach.
Sobald Ashley sie bemerkte, trat er vom Mischpult zurück, bedeutete seinem jüngeren Bruder Max, der auf der Bühne neben ihm stand, das Auflegen zu übernehmen, und sprang von der Bühne herunter. »Komm, tanzen wir, Jess!« Schweiß rann ihm über sein attraktives Gesicht, sein leuchtendes Hemd war klatschnass, als er lachend ihre Hände ergriff, ihre Fäuste in die Luft hob und den Griff dann löste, um mit ausladenden Hüftschwüngen vor ihr herumzuwirbeln. Sie sollte nicht lachen. Sie sollte ihn ermahnen, weil er sie mit Vornamen ansprach, aber wozu? Im Grunde war die Schule vorüber, die Prüfungen waren geschrieben, es war eine laue Nacht, und die jungen Menschen amüsierten sich. Warum sollte sie sich nicht auch einmal gehen lassen? Sie tanzte mit Ashley, sie tanzte mit mehreren anderen Schülern und mit Brian Barker, dem Rektor des Colleges, und schließlich und endlich war sie locker genug, um auch mit William zu tanzen - es wäre ihr viel zu mühsam gewesen, ihm einen Korb zu geben. Sie trank den Obstpunsch, den Daniel ihr brachte, und dann ein zweites Glas, diesmal mit Alkohol versetzt. Sie tanzte mit Daniel und dann ein letztes Mal mit Ashley. Erst spät nachts, nach dem zweiten Besuch der Polizei, fand die Party schließlich ein Ende.
Ashley hatte vor der Turnhalle auf sie gewartet.
Danach konnte sie sich an nichts erinnern. Mit zitternden Händen machte sich Jess einen Kaffee und trank ihn langsam. Wen konnte sie eingeladen haben, zu nachtschlafender Zeit noch ein Glas Wein mit ihr zu trinken? Nach William hatte sie keine Beziehung mehr gehabt. Niemand gefiel ihr genug, zumal keiner ihrer Kollegen. Nicht jetzt. Und es war nicht ihre Art, einen Mann, den sie gerade erst kennengelernt hatte, mit nach Hause zu nehmen und mit ihm ins Bett zu gehen. Und niemand, absolut niemand aus ihrem Bekanntenkreis hätte sie derart zugerichtet und dann in dem Zustand zurückgelassen.
Sie zermarterte sich das Gehirn, während sie den Kaffee in kleinen Schlückchen trank, dann erinnerte sie sich, wie Ash von der Motorhaube eines Wagens aufs Dach gesprungen war, die Fäuste zum Himmel erhoben und den Sternen rezitiert hatte. Shakespeare. Er rezitierte Shakespeare, dieser Junge, den sie in der Schule mit so viel Einsatz unterstützt hatte, der Junge, der eine Gruppe Straßenschauspieler leitete und davon träumte, auf die angesehene Londoner Schauspielschule RADA zu gehen und ein Schauspieler im West End zu werden, seine Herkunft hinter sich zu lassen, die Kindheit ohne Vater, seine drogensüchtigen Brüder, und die stille Zuversicht seiner Mutter zu erfüllen, die an ihn glaubte. Er hatte der ganzen Welt Shakespeare rezitiert, dann war er lachend heruntergesprungen und hatte eine höfische Verbeugung vollführt. »Komm, ich bring dich nach Hause, Jess!« Jetzt hörte sie seine Stimme in ihren Ohren widerhallen.
Und dann nichts.
Von dem Moment an hatte sie keine Erinnerungen mehr. Zu Fuß war es eine halbe Stunde von der Schule zu ihrer Wohnung, aber sie konnte sich nicht entsinnen, die Hauptverkehrsstraße überquert zu haben, die auch weit nach Mitternacht noch stark befahren war, und sie hatte auch keine Erinnerung an die High Street, auf der reger Betrieb herrschte, weil in der Julihitze die Hälfte der Läden noch geöffnet hatte. Auch wusste sie nicht, ob sie zu dem kleinen Platz abgebogen war, in dessen Mitte hinter dem spitzen Geländer, über das immer Abfall geworfen wurde, verstaubte Büsche und Bäume wuchsen. Und sie konnte sich nicht erinnern, dass sie die Haustür aufgeschlossen hatte, die Treppen hinaufgegangen war und die Tür zu ihrer Wohnung geöffnet hatte, sie betreten und vermutlich ihrem Begleiter etwas zu trinken angeboten hatte.
Nein, nicht Ashley. Bitte, es darf nicht Ashley gewesen sein.
Es musste Ashley gewesen sein. Andere hatten sie gewarnt. Hatten gesagt, er könne gewalttätig werden. Hatten gesagt, er sei zu vertraulich mit ihr geworden. Aber Jess hatte die Warnungen in den Wind geschlagen. Sie wusste es besser, sie hatte sein Talent gesehen, und sie würde sich von nichts und niemandem in ihren Hoffnungen für ihn beirren lassen.
Wenn es Ashley gewesen war, war es dann ihre Schuld? Hatte sie ihn aufgefordert, mit ihr zu schlafen? »Nein!« Das Wort brach als gequältes Flüstern aus ihr hervor. »Nein, das hätte ich nie gemacht. Nie im Leben.« Vorsichtig fuhr sie über die blauen Flecken auf ihren Armen. Wer immer die Prellungen verursacht hatte, hatte sich Jess aufgezwungen und sie festgehalten. Das hatte nichts mit Zuneigung zu tun, das war Vergewaltigung.
Sie duschte sich ausgiebig, auch wenn ihr bewusst war, dass sie das nicht tun sollte. Wenn sie wirklich vergewaltigt worden war, sollte sie zur Polizei gehen, sollte alle Beweismittel, die möglicherweise noch in ihrem Körper waren, konservieren, doch während sie sich wild mit der Körperbürste abschrubbte, wusste sie auch, dass sie sich nie dazu durchringen würde, die Demütigung einer polizeilichen Befragung über sich ergehen zu lassen. Eine ihrer Schülerinnen hatte es einmal durchmachen müssen, und Jess hatte das Mädchen in den abweisenden, unpersönlichen Raum begleitet, wo es befragt und untersucht worden war, bis man seine Behauptungen schließlich als Lüge dargestellt hatte. Bei der Erinnerung schauderte Jess. Dem würde sie sich nie freiwillig aussetzen. Niemals. Mittlerweile kochte sie vor Wut. Egal, wie viel Alkohol jemand ihr zu trinken gegeben hatte, und selbst wenn derjenige sie mit Drogen gefügig gemacht hatte: Sie würde herausfinden, wer ihr das angetan hatte, und sie würde ihn dafür büßen lassen.
Als sie dann, in ihren Bademantel gehüllt, auf der Sofakante kauerte, begann sie wieder zu zittern, während sie im Kopf zum x-ten Mal ihre Erinnerungen an den Abend durchging. Hatte sie Ash zu sich eingeladen? Immerhin hatte sie ein paarmal mit ihm getanzt. Sie hatte einen Drink angenommen, und dann noch einen. Wer hatte sie ihr gegeben? Das wusste sie nicht mehr. Sie hatte eindeutig zu viel getrunken, aber waren die Drinks zusätzlich mit etwas versetzt gewesen? Hatte sie, in welchem Zustand auch immer, in den Sex eingewilligt? Hatte es ihr gar Spaß gemacht? Ihre Hände wurden klamm, Übelkeit stieg wieder in ihr hoch, das Zimmer begann sich zu drehen.
Dann hörte sie Schritte auf der Treppe, die zu ihrer Wohnung führte. Sie schoss vom Sofa hoch, rannte zur Wohnungstür, schob den Riegel vor und hängte, vor Angst zitternd, die Sicherheitskette ein. Es war eine Angst, wie sie sie noch nie im Leben empfunden hatte. Sie ließ sich zu Boden gleiten, Tränen liefen ihr über die Wangen, sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und hüllte sich fest in ihren weißen Frotteebademantel. Draußen gingen die Schritte an ihrer Tür vorbei, ohne langsamer zu werden, und verhallten wenig später in den oberen Stockwerken.
Schließlich schlief sie ein, dort am Boden kauernd, den Rücken an die Wand gelehnt.
Ein Klopfen riss sie aus dem Schlaf. Der Türknauf drehte sich. Mit angehaltenem Atem starrte Jess ihn an, ihr Magen hob sich.
»Jess, bist du da?« Es war Williams Stimme. »Jess, ist alles in Ordnung? Ich möchte mich entschuldigen wegen gestern Abend. Ich habe mich idiotisch verhalten. Es tut mir leid.« Es folgte eine lange Pause, dann seufzte er laut. »Jess? Bist du da? Was ist denn los?« Eine weitere Pause, dann ein kleines ärgerliches Seufzen. »Jess, wir sehen uns dann am Montag beim Aufräumen, ja?« Sie hörte, wie er sich von der Tür wegdrehte, die Treppe hinunterging und die Haustür zuschlug. Dann wieder Stille.
Er hatte sich idiotisch verhalten.
Inwiefern idiotisch?
Es konnte unmöglich William gewesen sein. Sie hatten sich auch früher schon gestritten, bereits vor ihrer Trennung. Heftig sogar. Aber er würde sich ihr nie gegen ihren Willen aufzwingen. Oder doch?
War er ihr und Ash vielleicht nach Hause gefolgt? Wenn ja, dann hatte er sich womöglich Zugang zu ihrer Wohnung verschafft. Jess war überzeugt, dass er noch einen Schlüssel hatte, obwohl er beteuerte, er habe ihn zurückgegeben. Sie hatten am vergangenen Abend zu guter Letzt doch miteinander getanzt. Mehr als einmal. Das wusste sie noch. Einen Moment hatte das vertraute Gefühl seiner Arme um sich sie dazu verleitet, sich seiner Umarmung hinzugeben. Es war William gewesen, der nach einer Weile seinen Griff löste, ein paar Schritte zurücktrat und sich allein zum Rhythmus der Musik weiterbewegte.
Mit einem erschöpften Seufzen schloss sie die Augen.
Einige Zeit später hörte sie, wie Mrs Lal ihre Wohnung im Erdgeschoss verließ und mit laut schlappenden Slippern die Stufen zur Haustür hinunterging. Ihrem Elend zum Trotz lächelte Jess liebevoll. Manchmal rief die alte Dame kurz zu ihr hoch und fragte, ob sie ihr die Sonntagszeitung oder etwas Milch mitbringen solle, aber nicht heute. Vielleicht hatte sie gehört, wie William vergeblich an ihrer Tür klopfte, und den Schluss gezogen, Jess sei nicht zu Hause.
Mit steifen Beinen stand sie auf und schaute nach draußen. Mrs Lal ging langsam die Straße hinunter, sie hatte eine blaue Strickjacke über ihren Sari gezogen und die grauen Haare zu einem wirren Dutt gesteckt. Dann zögerte die alte Dame, ihre Schritte wurden langsamer, bis sie rasch die Straße überquerte. Jess fragte sich, was ihre Nachbarin wohl so ängstlich machte, dann sah sie sie: zwei schwarze Jugendliche, die sich vor dem vergitterten Eingang zum kleinen Park herumtrieben. Einen Moment beobachtete sie sie, und der Mund wurde ihr trocken. Einer der beiden war Ash, der andere sein älterer Bruder Zac. Sie starrten die arme Mrs Lal unverhohlen an und weideten sich an deren Unbehagen. Jess sah, dass Zac etwas rief, woraufhin Mrs Lal auf den Laden zuhastete. Vielleicht sollte sie, Jess, hinuntergehen und die beiden vertreiben? Was hatten sie überhaupt hier verloren? Die Jungen lebten in der Sozialsiedlung Constable Estate, die in entgegengesetzter Richtung lag, auf der anderen Seite der Schule. Und dann, als merkte Ash, dass Jess ihn beobachtete, trat er auf die Straße, wo sie ihn besser sehen konnte und von wo er vielleicht sogar sie ausmachen konnte, und verneigte sich theatralisch vor ihr. Zac lachte und tat, als wollte er Ash einen Tritt gegen den Kopf versetzen, Ash warf noch eine Kusshand in Richtung ihres Hauses, dann drehten die beiden sich um und schlenderten unbekümmert auf die U-Bahn-Station und die geschäftige High Street zu.
Jess trat vom Fenster zurück. Er konnte sie unmöglich gesehen haben. Die Entfernung war viel zu groß. Außerdem wusste er nicht, wo sie wohnte. Nein, verbesserte sie sich, eigentlich durfte er nicht wissen, wo sie wohnte. Sie spürte, wie sich eisige Kälte in ihr ausbreitete. Er war es gewesen. Ash war es gewesen, und jetzt verhöhnte er sie. O mein Gott, was sollte sie bloß tun? Er gab ihr zu verstehen, was er getan hatte, und frohlockte in dem Wissen, dass sie ihm nichts würde nachweisen können. Forderte sie dreist heraus, es zu versuchen. Deswegen verbeugte er sich vor ihr. Ihr Musterschüler. Sie hatte geglaubt, sie habe sein Vertrauen und seinen Respekt gewonnen, und so dankte er es ihr.
 
Am Montagmorgen rief sie Brian Barker an und kündigte gleich am Telefon. Sie sagte, sie sei krank und zu ausgepowert, um weiter zu unterrichten. Alle Versuche, sie umzustimmen, unterband sie, indem sie das Telefon leise stellte. Dann ging sie zu ihrer Ärztin, die bestätigte, dass ihr Erinnerungsverlust durchaus von einer Droge hervorgerufen worden sein konnte. Jess ließ sich die Pille danach geben. An einen AIDS-Test hatte sie nicht gedacht, ebenso wenig wie an die anderen Tests, auf die die Ärztin bestand. »Jess, wenn Sie nicht wissen, wer es war, dürfen Sie kein Risiko eingehen«, sagte sie sanft. »Die blauen Flecken, die Steifheit in den Muskeln - Sie waren eindeutig nicht aus freien Stücken Geschlechtspartnerin. Sie haben Recht, Sie sind vergewaltigt worden, und Sie sollten zur Polizei gehen.« Was das betraf, hatte Jess ihre Meinung allerdings nicht geändert. Sie verbrachte den Rest des Tages versunken in Depression und Selbstmitleid.
Kurz nach fünf Uhr klingelte es an der Tür. Dieses Mal machte sie auf. Draußen stand Daniel. Als er ihr weißes Gesicht sah, zögerte er kurz, dann trat er an ihr vorbei ins Wohnzimmer und setzte sich in den Sessel am Fenster. »Was höre ich da, du willst kündigen? Das kannst du nicht machen! Die Schule braucht dich. Ich brauche dich in meinem Fachbereich. Außerdem hast du ein Trimester Kündigungsfrist.«
»Ich habe Brian gesagt, dass ich krank bin«, sagte sie nach kurzem Schweigen.
»Und? Stimmt das?« Er musterte ihr Gesicht.
Sie zuckte mit den Schultern. »Nein. Doch. Ich habe meine Gründe, Daniel. Es tut mir leid, dass ich dich hängen lasse.« Trotzig hielt sie seinem Blick stand, bis sie schließlich doch wegschaute. Sie balancierte auf der Kante des Stuhls, der seinem Sessel gegenüberstand.
»Du bist die beste Literaturlehrerin, die ich habe. Du hast Wunder gewirkt, Jess. Du gehörst einfach zu unserem Team«, sagte er nachdenklich. »Kannst du mir nicht verraten, weshalb du gehen willst?« Er kniff die Augen zusammen und beobachtete sie genau.
»Es tut mir leid«, sagte sie kopfschüttelnd und schauderte trotz der warmen Luft, die zum offenen Fenster hereinwehte.
»Jetzt komm, ich will den Grund wissen. Was kann so schlimm sein? Hat es mit William zu tun? Ich habe gesehen, dass er dich gestern Abend bei der Disco belästigt hat.«
Sie zuckte nur wieder mit den Schultern.
»Jess?« Er beugte sich vor und legte ihr eine Hand aufs Knie.
Bei seiner Berührung zuckte sie zusammen, und stirnrunzelnd lehnte er sich wieder zurück. »Was ist denn los?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist William, stimmt’s? Er hat etwas gemacht, das dich völlig aus der Bahn geworfen hat.« Er stand auf und ging vor ihr auf und ab. »Hat er dir wehgetan?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie konnte es ihm nicht sagen. Sie konnte niemandem sagen, was passiert war.
»Es ist William, stimmt’s?«, wiederholte Dan. »Dem arroganten Schwein habe ich nie über den Weg getraut!«
»Er hat nichts damit zu tun, Daniel.« Sie zerpflückte ein Papiertaschentuch.
»Ihr habt euch auf der Party doch gestritten, das habe ich mit eigenen Augen gesehen.«
»Nicht schlimm.«
»Für mich sah’s ziemlich schlimm aus.« Nachdenklich kniff er die Augen zusammen, einen Moment herrschte Stille. »Wann habt ihr euch getrennt?«
»Das geht dich nichts an, Daniel. Ich will nicht darüber reden.«
»Er sah ziemlich sauer aus, als du nach der Disco nach Hause gegangen bist. Er hätte dir und Ashley folgen können.« Wieder herrschte Stille, die dieses Mal noch etwas länger währte. »Es war Ashley! Ashley hat etwas gemacht!«, sagte Daniel schließlich leise. »Der miese Schuft! Was ist passiert, Jess?«
»Nichts.« Sie ballte die Hände zur Faust. »Lass es gut sein, Daniel.«
In der Stille, die nun einsetzte, sah sie Ash vor sich, wie er am Gitter beim Eingang zum Park stand. Die Verneigung. Die Arroganz, mit der er zu ihrem Fenster hochschaute. Die Kusshand. Sie wollte das Bild aus ihrem Kopf verbannen, doch es gelang ihr nicht. Sie hatte mit ihm getanzt. Sie mochte ihn, sie hatte ihn gefördert. Vielleicht hatte sie falsche Hoffnungen in ihm geweckt. Sie seufzte bekümmert. Er war so begabt, würde ein herausragendes Abschlusszeugnis bekommen. Wenn sie ihn anzeigte, müsste er all seine Träume begraben. Die polizeilichen Ermittlungen würden für ihn das Ende bedeuten, selbst wenn sie sich irrte. Von dem Verdacht würde er sich nie mehr reinwaschen können.
»Dein Entschluss steht also fest.« Daniel gab es auf, sie weiter zu bedrängen. »Du willst wirklich an der Schule aufhören?« Er beobachtete sie so eindringlich, dass Jess den Eindruck bekam, er könnte ihre Gedanken lesen. Sie nickte.
Ein paar Sekunden sah er sie schweigend an. »Also gut. Ich regle alles mit Brian.« Offenbar war er zu dem Schluss gekommen, dass es sinnlos war, sie umstimmen zu wollen. »Mach dir keine Sorgen, du bekommst ein erstklassiges Arbeitszeugnis, dafür sorge ich schon. Wenn du das willst. Du findest bestimmt eine gute Stelle an einer privaten Mädchenschule. Genau das Richtige für dich.« Er lachte schrill. Als Jess unvermittelt die Bitterkeit in seinem Ton bemerkte, verzog sie das Gesicht. »Nimm dir den Sommer frei, Jess«, fuhr er fort. »Vergiss alles, was dir so zu schaffen macht, und fang im Herbst neu an!« Er tätschelte ihr wieder das Knie. »Was immer es war, Jess, denk einfach nicht mehr dran. Denk lieber an die Zukunft.«
Die Tochter des Königs
ersk_9783641053253_oeb_cover_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_toc_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_tp_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_fm1_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_fm2_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_fm3_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c01_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c02_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c03_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c04_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c05_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c06_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c07_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c08_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c09_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c10_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c11_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c12_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c13_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c14_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c15_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c16_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c17_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c18_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c19_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c20_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c21_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c22_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c23_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c24_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c25_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c26_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c27_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c28_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c29_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c30_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c31_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c32_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c33_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c34_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c35_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_c36_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_ata_r1.html
ersk_9783641053253_oeb_cop_r1.html