Kapitel 8
In Rom war es ein sonniger Morgen und schon sehr heiß. Einen Moment stand Steph am offenen Fenster und schaute auf die Straße hinunter, dann schloss sie seufzend die Fensterläden vor der Hitze. Barfuß und noch in ihrem weißen Baumwollnachthemd ging sie den Flur entlang zur Küche. »Ich habe nochmal versucht anzurufen. Die Leitung ist immer noch tot«, sagte sie zu Kim. »Jetzt rufe ich bei der Polizei an.«
»Meinst du nicht, dass das ein bisschen übertrieben ist? Ruf doch bei einem Nachbarn an. Sie haben doch bestimmt nichts dagegen, jetzt, wo du sie nicht mehr aus dem Schlaf reißt.« Kim goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein, dann besann sie sich und schenkte auch Steph eine ein. »Du machst dir zu viele Sorgen, Steph.« Sie strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht. »Mein Gott, deine Schwester ist eine erwachsene Frau!«
Steph setzte sich Kim gegenüber an den Tisch und griff nach ihrem Kaffee. »Ich weiß. Und wenn sie davon erführe, würde sie ausrasten. Aber … ich habe einfach ein mulmiges Gefühl. Vor allem nach gestern Abend.«
»Hast du bei den Prices angerufen?«
Steph nickte. »Keine Antwort. Was mir seltsam vorkommt. Irgendjemand muss sich doch um die Tiere kümmern.«
»Kennst du sonst niemanden dort?«
»Doch, natürlich.« Steph lachte.
»Dann ruf doch die an. Um dich zu beruhigen.«
Eineinhalb Stunden später rief Sally Lomax bei Steph in Rom zurück. »Nur, um dir zu sagen, dass alles in Ordnung ist. Ich sitze im Wagen vor Ty Bran und habe gerade mit einem netten Typen gesprochen, William heißt er, der sagte, er würde Jess besuchen. Sie wissen, dass das Telefon nicht funktioniert, und haben den Schaden gemeldet. Ich habe Jess zwar nicht gesehen, aber ihr Auto steht hier, und er meinte, er würde ihr sagen, dass sie dich heute Abend anrufen soll. Hoffentlich beruhigt dich das.«
»Siehst du!«, meinte Kim triumphierend, als Steph ihr von der Nachricht erzählte. »Hab ich’s dir doch gesagt. Und sie ist wieder mit William zusammen? Das ist doch großartig.«
 
Auf ihrem behelfsmäßigen Bett in der Scheune fuhr Jess im Schlaf zusammen. Hinter den geschlossenen Lidern wanderten ihre Augen unruhig hin und her. Sie ließen die verirrten, verängstigten Kinder zurück. Das durften sie nicht. Sie mussten die Suche fortsetzen.
Doch die Entscheidung war gefallen, es gab keinen Aufschub mehr. Für Cerys und ihre Tochter wurde ein Wagen mit einer fünfzig Mann starken Eskorte bereitgestellt. Die meisten Gefangenen aus der Schlacht waren bereits nach Osten in Marsch gesetzt worden, die restlichen folgten ihnen jetzt, in Ketten, niedergeschlagen, verwundet, einige halbtot vor Krankheit und Hunger. Scapula beobachtete, wie die Frau und das Kind aus dem Zelt zum Wagen geleitet wurden. Cerys schritt würdevoll aus. Nur die Hände, die sie in den Falten der römischen Tunika und des Umhangs zu Fäusten geballt hatte, verrieten ihre Anspannung. Als sie am General vorbeikam, blieb sie stehen. »Versprecht mir, dass Ihr weiter nach meinen Kindern sucht.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, doch sie sah ihm fest in die Augen.
Er nickte. »Wir werden die Suche fortsetzen.« Beide wussten, dass er im Land blieb, um seinen Sieg zu festigen und weiter in die Berge vorzumarschieren. Für die Suche nach den Kindern blieb da keine Zeit.
»Danke.« Mehr sagte sie nicht. Dann drehte sie sich zum Wagen, gestattete einem Soldaten, ihren Arm zu nehmen und ihr die Treppe hinaufzuhelfen. Eigon folgte ihr mit blassem, tränenüberströmtem Gesicht. »Mama, was ist mit Togo und Glads?« Sie hielt sich am Rock ihrer Mutter fest.
»Die Soldaten suchen weiter nach ihnen, mein Kind.« Cerys setzte sich auf die Bank, die im Schutz des Lederverdecks an der Seite des Wagens entlang verlief, und legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter. »Wir müssen zur Göttin beten, dass sie sie beschützt.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, sie konnte selbst die Tränen nur mit Mühe unterdrücken. Als sich der Wagen schlingernd in Bewegung setzte, blickten sie beide durch die doppelte Reihe marschierender Soldaten, die ihnen folgte, zu den goldenen Konturen der Berge zurück, zur breiten Flussebene, den geordneten Reihen römischer Zelte, die hinter den Befestigungsanlagen allmählich kleiner wurden. Sie folgten dem mäandernden Verlauf des breiten Flusses zum Legionslager Viroconium, von wo aus sie zu ihrer Reise nach Osten, nach Camulodunum, aufbrechen würden.
In Viroconium wurden sie im Haus der Gemahlin eines führenden Offiziers untergebracht. Die Frau war freundlich und begegnete ihnen mit Ehrfurcht, das üppige Essen wurde ihnen am Familientisch serviert, doch weder Cerys noch ihre Tochter konnten viel zu sich nehmen. Sie waren beide zu sehr in ihrer Trauer gefangen. Und so war es bei jeder Station. Am Ende eines jeden Tages hielt die Kolonne bei einer der Festungen, die in der Entfernung eines Tagesritts an den Straßen errichtet worden waren, und in jeder bekamen sie ein Bett und etwas Warmes zu essen. Mehrmals gab der Wachposten Cerys Bitten nach und gestattete ihnen zu reiten. Sie und Eigon freuten sich, der Enge des Wagens zu entkommen, und der ganze Trupp kam schneller voran. Selbst umgeben von Wachposten und mit einer Trense, die vom Zaumzeug ihres Pferdes zur Hand eines berittenen Soldaten führte, fühlte Cerys sich besser. Zuerst hob sich ihre Laune ein wenig durch die Bewegung, doch je weiter sie sich vom Land der Silurer und ihrer Nachbarn im Norden, der Ordovicer, entfernten, desto weniger sprach sie mit Eigon. Es brach ihr das Herz, wenn sie an ihre zwei verlorenen Kinder dachte. Eigon bedrückte das Schweigen ihrer Mutter. Sie hüllte sich noch fester in ihren Umhang, und ihr Schuldgefühl und ihre Einsamkeit wuchsen mit jedem Schritt, den ihr zotteliges Pony machte.
Die Landschaft veränderte sich. Sie ließen die Berge von Wales weit im Westen hinter sich und folgten einer Straße, die mit jedem Tag durch flacheres Gelände führte. Schließlich waren auch die sanften Hügel verschwunden, und sie mühten sich über eine Ebene voran, durch endlose Wälder, durch Buschwerk und Sträucher und Gegenden, in denen Wälder gerodet worden waren, vorbei an kleinen, der Wildnis abgerungenen Ackerflächen und größeren Feldern, durch Dörfer, in denen die Einwohner sich beim Anblick der Römer ängstlich zusammendrängten und wütend die Fäuste reckten, wenn sie vorüber waren. Und unablässig zogen sie in Richtung der aufgehenden Sonne.
In Verulamium blieb der Trupp für zwei Tage.
Und dort hörte Eigon, als sie anderen Kindern beim Spielen zusah, auch Glads Stimme.
Wo bist du? Du hast uns gesagt, wir sollen im Wald bleiben. Eigon? Ich kann Togo nicht mehr finden. Können wir jetzt mit dem Spielen aufhören? Ich bin ganz allein!
Die Stimme klang hysterisch und wurde immer wieder von Schluchzern unterbrochen, hallte über die breiten Straßen und über das Gelächter der Kinder hinweg.
»Mama!« Eigon zog ihre Mutter an der Hand. »Glads ruft mich, ich kann sie hören.«
Cerys sah nach unten, ihre Augen blitzten hart wie Feuerstein. »Ich will den Namen deiner Schwester nicht mehr hören!«
»Aber, Mama, bitte! Sie ruft nach mir. Sie hat sich verirrt, sie hat Angst!«
Cerys entriss ihr die Hand. »Du lügst!« Sie wandte sich ab, um ihre Tränen zu verbergen. »Denk nicht mehr an sie. Sie sind fort.«
»Aber, Mama, Glads ist noch da. Sie wartet auf uns. Sie hat Togo verloren.«
Cerys schrie gequält auf und stieß Eigon von sich. Danach versuchte das Kind nicht mehr, seiner Mutter zu sagen, was es gehört hatte. Nachts im Bett aber betete Eigon, schüttete der Göttin Bride ihr Herz aus und flehte sie an, ihrem Bruder und ihrer Schwester beizustehen.
Doch die Göttin gab ihr keine Antwort.
 
Als Jess aufwachte, war es helllichter Tag. Sie fühlte sich so steif, dass sie sich kaum rühren konnte. Einen Moment wusste sie nicht, wo sie war, dann setzte sie sich seufzend auf und sah sich um. Ihr Traum verblasste, die Ereignisse des vergangenen Tages trieben wieder an die Oberfläche. Hungrig, durstig und voller Angst stand sie auf und schlich zur Scheunentür. Der Hof war verwaist.
Ihr Rundgang um das Farmhaus und die Außengebäude bestätigten, dass tatsächlich niemand da war. Hungrig, wie sie war, öffnete sie die alte Tiefkühltruhe, die sie in einem Anbau hinter dem Heuschuppen entdeckte, fand aber nur einen Berg gefrorener Lammteile. Enttäuscht schloss sie die Truhe wieder. Megans Gemüsegarten erwies sich als nahrhafter. Eine Handvoll verspäteter Himbeeren und Erdbeeren, schwarze Johnanisbeeren, Erbsen und eine oder zwei Karotten, von denen sie die Erde abbürstete, brachten sie wieder zu Kräften, und damit kehrten auch ihre Lebensgeister zurück. Bis sie sich satt gegessen hatte, hatte sie sich einen Plan überlegt: Sie würde nach Ty Bran gehen und vom Wald auf dem darüberliegenden Berg aus feststellen, ob die Luft rein war. Sollte Daniel noch dort sein, würde sie einen weiten Bogen ums Haus schlagen und zu Fuß zum Dorf unten im Tal gehen.
Auf dem Berg oberhalb des Hauses stehend, hatte sie das Haus und den Feldweg im Blick. Von Daniels Auto war nichts zu sehen. Zögernd stieg Jess zum Tor hinunter und blieb davor stehen, sah genau in alle Ecken und Winkel des Hofs, zu jedem Baum und jedem Strauch. Sie hatte das Gefühl, dass niemand da war. Die Garage war leer, auf dem Hof stand nur ihr kleiner Ford. Woanders konnte sein Wagen nicht sein. Hinter dem Haus war dafür kein Platz, und entlang des Feldwegs gab es keine Versteckmöglichkeiten. Daniel war weg, davon war Jess überzeugt. Die Amsel saß auf ihrem Lieblingsplatz oben auf dem Dach des Ateliers. Jess lächelte. Wenn in den letzten Minuten jemand hier gewesen wäre, säße der Vogel nicht dort. So leise wie möglich schob sie das Tor auf und schlich über den Hof. Die Haustür war verschlossen. An die Mauer gepresst, kroch sie zum Küchenfester und spähte hinein. Auch dort war niemand. Geduckt ging sie unter dem Fenster vorbei zur Hausecke und sah, dass die hintere Tür einen Spaltbreit offen stand. Vor Schreck fuhr sie zusammen und wartete mit angehaltenem Atem. War er doch noch hier? Erst eine ganze Weile später wagte sie es, zur Tür zu schleichen und sie so weit wie möglich zu öffnen. Nichts war zu hören. Es kostete sie große Überwindung, das Haus zu betreten, und noch größeren Mut, es zu durchsuchen. Aber bis auf die zerbrochene Fensterscheibe im Esszimmer, durch die sich Daniel Zutritt zum Haus verschafft hatte, war keine Spur von ihm zu sehen.
Mit klopfendem Herzen stand sie kurz darauf in der Küche und überdachte ihre Situation. Sie konnte unmöglich hierbleiben, dafür sah Daniel sie viel zu sehr als Gefahr. Sie runzelte die Stirn. Wo steckte er jetzt? Und warum war er gefahren? Hatte Natalie ihn angerufen und gebeten heimzukommen? Vielleicht griff sein Vorwand nicht mehr. Bei dem Gedanken lächelte sie bitter. Sie würde auf jeden Fall nicht warten, bis er zurückkam. Ihm musste klar sein, dass sie anderen Leuten von seinen Drohungen erzählt hatte. Oder wollte er sich herauslügen und allen weismachen, dass sie durchgedreht war? Er hatte Recht, es gab keinen Beweis für das, was passiert war, ob nun für seine Drohungen gestern oder die Sache in London. Keinen einzigen Beweis. Dafür hatte sie schon selbst gesorgt. Sie hatte niemandem davon erzählt. Unglücklich ging sie auf und ab, mit halbem Ohr hörte sie die Amsel oben auf dem Dach singen. Der Gesang tröstete sie ein wenig.
Wo bist du?
Unvermittelt trieben die Worte zum Fenster herein, eine Kinderstimme aus weiter Ferne.
Jess schauderte.
Wo bist du? Lass mich nicht allein!
»O mein Gott, das halte ich nicht mehr aus!« Kurz entschlossen drehte sie sich zur Tür.
Ihre Handtasche, die Daniel durchwühlt hatte, lag auf dem Küchentisch. Jess warf einen Blick hinein. Dort war ihr Handy, er hatte es hineingelegt. Und ihr Pass steckte in der Seitentasche. Er hatte nichts mitgenommen. Auf Stephs Liste mit Notrufnummern fand Jess den Namen eines Handwerkers. Sie griff zum Hörer, um ihn anzurufen und zu bitten, das Fenster zu reparieren. Aber die Leitung war immer noch tot. Und der Akku ihres Handys war nach wie vor leer, Daniel hatte es vom Ladegerät getrennt. Fluchend riss sie den Zettel mit der Nummer ab und stopfte ihn in ihre Tasche. Sie machte einen letzten Rundgang durchs Erdgeschoss, um sich zu vergewissern, dass sie auch nichts vergessen hatte, steckte dabei noch Rhodris CDs ein, dann verließ sie das Haus und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Sie sperrte das Auto auf und zog einen der Koffer zu sich. Ein paar Sachen musste sie mitnehmen. Sie würde sie in eine kleine Tasche packen und ins Dorf schleppen, und dort würde sie jemanden finden, von dessen Telefon aus sie anrufen konnte. Eigentlich war es überflüssig, noch einmal zu probieren, ob der Wagen startete, aber sie versuchte es trotzdem.
Er sprang sofort an. Schluchzend vor Erleichterung zog sie die Fahrertür ins Schloss und fuhr langsam zum Hof hinaus. Sobald sie den Weg erreichte, trat sie aufs Gas. Wenn Daniel doch noch irgendwo in der Nähe war und sie aufzuhalten versuchte, wollte sie so schnell an ihm vorbeifahren, dass er sie unmöglich einholen konnte. Schlingernd und ächzend holperte der Wagen über die Schlaglöcher, aber dem Motor schien nichts zu fehlen. Jess warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Sonne spiegelte sich glitzernd in den Pfützen, fiel schräg durch die Zweige und warf ein Spinnennetz von Schatten auf die tiefen Furchen.
»Lebt wohl, Eigon, Glads, Togo«, flüsterte sie.
Sie bekam keine Antwort.
 
Sie blieb erst stehen, als sie im nächsten Ort die Werkstatt erreichte, wo ein zuvorkommender Mechaniker innerhalb weniger Minuten den Wackelkontakt entdeckt hatte. Eine halbe Stunde später hatte Jess getankt, sich ein paar Sandwiches gekauft und den Handwerker angerufen, damit er oben im Haus das Fenster reparierte. Sie steckte ihr Handy ins Ladegerät und suchte aus ihrer Sammlung eine CD heraus.
Als Erstes fiel ihr Elgars Kantate Caractacus mit Rhodri in der Titelrolle in die Hand. Nachdenklich betrachtete sie das Cover, dann zog sie das Begleitheft aus der Hülle. Doch, Caractacus war der Mann, den sie als Caratacus kannte, und seine Tochter kam ebenfalls vor. Eigen, so hieß sie hier. Stirnrunzelnd schaute Jess auf die Besetzung. Orbin. Wer war Orbin? Sie überflog den Text. Offenbar Eigens Geliebter. Jess schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht stimmen. Eigon war ein junges Mädchen. In der Besetzung wurden noch ein Erzdruide aufgeführt und natürlich Kaiser Claudius. Langsamer las sie weiter. Elgar hatte die Szene in seinen geliebten Malvern Hills angesiedelt. Jess nahm die CD aus der Hülle, legte sie in den Spieler, fuhr zur Werkstatt hinaus und drehte die Lautstärke hoch. Hinter ihr lag der wahre Schauplatz von Caratacus’ Niederlage im Sommerlicht da, schmiegte sich unter die Höhen der sanften Hügel, schlief in der Biegung des Flusses, der Ort, den er mit so großer Umsicht für seine Schlacht mit den römischen Truppen gewählt und der ihm so schlecht gedient hatte bei der Begegnung mit der größten Streitmacht, die das Land jemals gesehen hatte.
 
Die letzte Etappe ihrer Reise führte von Verulamium nach Camulodunum. Insgesamt waren sie vierzehn Tage unterwegs gewesen. Camulodunum war das Zentrum des Bündnisses, zu dem sich die beiden großen Stämme der Catuvellaunen und der Trinovanten zusammengeschlossen hatten. Cunobelinus, der Vater Caradocs, hatte vor der Ankunft der Römer hier als König geherrscht. Jetzt diente die Stadt als Zentrum und Militärstützpunkt der neuen Provinz Britannien. Und während Cerys mit ihrer Tochter hier in der Festung wartete, erfuhr sie, was das Schicksal für sie bereithielt: Sobald ihr Gemahl zu ihnen in den Süden kam, würden alle Gefangenen nach Rom gebracht werden, wo man sie dem römischen Volk und dem Kaiser als besiegte Feinde vorführen wollte. Was dann folgen würde, stand ebenso fest. Cerys brauchte den Blick in den Augen des Legionskommandanten gar nicht zu deuten, um zu wissen, dass ihnen ein grausamer Tod vor den jubelnden Mengen bevorstand, und ebenso wusste sie, dass sie und Eigon strengstens bewacht würden, während sie auf die Ankunft ihres Gemahls aus der Gefangenschaft der Königin der Briganten warteten. Ihre Tage als wertvolle Gefangene waren zu Ende, ihr neues Leben als gefangene Sklaven hatte begonnen.
Cerys starrte das Schreiben in der Hand des Kommandanten an, als könnte sie es dadurch zum Verschwinden bringen, als könnte sie ihn dazu zwingen, die Zeilen noch einmal zu lesen und zu sagen, er habe sich geirrt, doch sein Blick bestätigte nur, was er soeben vorgelesen hatte. Schon winkte er den Wachposten zu sich. Sie wurde aus dem Raum geführt, Eigon dicht hinter hier.
»Mama? Mama, wohin gehen wir? Mama, was passiert jetzt?« Das Mädchen griff nach dem Rock ihrer Tunika. Cerys achtete nicht auf sie. Innerlich wappnete sie sich. Sie würde keine Angst zeigen. Sie würde keine Trauer zeigen. Sie würde die Ehre ihres Stammes und die königliche Tapferkeit ihres Gemahls vor diesen Männern nicht verraten. Und ihre Tochter auch nicht.
»Sei still, Eigon«, herrschte sie sie an. »Vergiss nicht, du bist eine Prinzessin. Zeig ihnen nicht, dass du Angst hast!«
Eigon zuckte zusammen und schluckte ihre Tränen hinunter. Einer der Legionäre in der Eskorte hatte den Wortwechsel bemerkt. Er schaute zum Kommandanten, der in die andere Richtung sah, und warf dem kleinen Mädchen ein Lächeln zu im Versuch, es zu trösten. »Nur Mut!«, flüsterte er.
Der letzte Chor der ersten CD endete mit einer Fanfare. Jess zuckte zusammen und merkte, dass sie viele Kilometer gefahren war, ohne auf ihre Umgebung zu achten, völlig gefangen von der leidenschaftlichen Musik. Sie hielt Ausschau nach einem Straßenschild. Sie war noch auf dem richtigen Weg zur Autobahn und nach London. Während sich in ihrem Kopf Eigons Schicksal entfaltete, hatte ein anderer Teil ihres Bewusstseins am Lenkrad gesessen, war abgebogen, um Kreisverkehre und durch Dörfer gefahren und hatte sich dabei immer weiter von Wales entfernt.
Erst als sie an der Raststätte Warwick Services an der M4 parkte und sich für eine Tasse Kaffee und ein getoastetes Sandwich anstellte, zwang sie sich, Eigon und deren Familie aus ihren Gedanken zu verbannen und sich der Gegenwart zu stellen. In ihre Wohnung konnte sie nicht, die Untermieterin würde sich über ihre vorzeitige Rückkehr gar nicht freuen. Außerdem würde Daniel dort zuerst nach ihr suchen. Trotz der vielen Menschen um sich her schauderte Jess. Nein, sie würde bei ihrem Plan bleiben. Sie hatte alles dabei, was sie brauchte: ihren Pass, ihre Kreditkarten. Sie würde Steph - und Eigon - nach Rom folgen.
Die Tochter des Königs
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