Kapitel 25
Es sieht nicht so aus, als würde der Eingang bewacht«, sagte Marcellus leise. Sie standen in der Dunkelheit unter der Pinie an der hohen Mauer, die die Villa umgab. Die Tore waren geöffnet, im Halter neben der Tür brannte eine Fackel.
»Es könnte jemand im Wächterhäuschen sein, oder im Hof«, flüsterte Eigon. »Normalerweise sind die Tore nachts verschlossen.«
»Normalerweise wärst du nachts zu Hause«, sagte Antonia. »Das ist doch verrückt. Vom Obstgarten aus könnten uns Hunderte Leute beobachten, oder jemand könnte sich im Haus verstecken. Du hast gesagt, der Mann, der die Nachricht von mir überbracht hätte, sei direkt ins Haus gegangen. Und er war ein Offizier.«
Eigon seufzte. »Wenn ich nur Aelius oder Flavius eine Nachricht zukommen lassen könnte.« Sie warf einen Blick zu Marcellus. »Dich kennen sie nicht.«
»Unsere Feinde schon.« Er straffte die Schultern. »Aber du hast Recht. Wenn wir nichts unternehmen, stehen wir die ganze Nacht hier herum. Ich gehe rein und klopfe an die Tür.«
Bevor die anderen Einwände erheben konnten, trat er ins Mondlicht hinaus und näherte sich dem Tor, gut sichtbar für jeden, der es eventuell bewachte. Eigon hielt die Luft an. Er ging auf das Tor zu, trat hindurch und rief einen Gruß. Er bekam keine Antwort.
Eigon runzelte die Stirn. »Da stimmt irgendetwas nicht.«
Stephanus legte ihr eine Hand auf den Arm. »Du bleibst hier bei den Kindern. Ich schaue mal nach. Mich kennt auch niemand.« Marcellus hatte bereits den Hof überquert und näherte sich der Haustür. Alle verfolgten, wie er den Messingadler betätigte, der als Türklopfer diente. Das Geräusch war so laut, dass es bis zu ihnen herüberhallte.
»Nein, warte.« Eigon hielt Stephanus am Arm zurück. »Da kommt jemand.«
Die Tür wurde geöffnet. Sie sahen, dass Marcellus zu jemandem im Haus sprach, denn drehte er sich um und winkte.
»Es ist alles in Ordnung.« Eigon trat aus dem Schutz des Baumes.
»Nein, lass mich zuerst gehen.« Stephanus näherte sich dem Tor, während Antonia die beiden Kinder an der Hand festhielt und sie daran hinderte, ihrem Vater zu folgen.
Marcellus kam ihm entgegen, und sie unterhielten sich kurz. Dann winkten sie die anderen zu sich. »Eigon, ich muss dir leider sagen, dass dein Vater offenbar sehr krank ist«, sagte Marcellus sanft. »Das Dienstmädchen, mit dem ich sprach, hat gesagt, der Haushalt sei völlig durcheinander.«
»Ich gehe zu ihm.« Eigon drängte sich an Marcellus vorbei ins Haus.
Caradocs Schlafzimmer wurde von Dutzenden Fackeln und Lampen erleuchtet. Cerys saß an seiner Seite, hielt seine Hand mit beiden Händen umfasst. Offenbar war er nicht bei Bewusstsein.
Als Eigon eintrat, schaute sie auf. »Wo bist du gewesen?« Ihr Gesicht war von Tränen verquollen. »Er hat die ganze Zeit nach dir gefragt.«
»Es tut mir leid, Mama. Ich konnte nichts dafür. Ich erkläre es dir später.« Auf Zehenspitzen näherte Eigon sich dem Bett, und da erst merkte sie, dass ein Dutzend oder mehr Leute im Zimmer standen. »Papa?« Betroffen schaute sie zu ihrer Mutter. »Was ist denn passiert? Als ich ihn das letzte Mal sah, ging es ihm doch noch so gut.«
»Jemand ist gekommen und hat gesagt, dass du eine Christin geworden bist und sie dich verhaftet haben und du in der Arena sterben sollst!«, sagte Cerys vorwurfsvoll. »Ich habe gesagt, dass das nicht stimmen kann, aber sie sagten, sie hätten einen Beweis dafür. Sie hatten dein goldenes Armband dabei.«
Eigon fasste sich ans Handgelenk. Ihr Armband fehlte tatsächlich. Sie hatte es nicht einmal bemerkt. »O Mama, es tut mir so leid. Antonia und ich sind tatsächlich verhaftet worden, aber wir konnten fliehen. Wir sind gekommen, sobald es ging.« Sie schaute sich im Raum um. »Jemand soll die Tore schließen und verriegeln!«, rief sie. »Warum sind sie überhaupt offen?«
»Sie sind offen, damit dein Geist nach Hause kommen kann, Kind«, sagte Cerys etwas sanfter. »Wir haben gehört, was sie in der Stadt mit den Christen machen. Es war schlimm genug, Melinus zu verlieren. Mein eigenes Kind …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich konnte es nicht ertragen. Ich habe ihm gesagt, dass es nicht stimmt. Dass du keine Christin geworden bist. Aber er hat mir nicht geglaubt. Das war für deinen Vater einfach zu viel.«
»Papa?« Eigon setzte sich aufs Bett und nahm eine Hand ihres Vaters. »Papa, ich bin’s, Eigon. Kannst du mich hören?«
Caradoc regte sich nicht. Sein Gesicht war grau, seine Augen geschlossen.
»Papa, mir ist nichts passiert. Ich bin sobald wie möglich zu dir gekommen.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn, dann schaute sie wieder auf. »Wer hat euch denn gesagt, dass ich verhaftet worden bin?«
Cerys zuckte mit den Schultern. »Irgendein Offizier. Er sagte, er sehe es als seine Pflicht an, uns davon in Kenntnis zu setzen.«
»Hat er mit euch persönlich gesprochen?«
»Mit uns beiden, ja.«
»Und hast du ihn erkannt?« Sie sah ihrer Mutter fest in die Augen.
Cerys wurde blass. »Das war doch nicht … er?« Sie machte eine hilflose Geste. »Ich habe sein Gesicht nie gesehen, wie sollte ich ihn da erkennen?«, sagte sie schließlich.
Eigon nickte. »Er hat all die Jahre nur gewartet.«
»Was hat er mit dir gemacht?« Cerys schnappte nach Luft, ihre Stimme zitterte.
»Nichts. Natürlich wollte er, aber dann sind Soldaten dazwischengekommen, und vor so vielen Zeugen hat er es sich anders überlegt. Also hat er sich damit zufrieden gegeben, Antonia und mich zu Marcellus und Stephanus und den Kindern in den Wagen werfen zu lassen.« Sie deutete auf die anderen, die mittlerweile ebenfalls den Raum betreten hatten. »Er hatte Recht. Eigentlich sollten wir in die Palastgärten gebracht werden.«
Vor Entsetzen stöhnte Cerys auf.
»Und dann ist ihm klargeworden, dass er mich sehr viel mehr verletzen kann, wenn er zu euch kommt.« Eigons Gesicht war aschfahl. »Er hat beschlossen, mich zu zerstören, indem er euch wehtut.«
Cerys hielt ihrem Blick stand. »Er hätte deinem Vater alles erzählt, hätte Caradoc nicht das Bewusstsein verloren. Genau das war sein Plan. Es war so einfach. Einen König zu töten.« Sie machte eine kurze Pause. »Aber so einfach ist es nicht. Jetzt bist du hier. Aelius?«, rief sie. »Wo bist du?«
Hinten im Raum waren schlurfende Schritte zu hören, dann trat der Haushofmeister vor.
»Hast du die Tore verriegelt?«
»Ja, Herrin.«
»Kümmere dich darum, dass diese Leute versorgt werden. Sie sind unsere Gäste.« Sie hatte ihre Fassung ein wenig wiedergewonnen, und damit fand sie auch zu neuer Entschlossenheit. »Und sorge dafür, dass die anderen verschwinden.« Sie sah sich um, als bemerkte sie die vielen Dienstboten und Sklaven zum ersten Mal. »Mein Herr braucht Ruhe. Jetzt, da Eigon wieder hier ist, kann sie ihm helfen. Alles wird wieder gut.« Innerhalb kürzester Zeit waren nur noch Eigon und ihre Mutter im Raum. »Brauchst du etwas aus deiner Kräuterkammer?«, fragte sie leise, als Eigon wieder am Bett ihres Vaters saß und seine Hand hielt.
Eigon schüttelte den Kopf. Sie betete.
»Soll ich anordnen, dass sie eine Suppe für ihn zubereiten?«
»Nein, Mama.« Eigon sah auf. »Ich kann nichts mehr tun. Papa stirbt. Jetzt müssen wir nur noch für ihn hier sein. Er geht nach Hause.« Sie warf ihrer Mutter ein trauriges Lächeln zu. »Sein Herz ist schon seit langer Zeit nicht mehr sehr stark. Das hast du auch gewusst. Ich spüre es unter meiner Hand. Es ist sehr schwach, es schlägt kaum noch. Er kann schon die Hügel unserer Heimat sehen.«
Cerys starrte sie an, Tränen standen ihr in den Augen. »Nein«, flüsterte sie.
»Bald ist die Zeit gekommen.« Eigon rutschte ein wenig zur Seite, um ihrer Mutter Platz zu machen. »Hier, komm und halt auch seine Hand. Er soll wissen, dass wir beide bei ihm sind.«
»Es war ihm doch besser gegangen!«, rief Cerys gequält.
»Ich weiß. Ein letztes Aufbäumen, mehr nicht.« Eigon beugte sich vor und gab ihrem Vater erneut einen Kuss auf die Stirn.
Nachdem er zu atmen aufgehört hatte, saßen sie lange Zeit schweigend bei ihm am Bett. Schließlich brach Eigon die Stille mit einem leisen Gebet. »Lieber Jesus. Mein Vater hat nie die Gelegenheit gehabt, dich kennenzulernen. Aber segne ihn und schütze ihn im Land der ewigen Jugend. Darum bitte ich dich.«
Cerys schaute auf. »Also stimmt es doch.« Wütend erhob sie sich. »Wie kannst du es wagen, über dem Leichnam deines Vaters zu einem fremden Gott zu beten! Als der Mann sagte, du seist Christin, habe ich ihm nicht geglaubt. Ach, natürlich weiß ich schon lange, dass Antonia und ihre Familie getauft sind. Dein Vater hat es auch vermutet, aber er sagte, es mache nichts. Er sagte, die Christen seien gute Menschen. Aber das stimmt nicht. Sie haben diese Stadt zerstört. Sie haben meine Familie zerstört, und jetzt haben sie meinen Geliebten getötet! Du hast ihn getötet!«
»Mama! Bitte, niemand hat ihn getötet.«
Als sie das sagte, dachte sie an Titus’ Augen. Er war hier gewesen, in diesem Raum. Er hatte die Liebe ihres Vaters zu ihr zerstört, seinen Glauben an sie, seinen letzten Frieden. Er hatte alles zerstört, was ihr wichtig war, und damit hatte er auch sie selbst zerstört.
»Verschwinde aus diesem Zimmer!« Weinend warf sich Cerys auf ihren toten Mann. »Verschwinde! Durch dich habe ich Togo und Gwladys verloren! Jetzt habe ich durch dich Caradoc verloren! Geh doch zu deinen christlichen Freunden. Verschwinde! Du hast hier kein Zuhause mehr. Ich will dich nie wiedersehen.«
Hinter ihnen ging leise die Tür auf. »Eigon?« Es war Marcellus.
Eigon wusste nicht, wie viel er mit angehört hatte. Sie wandte sich zu ihm, ohne ihn wahrzunehmen. »Er ist tot.«
»Meine Liebe, das tut mir sehr leid.« Er näherte sich, warf einen Blick auf den Toten und auf die Frau, die sich verzweifelt an ihn klammerte. »Eigon, es tut mir leid, aber einer eurer Sklaven hat mir etwas erzählt, das mir Sorgen bereitet«, flüsterte er. »Über den Sohn eures Haushofmeisters. Flavius heißt er? Der Sklave glaubt, dass er von dem Offizier Geld genommen hat. Bald nachdem wir angekommen sind, ist Flavius nach draußen gegangen, noch bevor die Tore verschlossen wurden. Der Sklave meint, dass er sich davongemacht haben könnte, um sie zu informieren, dass wir hier sind.«
Betroffen wandte Eigon sich zu ihrer Mutter. »Mama, hast du das gehört?«
»Geh!« Cerys sah nicht einmal auf. »Geh jetzt. Und komm nie wieder!«
Sanft legte Marcellus Eigon eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid zu sehen, wie viel Kummer über dieses Haus gekommen ist.«
Sie streckte die Hand aus, um ihren Vater ein letztes Mal zu berühren, dann überlegte sie es sich anders und trat vom Bett zurück. »Wir müssen sofort aufbrechen, solange wir noch die Gelegenheit dazu haben. Damit wir nicht noch mehr Unglück über dieses Haus bringen«, sagte sie so entschlossen, wie es ihr möglich war. »Wo sind die anderen?«
»Der Sklave, Silas, ist mit ihnen zu den Stallungen gegangen.«
Eigon folgte Marcellus zur Tür, dann blieb sie stehen und warf einen traurigen Blick zum Bett. »Auf Wiedersehen, Mama. Ich liebe dich.«
Cerys gab nicht zu verstehen, ob sie ihre Tochter gehört hatte.
Sie ritten die ganze Nacht hindurch. Die beiden Männer hatten jeder ein Kind vor sich auf dem Sattel. Marcellus sagte, er kenne einen Ort, an dem sie in Sicherheit seien, und als es hell wurde, waren sie von Wildnis umgeben. Bevor sie aufgebrochen waren, hatte Eigon aus ihrem Zimmer neue Kleidung für sich und Antonia und Umhänge für die Kinder zusammengesucht, und Silas hatte ihnen Körbe mit Vorräten gebracht, die er eilends in der Küche gefüllt hatte. Er begleitete sie bis zur Via Flaminia, wo sie eine kurze Rast einlegten.
»Willst du nach Hause?«, fragte Eigon. »Da wäre es sicherer für dich.«
Er schüttelte den Kopf. »Herrin, wenn ich darf, begleite ich Euch.« Er warf einen kurzen Blick zu Marcellus, dem er offenbar große Ehrfurcht entgegenbrachte. »Bitte.«
Sie lächelte. »Es wird gefährlich werden.«
Er nickte. »Ich kann Euch helfen. Ich bin kräftig, und ich kenne die Gegend hier. Ich hätte Euch gestern nicht allein zurücklassen dürfen. Das möchte ich jetzt wiedergutmachen.«
»Dann darfst du mitkommen, Junge.« Marcellus legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir freuen uns, dich bei uns zu haben.«
Der Ort, zu dem sie unterwegs waren, war ein halb verfallenes Dorf, in dem bereits ein gutes Dutzend christlicher Familien Zuflucht vor dem Grauen in der Stadt suchte. Marcellus kannte einige von ihnen, und sie fanden freundliche Aufnahme. Antonia und Eigon wurde in einer verlassenen Hütte eine Kammer mit zwei Strohmatten zugewiesen.
»Weißt du, deine Mutter hat es nicht so gemeint.« Antonia legte Eigon einen Arm um die Schultern. Es war das erste Mal, dass sie Gelegenheit hatten, sich allein zu unterhalten. »Sie stand unter Schock, und sie war sehr unglücklich. Sie wird dich immer lieben.«
Eigon zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, das hat sie eigentlich nie. Sie hat mir immer die Schuld für den Tod meines Bruders und meiner Schwester gegeben.«
Antonia schüttelte den Kopf. »In der Hitze des Moments sagen wir alle Dinge, die wir nicht so meinen. Sie war sehr unglücklich. Lass uns für sie beten.«
Eigon schüttelte den Kopf. »Das würde sie nicht wollen. Sie ist immer unseren eigenen Göttern treu geblieben.«
»Wir können trotzdem beten. Und wir können für Großvater und für Julius beten.« Sie zögerte kurz. »Ich hatte gehofft, sie hier zu treffen.«
Eigon nickte. »Ich auch«, gestand sie.
»Glaubst du, dass sie in Sicherheit sind?«
»Sie sind aus Rom entkommen. Julius wird dafür gesorgt haben, dass eurem Großvater nichts passiert.« Eigon seufzte. Und was, wenn sie Julius nie wiedersehen sollte? Hoffentlich war er nicht gefasst worden. Er durfte nicht sterben. Immer wieder sah sie ihn in ihren Träumen vor sich, ständig musste sie an ihn denken. Seine warmen Augen, seine starken Arme, sein fröhliches Lachen. Er hätte dafür gesorgt, dass ihr nichts zustieß. Er hätte nicht zugelassen, dass irgendjemand ihr etwas antat.
Alle, die Lebensmittel mitgebracht hatten, steuerten sie für die gemeinsame Mahlzeit bei, die die Frauen zubereiteten, während die Männer die Hütten reparierten. Am Abend setzten sich dann alle zum Essen an einen Tisch. Marcellus stand auf und segnete die Speisen. Erst jetzt wurde Eigon klar, dass er in der Hierarchie der neu entstehenden Kirche eine sehr hohe Position einnahm. Als alle gegessen hatten, stand er wieder auf und schaute in den Kreis der verängstigten Menschen.
»Freunde, wir alle haben Menschen verloren, die wir geliebt haben. Wir alle sind knapp dem Tode entronnen. Wir wissen nicht, warum Gott es so gefügt hat, dass der Kaiser sich gegen uns wendet, aber ich bin überzeugt, dass es einen Grund dafür gibt. Vielleicht will Er unsere Entschlossenheit auf die Probe stellen. Aber unsere Entschlossenheit wird nicht wanken. Heute Nacht ruhen wir uns aus, morgen entscheiden wir dann, was wir tun und wohin wir gehen. Wir werden stark sein.« Er lächelte in die Ruhe. »Gott segne euch, meine Kinder. Schlaft gut.«
Als Antonia und Eigon sich auf ihren provisorischen Betten niederließen, stöhnte Antonia vor Schmerzen, als sie sich die Sandalen auszog. »Meine Füße tun entsetzlich weh. Die Seile, mit denen dieser brutale Mann mich gefesselt hatte, haben mir überall die Haut aufgeschürft.«
Eigon beugte sich vor, um die Stellen zu untersuchen. Es pochte und klopfte schier unerträglich in ihrem Knöchel, doch sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren. »Weißt du noch? Petrus sagte doch immer, wir sollten als Akt der Demut einander die Füße waschen. Aber hier gibt es kein Wasser, und Arzneimittel habe ich auch keine. Meine Tasche ist in dem verlassenen Bauernhaus zurückgeblieben. Eines Tages werde ich Titus für das, was er uns und meiner Mutter und meinem Vater angetan hat, grausam büßen lassen.«
Antonia lächelte matt. »Solche Dinge sollen wir eigentlich nicht sagen. Jesus hat uns aufgetragen, unsere Feinde zu lieben.«
»Offenbar hat er Titus Marcus Olivinus nicht gekannt«, entgegnete Eigon. Vorsichtig schälte sie Antonias Rock von der blutigen Schürfwunde an ihrem Knöchel.
»Au!« Antonia zuckte zusammen. »Kannst du nicht neue Heilmittel herstellen? In diesem Dorf wachsen überall Kräuter. Und es gibt viele Leute hier, die aussehen, als könnten sie deine Hilfe brauchen.«
»Ich mache mich morgen auf die Suche. Ich bin sicher, dass ich etwas finden kann.«
Seufzend legte sich Antonia auf den Rücken. »Was glaubst du, weshalb dieses Dorf verlassen wurde?«
Eigon schaute auf, sah sich schweigend im Raum um, dann schauderte sie. »Hier war Krankheit. Spürst du das nicht? Krankheit und Angst.«
Antonia starrte sie an. »Jetzt machst du das wieder. Du siehst Gespenster.«
»Es tut mir leid, das ist bei mir schon immer so gewesen. Offenbar ist das eine Fähigkeit, die mein Volk besonders gut beherrscht. Für uns sind die Toten gar nicht tot.«
»Für uns auch nicht.« Antonia sah sie skeptisch an. »Aber Christen glauben, dass sie in den Himmel kommen, sie lauern nicht in dunklen Ecken.«
»Diese Menschen waren keine Christen«, sagte Eigon langsam. Sie legte sich auf ihre Bettstatt und zog eine Decke über sich. »Sie hatten gar keine Götter. Sie glaubten, ihre Götter hätten sie verlassen.«
»Vielleicht sollten wir für ihre Seelen beten«, sagte Antonia nach einer langen Pause. »Würden sie dann weggehen?«
Eigon lächelte. »Dadurch würden sie Frieden finden«, sagte sie. Von irgendwoher wusste sie, dass es stimmte.
»Warum singst du nicht etwas?«, murmelte Antonia nach einer Weile. »Etwas Leises, Stilles. Das würde mir gefallen.«
Eigon lächelte wieder. Das Lied beruhigte sie beide. Bald war Antonia eingeschlafen, und wenig später schloss auch sie die Augen.
Eine ganze Weile später öffnete sie sie wieder und starrte in die Dunkelheit, ihr Herz klopfte wild vor Angst.
Jess drehte sich unruhig auf dem Bett hin und her. Draußen vor ihrem Fenster war es wieder dunkel geworden. Sie sollte aufstehen, sich ausziehen und richtig ins Bett legen, aber dafür war sie zu müde. Sie versuchte, sich zu entspannen, legte den Kopf bequem aufs Kissen und schaute zur Decke. Dann spürte sie es. Dieselbe seltsame Stimmung, die auch Eigon geweckt hatte. Das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden, dass jemand wartend in den Schatten stand.
Jess setzte sich auf.
Füll den Raum mit Licht. Umgib dich mit Licht. Schau dich um. Konzentrier dich. Und wehr dich. Das waren Carmellas Worte gewesen. »Hugo?«, flüsterte Jess. »Bist du hier? Pass auf mich auf, braver Hund.« Sie hörte keine Pfoten auf dem Holzboden. Nichts. Vorsichtig schwang sie die Beine aus dem Bett und stand auf. Sie knipste die Nachttischlampe an, dann ging sie zur Tür und drückte auf den Schalter. Dadurch gingen eine Lampe auf der Kommode und eine zweite auf dem Tisch vor dem Fenster an. Jess sah sich im Zimmer um. Ihr fiel nichts Ungewöhnliches auf. Nichts war bewegt worden, alles fühlte sich normal an. Warm und sicher. Gerade, als sie zum Fenster schaute, flog ein weißer Nachtfalter herein und flatterte laut im Lampenschirm auf dem Tisch herum. Ein Nachtfalter, eine ganz gewöhnliche Motte. Nichts Bedrohliches. Und durchs Fenster war auch keine Gefahr zu erwarten. Es lag viel zu hoch, als dass jemand hereinsteigen könnte. Langsam ging Jess zum Tisch und schaltete die Lampe wieder aus. Sofort hörte die Motte zu flattern auf und ließ sich mit leicht bebenden Flügeln innen auf dem Lampenschirm nieder.
Da war es wieder, dieses Gefühl. Jemand versuchte, sich Zugriff zu ihrem Kopf zu verschaffen. Finger, die sich suchend vorantasteten, die Gehirnwindungen und Synapsen teilten, so fühlte es sich an. Jess schauderte. Irgendwie musste es ihr gelingen, ihn von sich fernzuhalten. Es musste Titus sein. Aber wie sollte sie sich gegen ihn wehren? Denken, sie musste denken. Ihre ganze Konzentration auf etwas anderes lenken, um Titus zu verwirren. Sie durfte ihm keinen Zugang zu ihren Gedanken gewähren. Er wollte wissen, wo sie war. Natürlich, darum ging es ihm. Er wollte ihren Aufenthaltsort erfahren. An diesen durfte sie nicht denken, durfte ihn sich nicht einmal vorstellen.
Ein Gedicht aufsagen. Das würde ihn durcheinanderbringen. Ihren Kopf mit Gedanken an etwas anderes füllen.
 
»Ich weiß’nen Hügel, wo man Quendel pflückt,
Wo aus dem Gras Viol und Maßlieb nickt,
Wo dicht gewölbt des Geißblatts üppge Schatten
Mit Hagedorn und mit Jasmin sich gatten.
Dort ruht Titania, halbe Nächte kühl
Dort ruht Titania, halbe Nächte kühl
Auf Blumen eingewiegt durch Tanz und Spiel.
Die Schlange legt die bunte Haut dort nieder,
 
Sie machte eine Pause und horchte auf die Stille, die in ihr widerhallte. »Damit habe ich dich jetzt ausgebremst, du Schwein. Damit hast du nicht gerechnet, oder?« Sie sprach laut. »Wenn du nochmal versuchst, in meinen Kopf zu kommen, mach ich dasselbe wieder:
 
Wahnwitzige Poeten und Verliebte
Bestehn aus Einbildung. Der eine sieht
Mehr Teufel, als die weite Hölle fasst,
Der Tolle nämlich; der Verliebte sieht
Nicht minder irr: die Schönheit Helenas
Auf einer äthiopisch braunen Stirn.«
Sie unterbrach sich. »Willst du noch mehr Shakespeare hören? Erkennst du dich in den Worten wieder? Du wahnwitzig Toller! Ich kann stundenlang weiter rezitieren. Wenn du dich an eine Englischlehrerin heranmachst, findest du einen Kopf voller Zitate!« Langsam drehte sie sich im Kreis und lauschte. Er war fort. Davon war sie überzeugt.
Und was war mit Eigon? Hatte er sie auch in Ruhe gelassen?
Langsam ging sie wieder zum Bett und legte sich, immer noch angezogen, darauf. Sie ließ das Licht brennen, kuschelte sich in die Kissen, und nach einem letzten aufmerksamen Blick durch den Raum schloss sie die Augen.
 
Eigon saß da, den Rücken an die kalten Steine der zerfallenen Mauer gelehnt, und schaute mit offenen Augen in die Dunkelheit vor sich. Etwas hatte sie geweckt. Titus suchte nach ihr, war derart wütend über ihre Flucht, dass sie seinen Zorn körperlich spürte. Mit aller Macht versuchte sie, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Welchen Rat hätte Melinus ihr jetzt gegeben? Sie überlegte. Er hätte die Götter um Beistand gebeten. Aber die alten Götter würden ihr als Christin nicht beistehen, und Jesus würde sich nicht gegen einen Römer, der an seine eigenen Götter glaubte - wenn er überhaupt an irgendwelche Götter glaubte -, beschwören lassen. Oder doch? Sie versuchte, sich die Worte des Gebets in Erinnerung zu rufen, das Petrus ihnen beigebracht hatte. Da war eine Stelle, die sie als besonders tröstlich empfand: Erlöse uns von dem Übel. Titus Marcus Olivinus war der übelste Mensch, dem sie je begegnet war. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Sie verfiel in einen unruhigen Schlaf, dann war sie wieder wach. Sie hörte Stimmen, und zu ihrer Erleichterung wurde ihr bewusst, dass sie real waren. Vor ihrer Tür redeten Menschen leise und dringlich miteinander. Sie legte die Decke um die Schultern und schlich nach draußen, um die schlafende Antonia nicht zu stören.
Mehrere Gestalten saßen um das Feuer. Als Eigon näher kam, warf jemand ein Scheit in die Glut. Eine Flamme loderte auf, und Eigon sah die Gesichter der Männer. Alle wirkten müde und bedrückt.
»Was ist? Ist etwas passiert?« Sie ging zu ihnen, zitterte in der nächtlichen Kühle hier in den Bergen.
Marcellus setzte sich auf den Baumstamm, den sie als behelfsmäßige Bank ans Feuer geschleppt hatten. Er fuhr sich übers Gesicht, und seine Handflächen machten auf seinen unrasierten Wangen ein schabendes Geräusch. »Es gibt schlechte Nachrichten. Felicius Marinus und sein Enkel Julius sind gefasst worden.«
»Nein!« Entsetzt sah Eigon zu ihm. »Ach, bitte, das darf nicht wahr sein.«
Einer der anderen Männer nickte. »Ich fürchte, es ist nur allzu wahr.« Eigon kannte ihn nicht, er musste angekommen sein, nachdem sie sich schlafen gelegt hatten. Völlig erschöpft ließ er sich neben Marcellus auf den Stamm sinken. »Die Prätorianer kamen zu der Villa, in der wir uns versteckt hatten. Sie wussten genau, nach wem sie suchten. Niemand hatte eine Chance. Die meisten Mitglieder des Haushalts haben sie erstochen, Felicius und Julius haben sie in Ketten abgeführt.«
»Das heißt, mittlerweile sind sie vermutlich schon tot.« Marcellus starrte mit hängenden Schultern zu Boden.
»Noch nicht. Sie sind für Neros Zirkus bestimmt. Ich habe gehört, dass ihnen die Christen knapp werden, weil sie so viele in den Palastgärten verbrannt haben. Sie haben sie an Pfosten gebunden, die mit Teer getränkt waren, und sie in der Abenddämmerung angezündet, sogar Kinder …«
»Das wissen wir schon!«, fiel Marcellus ihm ins Wort. »Was ist mit Petrus?« Rasch wechselte er das Thema. »Gibt es Nachricht von ihm?«
»Er ist in Sicherheit. Er versteckt sich.«
»Und wo sollen die … die Spiele stattfinden, bei denen unsere Freunde die Unterhaltung liefern sollen?« Marcellus’ Stimme war rau.
Der Neuankömmling zuckte mit den Schultern. »Sie wurden zum Mamertinischen Kerker gebracht. Angeblich hat Nero gesagt, er brauche ein großartiges Spektakel, um seine Bürger bei Laune zu halten.« Seine Stimme war düster. »Vielleicht warten sie noch ein paar Tage, bis sie genügend Opfer haben, damit es sich auch wirklich lohnt. Soweit ich gehört habe, sind die Löwen satt«, fügte er bitter hinzu. »Sie müssen warten, bis die Tiere wieder Hunger haben.«
Eigon kämpfte mit den Tränen und ballte die Hände. Sie schaute zwischen den Männern hin und her. »Aber wir können sie doch retten, oder? Wir können sie doch bestimmt herausholen!«
Alle wandten sich zu ihr. Marcellus stand auf und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Julius und sein Großvater sind römische Bürger. Es ist verboten, sie zu foltern. Sie dürfen nicht den wilden Tieren vorgeworfen werden.«
Der neu eingetroffene Mann warf ihm ein mitleidiges Lächeln zu. »Fehler passieren. Die Leute, die gefesselt in die Arena geschleift werden, können schreien, so laut sie wollen, dass sie römische Bürger sind. Das tun die meisten. Beim Johlen der Menge hört sie sowieso niemand. Wenn man dann feststellt, dass ein Irrtum vorliegt, ist es zu spät. Der Staat verspricht den Familien Entschädigungszahlungen, aber das ist meist nur leeres Gerede.«
Einen Moment herrschte Stille. Marcellus räusperte sich. »Wenn es eine Möglichkeit gibt, sie aus dem Kerker zu befreien, dann versuchen wir es. Aber die Zellen liegen tief in der Erde, sie sind gut gesichert und werden Tag und Nacht bewacht.« Er führte Eigon zum Baumstamm, sie setzte sich am Feuer nieder. Das verfallene Dorf, das außerhalb des Feuerscheins lag, war in der Dunkelheit kaum auszumachen. Außer ihnen war niemand wach. Irgendwo im Wald rief eine Eule. »Wir beten um Beistand. Es muss eine Möglichkeit geben.«
Eigon holte tief Luft. »Die gibt es auch.«
Die anderen schauten zu ihr. Marcellus hob fragend die Augenbrauen. »Du hast eine Idee?«
»Ich kenne den Mann, der sie gefasst hat. Ich bin mir sicher, dass es ein Offizier der Prätorianer war, er heißt Titus Marcus Olivinus. Der Mann, der mich und Antonia gefangen genommen hat.« Sie bemühte sich, gefasst zu klingen. »Er und ich …« Sie machte eine kurze Pause, um der Panik, die in ihr aufstieg, Herr zu werden. »Er und ich liegen schon sehr lange im Streit miteinander. Er würde vieles dafür geben, mich wieder in seine Gewalt zu bekommen.« Sie lächelte freudlos. »Als euer Wagen kam und wir hineingeworfen wurden, war er drauf und dran, mit mir eine persönliche Fehde zu bereinigen, was seinen Eifer, Christen zu verfolgen, etwas gedämpft hätte. Er weiß, dass ich mit Felicius und Julius befreundet bin. Genauso wie er wusste, dass Antonia meine Freundin ist. Unser Zwist ist viele Jahre alt, er geht auf etwas zurück, das in Britannien passierte, als meine Mutter und ich nach der Niederlage meines Vaters gefangen genommen wurden.« Ihre Stimme war so leise geworden, dass die Männer sich vorbeugen mussten, um sie zu verstehen. »Er hat Angst, ich könnte den Behörden sagen, dass er etwas getan hat, worauf die Todesstrafe steht. Er hat meiner Mutter, der Königin, Gewalt angetan. Und er hat mir Gewalt angetan. Ich war noch ein Kind.«
Noch immer hatte sie die Fäuste schmerzhaft geballt. »Ich durfte nichts sagen, denn meine Mutter wollte nicht, dass mein Vater davon erfährt. Er hätte die Demütigung nicht ertragen, aber jetzt ist er tot.« Sie kämpfte gegen ihre Tränen an, um ihren Kummer zu verbergen, dann atmete sie tief durch. Die Männer sahen sie unverwandt an und schwiegen. »Ich glaube, ich bin für Titus wichtig genug, dass er sich auf einen Handel einlässt. Felicius und Julius im Tausch für mich.«
Wieder herrschte lange Stille, die nur vom Lodern der Flammen unterbrochen wurde. Schließlich trat Marcellus auf sie zu, kniete vor ihr nieder, nahm ihre Hände in seine und küsste sie. »Liebst du die beiden so sehr, dass du dein Leben für sie hergeben würdest? Du bist ein guter Mensch. Dein Mut ist ohnegleichen. Aber wir dürfen dir nicht erlauben, das zu tun.« Er warf einen Blick zu den anderen, die alle zustimmend nickten. »Vor Gott zählt jedes Leben, und es ist meine Überzeugung, dass er dich nicht dazu bestimmt hat, dein Leben für das eines anderen zu opfern.«
Einen Moment starrte sie ihn fassungslos an. »Aber irgendetwas muss ich tun.« Sie blinzelte die Tränen fort, Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. »Dann habe ich eine andere Idee. Vielleicht könnten wir ja so tun, als wolltet ihr mich gegen die beiden austauschen. Das würde Titus aus der Deckung locken, und vielleicht lässt er sich überreden, Felicius und Julius zu einer vereinbarten Stelle zu bringen, wo der Austausch stattfinden sollte?«
»Das ist eine gute Idee«, warf Stephanus leise ein. Eigon hatte ihn in der Dunkelheit gar nicht bemerkt. »Diese junge Dame ist eine gute Strategin, eine würdige Tochter des großen Kriegerkönigs.« Er warf ihr ein Lächeln zu. »Wenn dieser Mann sie so dringend zu fassen bekommen will, dann denkt er vermutlich nicht allzu logisch. Wir könnten verlangen, dass er ohne Begleitung kommt, denn sonst wären wir in Gefahr. Vielleicht lässt er sich tatsächlich darauf ein.«
»Wenn er die Möglichkeit hat, wird er uns hinters Licht führen und eine ganze Armee verstecken«, widersprach Eigon und straffte die Schultern. »Er ist kein ehrenwerter Mann.«
»Auch wir sind nicht ehrenwert, wenn es darum geht, unseren Freunden beizustehen«, sagte Marcellus finster. »Es lohnt einen Versuch. Also, wie erreichen wir ihn?«
»Wir schicken einen Boten. Das muss der Mutigste unter uns sein«, sagte Stephanus düster. »Ich schlage vor, dass wir darum losen. Die Entscheidung soll Gott treffen.«
 
Daniel läutete bei Carmella an der Tür und erwartete, ihre Stimme aus der Gegensprechanlage zu hören. Zu seiner Überraschung ertönte ein Summen, die Tür schwang mit einem Klicken auf, ohne dass jemand fragte, wer denn da sei. Er lächelte.
Im Palazzo hatte er kein Glück gehabt. Als er den Hausmeister nach langem Klingeln endlich herausgeläutet hatte, war Jacopo derart betrunken gewesen, dass er kaum ein verständliches Wort hervorgebracht hatte. Schließlich aber hatte Daniel ihn genügend bedrängt, um zu erfahren, dass die Signora Kim die Wohnung verlassen hatte und den Rest des Sommers bei Freunden an den Seen verbrachte.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, lief Daniel zu Carmellas Wohnungstür hinauf, die einen Spalt breit offen stand. Er schob sie ganz auf, ein köstlicher Duft schlug ihm entgegen. Knoblauch, Zwiebeln, irgendeine Fleischsoße. Ganz offenbar erwartete sie Gäste zum Mittagessen.
»Henrico?« Ihre Stimme drang aus der Küche über das Zischen des Bratfetts zu ihm vor. »Ciao, carissimo. Schenk dir was zu trinken ein, und bring mir auch ein Glas! Ich bin gleich so weit.«
Daniel lächelte. Bislang waren die Götter mit ihm. Er ging ins Wohnzimmer und sah sich um. Auf einem Beistelltisch stand ein frischer Blumenstrauß, auf dem Schreibtisch warteten eine Flasche Barolo und zwei Gläser. Carmellas Handy lag auf dem Sofatisch. So einfach war es also. Er musste ihr nicht einmal drohen. Er griff sich das Handy und steckte es sich in die Tasche, warf eine Kusshand Richtung Küche, schlich aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich, um alles genauso zu hinterlassen, wie er es vorgefunden hatte. Dann war er zur Wohnungstür hinaus und lief die Treppe hinunter. Er hatte schon die Straße erreicht, als ein Auto vorfuhr, in eine Parklücke einbog und ein Mann mit silbergrauen Haaren ausstieg. Daniel schlenderte auf die andere Straßenseite und beobachtete den Ankömmling aus den Augenwinkeln. Carmella würde es bestimmt sehr merkwürdig finden, dass Henrico ein zweites Mal läutete. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie feststellte, dass ihr Handy fehlte.
 
In der Liste der getätigten Anrufe wurde er sehr bald fündig. Die fünfte Nummer, bei der er es versuchte, war eine Pension. Das Mädchen, das seinen Anruf entgegennahm, sagte, ja, bei ihnen wohne eine englische Dame, im obersten Stockwerk sei ihr Zimmer, und sie glaube auch, dass sie Jess heiße, obwohl sie offenbar nicht im Gästeverzeichnis stand. Das Mädchen klang sehr vage, fast ein bisschen einfältig. Daniel lächelte. Zu dem Haus war es von der Bar, in der er bei einem Glas sehr gutem Chianti saß und seine Anrufe tätigte, zu Fuß keine halbe Stunde. Er steckte sich ein paar Oliven in den Mund und blätterte weiter Carmellas Anruflisten durch. Wie er genau vorgehen sollte, hatte er noch nicht beschlossen. Noch einen Fehlschlag konnte er sich nicht leisten. Und er hatte nur ein sehr kleines Zeitfenster, in dem er Jess finden konnte, bevor er sich wieder auf die Autobahn begab und nach Norden fuhr.
Er bestellte ein weiteres Glas Wein und beugte sich dicht über das Display, um Carmellas ungelöschte SMS besser lesen zu können. Der Schwerenöter Henrico war allem Anschein nach ihr Liebhaber; offenbar hatte er auch eine Ehefrau, von der Carmella wusste. Die beiden gingen sehr offen damit um. Daniel lachte in sich hinein. Wie zivilisiert. Ausgesprochen römisch. Er leerte sein Glas und bezahlte. Es war Zeit, die Pension genauer in Augenschein zu nehmen, um herauszufinden, wie er sie betreten und wo er sich, falls nötig, verstecken konnte. Auf dem Weg zur Tür schaute er verstohlen über die Schulter, ob ihn auch niemand beobachtete, dann ließ er das Handy in den Messingübertopf der großen Schusterpalme fallen, die neben der Tür stand. Erst als er auf die Straße hinaustrat, fiel ihm ein, dass er vielleicht seine Fingerabdrücke hätte abwischen sollen.
Bei der Pension angekommen, blieb er ein paar Minuten an der Ecke stehen und beobachtete die stille Gasse mit den alten Häusern, die in der Hitze vor sich hin döste. Die warmen Erdfarben waren hier und dort von alten Steinmauern unterbrochen. Die Haustür der Pension war offen. Ließen in Rom die Leute in der Mittagszeit alle die Türen offen stehen? Er klopfte kurz an und spähte hinein. »Hallo? Buongiorno? C’è qualcuno a casa?«
Das Foyer wirkte vornehm, es war mit Teppichen und erlesenen Antiquitäten ausgestattet und roch nach Bienenwachs. »Signora? Ist da jemand?« Er machte ein paar Schritte in den Flur.
Die Treppe, ein Meisterwerk an Eichenschnitzerei mit gewundenen Geländern und verzierten Pfosten, führte ins kühle Innere des Hauses hinauf; es war offenbar völlig verwaist. Daniel ging nach oben.
Im obersten Stockwerk gab es zwei Türen, keine davon abgeschlossen. Staunend schüttelte er den Kopf. Das erste Zimmer, in das er schaute, war sauber und aufgeräumt und, soweit er feststellen konnte, momentan nicht vermietet. Lautlos ging er zur zweiten Tür und lauschte, ehe er leise anklopfte. Keine Antwort. Vorsichtig drehte er den Türknauf und schob sie auf. Im Zimmer war niemand. Auf dem Boden neben der Tür lag ein Rucksack, auf der Kommode entdeckte er eine Bürste und einen Kamm, und der pastellfarbene Pullover, der über der Stuhllehne hing, kam ihm bekannt vor. Er betrat das Zimmer und zog die Tür leise ins Schloss. Hinter einer der beiden Türen, die es in dem Zimmer noch gab, verbarg sich ein Schrank, in dem mehrere leere Kleiderbügel hingen. Die zweite Tür führte in ein kleines Bad. Jemand hatte einen Stapel frischer Handtücher auf den Rand des Waschbeckens gelegt. Daniel ging ins Zimmer zurück, betrachtete Jess’ Zuflucht und fragte sich, wo sie wohl sein mochte. Die Fensterläden waren vor der Hitze geschlossen. Er ging hinüber und stieß sie auf, so dass er durch einen schmalen Spalt zwischen den Häusern auf der gegenüberliegenden Seite eine rote Dachlandschaft sah, die hier und da von Baumwipfeln unterbrochen wurde. Lächelnd zog er die Fensterläden zu und drehte sich wieder ins Zimmer. Es würde viel zu einfach sein. Er brauchte nur zu warten, bis sie zurückkam.
Die Tochter des Königs
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