Kapitel 1
Die Vorhänge waren offen, Stimmen
hallten durch ihren Kopf. Ein Kind, das sich verirrt hatte und
weinte. Zwei Kinder. Drei …
Eine Weile lag Jess still da und schaute
verwundert auf den Sonnenstrahl, der fast unmerklich über die Wand
und das Gemälde wanderte. Ihr Gemälde. Es zeigte den Wald hinter
dem Haus ihrer Schwester, auf dem das Laub nach den ersten
Herbstfrösten in allen Farben glühte. Da waren Magenta- und
Purpurtöne, die sie nie zuvor gesehen hatte, obwohl sie das Bild
doch selbst gemalt hatte. Exquisite, wunderschöne Details,
schattenhafte Nuancen, die sie ohne diesen Lichtstrahl nie richtig
wahrgenommen hatte. Warum nicht? Warum hatte sie es noch nicht so
eingehend studiert? Warum hatte sie das Bild nicht in seiner ganzen
Pracht gesehen?
Und wo waren die Kinder?
Als sie den Kopf drehte, um zum Fenster
hinauszusehen, erfasste sie eine Woge von Übelkeit und Schwindel.
Sie stöhnte auf, das Bild und der Traum waren vergessen. Aus der
Ferne hörte sie das Dröhnen der Autos, die die Steigung hinauf zur
Ampel an der Kreuzung mit der High Street fuhren, dort kurz zum
Halten gezwungen waren und dann weiterrauschten. Als Jess es wieder
wagte, die Augen zu öffnen,
war der Sonnenstrahl weitergewandert, das Bild hing wieder wie
sonst im Schatten.
Mühsam richtete sie sich auf und warf einen Blick
auf den Wecker auf dem Nachttisch. »Mist!« Es war Mittag. Kein
Wunder, dass im Zimmer alles anders aussah. Ächzend schwang sie die
Beine über die Bettkante, in ihrem Kopf drehte sich alles. Wie viel
hatte sie am Abend zuvor getrunken? Mühsam stand sie auf und sah
sich zufällig im Spiegel. Erschrocken starrte sie sich an. Ihr
blondes, schulterlanges Haar war zerwühlt, ihre sonst klaren
blaugrauen Augen waren blutunterlaufen und leicht verquollen. Ihr
Blick wanderte an sich nach unten, und sie erstarrte vor Entsetzen.
Die hübsche neue Bluse, die sie zur Party angezogen hatte, war
zerrissen, ihr BH war unter ihre Brüste geschoben, der Rock
bauschte sich um ihre Taille. Fassungslos sah sie an sich hinab,
strich mit dem Finger über den lilablauen Fleck an ihrem
Oberschenkel und den roten Striemen auf ihrem Bauch. An den Armen
hatte sie noch mehr blaue Flecke.
»O mein Gott! Wie ist denn das passiert?«
Die Worte hingen lautlos im Raum, während sie ihr
Spiegelbild anstarrte. Sie taumelte zur Schlafzimmertür, stützte
sich am Rahmen ab und schaute ins Wohnzimmer. Auf dem Sofatisch
standen zwei Weingläser mit Rotweinresten, die leere Flasche lag
unter dem Tisch. Wer immer in der vergangenen Nacht bei ihr gewesen
war, hatte keine weiteren Spuren hinterlassen, weder in der Küche
noch im Bad. Die Wohnungstür war geschlossen. Mit zitternden
Fingern überprüfte sie die Schlösser. Ein Einbruch war es nicht
gewesen. Wer immer hier bei ihr gewesen war, hatte sich nicht
gewaltsam Zutritt verschafft. Sie musste ihn selbst gebeten haben
mitzukommen.
Sie war auf der Party zum Schuljahresende gewesen,
daran konnte sie sich noch vage erinnern. Aber darüber hinaus
an nichts. Was hatte sie dort denn getrunken? Wohin war sie nach
der Disco gegangen? Und mit wem?
Die Disco zur Feier des Schuljahresendes war schon
in vollem Gang gewesen, als sie angekommen war. In der Turnhalle
des Colleges funkelten kreisende Lichter, der Lärmpegel war
gigantisch. Jess stand in der breiten Tür, die weit geöffnet war
und die feuchte Luft der Sommernacht hereinließ, und hatte nicht
die geringste Lust, hineinzugehen. Am liebsten würde sie die Hände
auf die Ohren legen, kehrtmachen und davonlaufen, um nicht in die
wummernde Masse schwitzender Körper treten zu müssen, die
überwältigend nach billigem Parfüm, Aftershave, Tabakrauch,
Marihuana, Schweiß und Alkohol stank. Die Organisatoren hatten es
nicht geschafft, alle Schüler zu filzen, aber wozu auch? In der
Halle wurde sowieso Alkohol ausgeschenkt, und die meisten der Gäste
waren ohnehin in einem Alter, in dem sie legal trinken
durften.
»Hallo, Jess!« Aus der wogenden Menge kam jemand
auf sie zu. Daniel Nicolson, ihr Fachbereichsleiter, trat auf den
asphaltierten Parkplatz vor der Turnhalle und warf ihr ein
erschöpftes Lächeln zu. »Für solche Sachen werde ich allmählich zu
alt!« Sein schrilles T-Shirt widersprach dieser Behauptung - die
Party zum Schuljahresende war das eine Mal im Jahr, dass er sich
ohne Anzug am College blicken ließ.
Jess lachte. »Ich bin schon immer zu alt dafür
gewesen, Daniel. Du siehst richtig cool aus.« Sein kurzes
mausgraues Haar war zu einer Stachelfrisur gekämmt, seine braunen
Augen versteckte er hinter einer Designersonnenbrille. »Ich habe
gehört, dass du der Unglücksrabe bist, der bis zum bitteren Ende
ausharren muss?«
»Und die kopulierenden Kids trennen darf, genau!«
Er warf einen Blick zum Himmel. »Es sei denn, ich kann jemand
anderen überreden, so lange zu bleiben. Darf ich dir was zu
trinken holen?« Er schob sich die Brille auf den Kopf.
Sie nickte. Der Lärm, der zur Tür herausschallte,
war ohrenbetäubend, es war sinnlos, sich dagegen zu wehren. Wie es
erst innen in der Halle sein würde, wollte Jess sich gar nicht
ausmalen, aber sie hatte versprochen zu kommen, und sie hatte auch
jemandem einen Tanz versprochen. Ashley.
Ash war ihr vielversprechendster Schüler seit
vielen Jahren, der wohl in jedem Fach die beste Note bekommen
würde. Sie hatte unendlich viel Zeit und Mühe in diesen jungen
Jamaikaner investiert. Und jetzt sah sie ihn auch in der Ferne am
Mischpult, wo er die Lautstärke noch mehr aufdrehte. Sie brauchte
sich nur zu vergewissern, dass er sie tatsächlich sah, anerkennend
den Daumen zu heben und mit den Achseln zu zucken zum Zeichen, dass
sie nicht auf den Tanz bestand - wobei Tanzen in dem Gedränge
ohnehin fast unmöglich war -, dann konnte sie wieder gehen.
Während Daniel in den Tiefen der Turnhalle
verschwand, kam ein anderer Kollege zu ihr. »Hallo, Jess!« William
Matthews verzog das Gesicht, sein Kommentar zum Lärm. »Dafür werden
die Nachbarn uns Ärger machen.« Er deutete mit seiner halbleeren
Bierflasche auf die Türen zur Turnhalle.
Sie und dieser große, gut aussehende blonde Mann
waren einen Großteil der drei Jahre, die sie hier an der North
Woodley Sixth Form Grade im Süden von London englische Literatur
unterrichtete, ein Paar gewesen. Einen Großteil, aber jetzt nicht
mehr. William war stellvertretender Fachbereichsleiter in
Geschichte, unterrichtete aber auch Basketball, Squash und
Leichtathletik. In dem offenen blauen Hemd und den Jeans mit dem
auffällig gravierten und beschlagenen
Ledergürtel wurde er von mehr als einem jungen Mädchen mit
begehrlichen Blicken bedacht.
Jess und William waren in vieler Hinsicht ein
Traumpaar gewesen, aber irgendetwas hatte zwischen ihnen einfach
nie gestimmt. Vielleicht war es Williams Ehrgeiz gewesen, seine
Überzeugung - vermutlich geboren aus der hingebungsvollen Liebe
seiner Mutter und seiner zwei jüngeren Schwestern -, dass er
unwiderstehlich sei, seine Tendenz, es für selbstverständlich zu
erachten, dass seine Arbeit, seine Laufbahn, seine Meinungen
wichtiger waren als ihre, seine vermutlich unbeabsichtigt
herablassende Einstellung zu Literatur als Beruf und zu ihrer
unzweifelhaften Begabung als Aquarellistin. Das hatte sie alles
immer schon gestört, und als er sie dann gefragt hatte, ob sie
nicht mit ihm zusammenziehen wollte, war ihr klargeworden, dass
ihr, trotz ihrer großen Liebe zu ihm, nicht nur diese vielen
Kleinigkeiten auf die Nerven gingen, sondern dass sie nicht auch
noch ihre Unabhängigkeit verlieren wollte. Das war der Anfang vom
unschönen Ende ihrer Beziehung gewesen.
Es gab keine andere Frau, zumindest hatte sie nie
von einer gehört. Nur seine Weigerung, Kompromisse zu schließen und
ihre Selbstständigkeit anzuerkennen, hatte zur Trennung geführt,
und das im Verlauf von gerade zwei oder drei Wochen, an deren Ende
Jess wütend und verständnislos und William unglücklich und
verbittert zurückgeblieben waren. Nach ihrer schmerzhaften Trennung
waren sie sich aus dem Weg gegangen, so gut das im College eben
möglich war - schwierig, aber durchaus machbar, wenn man sich
bemühte. Und das hatten sie. Bis jetzt.
»Wie wär’s, Jess? Ein Tänzchen um der alten Zeiten
willen?« Er lächelte gewinnend.
Sie verzog das Gesicht. »Eher nicht,
William.«
»Ach, komm schon. Um zu zeigen, dass wir uns nichts
nachtragen? Dann brauchst du mich auch nie mehr zu sehen!«
»Wieso? Gehst du weg?« Jess hob fragend die
Augenbrauen.
Er lachte. »Das hättest du wohl gern! Nein. Aber
ich verspreche dir, dass ich dich nächstes Trimester meide wie die
Pest.«
Sie widerstand dem Drang, ebenfalls zu lächeln. Das
Lächeln, das er ihr jetzt wieder zuwarf, war immer schon ihr
Verderben gewesen. Es war zu charmant, zu verführerisch, viel zu
gewinnend. Sie musste sich dagegen wehren. »Meiden wir uns doch
jetzt schon, William, ja? Und jetzt entschuldige mich, ich muss Ash
begrüßen.« Sie ließ sich ihre Sehnsucht nicht anmerken, zuckte nur
entschuldigend mit den Schultern und ging davon. Dann nahm sie
einen letzten Atemzug frischer Luft und drängte sich in das Gewühl
der Tanzenden. William sah ihr mit starrem Blick nach.
Sobald Ashley sie bemerkte, trat er vom Mischpult
zurück, bedeutete seinem jüngeren Bruder Max, der auf der Bühne
neben ihm stand, das Auflegen zu übernehmen, und sprang von der
Bühne herunter. »Komm, tanzen wir, Jess!« Schweiß rann ihm über
sein attraktives Gesicht, sein leuchtendes Hemd war klatschnass,
als er lachend ihre Hände ergriff, ihre Fäuste in die Luft hob und
den Griff dann löste, um mit ausladenden Hüftschwüngen vor ihr
herumzuwirbeln. Sie sollte nicht lachen. Sie sollte ihn ermahnen,
weil er sie mit Vornamen ansprach, aber wozu? Im Grunde war die
Schule vorüber, die Prüfungen waren geschrieben, es war eine laue
Nacht, und die jungen Menschen amüsierten sich. Warum sollte sie
sich nicht auch einmal gehen lassen? Sie tanzte mit Ashley, sie
tanzte mit mehreren anderen Schülern und mit Brian Barker, dem
Rektor des Colleges,
und schließlich und endlich war sie locker genug, um auch mit
William zu tanzen - es wäre ihr viel zu mühsam gewesen, ihm einen
Korb zu geben. Sie trank den Obstpunsch, den Daniel ihr brachte,
und dann ein zweites Glas, diesmal mit Alkohol versetzt. Sie tanzte
mit Daniel und dann ein letztes Mal mit Ashley. Erst spät nachts,
nach dem zweiten Besuch der Polizei, fand die Party schließlich ein
Ende.
Ashley hatte vor der Turnhalle auf sie
gewartet.
Danach konnte sie sich an nichts erinnern. Mit
zitternden Händen machte sich Jess einen Kaffee und trank ihn
langsam. Wen konnte sie eingeladen haben, zu nachtschlafender Zeit
noch ein Glas Wein mit ihr zu trinken? Nach William hatte sie keine
Beziehung mehr gehabt. Niemand gefiel ihr genug, zumal keiner ihrer
Kollegen. Nicht jetzt. Und es war nicht ihre Art, einen Mann, den
sie gerade erst kennengelernt hatte, mit nach Hause zu nehmen und
mit ihm ins Bett zu gehen. Und niemand, absolut niemand aus ihrem
Bekanntenkreis hätte sie derart zugerichtet und dann in dem Zustand
zurückgelassen.
Sie zermarterte sich das Gehirn, während sie den
Kaffee in kleinen Schlückchen trank, dann erinnerte sie sich, wie
Ash von der Motorhaube eines Wagens aufs Dach gesprungen war, die
Fäuste zum Himmel erhoben und den Sternen rezitiert hatte.
Shakespeare. Er rezitierte Shakespeare, dieser Junge, den sie in
der Schule mit so viel Einsatz unterstützt hatte, der Junge, der
eine Gruppe Straßenschauspieler leitete und davon träumte, auf die
angesehene Londoner Schauspielschule RADA zu gehen und ein
Schauspieler im West End zu werden, seine Herkunft hinter sich zu
lassen, die Kindheit ohne Vater, seine drogensüchtigen Brüder, und
die stille Zuversicht seiner Mutter zu erfüllen, die an ihn
glaubte. Er hatte der ganzen Welt Shakespeare rezitiert, dann war
er lachend heruntergesprungen und hatte eine
höfische Verbeugung vollführt. »Komm, ich bring dich nach Hause,
Jess!« Jetzt hörte sie seine Stimme in ihren Ohren
widerhallen.
Und dann nichts.
Von dem Moment an hatte sie keine Erinnerungen
mehr. Zu Fuß war es eine halbe Stunde von der Schule zu ihrer
Wohnung, aber sie konnte sich nicht entsinnen, die
Hauptverkehrsstraße überquert zu haben, die auch weit nach
Mitternacht noch stark befahren war, und sie hatte auch keine
Erinnerung an die High Street, auf der reger Betrieb herrschte,
weil in der Julihitze die Hälfte der Läden noch geöffnet hatte.
Auch wusste sie nicht, ob sie zu dem kleinen Platz abgebogen war,
in dessen Mitte hinter dem spitzen Geländer, über das immer Abfall
geworfen wurde, verstaubte Büsche und Bäume wuchsen. Und sie konnte
sich nicht erinnern, dass sie die Haustür aufgeschlossen hatte, die
Treppen hinaufgegangen war und die Tür zu ihrer Wohnung geöffnet
hatte, sie betreten und vermutlich ihrem Begleiter etwas zu trinken
angeboten hatte.
Nein, nicht Ashley. Bitte, es darf nicht Ashley
gewesen sein.
Es musste Ashley gewesen sein. Andere hatten sie
gewarnt. Hatten gesagt, er könne gewalttätig werden. Hatten gesagt,
er sei zu vertraulich mit ihr geworden. Aber Jess hatte die
Warnungen in den Wind geschlagen. Sie wusste es besser, sie hatte
sein Talent gesehen, und sie würde sich von nichts und niemandem in
ihren Hoffnungen für ihn beirren lassen.
Wenn es Ashley gewesen war, war es dann ihre
Schuld? Hatte sie ihn aufgefordert, mit ihr zu schlafen? »Nein!«
Das Wort brach als gequältes Flüstern aus ihr hervor. »Nein, das
hätte ich nie gemacht. Nie im Leben.« Vorsichtig fuhr sie über die
blauen Flecken auf ihren Armen. Wer immer
die Prellungen verursacht hatte, hatte sich Jess aufgezwungen und
sie festgehalten. Das hatte nichts mit Zuneigung zu tun, das war
Vergewaltigung.
Sie duschte sich ausgiebig, auch wenn ihr bewusst
war, dass sie das nicht tun sollte. Wenn sie wirklich vergewaltigt
worden war, sollte sie zur Polizei gehen, sollte alle Beweismittel,
die möglicherweise noch in ihrem Körper waren, konservieren, doch
während sie sich wild mit der Körperbürste abschrubbte, wusste sie
auch, dass sie sich nie dazu durchringen würde, die Demütigung
einer polizeilichen Befragung über sich ergehen zu lassen. Eine
ihrer Schülerinnen hatte es einmal durchmachen müssen, und Jess
hatte das Mädchen in den abweisenden, unpersönlichen Raum
begleitet, wo es befragt und untersucht worden war, bis man seine
Behauptungen schließlich als Lüge dargestellt hatte. Bei der
Erinnerung schauderte Jess. Dem würde sie sich nie freiwillig
aussetzen. Niemals. Mittlerweile kochte sie vor Wut. Egal, wie viel
Alkohol jemand ihr zu trinken gegeben hatte, und selbst wenn
derjenige sie mit Drogen gefügig gemacht hatte: Sie würde
herausfinden, wer ihr das angetan hatte, und sie würde ihn dafür
büßen lassen.
Als sie dann, in ihren Bademantel gehüllt, auf der
Sofakante kauerte, begann sie wieder zu zittern, während sie im
Kopf zum x-ten Mal ihre Erinnerungen an den Abend durchging. Hatte
sie Ash zu sich eingeladen? Immerhin hatte sie ein paarmal mit ihm
getanzt. Sie hatte einen Drink angenommen, und dann noch einen. Wer
hatte sie ihr gegeben? Das wusste sie nicht mehr. Sie hatte
eindeutig zu viel getrunken, aber waren die Drinks zusätzlich mit
etwas versetzt gewesen? Hatte sie, in welchem Zustand auch immer,
in den Sex eingewilligt? Hatte es ihr gar Spaß gemacht? Ihre Hände
wurden klamm, Übelkeit stieg wieder in ihr hoch, das Zimmer begann
sich zu drehen.
Dann hörte sie Schritte auf der Treppe, die zu
ihrer Wohnung führte. Sie schoss vom Sofa hoch, rannte zur
Wohnungstür, schob den Riegel vor und hängte, vor Angst zitternd,
die Sicherheitskette ein. Es war eine Angst, wie sie sie noch nie
im Leben empfunden hatte. Sie ließ sich zu Boden gleiten, Tränen
liefen ihr über die Wangen, sie lehnte sich mit dem Rücken an die
Wand und hüllte sich fest in ihren weißen Frotteebademantel.
Draußen gingen die Schritte an ihrer Tür vorbei, ohne langsamer zu
werden, und verhallten wenig später in den oberen
Stockwerken.
Schließlich schlief sie ein, dort am Boden kauernd,
den Rücken an die Wand gelehnt.
Ein Klopfen riss sie aus dem Schlaf. Der Türknauf
drehte sich. Mit angehaltenem Atem starrte Jess ihn an, ihr Magen
hob sich.
»Jess, bist du da?« Es war Williams Stimme. »Jess,
ist alles in Ordnung? Ich möchte mich entschuldigen wegen gestern
Abend. Ich habe mich idiotisch verhalten. Es tut mir leid.« Es
folgte eine lange Pause, dann seufzte er laut. »Jess? Bist du da?
Was ist denn los?« Eine weitere Pause, dann ein kleines ärgerliches
Seufzen. »Jess, wir sehen uns dann am Montag beim Aufräumen, ja?«
Sie hörte, wie er sich von der Tür wegdrehte, die Treppe
hinunterging und die Haustür zuschlug. Dann wieder Stille.
Er hatte sich idiotisch verhalten.
Inwiefern idiotisch?
Es konnte unmöglich William gewesen sein. Sie
hatten sich auch früher schon gestritten, bereits vor ihrer
Trennung. Heftig sogar. Aber er würde sich ihr nie gegen ihren
Willen aufzwingen. Oder doch?
War er ihr und Ash vielleicht nach Hause gefolgt?
Wenn ja, dann hatte er sich womöglich Zugang zu ihrer Wohnung
verschafft. Jess war überzeugt, dass er noch einen Schlüssel
hatte, obwohl er beteuerte, er habe ihn zurückgegeben. Sie hatten
am vergangenen Abend zu guter Letzt doch miteinander getanzt. Mehr
als einmal. Das wusste sie noch. Einen Moment hatte das vertraute
Gefühl seiner Arme um sich sie dazu verleitet, sich seiner Umarmung
hinzugeben. Es war William gewesen, der nach einer Weile seinen
Griff löste, ein paar Schritte zurücktrat und sich allein zum
Rhythmus der Musik weiterbewegte.
Mit einem erschöpften Seufzen schloss sie die
Augen.
Einige Zeit später hörte sie, wie Mrs Lal ihre
Wohnung im Erdgeschoss verließ und mit laut schlappenden Slippern
die Stufen zur Haustür hinunterging. Ihrem Elend zum Trotz lächelte
Jess liebevoll. Manchmal rief die alte Dame kurz zu ihr hoch und
fragte, ob sie ihr die Sonntagszeitung oder etwas Milch mitbringen
solle, aber nicht heute. Vielleicht hatte sie gehört, wie William
vergeblich an ihrer Tür klopfte, und den Schluss gezogen, Jess sei
nicht zu Hause.
Mit steifen Beinen stand sie auf und schaute nach
draußen. Mrs Lal ging langsam die Straße hinunter, sie hatte eine
blaue Strickjacke über ihren Sari gezogen und die grauen Haare zu
einem wirren Dutt gesteckt. Dann zögerte die alte Dame, ihre
Schritte wurden langsamer, bis sie rasch die Straße überquerte.
Jess fragte sich, was ihre Nachbarin wohl so ängstlich machte, dann
sah sie sie: zwei schwarze Jugendliche, die sich vor dem
vergitterten Eingang zum kleinen Park herumtrieben. Einen Moment
beobachtete sie sie, und der Mund wurde ihr trocken. Einer der
beiden war Ash, der andere sein älterer Bruder Zac. Sie starrten
die arme Mrs Lal unverhohlen an und weideten sich an deren
Unbehagen. Jess sah, dass Zac etwas rief, woraufhin Mrs Lal auf den
Laden zuhastete. Vielleicht sollte sie, Jess, hinuntergehen und die
beiden vertreiben? Was hatten sie überhaupt hier verloren? Die
Jungen lebten in der Sozialsiedlung
Constable Estate, die in entgegengesetzter Richtung lag, auf der
anderen Seite der Schule. Und dann, als merkte Ash, dass Jess ihn
beobachtete, trat er auf die Straße, wo sie ihn besser sehen konnte
und von wo er vielleicht sogar sie ausmachen konnte, und verneigte
sich theatralisch vor ihr. Zac lachte und tat, als wollte er Ash
einen Tritt gegen den Kopf versetzen, Ash warf noch eine Kusshand
in Richtung ihres Hauses, dann drehten die beiden sich um und
schlenderten unbekümmert auf die U-Bahn-Station und die geschäftige
High Street zu.
Jess trat vom Fenster zurück. Er konnte sie
unmöglich gesehen haben. Die Entfernung war viel zu groß. Außerdem
wusste er nicht, wo sie wohnte. Nein, verbesserte sie sich,
eigentlich durfte er nicht wissen, wo sie wohnte. Sie spürte, wie
sich eisige Kälte in ihr ausbreitete. Er war es gewesen. Ash war es
gewesen, und jetzt verhöhnte er sie. O mein Gott, was sollte sie
bloß tun? Er gab ihr zu verstehen, was er getan hatte, und
frohlockte in dem Wissen, dass sie ihm nichts würde nachweisen
können. Forderte sie dreist heraus, es zu versuchen. Deswegen
verbeugte er sich vor ihr. Ihr Musterschüler. Sie hatte geglaubt,
sie habe sein Vertrauen und seinen Respekt gewonnen, und so dankte
er es ihr.
Am Montagmorgen rief sie Brian Barker an und
kündigte gleich am Telefon. Sie sagte, sie sei krank und zu
ausgepowert, um weiter zu unterrichten. Alle Versuche, sie
umzustimmen, unterband sie, indem sie das Telefon leise stellte.
Dann ging sie zu ihrer Ärztin, die bestätigte, dass ihr
Erinnerungsverlust durchaus von einer Droge hervorgerufen worden
sein konnte. Jess ließ sich die Pille danach geben. An einen
AIDS-Test hatte sie nicht gedacht, ebenso wenig wie an die anderen
Tests, auf die die Ärztin bestand. »Jess, wenn Sie nicht wissen,
wer es war, dürfen Sie kein Risiko
eingehen«, sagte sie sanft. »Die blauen Flecken, die Steifheit in
den Muskeln - Sie waren eindeutig nicht aus freien Stücken
Geschlechtspartnerin. Sie haben Recht, Sie sind vergewaltigt
worden, und Sie sollten zur Polizei gehen.« Was das betraf, hatte
Jess ihre Meinung allerdings nicht geändert. Sie verbrachte den
Rest des Tages versunken in Depression und Selbstmitleid.
Kurz nach fünf Uhr klingelte es an der Tür. Dieses
Mal machte sie auf. Draußen stand Daniel. Als er ihr weißes Gesicht
sah, zögerte er kurz, dann trat er an ihr vorbei ins Wohnzimmer und
setzte sich in den Sessel am Fenster. »Was höre ich da, du willst
kündigen? Das kannst du nicht machen! Die Schule braucht dich. Ich
brauche dich in meinem Fachbereich. Außerdem hast du ein Trimester
Kündigungsfrist.«
»Ich habe Brian gesagt, dass ich krank bin«, sagte
sie nach kurzem Schweigen.
»Und? Stimmt das?« Er musterte ihr Gesicht.
Sie zuckte mit den Schultern. »Nein. Doch. Ich habe
meine Gründe, Daniel. Es tut mir leid, dass ich dich hängen lasse.«
Trotzig hielt sie seinem Blick stand, bis sie schließlich doch
wegschaute. Sie balancierte auf der Kante des Stuhls, der seinem
Sessel gegenüberstand.
»Du bist die beste Literaturlehrerin, die ich habe.
Du hast Wunder gewirkt, Jess. Du gehörst einfach zu unserem Team«,
sagte er nachdenklich. »Kannst du mir nicht verraten, weshalb du
gehen willst?« Er kniff die Augen zusammen und beobachtete sie
genau.
»Es tut mir leid«, sagte sie kopfschüttelnd und
schauderte trotz der warmen Luft, die zum offenen Fenster
hereinwehte.
»Jetzt komm, ich will den Grund wissen. Was kann so
schlimm sein? Hat es mit William zu tun? Ich habe gesehen,
dass er dich gestern Abend bei der Disco belästigt hat.«
Sie zuckte nur wieder mit den Schultern.
»Jess?« Er beugte sich vor und legte ihr eine Hand
aufs Knie.
Bei seiner Berührung zuckte sie zusammen, und
stirnrunzelnd lehnte er sich wieder zurück. »Was ist denn
los?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist William, stimmt’s? Er hat etwas gemacht,
das dich völlig aus der Bahn geworfen hat.« Er stand auf und ging
vor ihr auf und ab. »Hat er dir wehgetan?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie konnte es ihm
nicht sagen. Sie konnte niemandem sagen, was passiert war.
»Es ist William, stimmt’s?«, wiederholte Dan. »Dem
arroganten Schwein habe ich nie über den Weg getraut!«
»Er hat nichts damit zu tun, Daniel.« Sie
zerpflückte ein Papiertaschentuch.
»Ihr habt euch auf der Party doch gestritten, das
habe ich mit eigenen Augen gesehen.«
»Nicht schlimm.«
»Für mich sah’s ziemlich schlimm aus.« Nachdenklich
kniff er die Augen zusammen, einen Moment herrschte Stille. »Wann
habt ihr euch getrennt?«
»Das geht dich nichts an, Daniel. Ich will nicht
darüber reden.«
»Er sah ziemlich sauer aus, als du nach der Disco
nach Hause gegangen bist. Er hätte dir und Ashley folgen können.«
Wieder herrschte Stille, die dieses Mal noch etwas länger währte.
»Es war Ashley! Ashley hat etwas gemacht!«, sagte Daniel
schließlich leise. »Der miese Schuft! Was ist passiert,
Jess?«
»Nichts.« Sie ballte die Hände zur Faust. »Lass es
gut sein, Daniel.«
In der Stille, die nun einsetzte, sah sie Ash vor
sich, wie er am Gitter beim Eingang zum Park stand. Die Verneigung.
Die Arroganz, mit der er zu ihrem Fenster hochschaute. Die
Kusshand. Sie wollte das Bild aus ihrem Kopf verbannen, doch es
gelang ihr nicht. Sie hatte mit ihm getanzt. Sie mochte ihn, sie
hatte ihn gefördert. Vielleicht hatte sie falsche Hoffnungen in ihm
geweckt. Sie seufzte bekümmert. Er war so begabt, würde ein
herausragendes Abschlusszeugnis bekommen. Wenn sie ihn anzeigte,
müsste er all seine Träume begraben. Die polizeilichen Ermittlungen
würden für ihn das Ende bedeuten, selbst wenn sie sich irrte. Von
dem Verdacht würde er sich nie mehr reinwaschen können.
»Dein Entschluss steht also fest.« Daniel gab es
auf, sie weiter zu bedrängen. »Du willst wirklich an der Schule
aufhören?« Er beobachtete sie so eindringlich, dass Jess den
Eindruck bekam, er könnte ihre Gedanken lesen. Sie nickte.
Ein paar Sekunden sah er sie schweigend an. »Also
gut. Ich regle alles mit Brian.« Offenbar war er zu dem Schluss
gekommen, dass es sinnlos war, sie umstimmen zu wollen. »Mach dir
keine Sorgen, du bekommst ein erstklassiges Arbeitszeugnis, dafür
sorge ich schon. Wenn du das willst. Du findest bestimmt eine gute
Stelle an einer privaten Mädchenschule. Genau das Richtige für
dich.« Er lachte schrill. Als Jess unvermittelt die Bitterkeit in
seinem Ton bemerkte, verzog sie das Gesicht. »Nimm dir den Sommer
frei, Jess«, fuhr er fort. »Vergiss alles, was dir so zu schaffen
macht, und fang im Herbst neu an!« Er tätschelte ihr wieder das
Knie. »Was immer es war, Jess, denk einfach nicht mehr dran. Denk
lieber an die Zukunft.«