Kapitel 22
Eigon ließ Flavius ins Atrium rufen. »Wann wollte Julia zurückkommen?« Draußen war es dunkel, vom Norden trieben schwarze Gewitterwolken über die Stadt. Normalerweise dachte Eigon nicht über Julias Kommen und Gehen nach, sie hatte zu viele andere Dinge im Kopf, aber an diesem Tag machte sie sich Sorgen.
»Das hat sie nicht gesagt.« Verlegen trat Flavius von einem Fuß auf den anderen. »Sie war wütend, weil ich sie nicht begleitet habe. Wir haben uns gestritten.«
»Dann schicke einen Boten zu ihrer Tante. Vielleicht hat sie beschlossen, wegen des schlechten Wetters bei ihr zu bleiben. Allerdings hätte sie daran denken können, uns das ausrichten zu lassen.« Eigon seufzte. Den ganzen Nachmittag war der Strom von Männern und Frauen, die sich am Tor einfanden und um ihre Hilfe baten, nicht abgerissen. Eigon hatte endlos Wunden verbunden, hatte Kräutertabletten und Heiltränke verabreicht und Ratschläge erteilt. Seit Melinus’ Tod arbeitete sie allein in der Kräuterkammer, und erst jetzt stellte sie allmählich fest, wie vielen Menschen er trotz seiner barschen Art doch geholfen hatte. Erschöpft ging sie durch das Atrium zum Wasserteich, in den sich der Regen aus den Rinnen ergoss. Das beständige Plätschern beruhigte sie ein wenig.
Flavius kehrte kurz darauf zurück, Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er wusste, dass es verkehrt gewesen war, Julia ohne ausreichende Begleitung aus dem Haus zu lassen, und er hatte sich nicht nur Sorgen um sie gemacht, sondern auch ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. »Ihre Sänfte ist zurückgekehrt mit der Nachricht, dass Julia die Nacht über ausbleibt.«
»Gut! Wenigstens hat sie den Anstand besessen, uns das wissen zu lassen.« Verärgert schüttelte Eigon den Kopf. »Dann sag den Köchen, dass sie das Abendessen auftragen können. Ich erkundige mich, ob Papa aufstehen und sich zu uns setzen kann oder ob er es in seinem Zimmer serviert haben möchte.«
Antonia saß bei Caradoc. Er wirkte lebhaft wie schon lange nicht mehr. »Diese reizende junge Dame hat mich unterhalten, damit deine Mutter eine wohlverdiente Pause bekommt, Eigon«, sagte er, als seine Tochter erschien. »Natürlich wollte sie eigentlich dich besuchen, aber du warst so beschäftigt, also habe ich sie festgehalten.« Er tätschelte Antonia die Hand.
Als alle sich im Esszimmer einfanden, gesellte sich auch Cerys zu ihnen. Die Sklaven trugen die Speisen auf, und alle ließen sich auf den Liegen nieder. Cerys stieß sich offenbar nicht an dem Umstand, dass das Mädchen, dessen Gesellschaft ihrem Gemahl derart großes Vergnügen bereitete, die Schwester des jungen Mannes war, mit dem sie Eigon jeden Umgang verboten hatte.
Caradocs Wangen hatten eine gesunde Farbe, er aß mit Appetit und unterhielt sich während des Essens angeregt mit den drei Frauen. »Ich sehe, dass die Gespräche mit Petrus Euch gutgetan haben, Herr.« Antonia lächelte warmherzig. »Ich habe gehört, dass Ihr Euch nicht taufen lassen wollt, aber Ihr müsst zugeben, dass Jesus ein großartiger Heiler ist.«
Caradoc nickte bedächtig. »Da gebe ich dir Recht, Kind. Das ist er in der Tat, und Petrus hatte unseren Melinus für seine Sache gewonnen.« Einen Moment herrschte bedrücktes Schweigen.
»Hast du Petrus erlebt, Mama?«, fragte Eigon, um die Gesprächspause zu füllen.
Cerys schüttelte den Kopf. »Ich bete zu keinen anderen Göttern als den meinen.« Sie umfasste die Hand ihres Mannes. »Ebenso wenig wie mein Gemahl. Allein der Gedanke! Und ich hoffe, du auch nicht.« Aus schmalen Augen warf sie Eigon einen Blick zu.
»Mama!« Eigon errötete. »Das ist nicht höflich unserem Gast gegenüber.«
»Keineswegs.« Cerys warf Antonia ein mattes Lächeln zu. »Antonia weiß, dass ich sie sehr liebe. Aber das heißt nicht, dass ich ihren Gott zu lieben brauche. Er hat seinen Anhängern und meinem lieben Melinus nichts als Probleme bereitet.« Sie seufzte.
»Melinus war kein Christ, Herrin Cerys«, stellte Antonia leise richtig. »Das war nicht der Grund, weshalb er festgenommen wurde.« Bekümmert ließ sie die Schultern hängen.
Eigon warf einen Blick zu dem Sklaven, der bereitstand, den Tisch abzuräumen, und nickte kurz. Er war noch sehr jung und schmal, kaum mehr als ein Junge, und hatte wache Augen und einen etwas krummen Mund, der sich oft zu einem Lächeln verzog. Sofort kam er zum Tisch und stellte klappernd das Geschirr zusammen. Amüsiert schaute sie zu ihm. Es war eindeutig, dass er das Gespräch verfolgt und beschlossen hatte, die Anwesenden auf andere Gedanken zu bringen. »Bitte bring jetzt das Obst, Silas.« Sie fing seinen Blick auf. »Und noch Wein für meinen Vater.« Ihr war der Junge schon mehrmals aufgefallen. Sie mochte ihn. Sie durfte nicht vergessen, Aelius zu sagen, dass er ihm mehr Verantwortung übertragen sollte.
Ihre Gedanken wurden von einem markerschütternden Schrei aus dem Hof unterbrochen. Bestürzt sahen alle sich an. Caradoc setzte sich abrupt auf. »Was war das?«
»Warte, Vater, ich schaue nach.« Erschreckt lief Eigon zur Tür. Aelius stand mit drei Haussklaven im Atrium, zwei von ihnen waren tropfnass vom Regen. Aelius drehte sich zu ihr, sein Gesicht war leichenblass.
Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus.
»Was ist los?« Caradoc trat hinter seiner Tochter in die Tür, stützte sich leicht am Rahmen ab. »Was ist passiert?«
Kopfschüttelnd schlug Aelius die Hände vors Gesicht, er wurde von Schluchzern geschüttelt.
Eigon lief zu ihm und packte ihn am Arm. »Was ist? Sag’s uns!«
»Die Herrin Julia«, sagte einer der Sklaven kaum hörbar. »Ich bin Brennholz holen gegangen und habe sie an der Mauer gefunden. Sie sah aus, als würde sie schlafen.«
Eigon gefror das Blut in den Adern. Entsetzt schaute sie zwischen dem Sklaven und Aelius hin und her. »Wo ist sie? Ich will sie sehen.«
»Nein, Herrin!« Der Sklave schüttelte den Kopf. »Nein, das solltet Ihr nicht.«
»Aber mir wirst du sie zeigen.« Caradocs Stimme war fest. Auf unsicheren Beinen trat er vor. »Jetzt sofort, Aelius.«
Der Regen prasselte auf den Hof, dicke Tropfen fielen klatschend auf die Pflastersteine und verwandelten den Staub in schlammige Rinnsale. Die Fackeln, mit denen die Sklaven dem König und Eigon den Weg wiesen, loderten zischend auf. Am Tor zur Straße lag eine dunkle, in bunt gemusterte Decken gehüllte Gestalt. Die Ecke über Julias Kopf war zurückgeschlagen. Sie sah friedlich aus, hatte keine Verletzungen im Gesicht, der Regen hatte ihr das Haar aus der Stirn gewaschen. Mit zitternden Händen zog Eigon die Decke zurück. Die Schnittwunde an Julias Hals war sauber, alles Blut war vom Regen fortgespült. Die Kehle war fast bis auf den Knochen durchtrennt, sie war nackt bis auf die Decke und ein Dutzend Goldspangen um die Arme, die gekreuzt über ihrer Brust lagen. Mit einem kleinen Aufschrei wandte Eigon sich ab. Es war ihr Vater, der den Befehl erteilte, Julia ins Haus zu tragen und in ein Nebenzimmer zu legen. Dann ging er ins Atrium und ließ den ganzen Haushalt zusammenrufen.
»Ich will wissen, wer das getan hat und weshalb.« Sein Gesicht war grimmig entschlossen, er war wieder der Krieger und König, der er vor seiner Krankheit gewesen war. »Diebe lassen ihre Opfer nicht mit mehr Gold liegen, als sie ihnen abgenommen haben. Sie wählen kein keltisches Gold und wickeln die Leiche in keine keltische Decke, wenn sie nicht einen triftigen Grund dafür haben.«
Eigon waren die kunstvolle Schmiedearbeit der Armreifen und das Karomuster der Decke gar nicht aufgefallen. Beeindruckt, dass ihr Vater diese Details sofort bemerkt und seine Schlussfolgerungen daraus gezogen hatte, schaute sie zu ihrer Mutter. Wieder hatten sie die Botschaft bekommen, dass niemand in diesem Haus sicher war. Die Menschen, die ihr am nächsten standen. Die Menschen, die sie liebte. Verzweifelt unterdrückte sie die Tränen und tat ihr Bestes, sich an der Stärke ihres Vaters ein Beispiel zu nehmen. Ihre Mutter war vor Schock wie erstarrt und weigerte sich zu begreifen, was passiert war. Aber sie musste es wissen, sie musste ebenso wie Eigon erkannt haben, dass dies eine Botschaft von Titus Marcus Olivinus war.
»Mama …«
»Nein!« Wütend wirbelte Cerys zu ihr herum. »Nein! Untersteh dich, ein Wort zu sagen, Eigon. Hast du mich verstanden? Dieses Mädchen war hemmungslos. Sie war töricht, sie hat sich aufgeführt wie eine Schlampe! Sie wollte es nicht anders!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürzte in ihre Privaträume.
Entsetzt starrten alle ihr nach. »Es tut mir leid, Eigon«, sagte Caradoc langsam. »Deine Mutter ist von Grauen überwältigt. Sie täuscht sich. Niemand hat so etwas verdient. Niemand, und schon gar nicht die kleine Julia. Ich weiß nicht, wie wir das Pomponia Graecina sagen sollen.«
 
»Jess!« Jemand schüttelte sie am Arm. »Jess, wach auf. Sofort!«
Mit einem Schaudern kehrte Jess in die Realität zurück und sah, dass William neben ihr stand. Sie waren allein auf der Dachterrasse.
»Jess, du musst damit aufhören. Es hilft dir nicht, in deine kleine Privatwelt abzutauchen«, sagte er sanft. »Komm mit mir nach England zurück. Wie fahren zu meinen Eltern nach Cornwall. Wenn mich nicht alles täuscht, weiß Daniel nichts von ihnen, und wenn doch, wird es ihm schwerfallen, da in deine Nähe zu kommen. Du weißt ja, in dem kleinen Dorf, in dem sie leben, kennt jeder jeden. Wenn ein Fremder auftaucht, macht das sofort die Runde.«
»Ich kann mich nicht den Rest meines Lebens verstecken, William.«
»Das sage ich ja auch gar nicht. Aber momentan wäre es vielleicht ganz gut. Bis uns ein besserer Plan einfällt.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Ich darf nicht zulassen, dass Daniel dir noch mehr wehtut, Jess.«
Einen langen Moment sahen sie sich an, dann beugte er sich etwas vor und gab ihr sacht einen Kuss auf die Lippen. Abrupt fuhr sie zurück. »Nein! Nicht, William! Es tut mir leid, ich ertrage es einfach nicht, wenn jemand mich berührt. Noch nicht.« Sie schauderte. »O mein Gott!« Sie vergrub das Gesicht in den Händen.
»Das kann ich verstehen.« Er trat einige Schritte von ihr fort. »Das war nicht besonders einfühlsam von mir. Aber bitte überleg dir meinen Vorschlag, Jess. Bitte. Du brauchst Hilfe.«
»William, Daniel hat schon einmal versucht, dich umzubringen!«
»Nein, das glaube ich nicht. Wenn er das gewollt hätte, hätte er’s ja problemlos tun können, nachdem er mir diese K.-o.-Tropfen eingeflößt hatte.«
»Beim nächsten Mal kann er sich vielleicht nicht mehr zurückhalten.« Sie ging an ihm vorbei in die Wohnung, wo Kim, Steph und Carmella standen und besorgt zu ihr und William auf die Terrasse schauten.
»Jess …?«, fragte Kim.
Jess schüttelte den Kopf. »Nein! Bitte lasst mich in Ruhe.« Sie lief ins Bad, schloss die Tür hinter sich ab und kauerte sich schluchzend auf dem Boden zusammen.
 
»Mama, du musst mir zuhören!« Eigon fing ihre Mutter im Esszimmer ab, wo Cerys die Sklaven dabei beaufsichtigte, das Geschirr in einen Schrank zu räumen.
Cerys fuhr zusammen und drehte sich mit verweintem Gesicht zu ihrer Tochter um. »Eigon, dein Vater ist krank. Nachdem Pomponia Graecina und Aulus Plautius mit Julias Leichnam das Haus verlassen haben, ist er zusammengebrochen.«
Eigon wandte sich zur Tür. »Ich schaue nach ihm.«
»Lass ihn in Ruhe. Er schläft.« Cerys seufzte. »Ohne Melinus gibt es für ihn keine Hoffnung mehr.« Sie hatte die Arme um sich geschlungen, eine Träne lief ihr über die Wange. Die Sklaven tauschten einen Blick und zogen sich lautlos in die Küche zurück.
»Mama, ich kann ihn behandeln«, sagte Eigon. »Das weißt du doch. Ich habe die Medizin, die er braucht, Melinus hat mir gezeigt, wie man sie zubereitet. Und wir können Petrus bitten, noch einmal mit ihm zu beten. Ich weiß«, ergänzte sie hastig, als sie Cerys’ abweisenden Blick bemerkte, »ich weiß, du hältst nichts von ihm, aber sein Jesus hat wirklich große Macht. Und Papa mag Petrus, er vertraut ihm.« Ungehalten schüttelte sie den Kopf. Immer wich ihre Mutter ihr aus. Jedes Mal, wenn sie versuchte, mit ihr über Petrus und die Christen zu reden, wechselte sie das Thema, und auf dieselbe Art wich sie auch jedem Gespräch über Titus aus. Eigon schauderte. Vielleicht hatte ihre Mutter ja Recht. Was konnten sie schon groß bewirken? Titus’ Grausamkeit war grenzenlos. Sie würden ihm nie entkommen. Er lauerte als unsichtbarer Feind im Schatten und wartete, bis er sie, Eigon, eines Tages allein antreffen würde.
 
»Sag’s ihr«, flüsterte Jess. »Besteh darauf. Lass dich von ihr nicht abwimmeln. Die Gefahr für dich ist viel zu groß. Du brauchst Hilfe.«
Eigon drehte sich um, sah suchend durch den Raum und runzelte die Stirn. »Hörst du mich?« Jess setzte sich auf. »Eigon?«
»Jess!« Williams Stimme drang durch die Tür zu ihr. »Jess, mach auf. Ich muss mit dir reden.«
»Nein!« Jess schüttelte den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Eigon zu. »Sag deiner Mutter, dass er skrupellos ist. Es nützt dir nichts, so zu tun, als gäbe es ihn nicht!«
Eigon war blass geworden und fasste sich an den Kopf. »Lass mich in Ruhe!« Verwirrt sah sie sich um.
»Sag’s ihr!«, rief Jess. »Wenn du es ihr nicht sagst, bringt er dich um.«
»Jess!« William hämmerte gegen die Tür. »Mit wem redest du da? Mach auf!«
»Nein! Geh weg, William!«
Sie konnte Eigon noch sehen, aber ihre Gestalt war vager geworden, sie verblasste. Wütend stand sie auf und öffnete die Tür. »Du Idiot! Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen! Jetzt ist sie weg.« Mit Tränen in den Augen sah sie sich im Bad um. »Ich kann sie nicht mehr sehen.«
»Du kannst sie nicht mehr sehen, weil sie nicht da ist, Jess.« William fasste sie sanft am Arm. »Beruhige dich und komm ins Wohnzimmer. Carmella macht uns gerade einen Kaffee. Komm und setz dich.«
»William?« Steph erschien hinter ihm. »Ich rede mal mit ihr. Jess, jetzt komm. William hat Recht. Sie ist weg. Du kannst nichts tun.«
»Ihr versteht das alles nicht.« Trotzig zuckte Jess mit den Schultern. »Keiner von euch versteht, worum es eigentlich geht. Ich bin die Einzige, die ihr helfen kann.«
»Jess, du kannst ihr nicht helfen, das ist ja genau der Punkt.« Steph legte ihr einen Arm um die Schultern, führte sie zum Sofa und zwang sie mit sanftem Druck, sich zu setzen. »Jetzt beruhige dich ein bisschen. Wenn du wieder vernünftig denken kannst, wird dir klar, dass es Unsinn ist. Du kannst niemandem helfen. Du kannst nicht mit Eigon sprechen.«
»Warum nicht?« Carmella trat in die Tür, die zur Küche führte. In der Hand hatte sie eine große Caffettiera, die sie auf den Tisch stellte. »Natürlich kann sie mit Eigon sprechen.«
»Aber sie kann das, was passiert, nicht beeinflussen!«, beharrte Steph. »Sie kann doch das, was in der Vergangenheit passiert ist, nicht ändern!« Vorwurfsvoll schaute sie zu Carmella.
»Ich kann sie warnen«, sagte Jess. »Ich bin davon überzeugt, dass ich sie warnen kann. Sie hat mich gehört, sie hat gewusst, dass ich da war.«
William setzte sich neben sie. »Jess, Liebes, bitte hör doch auf uns.«
»Nenn mich nicht Liebes!«, fuhr Jess auf. »Lass mich in Ruhe. Lasst mich alle einfach in Ruhe!« Sie sprang auf und floh in Carmellas Schlafzimmer.
Carmella folgte ihr und schloss die Tür hinter ihnen. »Sie verstehen das nicht, Jess. Das ist nur natürlich. Aber du musst vorsichtig sein. Bitte mach nichts, ohne dass ich dabei bin. Ich kann dir zumindest Rückendeckung geben.« Sie lächelte entschuldigend. »Hier glaubt jeder etwas anderes. Steph hat deine Eigon selbst gesehen, will aber trotzdem nicht so recht an die ganze Sache glauben. William ist hin-und hergerissen. Kim sieht das Ganze als spannende Unterhaltung, mehr nicht. Wir, du und ich, wissen, dass es real ist. Aber wir wissen auch, dass es gefährlich ist. Wenn du meinen Rat nicht annehmen willst und aufhörst, an sie zu denken, dann müssen wir zumindest ein paar Regeln befolgen und uns absichern, einverstanden?«
Jess schaute sich ein paar Sekunden im Spiegel an, dann griff sie nach Carmellas Kamm und fuhr sich durchs Haar. Ihr Gesicht war sehr blass. »Momentan geht’s uns dick ein, Eigon. Dir und mir«, murmelte sie. Sie beugte sich weiter vor und kniff die Augen zusammen. Das zweite Gesicht, das sie im Spiegel sah, war eher vage. Sie drehte sich um. Es war, als würde sie durch eine Art Glaswand in ein anderes Zimmer blicken. Sie sah Eigon an ihrer Werkbank stehen, wie sie einen Kräutersud zubereitete und achtsam heißes Wasser in die Schale goss. Sie sah das kleine Kohlebecken und den Topf, in dem Eigon das Wasser erhitzt hatte, die Regale mit den Flaschen, Krügen und Kästchen an der Wand hinter ihr, die ordentlich aufgereihten Sonden und Pinzetten, das kleine Skalpell, eine Schüssel, die offenbar Moos enthielt, einen Stapel sorgsam gefalteter Leinenbinden. Von der Decke hing über ihr ein Kräuterbündel.
»Eigon? Hörst du mich?«, fragte sie im Flüsterton.
Eigon schaute auf und zog die Stirn kraus. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
»Ich habe auch Schwierigkeiten.« Jess warf einen Blick zur Tür, sie flüsterte immer noch. »Titus steckt jetzt in Daniels Kopf. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Sie brach ab. Eigon hatte sich vom Tisch abgewandt, schaute aber nicht zu ihr, sondern zur Tür. Die ging auf, und ein alter Mann trat herein. Jess stockte der Atem. Der Anführer der Christen in Rom. Petrus.
Der heilige Petrus.
»Wie geht es ihm?«, fragte Eigon. Tränen standen ihr in den Augen.
»Sein Herz ist schwach, Eigon.« Petrus schüttelte den Kopf.
»Kann Jesus ihn nicht heilen? Ich dachte, er könnte alles.«
Petrus lächelte. »Das kann er auch, mein Kind. Aber er weiß, dass manchmal ein anderer Weg der bessere ist. Wir können nicht ewig leben. Das gehört zu Gottes Plan für uns. Dein Vater ist müde, Eigon. Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Und er lässt sich nicht taufen.«
»Da ist er wie mein Freund Melinus. Er will sich alle Möglichkeiten offenhalten.« Petrus lachte leise. »Genauso wie eine junge Frau, die in diesem Moment nicht so sehr weit von mir entfernt steht. Jesus verlangt unsere ganze Hingabe«, fuhr er streng fort, doch dann wurde sein Ton wieder sanfter. »Aber er weiß auch, wie schwer es ist, sich zu verändern. Er weiß, dass wir Menschen sind und deshalb schwach. Er wird deinen Vater segnen.«
»Mein Vater will in den Himmel unseres eigenen Volks. Er will in das Land seiner Geburt zurückkehren. Er hat mir gesagt, dass Jesu Himmel klingt wie Neros Gärten. Da will er nicht hin.«
Petrus lachte schallend. »Der Herr Jesus gestaltet seinen Garten nicht nach dem Vorbild des Kaisers von Rom.« Dann sah er Eigon an und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Jesus hat uns gesagt, dass in seinem Haus viele Wohnungen sind. Ich bin mir sicher, dass es ebenso viele Gärten hat. Es gibt einen für deinen Vater, und auch einen für dich.« Er zog einen Schemel zu sich. »Ich habe für dich gebetet, Eigon, viele Male. Melinus sah viel Kraft und viel Gutes in dir, meine Tochter. Er bat darum, mich um dich zu kümmern.«
»Melinus war ein guter Mann«, sagte Eigon traurig.
»Das stimmt. Und ich werde dir ein Geheimnis verraten. Im Gefängnis habe ich ihn getauft, Eigon. Am Abend vor seinem Tod. Er starb im Wissen, dass er zu meinem Vater und zu deinem Vater in den Himmel gehen würde. Und er wusste, dass die Insel der Seligen auf ihn wartete.«
Verblüfft sah Eigon ihn an. »Du weißt von Tir n’an Og?«
»Das ist nur ein anderer Name in einer anderen Sprache. Gott hat mir aufgetragen, zu allen Menschen zu predigen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Sprache. Ich muss sein Wort überall unter den Menschen verbreiten.«
»Aber …«
Petrus hob abwehrend die Hand. »Hör mir zu. Jesus hat dich für eine besondere Aufgabe erwählt.«
»Mich?« Sie wurde blass. »Nein!«
»Wenn dein Vater stirbt, Eigon, und er wird bald sterben, wirst du dich damit abfinden müssen.« Er schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Du sollst in deine Heimat zurückkehren und den Menschen von Jesus erzählen.«
»Aber ich bin nicht getauft.«
»Nein.«
»Du möchtest, dass ich mich taufen lasse?«
»Natürlich. Aber die Entscheidung liegt bei dir. Du musst beten. Jesus wird selbst zu dir sprechen.«
»Wissen Pomponia und Felicius davon?«
Er schüttelte den Kopf. »Das wissen nur du und ich und der Herrgott.«
Plötzlich merkte Eigon, dass sie ein Bündel Thymian zerzupft hatte, dessen graugrüne Blättchen jetzt über die Werkbank verstreut lagen. Sie ließ die Stängel fallen. »Es ist mir verboten, nach Britannien zurückzukehren.«
Er nickte. »Es wird dich Mut kosten.«
»Ich kenne dort niemanden.«
»Du bist die Tochter ihres Königs.«
»Und ihr König braucht mich noch hier.« Sie wandte sich von Petrus ab. »Ich kann nicht gehen.«
Er lächelte. »Wenn unser Herr es von dir verlangt, wirst du gehen.« Sie spürte, wie er mit seinem Willen den ihren zu formen begann. Heftig drehte sie sich um, um ihm zu widersprechen, doch sein feierliches Lächeln hielt sie zurück. Er schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen, Eigon. Er wird es nicht von dir verlangen, solange dein Vater dich noch braucht. Er hat uns aufgefordert, unseren Vater und unsere Mutter zu ehren.« Wieder legte er ihr eine Hand auf den Arm, sie spürte die Kraft und Wärme seiner Berührung. Das gab ihr Mut.
»Jess? Komm zurück.«
Eigon drehte sich um und starrte Jess an, als hörte sie etwas in der Ferne. Jess beugte sich vor und lauschte angestrengt.
»Rhodri ist hier.« Die Stimme war unklar, irritierend. Jess schüttelte den Kopf, um sie zu vertreiben.
»Jetzt komm, Jess.« Eine tiefere, kräftigere Stimme. Rhodri. Die Hand auf ihrem Arm war seine, nicht Petrus’. Petrus hatte seine Hand auf Eigons Arm gelegt, nicht auf ihren. Sie schloss die Augen.
»Wach auf, Jess. Komm schon.« Im Hintergrund hörte sie Murmeln. Carmella sagte etwas. Jess spürte die Worte an sich vorbeitreiben.
Petrus war fort.
Eigon hatte sich umgedreht, um ihm zu folgen, doch im Atrium blieb sie stehen. Antonia stand dort und wartete auf sie. Die jungen Frauen umarmten sich.
Jess konnte alles mitverfolgen, auch wenn sie merkte, dass sie jetzt von außen zusah und nicht mehr Teil der Szene war, als Eigon und ihre Freundin sich hinsetzten, die Köpfe zusammenstecken, gemeinsam Tränen über Julia und den sterbenden König vergossen und sich dabei an den Händen hielten.
Plötzlich schauten beide auf und lächelten, und Jess sah, dass Julius durch die Tür trat und auf die Mädchen zuging. Eigon lief zu ihm und ließ sich von ihm in die Arme schließen. Es war eine schlichte, brüderliche Geste des Trostes und der Unterstützung.
»Jess!« Rhodri legte ihr die Hände auf die Schultern und schüttelte sie sanft. »Jetzt komm zurück, Mädchen. Schluss damit!«
»Sie hat’s ihnen nicht gesagt. Sie wissen nichts von Titus!« Jess versuchte, sich gegen den Griff zu wehren. »Sie muss es ihnen sagen!«
»Später. Das kann sie ihnen später noch sagen.« Rhodri hielt sie immer noch fest. »Jess! Jetzt reiß dich zusammen.« Dieses Mal war seine Stimme laut und herrisch. Blinzelnd schüttelte sie den Kopf. »So ist’s gut. Jetzt komm schon. Hör mir zu!«
»Lass mich los!« Plötzlich war sie im selben Raum wie er. Sie versetzte ihm einen Schubs und befreite sich aus seinem Griff. »Untersteh dich!«
»Jess, Rhodri ist hier, um dir zu helfen.« Carmellas Stimme klang vorwurfsvoll.
»Das Auto mit deinem Gepäck steht vor der Tür. Wir fahren jetzt los.« Rhodri ignorierte ihre Wut völlig. »Es liegt ganz bei dir. Entweder du fährst jetzt mit mir nach Wales zurück, oder ich lade deine Sachen hier ab und fahre ohne dich. Deine Entscheidung.«
Verwirrt starrte sie ihn an. »Ich weiß nicht, Rhodri«, sagte sie zögernd. »Das ist nett von dir, wirklich.«
»Allerdings!«, sagte er halb lachend, halb zornig. »Also? Wie lautet deine Entscheidung?«
»Ich kann nicht weg. Ich muss sie warnen, weil…«
»Nein, du brauchst niemanden vor irgendetwas zu warnen!« Ärgerlich verdrehte er die Augen. »Verdammt nochmal, Jess!«
»Jess, fahr mit ihm.« William kam zu ihr und ging vor ihr in die Hocke. »Du musst weg aus Rom.«
»Fahr einfach, Jess.« Carmella schauderte. »Solange es noch möglich ist.«
Jess schüttelte den Kopf. Sie war durcheinander und verängstigt, zu viele Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf.
»Jess, wenn du nicht mit Rhodri fahren willst, dann komm mit mir. Wir fahren direkt zum Flughafen.« William ergriff ihre Hand.
»Eigon …«
»Wenn Eigon mit dir in Kontakt treten will, dann tut sie das, wo immer du bist, Jess«, warf Carmella ein. »Sie hat sich dir ja auch in Wales gezeigt, oder nicht?«
Jess stand auf. William kam ihr zu nah, er bedrängte sie. Genauso wie Rhodri. Sie schaute zwischen den beiden hin und her, spürte den Druck, den sie auf sie ausübten, und Panik machte sich in ihr breit. »Ich kann nicht weg. Ich muss herausfinden, was passiert ist. Ich habe den heiligen Petrus gesehen, stellt euch das mal vor!« Sie drängte sich zwischen den beiden durch. »Ich habe die Chance bekommen, in ihre Welt zu schauen. Begreift ihr denn nicht, was das bedeutet? Wie unglaublich das ist? Ich bin privilegiert! Da kann ich nicht einfach wegfahren.«
Seufzend setzte William sich auf die Fersen. »Bist du wirklich bereit, dich dafür umbringen zu lassen?«
»Daniel wird mich nicht umbringen. Er glaubt, dass ihr mich für verrückt haltet.« Sie lachte sarkastisch. »Das genügt ihm. Er hat sein Ziel erreicht.«
Sie sah, dass William und Rhodri einen entnervten Blick tauschten. »Es ist immer noch meine Entscheidung«, sagte sie schließlich mit ruhigerer Stimme. »Ihr könnt mich nicht zwingen, irgendwohin zu fahren. Ihr seid nicht wie Daniel. Ihr seid rationale und sehr, sehr nette Männer.« Sie warf beiden ein Lächeln zu. »Danke für alles, was ihr für mich getan habt, aber ich will euch nicht noch weiter gefährden. Und dich auch nicht.« Sie schaute zu Carmella. »Ich suche mir ein kleines Hotel, wo niemand mich kennt. Da schließe ich mich in mein Zimmer ein, so dass mir nichts passieren wird, und ich kann, wann immer ich will, mit Eigon Kontakt aufnehmen und herausfinden, was mit ihr passiert. Und ich kann sie vor dem Schwein Titus warnen. Sie sieht und hört mich, das ist mir heute klargeworden. Sie schaut durch ein Fenster in die Zukunft, genauso, wie ich durch ein Fenster in die Vergangenheit schaue. Ich kann sie erreichen.«
Als sie geendet hatte, herrschte langes Schweigen. Jess schnitt eine Grimasse. »O mein Gott, ihr seht alle richtig geschockt aus. Ich habe nicht den Verstand verloren, wirklich nicht.«
»Nein?« Steph hob skeptisch die Augenbrauen.
»Nein.« Jess schüttelte den Kopf.
»Daniel ist dir bis jetzt überallhin gefolgt. Wieso glaubst du, dass er dir nicht auch heute aus dieser Wohnung folgt?«, fragte Kim nachdenklich.
»Ich bin ihm auch früher schon entwischt.«
»Mit eher geringem Erfolg, wenn ich das mal sagen darf«, kommentierte Rhodri. Er betrachtete Jess mit einem gewissen widerwilligen Respekt. So verrückt er ihren Trotz fand angesichts der geballten Vernunft, mit der auf sie eingeredet wurde, nötigte er ihm auch Bewunderung ab. Er sah, dass ihr Blick zu ihm wanderte, und zwinkerte ihr zu. »Also gut, was willst du mit deinem Gepäck machen?«
»Kannst du es nach Wales mitnehmen? Wenn ich vorher noch ein paar Sachen raushole, die ich brauchen könnte.« Wenn sie dieses Mal Carmellas Rat befolgte und nicht an Titus dachte, konnte ihr doch nichts passieren, oder? Sie lächelte Rhodri etwas hilflos an.
»Was immer du willst.« Er nickte.
»Du fährst mit dem Auto?«, fragte William.
Rhodri zuckte mit den Schultern. »Ich behalte den Wagen einfach ein paar Tage länger. Warum nicht?«
William beugte sich vor. »Ich habe eine Idee. Wie wär’s mit einem Täuschungsmanöver? Wann wolltest du denn nach Hause fahren, Steph?«
Steph zuckte mit den Schultern. »Eher bald. In einer Woche oder so fährt Kim an die Seen, dann wird’s nämlich sogar ihr zu heiß in Rom!« Sie schaute zu Kim, die zur Bestätigung nickte.
»Warum fährst du dann nicht mit Rhodri? Du ziehst Jess’ Sachen an, setzt ihre Brille auf, ihren Schal, weiß der Teufel was. Ihr brecht ganz verstohlen zu nachtschlafender Zeit auf.«
Bei Stephs entsetzter Miene lachte Rhodri auf. »Mit etwas Glück könnte das sogar klappen. Dann bist du ihn wenigstens eine Weile los, Jess.«
»Würdest du das tun?« Belustigt schaute Jess zu ihrer Schwester. Bei der Vorstellung, dass Steph und Rhodri zusammen in einem Auto durch halb Europa fuhren, musste sie aller Erschöpfung zum Trotz lächeln.
Steph verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich könnte mich dazu überwinden, wenn du die Idee gut findest. Warum nicht? Es könnte sogar ganz lustig werden.« Der Mangel an Begeisterung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Und was, wenn er nicht auf die List reinfällt?«, fragte William. »Bis jetzt zumindest hat er dich noch jedes Mal gefunden!«
»Du bleibst hier und behältst Jess im Auge«, sagte Rhodri. »So haben wir alle Möglichkeiten abgedeckt.« Er beobachtete Jess, deren Gesicht sich bei diesem Vorschlag verzog.
Allerdings war es der einzige Plan, auf den sie sich einigen konnten angesichts Jess’ Unnachgiebigkeit, und nachdem sie den Entschluss einmal gefasst hatten, ließ er sich erstaunlich leicht umsetzen. Kim und William kehrten zum Palazzo zurück, den William etwas später durch einen wenig benutzten Dienstboteneingang an der dem Garten gegenüberliegenden Seite verließ. Er würde sich für ein paar Tage in einem billigen Hotel einquartieren, allein ein paar Sehenswürdigkeiten besichtigen und stets sein Handy griffbereit halten für den Fall, dass Jess ihn brauchte. Zu mehr Konzessionen war sie nicht bereit gewesen.
Rhodri und Steph brachen in den frühen Morgenstunden auf. In aller auffälligen Heimlichkeit stiegen sie in den gemieteten Mercedes, fuhren langsam und umsichtig aus Rom hinaus und widerstanden dem Drang, sich laufend umzudrehen und einen Blick hinter sich zu werfen.
Am selben Morgen verließ Jess Carmellas Wohnung, gekleidet in ein Paar Versace-Jeans und eine Bluse von Prada, die beide ebenso Carmella gehörten wie die überdimensionale Sonnenbrille und das grellrote Hermès-Tuch, das ihre Haare bedeckte. Der Ledersack, den sie über die Schulter geschlungen hatte, stammte aus Carmellas Besitz wie auch der auffällige Lippenstift. Die Verkleidung würde zwar niemanden täuschen, der Jess aus der Nähe sah, doch ein Mensch, der an der übernächsten Straßenecke lauerte, würde sich vielleicht eine Weile hinters Licht führen lassen. Die beiden Frauen waren ähnlich groß und hatten eine ähnliche Figur, und Jess bemühte sich, Carmellas wiegenden Gang und elegante Haltung nachzuahmen. Für ihre Maskerade hatte sie sich sogar ein Paar Gucci-Sandalen ausgeliehen. Es fiel ihr schwer, keine Miene zu verziehen, und ein paar Minuten vergaß sie beinahe ihre Angst und ihren Ärger und freute sich an dem Streich, während sie auf die Via Condotti und die Freiheit zuschlenderte.
Auf der Damentoilette eines erschreckend vornehmen Warenhauses gab sie sich geschlagen und tauschte die hochhackigen Sandalen gegen ein Paar ihrer eigenen Schuhe, das sie aus dem Lederrucksack holte. Sie verließ das Geschäft durch einen anderen Eingang als den, durch den sie es betreten hatte, und steuerte jetzt, da sie richtig ausschreiten konnte, mit schnellen Schritten auf ihre neue Zuflucht zu, eine Pension, die einer Bekannten von Carmella gehörte. Sinnigerweise lag sie ganz in der Nähe von Kims Wohnung, auf der anderen Seite des Campo de’ Fiori in einer verwinkelten Gasse, in der lauter mittelalterliche Gebäude standen.
Auch alles an dem Haus, in dem sich die Pension befand, war sehr alt. Es war an die verbliebene Mauer einer Kirche gebaut, die schon vor langer Zeit abgerissen worden war, überall standen Antiquitäten und Kuriositäten, schwere, mit Quasten besetzte Vorhänge wetteiferten mit Bildern und Zierrat um Platz an den Wänden, und die dunklen Eichenstufen ächzten, als Jess ihrer Pensionswirtin, die Margaretta hieß, ins oberste Stockwerk folgte.
Entzückt sah sie sich in ihrer neuen Bleibe um. Es war ein kleines Zimmer, dessen eine Wand aus der unverputzten Mauer der alten Kirche bestand, die Möbel bestachen durch ihre Stilvielfalt. Als Jess schließlich allein zurückblieb, ließ sie ihren Rucksack auf den Boden fallen und setzte sich mit einem behaglichen Seufzen aufs Bett.
Vergiss nicht, dich die ganze Zeit zu schützen. Lass Titus nicht in deinen Kopf, sonst bist zu verloren. Einen Moment klangen ihr die Worte, die Carmella ihr zum Abschied noch einmal eingeschärft hatte, in den Ohren. Mach dein neues Hotelzimmer zu einer Zuflucht, zu einer Basis, von der aus du deine Nachforschungen anstellen kannst. Werde nicht zu seinem Sklaven, und auch nicht zum Sklaven Eigons, sonst verlierst du deine Seele!
Jess biss sich auf die Unterlippe. Jetzt, da sie hier war, außerhalb Daniels Reichweite und ganz allein - wenn ihr Plan denn aufgegangen war -, hatte sie eigentlich nur noch Lust, sich aufs Bett zu legen und die Augen zu schließen. Ihr Blick fiel auf ihren Rucksack, in dem ihr Handy lag. Sie könnte jemanden anrufen. Sie könnte sich bei Steph melden und fragen, wo sie mittlerweile waren und ob Daniel ihnen folgte. Sie verzog das Gesicht. Eigentlich sollte sie William anrufen und ihm sagen, dass sie gut in der Pension eingetroffen und, soweit sie es sehen konnte, niemand ihr gefolgt war. Er würde sich Sorgen machen. Sie lächelte bekümmert. Er tat wirklich so viel für sie. Sie stand auf und ging zum Fenster. Die Gasse war so schmal, dass sie die Straße selbst gar nicht sehen konnte. Im Haus gegenüber erschien eine Frau am Fenster, schüttelte kurz ein Staubtuch aus, trat dann aus der Sonne in den Raum zurück und schloss halb die Läden.
Als Jess sich wieder ins Zimmer umdrehte, stand Eigon vor ihr und beobachtete sie mit fragender Miene.
»Hallo.« Jess war so überrascht, dass sie Eigon tatsächlich begrüßte. Dann lachte sie verlegen. »Kannst du mich hören?«
Die Gestalt reagierte nicht, sie wurde zu einem Schatten, durch den Jess die Umrisse des Bettes sehen konnte. »Bitte geh nicht!« Ihre Stimme stieg schrill in die Höhe. »Ich muss mit dir reden. Ich will dich warnen.« Aber die Gestalt war verschwunden. Jess trat vor und tastete mit ausgestreckten Händen in der Luft nach etwas, das Substanz hatte, aber da war nichts. Entmutigt ließ sie die Schultern hängen und sank seufzend wieder aufs Bett. Carmellas Warnung hatte sie bereits vergessen.
Die Tochter des Königs
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