Kapitel 12
Eigon sah mit einem unsicheren Lächeln zu
ihrer Mutter hoch. Die letzten Tage waren in einem Wirbelwind
verwirrender Bilder vergangen. Die Familie hatte noch am selben Tag
eine Villa an den Hängen des Pincio bezogen. Ihr Vater wurde wie
ein König behandelt, plötzlich hatten sie Sklaven und schöne
Gewänder und bequeme Betten. Sie, Eigon, sollte wieder Unterricht
bekommen und gleichaltrige Spielgefährtinnen. Ungewiss war
lediglich die Aufgabe der Wachposten, die vor dem Tor zur Villa
standen und sie begleiteten, wann immer sie in die Stadt gehen
wollten.
»Im Grunde sind wir Gefangene, Caradoc!«, sagte
Cerys zu ihrem Gemahl, als sie zum von Säulen eingefassten Tor
schauten.
»Cerys, wir sind am Leben. Wir wurden nicht von
Löwen zerfetzt.« Er lächelte sie an und legte ihr einen Arm um die
Schultern. »Das genügt fürs Erste.« Er war müde, ihr Gemahl, nicht
mehr der wilde Krieger von einst, und er hustete unablässig.
Vertrauensvoll lehnte sie sich an ihn. Er hatte Recht, im Moment
mussten sie mit ihrem Schicksal zufrieden sein und abwarten. Wenn
er wieder zu Kräften gekommen war, würden sie ihre Flucht und ihre
Rückkehr nach Britannien planen.
Sie und Eigon waren seit vielen Wochen das erste
Mal allein, als ihre Tochter zu ihr kam und sie heftig am Gewand
zupfte. Cerys, noch blass und mitgenommen, trug eine helle Tunika
und eine Stola aus Leinen. Jetzt schaute sie mit einem Lächeln zu
ihrer Tochter.
»Mama! Ich habe ständig schreckliche Träume von
ihm. Ich habe ihn gesehen. Er bewacht den Kaiser.«
»Kind, wen hast du gesehen?« Cerys setzte sich und
zog Eigon zu sich.
»Den Mann, der mir wehgetan hat. Er war da. Ich
habe ihn gesehen.«
Cerys erstarrte. Eigon spürte, dass ihre Mutter
ihren Oberarm fester umklammerte, und wich ängstlich zurück. »Ich
sollte dir doch sagen, wenn ich ihn wiedersehe. Er war da, in der
Nähe des Kaisers. Er gehört zu seiner Garde. Und als er mich
gesehen hat, hat er so gemacht.« Sie ahmte seine Geste genau nach,
fuhr sich mit ihrem kleinen Zeigefinger über die Kehle. »Wir können
ihn fangen lassen, Mama, und dann wird er bestraft.«
»Nein!« Cerys’ Stimme überschlug sich fast vor
Panik. »Nein. Nicht jetzt. Du darfst jetzt nicht von ihm sprechen.
Dein Vater weiß nichts davon. Er darf nie erfahren, was passiert
ist!«
»Aber er weiß es doch schon.« Eigon erinnerte sich
an den zärtlichen Kuss ihres Vaters, seine Versicherung, dass der
Mann bestraft werden und sie ihn mit der Zeit vergessen
würde.
»Er weiß Bescheid über dich, aber nicht über …«
Cerys verstummte abrupt. Sie hatte nie den Mut gefunden, ihrem
Gemahl von ihrer eigenen Schändung zu erzählen, und langsam war ihr
klargeworden, dass aus ihr unbekannten Gründen weder Scapula noch
jemand anderer ihm davon berichtet hatte. Vielleicht war Scapula zu
wütend, dass Männer unter seinem Befehl eine derartige Freveltat
begangen hatten. Vielleicht hatte er befürchtet, es würde ihren,
Cerys’,
Wert als Geisel schmälern, wenn ihr Gemahl sie verstieß. Sie würde
es nie erfahren. Sie sah Caradocs Gesicht vor sich, seine sanften
Augen, seine starken Arme, die sie umfingen, sie beschützten und
sie wegen des Verlusts ihres Sohnes trösteten. Sie wusste, dass der
Mann, der sie über alles liebte, sich im Handumdrehen in einen
kalten, berechnenden Mörder verwandeln konnte. Der Anführer der
Kelten, der Kriegerkönig, der Rom sieben lange Jahre widerstanden
hatte, würde alles daransetzen, den Mann zu finden, der seiner Frau
Gewalt angetan hatte. Er würde nicht ruhen, bis der Mann tot war,
aber dann - was würde dann passieren? Wie würde er sie je wieder
wie früher lieben können, wenn er wüsste, dass sie von einem
einfachen Soldaten des feindlichen Lagers geschändet worden war?
Deshalb war sie erleichtert gewesen, als ihr klarwurde, dass keiner
der Römer ihm von dem Vorfall erzählt hatte.
»Sag es niemandem, Eigon«, drängte sie ihre
Tochter. »Wir sind hier in Sicherheit. Wir haben ein Zuhause, wir
haben ein neues Leben. Wir müssen alles vergessen, was vorher
gewesen ist. Das war in einer anderen Welt.« Sie schwieg kurz. »Du
bildest dir nur ein, dass du ihn gesehen hast. Oder wenn, dann hat
er dich nicht wahrgenommen. Das ist es! Er kann dich unmöglich
erkannt haben. Du hast dich doch völlig verändert, Kind. Du bist
fast schon eine junge Frau.« Wieder machte sie eine Pause. »Wenn er
wüsste, dass du ihn erkannt hast, wäre sein Leben von dem
Augenblick an verwirkt. Wenn das der Fall wäre, wäre keine von uns
mehr sicher.«
»Aber er weiß es doch, Mama«, wisperte Eigon
ängstlich, doch Cerys ging schon davon und hörte die Worte ihrer
Tochter gar nicht.
Zu ihren ersten Besucherinnen gehörte die Herrin
Pomponia Graecina, die Gemahlin von Aulus Plautius, des Mannes,
der bei der Eroberung der britannischen Inseln an der Spitze der
römischen Streitmacht gestanden hatte und der erste Statthalter der
Provinz Britannien geworden war. Pomponia Graecina war eine große,
schlanke Frau, die ihr eisengraues Haar im Nacken zu einem Knoten
gebunden trug. Sie stand im Atrium der Villa und sah sich mit eher
strenger als freundlicher Miene um, während Cerys auf sie zutrat
und sie begrüßte.
»Wir sind also durch die Gegenwart einer Königin
geehrt«, sagte Pomponia. »Und der Kaiser hat Euch willkommen
geheißen.« Sie bedeutete ihren Dienern, sich zurückzuziehen, und
setzte sich auf eine steinerne Bank in der Nähe des Wasserbeckens
in der Mitte des Hofs.
Einen Moment blieb Cerys majestätisch würdevoll
stehen, dann nahm auch sie Platz. Eigon stand hinter ihrer Mutter
und bemerkte die edlen Gewänder ihrer Besucherin und ihren Schmuck.
Sie trug sehr viel Gagat, fiel Eigon auf, und die Ringe und
Armreifen aus Gold waren meisterlich gearbeitet. Vermutlich
gehörten sie zu den in ihrer Heimat erbeuteten Schätzen.
»Wir sind uns begegnet, als der Kaiser nach
Camulodunum kam, um unsere Herrschaft zu verkünden, nicht
wahr?«
Cerys’ Miene verdüsterte sich ein wenig. »Mein
Gemahl gehörte nicht zu denen, die vor Claudius das Knie beugten,
Herrin.«
Pomponia Graecina lächelte. »Natürlich nicht.
Verzeiht. Er war der Anführer unserer Gegner, nicht wahr?« Sie
beugte sich vor. »Ein tapferer Mann. Er hat meine Achtung
verdient.« Sie winkte einen aus der Dienerschaft, die wartend an
der Tür stand, zu sich. »Ich habe Euch und Eurer Tochter Geschenke
gebracht, Herrin. Damit Ihr Euch in dieser Stadt willkommen
fühlt.«
Das kleinere Kästchen war für Eigon. Sie beäugte es
misstrauisch, schaute fragend zu ihrer Mutter und dann zu dieser
vornehmen Frau, die sich so unbekümmert bei ihnen niederließ. Cerys
warf ihr ein ermunterndes Lächeln zu. »Ich bin sicher, dass du es
öffnen darfst, Kind, damit du der Herrin Pomponia Graecina selbst
für das Geschenk danken kannst.«
Eigon stellte das Kästchen auf den Rand des Beckens
und nahm den Deckel ab. Innen lag ein Spielbrett, dazu eine Reihe
Zählsteine und Würfel. Sie nahm eines der kunstvoll geschnitzten
Stücke heraus und blickte dann zu der Dame auf. »Vielen Dank,
Herrin«, sagte sie scheu.
Pomponia lächelte entzückt. »Sie spricht
Lateinisch!«
»Natürlich.« Cerys lächelte.
»Und wer soll das Kind unterrichten?« Pomponia
winkte Eigon zu sich, legte ihr die Hände auf die Wangen und hob
ihr Gesicht zu sich. Eigon spürte, wie die schweren Ringe an den
Fingern der Frau in ihre Haut drückten.
»Das wissen wir noch nicht.« Cerys strich die
Falten ihrer Stola mit einem leichten Frösteln zurecht. Eine Bö
trieb den Geruch vom Holzfeuer aus der Küche zu ihnen herüber.
Allmählich wurde es Herbst. »Es wurde davon gesprochen, dass sie
Unterricht erhalten soll. Ihr Vater möchte es auch, aber er ist
nicht ganz bei Kräften. Er leidet an einem Fieber, das ständig
wiederkehrt. Es ist schwer, Entscheidungen zu treffen, und es ist
noch zu früh, um …«
»Es ist nie zu früh, um richtigen Unterricht zu
bekommen.« Pomponia lächelte Eigon an, und sofort fühlte sie sich
besser. Die Augen der Frau waren warmherzig und freundlich. »In
meinem Haushalt gibt es genau die richtige Person für sie. Er hat
uns aus Britannien begleitet. Er gehört zu Eurem Volk.«
Cerys runzelte die Stirn. »In der Tat, Herrin?«,
fragte sie vorsichtig.
»Er verehrt Eure Götter und folgt Euren Sitten. Er
unterweist mich in der Philosophie Eures Landes«, erklärte
Pomponia.
»Ein Druide?«, fragte Cerys im Flüsterton.
Pomponia nickte.
»Aber Eure Regierung hat sie verboten.«
Die Besucherin zuckte mit den Schultern. »Er
verkündet seinen Glauben nicht öffentlich.«
»Ist er ein Sklave?«
»Offiziell, ja.«
»Wenn ich einwillige, wird mir dann nicht
vorgeworfen, ich würde einem verbotenen Glauben folgen?«
Pomponia überlegte kurz. »Euch ist nicht verboten,
zu Euren Götter zu beten. Niemandem wird verboten, seine Götter zu
verehren. Unser Volk ist tolerant. Die Druiden sind verboten, weil
sie uns bekämpft haben. Sie haben den Aufstand geschürt, sie haben
zum Widerstand gegen Rom aufgerufen und ihn organisiert. Das tun
sie immer noch. Aber dieser Mann, Melinus, ist anders. Er ist sanft
und gebildet. Er kann dieses Kind alles lehren, was es zu wissen
braucht.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich kann Euch nicht
zwingen, seine Dienste anzunehmen, Herrin Cerys, aber das Angebot
bleibt bestehen. Wartet, bis Ihr Euch Eurer Position in Rom etwas
sicherer seid. Wenn Ihr wollt, besprecht Euch mit dem König, Eurem
Gemahl.« Unvermittelt lächelte sie fast ein wenig keck. »Erkundigt
Euch nach mir. Ihr werdet erfahren, dass ich wegen meiner
Widerworte gegen den Kaiser bekannt bin. Er belangt mich deshalb
nicht. Er ist klug genug, sich nicht mit mir anzulegen, wie Ihr
feststellen werdet, wenn Ihr uns Römer einmal besser kennengelernt
habt. Euch wird nichts passieren, wenn Ihr diesen Mann bei Euch
aufnehmt. Ich tue Euch einen Gefallen, wenn ich ihn Euch überlasse,
denn er ist mir lieb und
teuer. Aber dieses Kind braucht einen Menschen, der es
anleitet.«
Sie betrachtete Eigon nachdenklich, strich ihr noch
einmal mit der beringten Hand übers Gesicht. Dann war der Besuch
vorüber, Pomponia rief nach ihrer Sänfte. Die Frauen gaben sich den
förmlichen Kuss von Fremden, die die Umstände zu Schwestern machen,
dann war sie fort.
Eigon verzog das Gesicht. Sie hatte im Garten unter
einem Feigenbaum schon einen Winkel gefunden, an dem sie sich
verstecken konnte. Sie hatte keine Lust, unterrichtet zu werden,
zumal nicht von einem Druiden. Sie kannte Druiden nur als freudlos,
streng und angsteinflößend. Druiden sprachen mit ihrem Vater,
dienten ihm als Berater und Gefährten. Mit ihr hatten sie sich nie
abgegeben, und daran sollte sich auch nichts ändern. Wenn der
Druide kommen sollte, würde sie verschwunden sein.
Natürlich fand er sie sofort. Er war von
durchschnittlicher Größe, nicht mehr ganz jung, und trug die
schlichte braune Robe eines Hausdieners. Zu Eigons Entsetzen hatte
Caradoc sofort eingewilligt, ihn in seinem Haushalt aufzunehmen. Er
hatte bereits von Pomponia Graecina gehört, sie war wegen ihrer
starken Persönlichkeit allgemein bekannt. Er glaubte nicht, dass
ein Mann, der von ihr kam, sie in Gefahr bringen konnte. Und so
fand sich Melinus am folgenden Tag in der Villa ein und stand
innerhalb kürzester Zeit im Garten, um seinen Schützling zu
suchen.
»Ich sehe den kleinen Sperling, der sich im Busch
versteckt«, sagte er leise. Er stand mit dem Rücken zu ihr. »Er
plustert seine Federn vor der Kälte auf, aber die verbergen ihn
nicht. Komm, kleiner Vogel, ich möchte dich sehen.«
Eigon hielt mucksmäuschenstill. Er drehte sich um
und sah sie direkt an. Sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen war
freundlich und von tiefen Falten durchzogen, die
Brauen über seinen leuchtend blauen Augen hatten die Farbe von
Sand. »Komm, Kind. Lass uns keine Zeit verlieren.« Er winkte ihr,
und sie glaubte, den Zug seiner Finger zu fühlen, als berührten sie
ihren Umhang. Mit einem kleinen Aufschrei verkroch sie sich noch
tiefer hinter den knorrigen Baumstamm, aber sie spürte, wie er sie
herauszog, als läge seine Hand um ihren Nacken. Sie konnte sich dem
Zug nicht widersetzen und trat wider Willen ins Sonnenlicht, strich
sich verschämt die Blätter von den Schultern. Er lächelte, und sie
erwiderte das Lächeln. Seine Augen waren so blau wie der Himmel zu
Hause, so blau wie die Augen ihres Vaters, sein Haar war silbern
wie reifender Hafer. »Jetzt zeigt sich die widerwillige Schülerin
also doch.« Er setzte sich auf den Stuhl ihrer Mutter am
Wasserbecken. Der Zug an ihrem Umhang war fort, nichts zwang sie
mehr zu bleiben, doch wie gebannt trat sie näher. Sie bemerkte die
verblassten blauen Tätowierungen auf seinem Gesicht, die
Lachfältchen um seine Augen, das Haar, das ihm in die Stirn fiel.
Zu Hause rasierten sich die Druiden oft den vorderen Teil des
Schädels, sie trugen Roben und hatten einen Stab, der ihren Status
unterstrich. Vielleicht war er ja gar kein richtiger Druide. Der
Gedanke beruhigte sie ein wenig. Die Druiden ihres Vaters waren
immer zu sehr mit dem Krieg beschäftigt gewesen, um auf ein
kleines, wissbegieriges Kind wie sie zu achten, aber ihr Verhalten
hatte sie immer verschreckt. Fasziniert trat sie näher. Er bewegte
sich nicht, ließ sie nach ihrem Gutdünken näher kommen. Vertrauen
brauchte seine Zeit. Ihm war noch nicht klar, dass dieses Kind
keine Zeit brauchte. Eigon fällte ihr Urteil über einen Menschen
sehr schnell. In den verstörenden Monaten, die seit der Niederlage
ihres Vaters vergangen waren, hatte sie gelernt, Männern zu
misstrauen, doch bei diesem Mann wusste sie instinktiv, dass sie
ihm ihr Leben anvertrauen konnte.
Und als sie auf ihn zuging und ihre Hände in seine legte, spürte
sie in einem verborgenen Teil ihrer selbst bereits, dass er nicht
nur ihr Lehrer sein würde, sondern auch ihr Freund.
Jess riss die Augen auf und sah sich im Zimmer um.
Draußen graute der Morgen. Sie hatte Kopfschmerzen, die Laken waren
viel zu warm und unangenehm auf der Haut. Matt setzte sie sich auf.
Aufgewühlt, wie sie war, brauchte sie gar nicht zu versuchen,
wieder einzuschlafen. Sie hatte einen trockenen Mund, die Augen
brannten vor Müdigkeit. Sie stand auf, öffnete die halb
geschlossenen Fensterläden und schaute in die kühle Morgendämmerung
hinaus. Im schattigen Hof saß eine Taube auf dem Brunnen und
plusterte die Federn in der Gischt der Fontäne. Jess sah dem Vogel
zu, der sein Bad offenkundig genoss, ehe er davonhüpfte, sich
schüttelte und auf dem Rand des Beckens niederließ, um sich zu
putzen.
Im Schatten einer der ordentlich gestutzten
Buchsbaumhecken, die die Beete um den Brunnen begrenzten, bewegte
sich etwas. Angespannt und mit zusammengekniffenen Augen schaute
Jess nach unten. Es war eine Katze, die langsam vorwärtskroch, die
Muskeln angespannt, der ganze Körper sprungbereit; sie setzte jede
Pfote so vorsichtig und leise auf, dass Jess kurz zweifelte, ob sie
sich überhaupt bewegte. Ohne sich irgendeiner Gefahr bewusst zu
sein, machte sich die Taube mit Hingabe daran, den zweiten Flügel
zu putzen, die schillernd changierenden Farben an ihrem Hals fingen
die ersten Lichtstrahlen ein, die in die Mitte des Hofs fielen.
Jess war zu weit weg, um etwas tun zu können. Jeden Moment würde
die Katze zuschlagen.
»Nein!« Jess war sich nicht bewusst, laut geschrien
zu haben, bis der Ruf an ihre Ohren drang. Sie beugte sich
weit zum Fenster hinaus. »He!«, rief sie und klatschte in die
Hände. Das Geräusch hallte wie ein Pistolenschuss an den Mauern des
Palazzo wider. Erschreckt flatterte die Taube auf, flog in weiten
Spiralen in die Höhe und über die Dächer außer Sichtweite.
Als Jess wieder nach unten zur Katze schaute, war
sie verschwunden.
Die anderen saßen schon bei einem Kaffee und
panini in der Küche, als Jess schließlich zum Frühstück
erschien. Als Erstes sah sie sich im Raum um.
»Wo ist Daniel?«
»Er ist gefahren.« Kim stand auf und zog für Jess
einen Stuhl unter dem Tisch vor. »Nach England. Nat hat angerufen,
irgendetwas mit den Kindern.« Sie warf einen kurzen Blick zu
William. Er strich sich gerade Butter auf ein Brötchen und schaute
nicht auf.
Jess setzte sich und schenkte sich Kaffee ein. »Na,
ich kann nicht behaupten, dass es mir leidtäte.« Sie seufzte. Nach
der schlaflosen Nacht und dem frühen Aufwachen war ihr Gesicht
blass, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihre unendliche
Erleichterung über Daniels Abreise bekam einen Dämpfer, als sie
sich der Atmosphäre am Tisch bewusst wurde. Sie blickte in die
Runde. »Was ist los?«
Steph zuckte mit den Achseln. »Nichts. Was hast du
heute vor?«
»Ich mache mit meinen Nachforschungen weiter.« Jess
griff nach der Schale mit selbst gemachter Marmelade und gab sich
einen Löffel auf den Teller. »Ich weiß, es klingt blöd, aber ich
habe letzte Nacht wieder von Eigon geträumt, und ich sehe den Teil
der Stadt, wo sie gewohnt hat, genau vor mir. Ihre Villa lag ganz
oben auf einem Hügel mit Blick auf Rom. Ich nehme meinen
Skizzenblock und die Kamera
mit und laufe ein bisschen durch die Gegend. Vielleicht bekomme
ich ein Gespür für die Topographie.«
»Adriano hatte viele alte Bücher über Rom«, sagte
Kim und schenkte sich Kaffee nach. »Warum schaust du dich nicht mal
in der Bibliothek um? Vielleicht helfen dir die alten Landkarten ja
weiter.« Sie sah zu William. »Magst du Jess nicht begleiten? Steph
und ich wollen heute Vormittag lauter Sachen machen, die nur für
Mädels interessant sind - Einkaufen und derlei.«
William verzog das Gesicht. »Ich habe schon was
vor, danke. Es sei denn, du möchtest einen Begleiter?« Der Blick,
den er auf Jess richtete, war alles andere als erfreut.
Errötend schüttelte sie den Kopf. »Nicht nötig. Ich
bin lieber allein unterwegs.«
»Also, das war ja nicht gerade feinfühlig!«, fuhr
Kim William an, nachdem Jess aus der Küche gestürzt war, kaum hatte
sie ein halbes Brötchen gegessen.
»Ich bin nicht ihr Aufpasser!«, antwortete
William.
»Das will sie auch gar nicht«, sagte Steph langsam.
»Was ist bloß los mit euch beiden? Warum benehmt ihr euch so
sonderbar? Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
William schüttelte unwillig den Kopf. »Bevor Daniel
gefahren ist, hat er ein paar ziemlich abschätzige Bemerkungen über
Jess gemacht. Ich weiß nicht, ob sie stimmen, und es ist mir auch
egal, aber ich bin nicht dafür da, geschundene Seelen zu flicken.«
Er schob seinen Stuhl zurück und trug sein Frühstücksgeschirr zum
Spülbecken, ohne auf Kim zu achten, die ihn wütend
anfunkelte.
Steph wandte sich zu ihr. »Jetzt sag schon, was ist
denn los?«
»Daniel hat gesagt, sie habe ihn angemacht, nachdem
wir uns getrennt haben«, antwortete William an ihrer statt. »Er
sagt, sie sei ziemlich durchgedreht.«
Kim schnaubte verächtlich und begann, den Tisch
abzuräumen.
»Das hat Daniel gesagt?« Stephs Augen verengten
sich. »Findest du, dass das nach Jess klingt?«
»Nein.« Williams einsilbige Antwort verlor sich
fast, als er zur Tür ging. »Nein, das tut’s nicht.« Zehn Minuten
später hörten die beiden Frauen, wie die Wohnungstür hinter ihm ins
Schloss fiel. Sie schauten sich an.
»Also, was ist denn wirklich los?«, fragte Kim. Sie
holte ihren Geldbeutel und nahm eine Tasche vom Haken an der
Tür.
Steph machte eine ausweichende Geste. »Daniel und
Jess haben sich gestritten. Es war mehr als ein Streit, eher schon
eine handfeste Auseinandersetzung. William ist gekränkt. Jess
geht’s besser, weil Daniel nicht mehr da ist.« Sie machte eine
kurze Pause. »Reicht das als Erklärung?«
»Also nichts als verletzte männliche Eitelkeit
rundum.« Achselzuckend ging Kim ihrer Freundin voran zur Wohnung
hinaus und die breite Marmortreppe hinunter zur Haustür. Dann
traten sie ins helle Sonnenlicht und schlenderten die Straße
entlang.
Hinter den beiden Frauen tauchte eine Gestalt aus
der Menge auf und sah ihnen nach, bis sie außer Sichtweite
verschwanden. Daniel schaute zu den Fenstern der Wohnung hinauf. In
dem grellen Licht verengten sich seine goldbraunen Augen. Er
lächelte kalt. Jetzt waren alle außer Jess fort. Wenn sie erschien,
würde sie allein sein, und er würde da sein, um sie zu
empfangen.
Jess saß über ein Buch gebeugt in Adrianos
Bibliothek und fuhr mit dem Finger über die Details einer kunstvoll
gearbeiteten Radierung. Adriano hatte sein Leben lang Bücher
gesammelt wie schon sein Vater vor ihm. Es mussten Tausende
von Bänden sein, die in diesem bis an die Decke mit Regalen
vollgestellten Raum lagerten, in dem sich auch ein wunderschöner
runder, mit Leder bezogener Lesetisch und eine antike Büchertreppe
befanden. Wenn sie Caratacus’ Villa finden würde, dann mit Hilfe
von Informationen, die sie irgendwo in diesem Zimmer bekam. Sie
schaute auf. Die Fensterläden waren geschlossen, um die ledernen
Einbände vor der Sonne zu schützen, aber durch die Schlitze fielen
einzelne Strahlen, in denen Staubpartikel tanzten. Der ganze Raum
roch nach Staub und Alter. Jess schaute auf die braunen, etwas
fleckigen Seiten des Buches, das vor ihr auf dem Tisch lag, und
schüttelte verärgert den Kopf. Das nützte doch alles nichts. Eigon
hatte vor fast zweitausend Jahren gelebt! Warum wollte ihr diese
Zeitspanne nicht endlich in den Kopf? Also noch vor dem Bau des
Kolosseums. Da würde ihr keines von Adrianos Geschichtsbüchern
weiterhelfen. Nichts würde ihr weiterhelfen. Wieso hatte sie
geglaubt, sie könnte etwas finden? Es gab einen Grund, warum
niemand das weitere Schicksal Caratacus’ und seiner Familie
erwähnte: weil niemand es kannte. Und niemand kannte es, weil es
niemanden interessiert hatte. Ihr Schicksal tat nichts zur Sache.
Nachdem er einmal besiegt und nach Rom gebracht worden war, hatten
die römischen Historiker ihr Interesse an ihm verloren. Das
Einzige, was noch kurz ihre Aufmerksamkeit gebannt hatte, war
Claudius’ außergewöhnliche, aber natürlich eigennützige Geste, ihr
Leben zu schonen.
Jess holte einen weiteren schweren Band aus dem
Regal, und dann noch einen. Sie waren zwar alle auf Italienisch,
aber um das Register durchzusehen, genügten ihre Sprachkenntnisse.
Nichts. Sie ging weiter suchend die Regale ab, bis ihr ein Name ins
Auge fiel: Gibbon. Verfall und Untergang des Römischen
Reiches. Das war zumindest auf Englisch
und könnte etwas zu ihrem Thema enthalten. Mit neuem Schwung zog
sie die Büchertreppe herüber und holte den ersten Band
herunter.
Sie beugte sich über die eng bedruckten Seiten mit
ihrer eleganten, aber schwer entzifferbaren Schrift. Das war eine
Erstausgabe! Sie sah im Inhaltsverzeichnis nach, schlug ein Kapitel
auf, das von Britannien handelte, und begann zu lesen: »Vor dem
Verlust seiner Freiheit war Britannien höchst ungleich unter
dreißig Barbarenstämme aufgeteilt …« Sie überflog die nächsten
Zeilen, weiter unten erwähnte Gibbon neben verschiedenen Stämmen
auch die Silurer in Südwales. An der Stelle las sie weiter: »Soweit
wir die Ähnlichkeiten von Sprache und Brauchtum zurückverfolgen und
ihnen Glauben schenken können, waren Spanien, Gallien und
Britannien von ein und derselben Rasse von verwegenen Barbaren
besiedelt.« Sie lächelte amüsiert und schloss das Buch wieder, um
im letzten Band im Register nachzusehen. Aber auch dort wurde
Caratacus nicht erwähnt, zumindest nicht, soweit sie das
feststellen konnte. Die Geschichte war selbst für Gibbon zu früh.
Wenn Caratacus geflohen und irgendwie nach Britannien zurückgekehrt
wäre, wenn er einen weiteren Versuch unternommen hätte, sein Volk
zu befreien, hätte Tacitus oder der spätere römische Historiker Dio
Cassius das irgendwo erwähnt. Das taten sie nicht, ebenso wenig wie
Gibbon.
Enttäuscht starrte sie auf den Tisch, ohne etwas
wahrzunehmen. Wo konnte sie jetzt noch nachsehen? Adriano hatte
eine lateinische Ausgabe von Tacitus’ Annalen, die hatte sie
gleich gefunden und darin geblättert, aber noch nicht zurückgelegt.
Das Buch war wunderschön gebunden. Vorsichtig öffnete sie es in der
Hoffnung, beim ersten Mal etwas überlesen zu haben, dann hielt sie
abrupt inne. Einen triftigen Grund könnte es natürlich geben,
weshalb niemand
Caratacus erwähnte: Vielleicht war er gestorben. Das würde alles
erklären. Im ersten Herbst, den sie in Italien verbrachten, war er
krank. Das hatte Eigon erzählt, und Eigon war jetzt ihre einzige
Informationsquelle. Nachdenklich zog Jess die Stirn kraus. Er hatte
an einem Fieber gelitten, das ständig wiederkehrte. Malaria? Hatte
der Krieger aus den feuchten, kalten Festungen in England und Wales
die entsetzlichen Wunden der letzten Schlacht überlebt, nur um dem
Fluch der Pontinischen Sümpfe zu erliegen? War er gleich in seinem
ersten Jahr in Rom gestorben? Jess schloss das Buch und stand auf.
Die Frage konnte nur ein Mensch beantworten. Eigon.
Sorgsam stellte sie die Bücher an ihren jeweiligen
Platz in den Regalen zurück und verließ die Bibliothek. »Steph?
Kim?«
Sie bekam keine Antwort. Sie warf einen Blick in
den Salon und ins Esszimmer, wo die Fensterläden geschlossen waren
und es nach sommerlicher Schläfrigkeit roch. Kims behagliches
Wohnzimmer, in dem Blumen standen und wo die Fenster wie in Jessʹ
Zimmer auf den ruhigen Innenhof des Palazzo hinausgingen, war
verwaist. Ebenso die Küche. Wo waren sie alle? Im Gang sah sie zu
den Schlafzimmertüren, die alle offen standen. Nichts war zu hören
außer ihren eigenen Schritten auf den polierten Dielen. »William?«
Offenbar waren die anderen ohne sie ausgegangen. Einen Moment war
sie gekränkt, dann verzog sie das Gesicht. Selbst schuld! Was war
sie auch so besessen gewesen. Wahrscheinlich hatten die anderen
nach ihr gerufen und ihr gesagt, wohin sie gingen, aber vertieft,
wie sie in ihre Bücher gewesen war, hatte sie nichts mitbekommen.
Sie warf einen Blick zur Wohnungstür. Sie hatte zwei Möglichkeiten.
Sie konnte nach draußen gehen und denselben Weg nehmen wie gestern,
nur dass sie dieses Mal auf das Ansteigen
und Abfallen der Straßen achten würde, auf Treppen, auf alles, was
auf einen antiken Hügel hinweisen könnte. Oder sie konnte zu Eigon
zurückkehren. Den nächsten Teil ihrer Geschichte hören. Jess
zögerte. Es war sehr verlockend, nach draußen zu gehen. Sie hatte
Stunden in der dämmrigen Bibliothek verbracht. Plötzlich wollte sie
nichts so sehr, wie in die Sonne und den Trubel der belebten
Straßen einzutauchen.