Kapitel 22
Eigon ließ Flavius ins Atrium rufen.
»Wann wollte Julia zurückkommen?« Draußen war es dunkel, vom Norden
trieben schwarze Gewitterwolken über die Stadt. Normalerweise
dachte Eigon nicht über Julias Kommen und Gehen nach, sie hatte zu
viele andere Dinge im Kopf, aber an diesem Tag machte sie sich
Sorgen.
»Das hat sie nicht gesagt.« Verlegen trat Flavius
von einem Fuß auf den anderen. »Sie war wütend, weil ich sie nicht
begleitet habe. Wir haben uns gestritten.«
»Dann schicke einen Boten zu ihrer Tante.
Vielleicht hat sie beschlossen, wegen des schlechten Wetters bei
ihr zu bleiben. Allerdings hätte sie daran denken können, uns das
ausrichten zu lassen.« Eigon seufzte. Den ganzen Nachmittag war der
Strom von Männern und Frauen, die sich am Tor einfanden und um ihre
Hilfe baten, nicht abgerissen. Eigon hatte endlos Wunden verbunden,
hatte Kräutertabletten und Heiltränke verabreicht und Ratschläge
erteilt. Seit Melinus’ Tod arbeitete sie allein in der
Kräuterkammer, und erst jetzt stellte sie allmählich fest, wie
vielen Menschen er trotz seiner barschen Art doch geholfen hatte.
Erschöpft ging sie durch das Atrium zum Wasserteich, in den sich
der Regen aus den Rinnen ergoss. Das beständige Plätschern
beruhigte sie ein wenig.
Flavius kehrte kurz darauf zurück, Erleichterung
stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er wusste, dass es verkehrt
gewesen war, Julia ohne ausreichende Begleitung aus dem Haus zu
lassen, und er hatte sich nicht nur Sorgen um sie gemacht, sondern
auch ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. »Ihre Sänfte ist
zurückgekehrt mit der Nachricht, dass Julia die Nacht über
ausbleibt.«
»Gut! Wenigstens hat sie den Anstand besessen, uns
das wissen zu lassen.« Verärgert schüttelte Eigon den Kopf. »Dann
sag den Köchen, dass sie das Abendessen auftragen können. Ich
erkundige mich, ob Papa aufstehen und sich zu uns setzen kann oder
ob er es in seinem Zimmer serviert haben möchte.«
Antonia saß bei Caradoc. Er wirkte lebhaft wie
schon lange nicht mehr. »Diese reizende junge Dame hat mich
unterhalten, damit deine Mutter eine wohlverdiente Pause bekommt,
Eigon«, sagte er, als seine Tochter erschien. »Natürlich wollte sie
eigentlich dich besuchen, aber du warst so beschäftigt, also habe
ich sie festgehalten.« Er tätschelte Antonia die Hand.
Als alle sich im Esszimmer einfanden, gesellte sich
auch Cerys zu ihnen. Die Sklaven trugen die Speisen auf, und alle
ließen sich auf den Liegen nieder. Cerys stieß sich offenbar nicht
an dem Umstand, dass das Mädchen, dessen Gesellschaft ihrem Gemahl
derart großes Vergnügen bereitete, die Schwester des jungen Mannes
war, mit dem sie Eigon jeden Umgang verboten hatte.
Caradocs Wangen hatten eine gesunde Farbe, er aß
mit Appetit und unterhielt sich während des Essens angeregt mit den
drei Frauen. »Ich sehe, dass die Gespräche mit Petrus Euch gutgetan
haben, Herr.« Antonia lächelte warmherzig. »Ich habe gehört, dass
Ihr Euch nicht taufen lassen wollt, aber Ihr müsst zugeben, dass
Jesus ein großartiger Heiler ist.«
Caradoc nickte bedächtig. »Da gebe ich dir Recht,
Kind. Das ist er in der Tat, und Petrus hatte unseren Melinus für
seine Sache gewonnen.« Einen Moment herrschte bedrücktes
Schweigen.
»Hast du Petrus erlebt, Mama?«, fragte Eigon, um
die Gesprächspause zu füllen.
Cerys schüttelte den Kopf. »Ich bete zu keinen
anderen Göttern als den meinen.« Sie umfasste die Hand ihres
Mannes. »Ebenso wenig wie mein Gemahl. Allein der Gedanke! Und ich
hoffe, du auch nicht.« Aus schmalen Augen warf sie Eigon einen
Blick zu.
»Mama!« Eigon errötete. »Das ist nicht höflich
unserem Gast gegenüber.«
»Keineswegs.« Cerys warf Antonia ein mattes Lächeln
zu. »Antonia weiß, dass ich sie sehr liebe. Aber das heißt nicht,
dass ich ihren Gott zu lieben brauche. Er hat seinen Anhängern und
meinem lieben Melinus nichts als Probleme bereitet.« Sie
seufzte.
»Melinus war kein Christ, Herrin Cerys«, stellte
Antonia leise richtig. »Das war nicht der Grund, weshalb er
festgenommen wurde.« Bekümmert ließ sie die Schultern hängen.
Eigon warf einen Blick zu dem Sklaven, der
bereitstand, den Tisch abzuräumen, und nickte kurz. Er war noch
sehr jung und schmal, kaum mehr als ein Junge, und hatte wache
Augen und einen etwas krummen Mund, der sich oft zu einem Lächeln
verzog. Sofort kam er zum Tisch und stellte klappernd das Geschirr
zusammen. Amüsiert schaute sie zu ihm. Es war eindeutig, dass er
das Gespräch verfolgt und beschlossen hatte, die Anwesenden auf
andere Gedanken zu bringen. »Bitte bring jetzt das Obst, Silas.«
Sie fing seinen Blick auf. »Und noch Wein für meinen Vater.« Ihr
war der Junge schon mehrmals aufgefallen. Sie mochte ihn. Sie
durfte nicht vergessen, Aelius zu sagen, dass er ihm mehr
Verantwortung übertragen sollte.
Ihre Gedanken wurden von einem markerschütternden
Schrei aus dem Hof unterbrochen. Bestürzt sahen alle sich an.
Caradoc setzte sich abrupt auf. »Was war das?«
»Warte, Vater, ich schaue nach.« Erschreckt lief
Eigon zur Tür. Aelius stand mit drei Haussklaven im Atrium, zwei
von ihnen waren tropfnass vom Regen. Aelius drehte sich zu ihr,
sein Gesicht war leichenblass.
Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton
heraus.
»Was ist los?« Caradoc trat hinter seiner Tochter
in die Tür, stützte sich leicht am Rahmen ab. »Was ist
passiert?«
Kopfschüttelnd schlug Aelius die Hände vors
Gesicht, er wurde von Schluchzern geschüttelt.
Eigon lief zu ihm und packte ihn am Arm. »Was ist?
Sag’s uns!«
»Die Herrin Julia«, sagte einer der Sklaven kaum
hörbar. »Ich bin Brennholz holen gegangen und habe sie an der Mauer
gefunden. Sie sah aus, als würde sie schlafen.«
Eigon gefror das Blut in den Adern. Entsetzt
schaute sie zwischen dem Sklaven und Aelius hin und her. »Wo ist
sie? Ich will sie sehen.«
»Nein, Herrin!« Der Sklave schüttelte den Kopf.
»Nein, das solltet Ihr nicht.«
»Aber mir wirst du sie zeigen.« Caradocs Stimme war
fest. Auf unsicheren Beinen trat er vor. »Jetzt sofort,
Aelius.«
Der Regen prasselte auf den Hof, dicke Tropfen
fielen klatschend auf die Pflastersteine und verwandelten den Staub
in schlammige Rinnsale. Die Fackeln, mit denen die Sklaven dem
König und Eigon den Weg wiesen, loderten zischend auf. Am Tor zur
Straße lag eine dunkle, in bunt gemusterte Decken gehüllte Gestalt.
Die Ecke über Julias Kopf
war zurückgeschlagen. Sie sah friedlich aus, hatte keine
Verletzungen im Gesicht, der Regen hatte ihr das Haar aus der Stirn
gewaschen. Mit zitternden Händen zog Eigon die Decke zurück. Die
Schnittwunde an Julias Hals war sauber, alles Blut war vom Regen
fortgespült. Die Kehle war fast bis auf den Knochen durchtrennt,
sie war nackt bis auf die Decke und ein Dutzend Goldspangen um die
Arme, die gekreuzt über ihrer Brust lagen. Mit einem kleinen
Aufschrei wandte Eigon sich ab. Es war ihr Vater, der den Befehl
erteilte, Julia ins Haus zu tragen und in ein Nebenzimmer zu legen.
Dann ging er ins Atrium und ließ den ganzen Haushalt
zusammenrufen.
»Ich will wissen, wer das getan hat und weshalb.«
Sein Gesicht war grimmig entschlossen, er war wieder der Krieger
und König, der er vor seiner Krankheit gewesen war. »Diebe lassen
ihre Opfer nicht mit mehr Gold liegen, als sie ihnen abgenommen
haben. Sie wählen kein keltisches Gold und wickeln die Leiche in
keine keltische Decke, wenn sie nicht einen triftigen Grund dafür
haben.«
Eigon waren die kunstvolle Schmiedearbeit der
Armreifen und das Karomuster der Decke gar nicht aufgefallen.
Beeindruckt, dass ihr Vater diese Details sofort bemerkt und seine
Schlussfolgerungen daraus gezogen hatte, schaute sie zu ihrer
Mutter. Wieder hatten sie die Botschaft bekommen, dass niemand in
diesem Haus sicher war. Die Menschen, die ihr am nächsten standen.
Die Menschen, die sie liebte. Verzweifelt unterdrückte sie die
Tränen und tat ihr Bestes, sich an der Stärke ihres Vaters ein
Beispiel zu nehmen. Ihre Mutter war vor Schock wie erstarrt und
weigerte sich zu begreifen, was passiert war. Aber sie musste es
wissen, sie musste ebenso wie Eigon erkannt haben, dass dies eine
Botschaft von Titus Marcus Olivinus war.
»Mama …«
»Nein!« Wütend wirbelte Cerys zu ihr herum. »Nein!
Untersteh dich, ein Wort zu sagen, Eigon. Hast du mich verstanden?
Dieses Mädchen war hemmungslos. Sie war töricht, sie hat sich
aufgeführt wie eine Schlampe! Sie wollte es nicht anders!« Sie
machte auf dem Absatz kehrt und stürzte in ihre Privaträume.
Entsetzt starrten alle ihr nach. »Es tut mir leid,
Eigon«, sagte Caradoc langsam. »Deine Mutter ist von Grauen
überwältigt. Sie täuscht sich. Niemand hat so etwas verdient.
Niemand, und schon gar nicht die kleine Julia. Ich weiß nicht, wie
wir das Pomponia Graecina sagen sollen.«
»Jess!« Jemand schüttelte sie am Arm. »Jess, wach
auf. Sofort!«
Mit einem Schaudern kehrte Jess in die Realität
zurück und sah, dass William neben ihr stand. Sie waren allein auf
der Dachterrasse.
»Jess, du musst damit aufhören. Es hilft dir nicht,
in deine kleine Privatwelt abzutauchen«, sagte er sanft. »Komm mit
mir nach England zurück. Wie fahren zu meinen Eltern nach Cornwall.
Wenn mich nicht alles täuscht, weiß Daniel nichts von ihnen, und
wenn doch, wird es ihm schwerfallen, da in deine Nähe zu kommen. Du
weißt ja, in dem kleinen Dorf, in dem sie leben, kennt jeder jeden.
Wenn ein Fremder auftaucht, macht das sofort die Runde.«
»Ich kann mich nicht den Rest meines Lebens
verstecken, William.«
»Das sage ich ja auch gar nicht. Aber momentan wäre
es vielleicht ganz gut. Bis uns ein besserer Plan einfällt.« Er
legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr fest in die
Augen. »Ich darf nicht zulassen, dass Daniel dir noch mehr wehtut,
Jess.«
Einen langen Moment sahen sie sich an, dann beugte
er sich etwas vor und gab ihr sacht einen Kuss auf die Lippen.
Abrupt fuhr sie zurück. »Nein! Nicht, William! Es tut mir leid, ich
ertrage es einfach nicht, wenn jemand mich berührt. Noch nicht.«
Sie schauderte. »O mein Gott!« Sie vergrub das Gesicht in den
Händen.
»Das kann ich verstehen.« Er trat einige Schritte
von ihr fort. »Das war nicht besonders einfühlsam von mir. Aber
bitte überleg dir meinen Vorschlag, Jess. Bitte. Du brauchst
Hilfe.«
»William, Daniel hat schon einmal versucht, dich
umzubringen!«
»Nein, das glaube ich nicht. Wenn er das gewollt
hätte, hätte er’s ja problemlos tun können, nachdem er mir diese
K.-o.-Tropfen eingeflößt hatte.«
»Beim nächsten Mal kann er sich vielleicht nicht
mehr zurückhalten.« Sie ging an ihm vorbei in die Wohnung, wo Kim,
Steph und Carmella standen und besorgt zu ihr und William auf die
Terrasse schauten.
»Jess …?«, fragte Kim.
Jess schüttelte den Kopf. »Nein! Bitte lasst mich
in Ruhe.« Sie lief ins Bad, schloss die Tür hinter sich ab und
kauerte sich schluchzend auf dem Boden zusammen.
»Mama, du musst mir zuhören!« Eigon fing ihre
Mutter im Esszimmer ab, wo Cerys die Sklaven dabei beaufsichtigte,
das Geschirr in einen Schrank zu räumen.
Cerys fuhr zusammen und drehte sich mit verweintem
Gesicht zu ihrer Tochter um. »Eigon, dein Vater ist krank. Nachdem
Pomponia Graecina und Aulus Plautius mit Julias Leichnam das Haus
verlassen haben, ist er zusammengebrochen.«
Eigon wandte sich zur Tür. »Ich schaue nach
ihm.«
»Lass ihn in Ruhe. Er schläft.« Cerys seufzte.
»Ohne Melinus gibt es für ihn keine Hoffnung mehr.« Sie hatte die
Arme um sich geschlungen, eine Träne lief ihr über die Wange. Die
Sklaven tauschten einen Blick und zogen sich lautlos in die Küche
zurück.
»Mama, ich kann ihn behandeln«, sagte Eigon. »Das
weißt du doch. Ich habe die Medizin, die er braucht, Melinus hat
mir gezeigt, wie man sie zubereitet. Und wir können Petrus bitten,
noch einmal mit ihm zu beten. Ich weiß«, ergänzte sie hastig, als
sie Cerys’ abweisenden Blick bemerkte, »ich weiß, du hältst nichts
von ihm, aber sein Jesus hat wirklich große Macht. Und Papa mag
Petrus, er vertraut ihm.« Ungehalten schüttelte sie den Kopf. Immer
wich ihre Mutter ihr aus. Jedes Mal, wenn sie versuchte, mit ihr
über Petrus und die Christen zu reden, wechselte sie das Thema, und
auf dieselbe Art wich sie auch jedem Gespräch über Titus aus. Eigon
schauderte. Vielleicht hatte ihre Mutter ja Recht. Was konnten sie
schon groß bewirken? Titus’ Grausamkeit war grenzenlos. Sie würden
ihm nie entkommen. Er lauerte als unsichtbarer Feind im Schatten
und wartete, bis er sie, Eigon, eines Tages allein antreffen
würde.
»Sag’s ihr«, flüsterte Jess. »Besteh darauf. Lass
dich von ihr nicht abwimmeln. Die Gefahr für dich ist viel zu groß.
Du brauchst Hilfe.«
Eigon drehte sich um, sah suchend durch den Raum
und runzelte die Stirn. »Hörst du mich?« Jess setzte sich auf.
»Eigon?«
»Jess!« Williams Stimme drang durch die Tür zu ihr.
»Jess, mach auf. Ich muss mit dir reden.«
»Nein!« Jess schüttelte den Kopf und wandte ihre
Aufmerksamkeit wieder Eigon zu. »Sag deiner Mutter, dass er
skrupellos ist. Es nützt dir nichts, so zu tun, als gäbe es ihn
nicht!«
Eigon war blass geworden und fasste sich an den
Kopf. »Lass mich in Ruhe!« Verwirrt sah sie sich um.
»Sag’s ihr!«, rief Jess. »Wenn du es ihr nicht
sagst, bringt er dich um.«
»Jess!« William hämmerte gegen die Tür. »Mit wem
redest du da? Mach auf!«
»Nein! Geh weg, William!«
Sie konnte Eigon noch sehen, aber ihre Gestalt war
vager geworden, sie verblasste. Wütend stand sie auf und öffnete
die Tür. »Du Idiot! Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen!
Jetzt ist sie weg.« Mit Tränen in den Augen sah sie sich im Bad um.
»Ich kann sie nicht mehr sehen.«
»Du kannst sie nicht mehr sehen, weil sie nicht da
ist, Jess.« William fasste sie sanft am Arm. »Beruhige dich und
komm ins Wohnzimmer. Carmella macht uns gerade einen Kaffee. Komm
und setz dich.«
»William?« Steph erschien hinter ihm. »Ich rede mal
mit ihr. Jess, jetzt komm. William hat Recht. Sie ist weg. Du
kannst nichts tun.«
»Ihr versteht das alles nicht.« Trotzig zuckte Jess
mit den Schultern. »Keiner von euch versteht, worum es eigentlich
geht. Ich bin die Einzige, die ihr helfen kann.«
»Jess, du kannst ihr nicht helfen, das ist ja genau
der Punkt.« Steph legte ihr einen Arm um die Schultern, führte sie
zum Sofa und zwang sie mit sanftem Druck, sich zu setzen. »Jetzt
beruhige dich ein bisschen. Wenn du wieder vernünftig denken
kannst, wird dir klar, dass es Unsinn ist. Du kannst niemandem
helfen. Du kannst nicht mit Eigon sprechen.«
»Warum nicht?« Carmella trat in die Tür, die zur
Küche führte. In der Hand hatte sie eine große Caffettiera, die sie
auf den Tisch stellte. »Natürlich kann sie mit Eigon
sprechen.«
»Aber sie kann das, was passiert, nicht
beeinflussen!«, beharrte Steph. »Sie kann doch das, was in der
Vergangenheit passiert ist, nicht ändern!« Vorwurfsvoll schaute sie
zu Carmella.
»Ich kann sie warnen«, sagte Jess. »Ich bin davon
überzeugt, dass ich sie warnen kann. Sie hat mich gehört, sie hat
gewusst, dass ich da war.«
William setzte sich neben sie. »Jess, Liebes, bitte
hör doch auf uns.«
»Nenn mich nicht Liebes!«, fuhr Jess auf. »Lass
mich in Ruhe. Lasst mich alle einfach in Ruhe!« Sie sprang auf und
floh in Carmellas Schlafzimmer.
Carmella folgte ihr und schloss die Tür hinter
ihnen. »Sie verstehen das nicht, Jess. Das ist nur natürlich. Aber
du musst vorsichtig sein. Bitte mach nichts, ohne dass ich dabei
bin. Ich kann dir zumindest Rückendeckung geben.« Sie lächelte
entschuldigend. »Hier glaubt jeder etwas anderes. Steph hat deine
Eigon selbst gesehen, will aber trotzdem nicht so recht an die
ganze Sache glauben. William ist hin-und hergerissen. Kim sieht das
Ganze als spannende Unterhaltung, mehr nicht. Wir, du und ich,
wissen, dass es real ist. Aber wir wissen auch, dass es gefährlich
ist. Wenn du meinen Rat nicht annehmen willst und aufhörst, an sie
zu denken, dann müssen wir zumindest ein paar Regeln befolgen und
uns absichern, einverstanden?«
Jess schaute sich ein paar Sekunden im Spiegel an,
dann griff sie nach Carmellas Kamm und fuhr sich durchs Haar. Ihr
Gesicht war sehr blass. »Momentan geht’s uns dick ein, Eigon. Dir
und mir«, murmelte sie. Sie beugte sich weiter vor und kniff die
Augen zusammen. Das zweite Gesicht, das sie im Spiegel sah, war
eher vage. Sie drehte sich um. Es
war, als würde sie durch eine Art Glaswand in ein anderes Zimmer
blicken. Sie sah Eigon an ihrer Werkbank stehen, wie sie einen
Kräutersud zubereitete und achtsam heißes Wasser in die Schale
goss. Sie sah das kleine Kohlebecken und den Topf, in dem Eigon das
Wasser erhitzt hatte, die Regale mit den Flaschen, Krügen und
Kästchen an der Wand hinter ihr, die ordentlich aufgereihten Sonden
und Pinzetten, das kleine Skalpell, eine Schüssel, die offenbar
Moos enthielt, einen Stapel sorgsam gefalteter Leinenbinden. Von
der Decke hing über ihr ein Kräuterbündel.
»Eigon? Hörst du mich?«, fragte sie im
Flüsterton.
Eigon schaute auf und zog die Stirn kraus. Dann
wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
»Ich habe auch Schwierigkeiten.« Jess warf einen
Blick zur Tür, sie flüsterte immer noch. »Titus steckt jetzt in
Daniels Kopf. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Sie brach ab. Eigon hatte sich vom Tisch abgewandt,
schaute aber nicht zu ihr, sondern zur Tür. Die ging auf, und ein
alter Mann trat herein. Jess stockte der Atem. Der Anführer der
Christen in Rom. Petrus.
Der heilige Petrus.
»Wie geht es ihm?«, fragte Eigon. Tränen standen
ihr in den Augen.
»Sein Herz ist schwach, Eigon.« Petrus schüttelte
den Kopf.
»Kann Jesus ihn nicht heilen? Ich dachte, er könnte
alles.«
Petrus lächelte. »Das kann er auch, mein Kind. Aber
er weiß, dass manchmal ein anderer Weg der bessere ist. Wir können
nicht ewig leben. Das gehört zu Gottes Plan für uns. Dein Vater ist
müde, Eigon. Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Und er lässt sich nicht taufen.«
»Da ist er wie mein Freund Melinus. Er will sich
alle Möglichkeiten offenhalten.« Petrus lachte leise. »Genauso wie
eine junge Frau, die in diesem Moment nicht so sehr weit von mir
entfernt steht. Jesus verlangt unsere ganze Hingabe«, fuhr er
streng fort, doch dann wurde sein Ton wieder sanfter. »Aber er weiß
auch, wie schwer es ist, sich zu verändern. Er weiß, dass wir
Menschen sind und deshalb schwach. Er wird deinen Vater
segnen.«
»Mein Vater will in den Himmel unseres eigenen
Volks. Er will in das Land seiner Geburt zurückkehren. Er hat mir
gesagt, dass Jesu Himmel klingt wie Neros Gärten. Da will er nicht
hin.«
Petrus lachte schallend. »Der Herr Jesus gestaltet
seinen Garten nicht nach dem Vorbild des Kaisers von Rom.« Dann sah
er Eigon an und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Jesus hat uns
gesagt, dass in seinem Haus viele Wohnungen sind. Ich bin mir
sicher, dass es ebenso viele Gärten hat. Es gibt einen für deinen
Vater, und auch einen für dich.« Er zog einen Schemel zu sich. »Ich
habe für dich gebetet, Eigon, viele Male. Melinus sah viel Kraft
und viel Gutes in dir, meine Tochter. Er bat darum, mich um dich zu
kümmern.«
»Melinus war ein guter Mann«, sagte Eigon
traurig.
»Das stimmt. Und ich werde dir ein Geheimnis
verraten. Im Gefängnis habe ich ihn getauft, Eigon. Am Abend vor
seinem Tod. Er starb im Wissen, dass er zu meinem Vater und zu
deinem Vater in den Himmel gehen würde. Und er wusste, dass die
Insel der Seligen auf ihn wartete.«
Verblüfft sah Eigon ihn an. »Du weißt von Tir n’an
Og?«
»Das ist nur ein anderer Name in einer anderen
Sprache. Gott hat mir aufgetragen, zu allen Menschen zu predigen,
unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Sprache. Ich muss sein Wort
überall unter den Menschen verbreiten.«
»Aber …«
Petrus hob abwehrend die Hand. »Hör mir zu. Jesus
hat dich für eine besondere Aufgabe erwählt.«
»Mich?« Sie wurde blass. »Nein!«
»Wenn dein Vater stirbt, Eigon, und er wird bald
sterben, wirst du dich damit abfinden müssen.« Er schenkte ihr ein
freundliches Lächeln. »Du sollst in deine Heimat zurückkehren und
den Menschen von Jesus erzählen.«
»Aber ich bin nicht getauft.«
»Nein.«
»Du möchtest, dass ich mich taufen lasse?«
»Natürlich. Aber die Entscheidung liegt bei dir. Du
musst beten. Jesus wird selbst zu dir sprechen.«
»Wissen Pomponia und Felicius davon?«
Er schüttelte den Kopf. »Das wissen nur du und ich
und der Herrgott.«
Plötzlich merkte Eigon, dass sie ein Bündel Thymian
zerzupft hatte, dessen graugrüne Blättchen jetzt über die Werkbank
verstreut lagen. Sie ließ die Stängel fallen. »Es ist mir verboten,
nach Britannien zurückzukehren.«
Er nickte. »Es wird dich Mut kosten.«
»Ich kenne dort niemanden.«
»Du bist die Tochter ihres Königs.«
»Und ihr König braucht mich noch hier.« Sie wandte
sich von Petrus ab. »Ich kann nicht gehen.«
Er lächelte. »Wenn unser Herr es von dir verlangt,
wirst du gehen.« Sie spürte, wie er mit seinem Willen den ihren zu
formen begann. Heftig drehte sie sich um, um ihm zu widersprechen,
doch sein feierliches Lächeln hielt sie zurück. Er schüttelte den
Kopf. »Mach dir keine Sorgen, Eigon. Er wird es nicht von dir
verlangen, solange dein Vater dich noch braucht. Er hat uns
aufgefordert, unseren Vater und unsere Mutter zu ehren.« Wieder
legte er ihr eine Hand auf
den Arm, sie spürte die Kraft und Wärme seiner Berührung. Das gab
ihr Mut.
»Jess? Komm zurück.«
Eigon drehte sich um und starrte Jess an, als hörte
sie etwas in der Ferne. Jess beugte sich vor und lauschte
angestrengt.
»Rhodri ist hier.« Die Stimme war unklar,
irritierend. Jess schüttelte den Kopf, um sie zu vertreiben.
»Jetzt komm, Jess.« Eine tiefere, kräftigere
Stimme. Rhodri. Die Hand auf ihrem Arm war seine, nicht Petrus’.
Petrus hatte seine Hand auf Eigons Arm gelegt, nicht auf ihren. Sie
schloss die Augen.
»Wach auf, Jess. Komm schon.« Im Hintergrund hörte
sie Murmeln. Carmella sagte etwas. Jess spürte die Worte an sich
vorbeitreiben.
Petrus war fort.
Eigon hatte sich umgedreht, um ihm zu folgen, doch
im Atrium blieb sie stehen. Antonia stand dort und wartete auf sie.
Die jungen Frauen umarmten sich.
Jess konnte alles mitverfolgen, auch wenn sie
merkte, dass sie jetzt von außen zusah und nicht mehr Teil der
Szene war, als Eigon und ihre Freundin sich hinsetzten, die Köpfe
zusammenstecken, gemeinsam Tränen über Julia und den sterbenden
König vergossen und sich dabei an den Händen hielten.
Plötzlich schauten beide auf und lächelten, und
Jess sah, dass Julius durch die Tür trat und auf die Mädchen
zuging. Eigon lief zu ihm und ließ sich von ihm in die Arme
schließen. Es war eine schlichte, brüderliche Geste des Trostes und
der Unterstützung.
»Jess!« Rhodri legte ihr die Hände auf die
Schultern und schüttelte sie sanft. »Jetzt komm zurück, Mädchen.
Schluss damit!«
»Sie hat’s ihnen nicht gesagt. Sie wissen nichts
von Titus!« Jess versuchte, sich gegen den Griff zu wehren. »Sie
muss es ihnen sagen!«
»Später. Das kann sie ihnen später noch sagen.«
Rhodri hielt sie immer noch fest. »Jess! Jetzt reiß dich zusammen.«
Dieses Mal war seine Stimme laut und herrisch. Blinzelnd schüttelte
sie den Kopf. »So ist’s gut. Jetzt komm schon. Hör mir zu!«
»Lass mich los!« Plötzlich war sie im selben Raum
wie er. Sie versetzte ihm einen Schubs und befreite sich aus seinem
Griff. »Untersteh dich!«
»Jess, Rhodri ist hier, um dir zu helfen.«
Carmellas Stimme klang vorwurfsvoll.
»Das Auto mit deinem Gepäck steht vor der Tür. Wir
fahren jetzt los.« Rhodri ignorierte ihre Wut völlig. »Es liegt
ganz bei dir. Entweder du fährst jetzt mit mir nach Wales zurück,
oder ich lade deine Sachen hier ab und fahre ohne dich. Deine
Entscheidung.«
Verwirrt starrte sie ihn an. »Ich weiß nicht,
Rhodri«, sagte sie zögernd. »Das ist nett von dir, wirklich.«
»Allerdings!«, sagte er halb lachend, halb zornig.
»Also? Wie lautet deine Entscheidung?«
»Ich kann nicht weg. Ich muss sie warnen,
weil…«
»Nein, du brauchst niemanden vor irgendetwas zu
warnen!« Ärgerlich verdrehte er die Augen. »Verdammt nochmal,
Jess!«
»Jess, fahr mit ihm.« William kam zu ihr und ging
vor ihr in die Hocke. »Du musst weg aus Rom.«
»Fahr einfach, Jess.« Carmella schauderte. »Solange
es noch möglich ist.«
Jess schüttelte den Kopf. Sie war durcheinander und
verängstigt, zu viele Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf.
»Jess, wenn du nicht mit Rhodri fahren willst, dann
komm mit mir. Wir fahren direkt zum Flughafen.« William ergriff
ihre Hand.
»Eigon …«
»Wenn Eigon mit dir in Kontakt treten will, dann
tut sie das, wo immer du bist, Jess«, warf Carmella ein. »Sie hat
sich dir ja auch in Wales gezeigt, oder nicht?«
Jess stand auf. William kam ihr zu nah, er
bedrängte sie. Genauso wie Rhodri. Sie schaute zwischen den beiden
hin und her, spürte den Druck, den sie auf sie ausübten, und Panik
machte sich in ihr breit. »Ich kann nicht weg. Ich muss
herausfinden, was passiert ist. Ich habe den heiligen Petrus
gesehen, stellt euch das mal vor!« Sie drängte sich zwischen den
beiden durch. »Ich habe die Chance bekommen, in ihre Welt zu
schauen. Begreift ihr denn nicht, was das bedeutet? Wie unglaublich
das ist? Ich bin privilegiert! Da kann ich nicht einfach
wegfahren.«
Seufzend setzte William sich auf die Fersen. »Bist
du wirklich bereit, dich dafür umbringen zu lassen?«
»Daniel wird mich nicht umbringen. Er glaubt, dass
ihr mich für verrückt haltet.« Sie lachte sarkastisch. »Das genügt
ihm. Er hat sein Ziel erreicht.«
Sie sah, dass William und Rhodri einen entnervten
Blick tauschten. »Es ist immer noch meine Entscheidung«, sagte sie
schließlich mit ruhigerer Stimme. »Ihr könnt mich nicht zwingen,
irgendwohin zu fahren. Ihr seid nicht wie Daniel. Ihr seid
rationale und sehr, sehr nette Männer.« Sie warf beiden ein Lächeln
zu. »Danke für alles, was ihr für mich getan habt, aber ich will
euch nicht noch weiter gefährden. Und dich auch nicht.« Sie schaute
zu Carmella. »Ich suche mir ein kleines Hotel, wo niemand mich
kennt. Da schließe ich mich in mein Zimmer ein, so dass mir nichts
passieren wird, und ich kann, wann immer ich will, mit Eigon
Kontakt
aufnehmen und herausfinden, was mit ihr passiert. Und ich kann sie
vor dem Schwein Titus warnen. Sie sieht und hört mich, das ist mir
heute klargeworden. Sie schaut durch ein Fenster in die Zukunft,
genauso, wie ich durch ein Fenster in die Vergangenheit schaue. Ich
kann sie erreichen.«
Als sie geendet hatte, herrschte langes Schweigen.
Jess schnitt eine Grimasse. »O mein Gott, ihr seht alle richtig
geschockt aus. Ich habe nicht den Verstand verloren, wirklich
nicht.«
»Nein?« Steph hob skeptisch die Augenbrauen.
»Nein.« Jess schüttelte den Kopf.
»Daniel ist dir bis jetzt überallhin gefolgt. Wieso
glaubst du, dass er dir nicht auch heute aus dieser Wohnung
folgt?«, fragte Kim nachdenklich.
»Ich bin ihm auch früher schon entwischt.«
»Mit eher geringem Erfolg, wenn ich das mal sagen
darf«, kommentierte Rhodri. Er betrachtete Jess mit einem gewissen
widerwilligen Respekt. So verrückt er ihren Trotz fand angesichts
der geballten Vernunft, mit der auf sie eingeredet wurde, nötigte
er ihm auch Bewunderung ab. Er sah, dass ihr Blick zu ihm wanderte,
und zwinkerte ihr zu. »Also gut, was willst du mit deinem Gepäck
machen?«
»Kannst du es nach Wales mitnehmen? Wenn ich vorher
noch ein paar Sachen raushole, die ich brauchen könnte.« Wenn sie
dieses Mal Carmellas Rat befolgte und nicht an Titus dachte, konnte
ihr doch nichts passieren, oder? Sie lächelte Rhodri etwas hilflos
an.
»Was immer du willst.« Er nickte.
»Du fährst mit dem Auto?«, fragte William.
Rhodri zuckte mit den Schultern. »Ich behalte den
Wagen einfach ein paar Tage länger. Warum nicht?«
William beugte sich vor. »Ich habe eine Idee. Wie
wär’s mit einem Täuschungsmanöver? Wann wolltest du denn nach Hause
fahren, Steph?«
Steph zuckte mit den Schultern. »Eher bald. In
einer Woche oder so fährt Kim an die Seen, dann wird’s nämlich
sogar ihr zu heiß in Rom!« Sie schaute zu Kim, die zur Bestätigung
nickte.
»Warum fährst du dann nicht mit Rhodri? Du ziehst
Jess’ Sachen an, setzt ihre Brille auf, ihren Schal, weiß der
Teufel was. Ihr brecht ganz verstohlen zu nachtschlafender Zeit
auf.«
Bei Stephs entsetzter Miene lachte Rhodri auf. »Mit
etwas Glück könnte das sogar klappen. Dann bist du ihn wenigstens
eine Weile los, Jess.«
»Würdest du das tun?« Belustigt schaute Jess zu
ihrer Schwester. Bei der Vorstellung, dass Steph und Rhodri
zusammen in einem Auto durch halb Europa fuhren, musste sie aller
Erschöpfung zum Trotz lächeln.
Steph verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich könnte
mich dazu überwinden, wenn du die Idee gut findest. Warum nicht? Es
könnte sogar ganz lustig werden.« Der Mangel an Begeisterung in
ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Und was, wenn er nicht auf die List reinfällt?«,
fragte William. »Bis jetzt zumindest hat er dich noch jedes Mal
gefunden!«
»Du bleibst hier und behältst Jess im Auge«, sagte
Rhodri. »So haben wir alle Möglichkeiten abgedeckt.« Er beobachtete
Jess, deren Gesicht sich bei diesem Vorschlag verzog.
Allerdings war es der einzige Plan, auf den sie
sich einigen konnten angesichts Jess’ Unnachgiebigkeit, und nachdem
sie den Entschluss einmal gefasst hatten, ließ er sich erstaunlich
leicht umsetzen. Kim und William kehrten zum
Palazzo zurück, den William etwas später durch einen wenig
benutzten Dienstboteneingang an der dem Garten gegenüberliegenden
Seite verließ. Er würde sich für ein paar Tage in einem billigen
Hotel einquartieren, allein ein paar Sehenswürdigkeiten besichtigen
und stets sein Handy griffbereit halten für den Fall, dass Jess ihn
brauchte. Zu mehr Konzessionen war sie nicht bereit gewesen.
Rhodri und Steph brachen in den frühen
Morgenstunden auf. In aller auffälligen Heimlichkeit stiegen sie in
den gemieteten Mercedes, fuhren langsam und umsichtig aus Rom
hinaus und widerstanden dem Drang, sich laufend umzudrehen und
einen Blick hinter sich zu werfen.
Am selben Morgen verließ Jess Carmellas Wohnung,
gekleidet in ein Paar Versace-Jeans und eine Bluse von Prada, die
beide ebenso Carmella gehörten wie die überdimensionale
Sonnenbrille und das grellrote Hermès-Tuch, das ihre Haare
bedeckte. Der Ledersack, den sie über die Schulter geschlungen
hatte, stammte aus Carmellas Besitz wie auch der auffällige
Lippenstift. Die Verkleidung würde zwar niemanden täuschen, der
Jess aus der Nähe sah, doch ein Mensch, der an der übernächsten
Straßenecke lauerte, würde sich vielleicht eine Weile hinters Licht
führen lassen. Die beiden Frauen waren ähnlich groß und hatten eine
ähnliche Figur, und Jess bemühte sich, Carmellas wiegenden Gang und
elegante Haltung nachzuahmen. Für ihre Maskerade hatte sie sich
sogar ein Paar Gucci-Sandalen ausgeliehen. Es fiel ihr schwer,
keine Miene zu verziehen, und ein paar Minuten vergaß sie beinahe
ihre Angst und ihren Ärger und freute sich an dem Streich, während
sie auf die Via Condotti und die Freiheit zuschlenderte.
Auf der Damentoilette eines erschreckend vornehmen
Warenhauses gab sie sich geschlagen und tauschte die hochhackigen
Sandalen gegen ein Paar ihrer eigenen Schuhe,
das sie aus dem Lederrucksack holte. Sie verließ das Geschäft
durch einen anderen Eingang als den, durch den sie es betreten
hatte, und steuerte jetzt, da sie richtig ausschreiten konnte, mit
schnellen Schritten auf ihre neue Zuflucht zu, eine Pension, die
einer Bekannten von Carmella gehörte. Sinnigerweise lag sie ganz in
der Nähe von Kims Wohnung, auf der anderen Seite des Campo de’
Fiori in einer verwinkelten Gasse, in der lauter mittelalterliche
Gebäude standen.
Auch alles an dem Haus, in dem sich die Pension
befand, war sehr alt. Es war an die verbliebene Mauer einer Kirche
gebaut, die schon vor langer Zeit abgerissen worden war, überall
standen Antiquitäten und Kuriositäten, schwere, mit Quasten
besetzte Vorhänge wetteiferten mit Bildern und Zierrat um Platz an
den Wänden, und die dunklen Eichenstufen ächzten, als Jess ihrer
Pensionswirtin, die Margaretta hieß, ins oberste Stockwerk
folgte.
Entzückt sah sie sich in ihrer neuen Bleibe um. Es
war ein kleines Zimmer, dessen eine Wand aus der unverputzten Mauer
der alten Kirche bestand, die Möbel bestachen durch ihre
Stilvielfalt. Als Jess schließlich allein zurückblieb, ließ sie
ihren Rucksack auf den Boden fallen und setzte sich mit einem
behaglichen Seufzen aufs Bett.
Vergiss nicht, dich die ganze Zeit zu schützen.
Lass Titus nicht in deinen Kopf, sonst bist zu verloren. Einen
Moment klangen ihr die Worte, die Carmella ihr zum Abschied noch
einmal eingeschärft hatte, in den Ohren. Mach dein neues
Hotelzimmer zu einer Zuflucht, zu einer Basis, von der aus du deine
Nachforschungen anstellen kannst. Werde nicht zu seinem Sklaven,
und auch nicht zum Sklaven Eigons, sonst verlierst du deine
Seele!
Jess biss sich auf die Unterlippe. Jetzt, da sie
hier war, außerhalb Daniels Reichweite und ganz allein - wenn ihr
Plan
denn aufgegangen war -, hatte sie eigentlich nur noch Lust, sich
aufs Bett zu legen und die Augen zu schließen. Ihr Blick fiel auf
ihren Rucksack, in dem ihr Handy lag. Sie könnte jemanden anrufen.
Sie könnte sich bei Steph melden und fragen, wo sie mittlerweile
waren und ob Daniel ihnen folgte. Sie verzog das Gesicht.
Eigentlich sollte sie William anrufen und ihm sagen, dass sie gut
in der Pension eingetroffen und, soweit sie es sehen konnte,
niemand ihr gefolgt war. Er würde sich Sorgen machen. Sie lächelte
bekümmert. Er tat wirklich so viel für sie. Sie stand auf und ging
zum Fenster. Die Gasse war so schmal, dass sie die Straße selbst
gar nicht sehen konnte. Im Haus gegenüber erschien eine Frau am
Fenster, schüttelte kurz ein Staubtuch aus, trat dann aus der Sonne
in den Raum zurück und schloss halb die Läden.
Als Jess sich wieder ins Zimmer umdrehte, stand
Eigon vor ihr und beobachtete sie mit fragender Miene.
»Hallo.« Jess war so überrascht, dass sie Eigon
tatsächlich begrüßte. Dann lachte sie verlegen. »Kannst du mich
hören?«
Die Gestalt reagierte nicht, sie wurde zu einem
Schatten, durch den Jess die Umrisse des Bettes sehen konnte.
»Bitte geh nicht!« Ihre Stimme stieg schrill in die Höhe. »Ich muss
mit dir reden. Ich will dich warnen.« Aber die Gestalt war
verschwunden. Jess trat vor und tastete mit ausgestreckten Händen
in der Luft nach etwas, das Substanz hatte, aber da war nichts.
Entmutigt ließ sie die Schultern hängen und sank seufzend wieder
aufs Bett. Carmellas Warnung hatte sie bereits vergessen.