Kapitel 23
Er ist uns auf den Leim gegangen. Er
folgt uns tatsächlich.« Zum zweiten Mal warf Rhodri einen kurzen
Blick in den Rückspiegel. »Wie zum Teufel hat er so schnell ein
Auto aufgetrieben?«
Nervös schaute Steph über die Schulter hinter sich.
»Ich kann nichts sehen.« Kein einziges Auto war unterwegs auf der
Straße, die sich in einer langgestreckten Kurve hinzog, ehe sie in
den Bergen verschwand.
»Er hält großen Abstand. Ich bin mir ziemlich
sicher, dass er es ist.« Rhodri grinste. »Der Trick ist, so zu
fahren, dass er an uns dranbleibt, aber nicht zu nah kommt.« Er war
immer noch verblüfft, wie ähnlich sich die beiden Schwestern sahen,
wenn Steph wie jetzt Jess’ auffälliges türkisfarbenes Oberteil trug
und ihre Sonnenbrille aufsetzte. Allerdings beschränkte sich die
Ähnlichkeit rein aufs Äußerliche; was die Persönlichkeit betraf,
konnten sie unterschiedlicher nicht sein. Er lächelte bedauernd.
Trotzdem, offenbar klappte ihr Täuschungsmanöver. »Schau mal auf
die Karte. Kommt demnächst eine Abzweigung, die uns in ein paar
Kilometern auf die Hauptstraße zurückbringt? Wenn der Wagen uns
folgt, wissen wir, dass es wirklich Daniel ist. Dann fahren wir auf
die Autobahn, und ich kann Gas geben.«
Steph schlug den Straßenatlas auf und fuhr ihre
bisherige
Route mit dem Finger nach. »Ja, in vier bis fünf Kilometern kommt
eine Abzweigung.«
»Gut, die nehmen wir.«
»Und was machen wir, wenn wir irgendwo anhalten
müssen?«
Rhodri lachte. »Was, hast du schon Hunger? Wir
müssen einfach dafür sorgen, dass er dich nicht aus der Nähe sieht.
Das sollte sich einrichten lassen. Ich bezweifle, dass er uns allzu
sehr auf die Pelle rücken will. Nur so weit, um Jess Angst zu
machen. Wenn du Jess wärst.«
»Er darf nicht ungeschoren davonkommen,
Rhodri.«
Rhodris Miene verfinsterte sich. Vor ihnen erschien
der Wegweiser für die Abzweigung, die sie nehmen wollten. »Das wird
er auch nicht«, antwortete er überzeugt. »Da sind William und ich
uns einig.« Er warf ihr ein kurzes, fast raubtierhaftes Lächeln zu
und bog mit dem schweren Wagen in hohem Tempo auf die Nebenstraße
ab. »Sobald wir wieder in heimischen Gefilden sind, machen wir
Daniel Nicolson das Leben zur Hölle, darauf kannst du dich
verlassen.«
Steph legte den Straßenatlas in den Fußraum. »Meine
Schwester gefällt dir, oder?« Sie warf ihm einen Seitenblick
zu.
Er lachte laut. »Das würde ich nicht sagen. Eher,
dass sie gewaltig nervt! Genau wie du.«
»Aber auf eine anziehende Art, oder?«, fragte Steph
nach, ohne auf die Beleidigung einzugehen.
»Beide Töchter eurer Mutter sind attraktiv.«
Sie schüttelte den Kopf. »Walisische
Phrasendrescherei.«
»Aber mitnichten!« Er schaute in den Rückspiegel.
»Der Wagen hinter uns kommt jetzt ein bisschen näher.«
»Also folgt der Wagen uns tatsächlich.«
»Offenbar. Es ist ein großes Auto mit viel PS.
Braun. Die Marke kann ich aber noch nicht erkennen.«
»Das heißt, wenn er’s wirklich ist, könnte er uns
einholen?« Steph zog sich vor Angst der Magen zusammen.
»Nicht, wenn ich Vollgas gebe. Unser Schlitten ist
schneller als seiner.« Rhodri schien Spaß an der Verfolgungsjagd zu
finden. »Und ich will nicht, dass er uns einholt. Zumindest jetzt
noch nicht. Vorzugsweise erst, wenn wir den Ärmelkanal erreichen.
Sobald wir auf der Autobahn sind, hat er keine Chance mehr, aber
ich sorge dafür, dass wir ihn nicht ganz abhängen.«
In ihrem hübschen Zimmer in der Pension sah Jess,
dass es in der Vergangenheit wieder Sommer war. Eigon saß mit
Antonia draußen beim Feigenbaum. Jess lächelte. Die jungen Frauen
freuten sich an der Stille des Gartens, zwischen ihnen stand auf
dem Boden ein Korb mit getrockneten Kräutern. Eigon sang leise,
während sie die Blätter der Kräuter abstreiften und in beschriftete
Gefäße füllten. Der Hof lag im Windschatten der Hausmauern, doch im
Obstgarten, der sich über die Abhänge hinter der Villa erstreckte,
bogen sich die Bäume im heftigen Sommerwind. Eigon wischte
Kräuterbrösel von ihrem Rock, nahm eine weitere Handvoll
getrockneter Stiele, füllte ihr Gefäß und verschloss es fest mit
dem Stöpsel. Als Nächstes griff sie nach einem Sträußchen
getrockneten Thymians, von dem sie die Blättchen abstreifte,
während Antonia sich daranmachte, die Gefäße auf ein Tablett zu
schlichten. Als Eigon das Ende des Lieds erreichte und eine
einvernehmliche Stille einsetzte, richtete sich ihre Freundin mit
einem leisen Stöhnen auf.
»Es ist unglaublich heiß, trotz des Windes. Schau
mal zum Himmel. Ich glaube, da braut sich ein Gewitter
zusammen.«
Eigon schaute nach oben und runzelte die Stirn. Der
Himmel über der Stadt hatte eine seltsam metallische Färbung
angenommen. »Das ist kein Gewitter, das ist Rauch!«, rief
sie.
Die beiden Frauen sprangen auf und liefen durch den
Garten zur Mauer, von der der Berg steil nach Süden abfiel und man
einen guten Blick auf die Stadt hatte. Das sumpfige Gelände, das
den Tiber säumte, ging rasch in die Elendsviertel über, die rund um
die hohen Stadtmauern entstanden waren. Der Himmel über der Stadt
war fast schwarz vor Rauch.
Hinter ihnen raschelte etwas. Sie drehten sich um,
und Aelius stand vor ihnen.
»Es brennt! Ein großes Feuer mitten in der Stadt!«
Erregt trat er von einem Fuß auf den anderen. »Einer unserer
Sklaven ist gerade zurückgekommen. Er sagt, in der Stadt herrscht
das reinste Chaos, die Straßen sind verstopft vor Menschen, die zu
fliehen versuchen.« Er machte eine kurze Pause. »Mein Sohn ist in
der Stadt.«
Eigon hatte Flavius erst nach langer Zeit verzeihen
können, dass er Julia allein in die Stadt hatte gehen lassen und
sie damit in den Tod geschickt hatte. Selbst jetzt erwähnte Aelius
seinen Namen in Eigons Gegenwart nur widerstrebend. »Ich wollte
nicht mit der Königin, Eurer Mutter, darüber sprechen. Sie hat mit
Eurem kranken Vater schon genug Sorgen.« Erschöpfung und Kummer
waren ihm ins Gesicht geschrieben.
»Das war richtig von dir, mich zu benachrichtigen.«
Eigon seufzte, dann wandte sie sich unvermittelt an Antonia. »Wo
sind Julius und dein Großvater?« Ein Schauder lief ihr über den
Rücken. Einen Moment schwiegen sie bestürzt.
Schließlich machte Antonia eine hilflose Geste. »Es
wird ihnen schon nichts passiert sein.« Beide Frauen blickten
wieder über die Mauer hinweg zur Stadt. »Die Alarmglocken
werden geläutet haben, und die Kohorten und Wachen werden sofort
zur Stelle gewesen sein.« Damit sprach Antonia vor allem sich
selbst Mut zu. Im Stadtzentrum mit den übervölkerten Holzbauten,
die zwischen die etwas sichereren Steinhäuser gepfercht waren,
brachen oft Brände aus. »Wir können nur beten, dass ihnen nichts
zustößt.«
Aelius hob skeptisch die Augenbrauen. »Möge Vulkan
gnädig sein.« Er verbeugte sich förmlich.
»Gib mir Bescheid, sobald du etwas erfährst«, rief
Eigon ihm nach, als er sich zum Gehen wandte. »Flavius wird
bestimmt auf sich aufpassen«, fügte sie noch hinzu, doch das hörte
Aelius offenbar nicht mehr.
Mit einem Schaudern setzte sie sich auf eine
Steinbank. »Ich bete zu deinem Gott und zu meinen, dass niemandem
etwas zustößt.« Beide Frauen schauten zum Himmel. Die Rauchwolken
über der Stadt hatten die Farbe von geschmolzenem Eisen
angenommen.
»Vater im Himmel, halte schützend deine Hand über
die Menschen in dieser Stadt«, murmelte Antonia leise. »Schick
einen Regen zur Unterstützung der Feuerwehr.« Sie sah verzagt aus.
»Erst gestern hat Großvater über die Prophezeiungen gesprochen, von
denen der Apostel Petrus uns erzählt hat. Er sagte, die Propheten
hätten Rom als Hure bezeichnet, und die Weisen aus Ägypten hätten
vorhergesagt, dass an dem Tag, an dem der Hundsstern aufgeht, eine
große Stadt fallen werde. Und dass diese Stadt Rom sei.«
Entsetzt schaute Eigon ihre Freundin an. »Das ist
heute«, flüsterte sie. »Der vierte Tag nach den Iden des Juli. Das
Aufgehen des Hundssterns. Das steht in meinem Almanach.« Beide
richteten den Blick wieder zum Himmel.
»Ich muss zu ihnen!« Antonia sprang auf. »Wenn es
in der Stadtmitte brennt, muss ich Großvater und Julius suchen und
herausfinden, ob ihnen auch nichts zugestoßen ist.«
»Nein!« Eigon hielt sie am Arm zurück. »Du kannst
nichts tun! Wenn du gehst, machst du alles nur schlimmer. Momentan
wissen sie, dass zumindest du bei uns in Sicherheit bist.«
Im Lauf des Nachmittags wurde der Himmel im Süden
immer dunkler. Gelegentlich sahen sie, wie sich der messingfarbene
Schein der Flammen in den Wolken spiegelte. Der Brandgeruch wurde
vom Wind zu ihnen herübergetragen und dann, als er die Richtung
änderte, wieder fortgeweht. Der Strom der Flüchtlinge, der aus der
brennenden Stadt an der verriegelten Villa vorbeikam, riss nicht
ab. Männer, Frauen und Kinder, erschöpft, verängstigt und schwarz
vor Ruß, schoben ihre Habseligkeiten auf Karren und Wagen vor sich
her und schleppten sich immer weiter die Straße entlang,
gleichgültig wohin, solange sie nur der Feuersbrunst entkamen.
Gerüchte verbreiteten sich so schnell wie die Asche im Wind. Das
Feuer sei eingedämmt worden. Es sei völlig außer Kontrolle geraten.
Es sei in einem Stadtviertel gelöscht worden, nur um über die mit
Holzschindeln gedeckten Häuser in ein anderes überzuspringen. Eine
Frau sei beim Viehmarkt von ihren Nachbarn erschlagen worden, die
glaubten, ihre Lampe habe sich in den Tüchern verfangen, die zum
Trocknen in ihrem Raum hingen, und dadurch das Feuer ausgelöst.
Andere beschuldigten eine Schmiede auf dem Viminal, wieder andere
eine Bäckerei auf dem Aventin. Die Prätorianergarde war sofort
herbeigerufen worden wie auch die Feuerwehrleute. Als am Abend die
Dunkelheit einsetzte, wurde das ganze Ausmaß der Feuersbrunst
sichtbar. Von Julius war noch keine Nachricht eingetroffen, und
auch Flavius war nicht zurückgekehrt. Caradoc und Cerys hatten eine
Weile ebenfalls im Obstgarten gestanden und zum Himmel geschaut,
bis sich Caradoc überreden ließ, wieder das Bett aufzusuchen. Cerys
war noch
eine Weile geblieben, hatte hilfesuchend die Hände ihrer Tochter
umklammert, dann hatte auch sie sich ins Haus zurückgezogen.
»Es ist außer Kontrolle geraten.« Als es dunkel
wurde, kam Aelius wieder zu den beiden jungen Frauen heraus. »Ich
haben den Sklaven verboten, sich den Löschtrupps anzuschließen.
Wozu? Eine Handvoll Männer mehr nützen jetzt auch nichts. Sie
müssen hierbleiben und unsere Tore bewachen. Überall wird
geplündert.«
»Sind wir hier in Gefahr?« Antonia schaute in sein
blasses Gesicht. Aelius war seit dem Morgen um zehn Jahre
gealtert.
Er schüttelte den Kopf. »Der Wind bläst von uns
fort. Außerdem liegen zwischen uns und der Stadt viele Felder,
Abhänge und Gärten.«
»Wo ist Flavius heute hingegangen, Aelius?«, fragte
Eigon. Sie wusste, dass er ihr das nicht von sich aus sagen
würde.
»Er sollte für Eure Mutter ein Päckchen zu Pomponia
Graecina bringen, Prinzessin. Danach, sagte ich ihm«, er unterbrach
sich und seufzte schwer, »solle er sich einen schönen Tag in der
Stadt machen. Er arbeitet schwer hier in der Villa. Er hatte eine
Belohnung verdient.« Er sah Eigon flehentlich an.
»Das weiß ich, Aelius.« Sie zwang sich zu einem
Lächeln. Er hatte Recht. Seit Julias Tod arbeitete Flavius
unentwegt, als befürchte er, in einer Ruhepause könnten ihn seine
Schuldgefühle überwältigen. Eigon wusste, dass ihr Vater
schließlich mit ihm gesprochen und ihm gesagt hatte, dass, wer
immer den Mord an Julia geplant habe, sich durch Flavius nicht
davon hätte abhalten lassen. Hätte er sie begleitet, wäre er nur
ebenfalls ermordet worden. Caradoc hatte es gut gemeint und dem
jungen Mann etwas von der Last nehmen wollen, die ihn bedrückte. Ob
es genützt hatte, konnte niemand
sagen. »Ich bin mir sicher, dass ihm nichts passiert ist«, sagte
Eigon jetzt freundlich. »Die letzte Nachricht lautete, dass das
Feuer eingedämmt worden sei.« Sie schaute zum Himmel im Süden, und
alle verstummten. Eingedämmt schien nicht ganz das richtige Wort
für das Glühen, das immer größere Teile des Himmels zu erfassen
schien.
Kurz vor Morgengrauen kehrte Flavius schließlich
zurück. Als ihm auf sein Rufen hin das nördliche Tor geöffnet
wurde, waren seine Hände von Blasen übersät, sein Haar versengt,
sein Gesicht rußgeschwärzt. Eigon und Antonia waren im Atrium in
einen unruhigen Schlaf gefallen, als Aelius mit seinem Sohn an
seiner Seite erschien.
»Herrinnen.« Vor Heiserkeit konnte Flavius kaum
sprechen. »Felicius Marinus Publius und sein Enkel Julius sind in
Sicherheit. Ich habe die beiden am frühen Abend gesehen. Das ganze
Viertel rund um das Forum und den Palatin ist evakuiert worden. Sie
sind jetzt bei Aulus Plautius und dessen Familie in deren Villa in
den Bergen. Alle sind außer Gefahr.« Einen Moment drohte ihm die
Stimme überzuschnappen, er atmete tief durch, um sich wieder in die
Gewalt zu bekommen.
Eigon begriff sofort, was er getan hatte. Gleich
nach dem Ausbruch des Feuers hatte er sich aufgemacht, um Julias
Familie beizustehen. Zutiefst berührt stand sie auf und schenkte
ihm einen Becher Wein ein. Als sie merkte, dass seine Hände zu
heftig zitterten, um ihn zu halten, schloss sie mit sanftem Druck
seine Finger darum. »Das Feuer ist bis zum Forum vorgedrungen?«,
fragte sie.
Er nickte. »Das ganze Viertel ist abgebrannt. Die
Häuser der Senatoren, der Palatin, der Esquilin, die Domus
Transitoria.«
»Was? Der Kaiserpalast?« Sein Vater starrte ihn mit
offenem Mund an.
Flavius nickte. Nach dem Schluck Wein war seine
Stimme fester. »Angeblich ist der Kaiser aus Antium zurückgekommen.
Es heißt, dass er selbst an der Spitze der Feuerwehrmänner steht.
Die Leute sagen, es handele sich um Brandstiftung.«
»Nein.« Antonia spielte nervös mit dem Saum ihrer
Stola. »Wer sollte so etwas tun? Es muss ein Unglück gewesen sein.
Jeden Tag brechen doch Hunderte kleiner Feuer aus.«
Nach einem Blick zu ihr zögerte Flavius einen
Moment, ehe er fortfuhr. »Ich habe gehört, dass der Kaiser die
Christen dafür verantwortlich macht.« Es war ihm anzuhören, wie
schwer es ihm fiel, die Worte auszusprechen.
Eine Weile herrschte Stille, in der nur das
Plätschern des Wassers im Brunnen zu hören war. Die beiden jungen
Frauen starrten auf die feinen Tröpfchen, die von einer plötzlichen
Brise aus Westen erfasst wurden und auf die Pflastersteine
regneten, ehe die Fontäne wieder gerade nach oben schoss. »Und
warum?« Es war Eigon, die schließlich die Frage aussprach, die sich
im Stillen alle stellten.
»Er sagt, sie hätten ein Feuer prophezeit. In den
ärmeren Vierteln sind Traktate im Umlauf, in denen es heißt, nur
eine Feuersbrunst könnte die Stadt reinigen. Er sagt, sie hätten
den Brand selbst gelegt, um sicherzustellen, dass sich ihr Orakel
auch erfüllt.«
Antonia und Eigon tauschten einen Blick. Der
aufgehende Hundsstern am Morgenhimmel war im Schein der lodernden
Flammen nicht zu erkennen gewesen.
»Er sagt«, fuhr Flavius stockend fort, »dass die
Christen das mit dem Leben bezahlen werden.«
Jess öffnete die Augen und schaute auf den
Teppich, doch sie sah nur die Reflexion der Flammen am Himmel, roch
den Brandgeruch. Rings um sie her fiel ein feiner Ascheregen.
Unwirsch fuhr sie sich über die Arme, nur um festzustellen,
dass keine Asche auf sie gefallen war. Es gab keine Feuersbrunst,
sie saß in einem stillen, leeren Raum. Ohne sich dessen recht
bewusst zu sein, stand sie auf und ging zu der unverputzten Wand,
um die rauen Steine zu berühren. Bevor sie ihrer Pensionswirtin die
Treppe hinaufgefolgt war, hatte diese ihr ein Infoblättchen in die
Hand gedrückt, das sie vermutlich allen Gästen gab und das die
Geschichte des Hauses erläuterte. Dort hieß es unter anderem, dass
die rückwärtige Mauer von etwa 200 v. Chr. stammte und in die
spätere Kirche integriert worden war. Diese Mauer hatte den großen
Brand von Rom überstanden. Jetzt drückte Jess die Stirn dagegen und
schloss die Augen, als könnte sie die Steine dazu zwingen, ihr ihre
Geschichte zu erzählen. War das der Grund, weshalb Carmella sie in
dieser Pension untergebracht hatte? Zweifellos kannte sie die
Geschichte des Gebäudes. Jess spürte die Rauheit der Steine auf
ihrer Haut, aber keine Bilder wollten sich einstellen. Kein Rauch,
keine prasselnden Flammen, nichts. Nach ein paar Minuten setzte sie
sich entmutigt wieder aufs Bett.
»Bald muss ich tanken.« Rhodri hatte immer häufiger
einen Blick aufs Armaturenbrett geworfen. »Siehst du ihn?«
Steph schaute angestrengt in den Außenspiegel. »Ich
glaube, er ist vier Autos hinter uns.«
»Verdammt!« Rhodri schlug mit der flachen Hand aufs
Lenkrad. »Schau auf die Landkarte. Kommt nicht bald eine Ausfahrt?
Vielleicht können wir abbiegen, ohne dass er es merkt, und dann
lassen wir ihn an uns vorbeirauschen. Aber lieber früher als
später.«
Obwohl Steph die Landkarte mittlerweile praktisch
auswendig kannte, schaute sie noch einmal nach. Auf den nächsten
Kilometern gab es keine einzige Ausfahrt. »Vielleicht kann ich mich
auf der Damentoilette verbarrikadieren,
so dass er mich gar nicht zu Gesicht bekommt. Und wer weiß,
vielleicht merkt er zu spät, dass wir abgebogen sind.« Ihr
Unbehagen wuchs. Daniel war einfach zu dicht hinter ihnen.
Eigentlich hatte sie angenommen, dass sie ihn mittlerweile längst
abgehängt hätten, aber er war immer gerade in Sichtweite hinter
ihnen, beschleunigte gleichzeitig wie Rhodri, bremste gleichzeitig
wie Rhodri, ein böser dunkler Schatten, der sie verfolgte.
»Jetzt oder nie. Wenn ich nicht bei dieser
Raststätte tanke, geht uns das Benzin aus. Halt dich fest.« Als die
Tankstelle in Sicht kam, wartete Rhodri bis zum letzten Moment,
dann trat er voll auf die Bremse und schlingerte fast auf die
Abbiegespur. Der Fahrer im Auto direkt hinter ihm hupte empört und
zog an ihm vorbei. Rhodri fuhr in schnellem Tempo an den Tanksäulen
vorbei hinter die Gebäude, so dass der Mercedes von der Straße aus
nicht zu sehen war. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
»Entschuldige den grauenhaften Fahrstil. Hat er wenigstens seinen
Zweck erfüllt?«
Steph drehte sich um. »Ich kann nichts sehen.« Sie
zitterte.
Rhodri schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen
die Nackenstütze. »Ich bin völlig kaputt.«
»Wenn wir ihn abgehängt haben, können wir hier
vielleicht einen Kaffee trinken.« Steph grinste erschöpft. »Und auf
die Toilette gehen!«
Rhodri stieg aus und schaute sich um. »Bleib mal im
Auto. Ich schau um die Ecke, ob die Luft rein ist.«
Steph öffnete die Beifahrertür, schwang die Beine
nach draußen und blieb eine Weile so sitzen, die Ellbogen auf die
Knie gestützt. Als Rhodri nach einigen Minuten nicht zurückgekommen
war, folgte sie ihm zum Hauptgebäude. An einer der Tanksäulen stand
ein staubiger kastanienbrauner
BMW. Entgeistert starrte sie den Wagen an, Gänsehaut bildete sich
auf ihren Armen. Vom Fahrer war nichts zu sehen. Rasch drehte sie
sich um und lief zum Damenklo, steuerte auf die nächste freie
Kabine zu und verriegelte hastig die Tür hinter sich. Was jetzt?
Hatte er sie erkannt? Wo war Rhodri? Steph wartete mehrere Minuten,
hörte andere Frauen hereinkommen, die Toilette benutzen und sie
wieder verlassen, hörte ihre Schritte auf dem Fliesenboden. Niemand
sprach ein Wort. Sie spitzte die Ohren, ob von draußen Stimmen zu
hören waren, doch über das Rauschen des Wassers war nichts zu
verstehen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte hinaus. Der
Toilettenraum war menschenleer. Sie wusch sich Gesicht und Hände,
fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare und ging schließlich zum
Ausgang. Zögernd blieb sie stehen und schaute auf die Uhr. Zehn
Minuten war sie jetzt fort. Wenn der braune Wagen nichts mit Daniel
zu tun hatte, musste er mittlerweile weitergefahren sein. Abrupt
riss sie die schwere Schwingtür auf. Der Parkplatz und die Zufahrt
zu den Tanksäulen lagen brütend im gleißenden Sonnenlicht. Am
blauen Himmel sausten Mauersegler vorbei, so hoch, dass ihre
gellenden Schreie kaum zu hören waren.
Beim ersten Schritt ins Freie traf die Hitze sie
wie ein Schlag. Automatisch wanderte ihr Blick zu den Zapfsäulen im
Schatten des Dachs. Der braune BMW war verschwunden, an dessen
Stelle stand jetzt Rhodris Mercedes. Mit einem Seufzer der
Erleichterung ließ sie sich in den Beifahrersitz sinken, öffnete
das Fenster und wartete, bis Rhodri vom Zahlen zurückkam. Als sie
das nächste Mal aufschaute, stand Daniel neben dem Wagen und
schaute zu ihr hinunter. Er lächelte kalt, als sie erschreckt
aufschrie.
»Steph! Tja, das hätte ich mir ja denken können.«
Er verschränkte die Arme. »Wie dumm von mir.«
»Daniel!« Sie spielte die Überraschte. »Was für ein
Zufall, dich hier zu sehen. Fährst du auch nach Hause?« Ihre
Handflächen waren schweißnass geworden, unauffällig wischte sie sie
an den Knien ab. Daniel trug eine Sonnenbrille, so dass sie seine
Augen nicht sehen konnte. Hinter ihm erschien Rhodri, einen Karton
mit zwei Kaffeebechern und einer Tüte mit Gebäck in der Hand. Als
er Daniel erkannte, beschleunigte er seine Schritte und blieb neben
ihm stehen.
»Das habe ich mir doch gedacht, dass du das bist!
Du mieser Dreckskerl! Für das, was du Jess angetan hast, verpass
ich dir eine Tracht Prügel!« Rhodri deponierte den Karton auf
Stephs Schoß. »Dich mach ich fertig, du Schuft!«
Als Rhodri ihn am Hemdkragen packen wollte, trat
Daniel einen Schritt zurück, machte auf dem Absatz kehrt und lief
davon.
Rhodri gab sich gar nicht die Mühe, ihm zu folgen.
»Feigling!«, brüllte er ihm nach. »Gib auf, Mann! Sie ist längst
weg. Du wirst sie nicht mehr finden!«
Daniel blieb kurz stehen und schaute über die
Schulter zu ihm zurück. »Sie ist nicht weg«, rief er. »Du verstehst
wirklich überhaupt nichts. Sie wird nicht gehen, bis Titus ihre
Nemesis umgebracht hat.« Er lachte freudlos. »Das war nicht
besonders schlau von mir, euch zu folgen. Was für eine Farce! Jetzt
ist er sauer.« Wenige Sekunden später sahen Steph und Rhodri, wie
er aus seinem Parkplatz zwischen den Lastwagen herausfuhr, mit
quietschenden Reifen wendete und davonraste.
»Das Schwein. Schnell, dein Handy!« Rhodri setzte
sich hinters Steuer und fuhr von der Tanksäule weg, blieb aber
abrupt wieder stehen. »Es ist sinnlos, ihm nachzujagen. Ruf William
an. Sag ihm, dass Daniel nach Rom zurückfährt. Scheiße! Scheiße!
Scheiße!«
»Und was machen wir jetzt?« Steph hatte das Handy
bereits am Ohr.
»Frag William, was er meint.« Rhodri griff sich
einen Kaffeebecher, nahm den Deckel ab und blies in den dampfenden
Cappuccino.
»Ich fahr mit ihr zum Flughafen«, sagte William,
als Steph ihm alles erzählt hatte. »Er weiß ja nicht, in welchem
Hotel sie ist. Das ist ein Vorteil. Ich fahre sofort mit ihr nach
Ciampino. Und dann bringe ich sie nach Cornwall. Da wird Daniel sie
nie im Leben finden.«
»Und was sollen wir machen?«, fragte Steph. »Sollen
wir zurückkommen?«
»Das ist doch sinnlos, wenn wir gleich nach London
fliegen. Ich finde, ihr solltet weiterfahren. Genießt die Fahrt.
Aber sei vorsichtig, wenn du nach Ty Bran kommst. Wenn er die
Fährte verloren hat, zieht es ihn vielleicht dorthin.«
Titus Marcus Olivinus warf der Kopf in den Nacken
und lachte schallend. »Das hätte ich nicht besser machen können,
selbst wenn ich das Feuer eigenhändig gelegt hätte!«
Lucius warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Bist
du dir sicher, dass du’s nicht doch warst?«
Titus rieb sich einen Nasenflügel. »Wer weiß? Ein
Wort hier, ein Wort da. Wie es heißt, hat es an mehreren Stellen
gleichzeitig zu brennen angefangen. Wenn ich eine bescheidene Rolle
gespielt haben könnte, dann höchstens mit Vorschlägen, wer was wo
macht.« Er grinste selbstzufrieden.
»Du wärst also bereit, eine ganze Stadt zu
vernichten, um deine kleine Prinzessin für dich zu haben?«
»Du musst zugeben, der Plan hat Stil.« Titus lehnte
sich in seinem Stuhl zurück. Vor der Kaserne liefen Männer hin und
her, die einen kehrten von ihrer Schicht beim Feuerlöschen zurück
und sanken erschöpft auf ihre Schlafstatt,
während diejenigen, die sie ablösen sollten, bereits vom
Exerzierplatz zum Brandherd abmarschiert waren. »Bis das Feuer
gelöscht ist, steht kein Stein mehr auf dem anderen. Es ist völlig
außer Kontrolle geraten. Unser Kaiser wird überglücklich sein. Wenn
er erst einmal all diejenigen ausgemerzt hat, denen er die Schuld
dafür geben will, steht seinen Plänen für eine neue Stadt nichts
mehr im Wege.«
»Und du meinst, er will Eigons Freunden die Schuld
dafür geben?«
»Die gehören bestimmt dazu. Christen und alle, die
er für seine Feinde hält. Wenn ich jetzt Senator wäre, würde ich um
mein Leben bangen.« Titus lachte zynisch.
»Ist dir schon der Gedanke gekommen, dass Eigon von
dieser Säuberungsaktion vielleicht selbst betroffen sein könnte?
Mein Informant glaubt, dass sie sich hat taufen lassen«, sagte
Lucius nachdenklich.
Titus schnitt eine Grimasse. »Dann werde ich dafür
sorgen müssen, dass ihr meine persönliche Aufmerksamkeit
zuteilwird, bevor alle zusammengetrieben werden.«
»Dafür bist du zu spät dran. Die aufgebrachten
Bewohner sind schon auf den Straßen. Sie wollen jemanden, dem sie
die Schuld geben können, und zwar auf der Stelle.«
»Dann hat Nero ja den perfekten Sündenbock
gefunden. Christen gibt’s mehr als genug. Aber wenn du mich fragst,
hat er mindestens eins der Feuer selbst gelegt!«, fuhr Titus
höhnisch lachend fort. »Das würde ich ihm durchaus zutrauen. Er
versucht doch schon seit Ewigkeiten, seine Pläne für einen neuen
Riesenpalast vom Senat absegnen zu lassen. Außerdem will er die
Macht der Senatoren einschränken. Da gibt es keinen besseren Weg,
als sie auszuräuchern.«
»Und die Schuld jemand anderem anzulasten.« Lucius
schüttelte den Kopf. »Und an einem anderen Ort eines
seiner grauenvollen Konzerte zu geben, wenn das Feuer ausbricht.
Ein großartiges Alibi!« Irgendwie war ihm die Vorstellung lieber,
der Kaiser selbst stünde hinter dieser Feuersbrunst, als dass sie
von dem kalten, berechnenden Mann neben ihm verursacht worden
war.
Titus hievte sich aus seinem Sitz. »Ich glaube,
jetzt ist es an der Zeit, ein paar Pläne zu schmieden.«
»Du willst nicht zum Feuerlöschen raus?«
Titus hob die Augenbrauen. »Ich bin nicht
eingeteilt, und freiwillig melde ich mich bestimmt nicht. Wozu
denn? Ein Mann mehr oder weniger, der Wasser in die Flammen
schüttet - auf den kommt es jetzt auch nicht an. Für mich stehen
spannendere Sachen an. Bist du mit von der Partie?« Er sah Lucius
in die Augen.
Lucius zögerte, dann schüttelte er den Kopf. Er war
nicht bereit, noch länger bei Titus’ sadistischen Plänen
mitzumachen. Das hatte er schon vor einiger Zeit beschlossen.
Julias Tod hatte ihn mehr verstört, als er sich eingestehen wollte.
Es hatte seine Freundschaft mit diesem Mann in den Grundfesten
erschüttert, so sehr, dass er nicht einmal wusste, ob er ihn noch
als Freund bezeichnen wollte. Mit einem entschlossenen Lächeln nahm
er seinen Umhang und ging zur Tür. »Ich gehe mal raus zum Löschen.
Da draußen sterben Männer und Frauen und Kinder. Wer immer für
dieses Feuer verantwortlich ist, sie waren’s auf jeden Fall
nicht!«
Titus machte eine wegwerfende Geste. »Wie du
willst. Ich glaube, es ist sowieso Zeit, dass Eigon und ich uns ein
bisschen allein amüsieren. Und für meine Pläne kann ich keine
Zeugen brauchen!«
Beim Läuten ihres Handys fuhr Jess zusammen. Ihr
war flau, sie hatte entsetzliche Angst. Sie musste Eigon warnen.
Irgendwie musste sie Kontakt zu ihr aufnehmen. Und sie zwingen,
ihr zuzuhören. Das Handy klingelte beharrlich weiter. Mit einem
ärgerlichen Seufzen bückte sie sich nach ihrem Lederrucksack, der
neben der Kommode auf dem Boden lag, und fischte es heraus. Ohne
einen Blick auf die Nummer des Anrufers zu werfen, schaltete sie es
aus. Carmella und William hatten ihr zwar eingeschärft, es rund um
die Uhr anzulassen, aber nicht jetzt. Nicht, wenn sie versuchte,
mit Eigon in Kontakt zu treten. Sie warf das Handy in den Rucksack
zurück und setzte sich mit geschlossenen Augen wieder aufs Bett.
Vergiss nicht, dich zu schützen. Einen Moment hallte
Carmellas Stimme durch ihren Kopf. Dafür hatte sie jetzt keine
Zeit. Jetzt musste sie handeln. »Eigon«, flüsterte sie. »Eigon,
bist du da? Hör mir zu. Bitte hör mir zu. Du musst vorsichtig
sein.« Lange herrschte Stille, nichts passierte. Dann kam Jess eine
Idee. Sie riss die Augen auf. Lucius hatte gesagt, dass Eigon sich
habe taufen lassen. Sie war Christin geworden. Warum hatte sie das
nicht miterlebt? Wie konnte ihr ein so wichtiges Ereignis entgangen
sein? War es ein so großes Geheimnis, dass sogar Jess davon
ausgeschlossen worden war? Ungeduldig verzog sie das Gesicht.
»Jetzt komm schon!«, murmelte sie. »Wo bist du?«
Selbst jetzt war ihr nicht klar, wie der Vorgang
funktionierte. Manchmal träumte sie. Manchmal schien sie in eine
Trance zu fallen. Manchmal war sie wach und verfolgte die Szene,
als würde sich ein Film vor ihren Augen abspielen. Vermittelte
Eigon ihr bewusst, was gerade passierte? Wollte sie, dass Jess ihre
Geschichte erfuhr? Wollte sie Hilfe, wie damals als kleines Mädchen
in den Wäldern von Wales? Oder spielte sich das alles nur in ihrem,
Jess’, Kopf ab? Sie ballte die Hände zur Faust. »Eigon, bitte hör
mir zu! Pass auf! Er ist auf der Suche nach dir.«
Nach sechs Tagen war das Feuer schließlich
gelöscht. Doch bis auch nur ansatzweise wieder Ordnung in die
zerstörte Stadt einzog, würde weitaus mehr Zeit vergehen. Überall
herrschte ein Durcheinander, selbst in den Stadtteilen, die vom
Feuer verschont geblieben waren. Sogar hier draußen in den Vororten
waren die Zustände chaotisch. Doch das Tor zur Villa stand offen.
Titus lächelte. Er sah, wie ein Wagen hineinfuhr, über den
staubigen Hof rumpelte und vor der Eingangstür zum Stehen kam.
Nachlässig war das einzige Wort, mit dem dieser Haushalt zu
bezeichnen war.
Aelius war nicht mehr er selbst. Er wurde alt. Ohne
starke Hand, die ihn leitete, hatte er zu lang nach eigenem
Gutdünken schalten und walten können, und der Schock über das Feuer
und die Ungewissheit wegen seines Sohns hatten ihm die letzte Kraft
geraubt. Allerdings hatte er nach wie vor keine Ahnung, was sein
Sohn tatsächlich trieb. Titus grinste höhnisch. Es war so einfach
gewesen, Flavius für sich zu gewinnen. Ein paar Denare hier und da,
und der Bursche tat alles, was man von ihm verlangte. Stirnrunzelnd
zog er sich an den Straßenrand in den Schatten eines Baumes zurück,
denn ein weiterer Wagen näherte sich. Dieser holperte allerdings an
ihm vorbei aufs offene Land hinaus. Freilich, er hatte nicht
geahnt, wie sehr der Kerl in diese Julia verliebt gewesen war.
Taktisch war es wohl ein Fehler gewesen, ihm aufzutragen, sie an
dem Tag beim Aufbruch nach Rom hinzuhalten, so dass sie ohne ihn
fuhr. Offenbar war er ein besserer Kenner des weiblichen Charakters
als Flavius, er hatte gewusst, dass sie eher allein gehen würde,
als auf ihr Vergnügen zu verzichten. Aber womöglich hatte er damit
Flavius’ Misstrauen geweckt. Auf jeden Fall war der Junge, solange
er über die dumme Gans geheult hatte, monatelang zu nichts nutze
gewesen. Titus verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln, als er
sich an den Tag erinnerte.
Er spürte, dass er hart wurde. Die Sache mit Julia hatte ihn mehr
erregt, als er je für möglich gehalten hatte, und jetzt war endlich
der ersehnte Moment gekommen. Bald würde sich das alles
wiederholen.
Allerdings würde es weit schwerer sein, Eigon aus
ihrem Versteck zu locken. Eine richtige Herausforderung. Er schaute
zum Tor hinüber. Es standen zwar Wachposten in der Nähe, so viel
hatte er herausgefunden, doch sie trieben sich im Schatten herum,
ohne groß achtzugeben. Wenn er in seiner schneidigen Uniform durchs
Tor ritt, würden sie ihn nur an die Haussklaven verweisen und
auffordern, zum Villeneingang zu reiten. Er band sein Pferd los und
schwang sich in den Sattel. Eigon würde ihn nicht sehen, ihr
Tagesablauf war immer gleich. Den ganzen Vormittag verbrachte sie
in ihren Zimmern und verarztete eine endlose Schlange von kranken
Bauern und Sklaven. Ohne Bezahlung anzunehmen, schenkte sie ihnen
ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, ihr sanftes Lächeln, ihre Salben
und Pillen und Heiltränke, bis ihr Vater aufwachte und nach ihr
verlangte. Bei den Göttern, das Mädchen würde ihm noch dankbar sein
dafür, dass er ihr in ihren letzten Stunden auf Erden etwas
Aufregung bot. Er trabte auf das Tor zu, blieb kurz dahinter stehen
und wartete, dass jemand ihn ansprach.
»He da!«, rief er herrisch. »Ist da jemand?«
Der Unterstand, in dem üblicherweise der Torwächter
saß, war unbemannt. Titus schnaubte verächtlich. Wenn es so einfach
war, würde er sich betrogen vorkommen. Das stundenlange Planen, die
vielen Träume sollten reine Zeitverschwendung gewesen sein? Er
hätte einfach hereinspazieren und sie ungehindert mitnehmen
können?
»Herr, kann ich Euch behilflich sein?« Bei der
Stimme, die hinter ihm erklang, fuhr er zusammen. Also wurde das
Tor doch bewacht. Sein Pferd tänzelte nervös auf der Stelle,
ungeduldig riss er am Zügel. Der Mann ergriff das Zaumzeug und
tätschelte dem Pferd beruhigend die Nüstern. »Verzeiht, dass
niemand da war, um Euch zu empfangen. Die Wachposten begleiten
gerade einen Wagen hinters Haus. Möchtet Ihr zu König Caradoc?« Er
war ein Sklave, aber tadellos gekleidet und zuvorkommend. Titus
zügelte sein Pferd noch mehr, so dass der Sklave gezwungen war, die
Hand vom Zaumzeug zu nehmen. »Ich möchte seinen Haushofmeister
Aelius sprechen«, sagte er barsch. »Nicht nötig, den König zu
behelligen.«
Der Sklave nickte und streckte wieder die Hand nach
dem Zaumzeug aus. »Herr, wenn Ihr absitzen und zur Tür gehen
würdet, ich schicke jemanden, der ihm ausrichtet, dass Ihr gekommen
seid.«
Titus blieb reglos im Sattel sitzen. »Ruf ihn her«,
befahl er.
Der Sklave runzelte die Stirn, drehte sich aber
wortlos um und verschwand zwischen dem Säulengang im Inneren des
Hauses. Titus sah ihm aus zusammengekniffenen Augen nach. Er nahm
kein einziges Lebenszeichen wahr, keine Hunde, keine eilfertigen
Dienstboten. Es hatte den Anschein, als würde das Haus schlafen,
aber das bedeutete nicht, dass nicht dennoch Wachen da waren.
Als der Sklave wieder erschien, war er allein, wie
Titus erwartet hatte. »Es tut mir leid, Herr, Aelius ist am frühen
Morgen in die Stadt aufgebrochen. Er wird erst am Abend
zurückerwartet. Möchtet Ihr mit jemand anderem sprechen?«
Titus schüttelte den Kopf. »Ich komme ein anderes
Mal wieder.« Ohne Gruß machte er kehrt und trabte zum Tor. Der
Sklave würde ihn wiedererkennen, aber das tat nichts zur Sache. Er
lächelte in sich hinein, trieb sein Pferd auf der gepflasterten
Straße zum Galopp an und jagte Richtung Stadt zurück.
»Signorina!« Das Klopfen an der Tür hallte laut
durch das Zimmer. »Da will jemand am Telefon mit Ihnen sprechen.
Sind Sie da?« Eine kurze Pause. »Signorina?« Wieder einige Sekunden
Stille, gefolgt vom Klappern der Sandalen, als die Frau die Treppe
hinunterlief.
Jess wurde etwas unruhig, hörte aber nichts. In
ihrem Kopf war sie jetzt in der Villa, war durch den dunklen
Eingang ins Atrium getreten, das durchflutet war von der Sonne, die
durch die Dachöffnung direkt über dem Brunnen hereinströmte. Sie
ging weiter zu Eigons Räumen, trieb wie ein Schatten durch den
verwaisten Empfangsbereich zu einem Korridor mit einer Bank, auf
der einige der Patienten warteten, bis sie in Eigons Kräuterkammer
gerufen wurden.
Eigon sah müde aus. Irgendwie war Jess durch die
Tür getreten, stand jetzt mit ihr in der Kräuterkammer und
beobachtete sie. Eigon verband gerade die Entzündung am Arm eines
kleinen Jungen, der sich weinend unter dem Rock seiner Mutter
verstecken wollte. Die Frau sah ärmlich aus. »Ich weiß nicht, warum
er das immer wieder macht!«, sagte sie hilflos. »Ich habe ihm
verboten, die Mauer hinaufzuklettern, und ich sage ihm immer
wieder, dass er vorsichtiger sein soll.«
Eigon lächelte, ohne aufzuschauen, konzentrierte
sich ganz auf das Verbinden der Wunde. »So sind Jungen nun mal. So,
jetzt geht’s dir gleich besser.« Sie tätschelte dem Kind den Kopf.
»Ich gebe dir eine Tinktur für die Wunde mit, Cilla. Sorg dafür,
dass kein Schmutz hineinkommt, sonst heilt sie nicht.«
Als die Frau gegangen war, blieb sie einen Moment
stehen und legte sich seufzend die Hände auf den Rücken. Sie war
immer noch schön, immer noch jung, aber sie umgab eine Schwere, die
von ihrer Erschöpfung stammte.
»Eigon!«, sagte Jess eindringlich. »Eigon, kannst
du mich hören? Du musst mich hören. Titus ist ganz in der Nähe. Er
wird bald kommen und dich entführen. Er will dich umbringen. Bitte,
bitte, hör mir zu!«
Eigon richtete sich auf und sah sich verwundert um.
»Ist da jemand?«
»Ja!« Jess war überglücklich. »Eigon, du kannst
mich verstehen! Jetzt hör mir zu!«
Kopfschüttelnd fasste Eigon sich an die Stirn.
»Glads?«
Also dachte sie immer noch an ihre kleine
Schwester. Vielleicht hörte sie immer noch die einsame Stimme aus
ihrer Kindheit. Wieder schaute sie sich um, dann ging sie zur Tür
und bedeutete dem nächsten Patienten einzutreten.
Jess stöhnte. »Nein, bitte nicht! Bitte, hör
mir…«
»Schsss!«
Das plötzliche Zischen im Ohr ließ Jess
zusammenfahren. »Hör auf! Lass sie in Ruhe! Ich weiß genau, was du
vorhast!« Das barsche, heisere Flüstern ging im staubigen Echo fast
unter.
Benommen richtete Jess sich auf und sah sich
panisch um. Das Flüstern war so nah gewesen, dass es noch in ihrem
Kopf nachhallte, doch das Zimmer, ihr Zimmer in der Pension, war
leer. Einer der Fensterläden war aufgeschwungen, ein breiter
Streifen Sonnenlicht fiel auf den Teppich zu ihren Füßen. Die
Atmosphäre war dicht, lautlos, stickig. Jess legte die Hand auf die
Brust, schluckte schwer und spürte, wie heftig ihr Herz klopfte.
Sie hatte einen trockenen Mund. Die Tür zur Vergangenheit war
geschlossen, sie konnte Eigon nicht mehr sehen, aber sie spürte,
dass jemand mit ihr im Zimmer war. Sie versuchte sich zu sammeln,
tastete sich rückwärts zur Tür vor. »Wer ist da?« Vor Angst wurde
ihre Stimme schrill. »Was willst du von mir?«
Sie starrte in die Sonnenstrahlen, in denen
Staubpartikel tanzten. War das eine Gestalt, die kurz dort stand,
vage Umrisse, die sich sofort wieder auflösten?
»Titus?« Jess hauchte das Wort nur, doch sofort
veränderte sich die Atmosphäre, als stünde das Zimmer plötzlich
unter elektrischer Spannung. Dazu kam ein Gefühl von Enge im Kopf,
als würde ihr jemand ein Stahlseil um die Stirn spannen.
Schütz dich, Jess. Das darfst du nie vergessen.
Und denk daran, du darfst seinen Namen nicht aussprechen. Nie! Du
darfst ihn nicht einmal denken! Von irgendwoher tauchten
Carmellas Worte in ihrem Kopf auf. Christliche Gebete helfen da
nicht weiter. Carmella war auch keine Kirchgängerin. Du
musst ihm mit seinen eigenen Göttern entgegentreten!
»Verschwinde im Hades, aus dem du gekommen bist, du
gemeiner Mörder!« Jess’ Stimme war heiser.
Umgib dich mit Licht. Sorge dafür, dass du immer
in deinem eigenen Bereich bleibst. Umgib dich mit Begleitern und
Engeln. Beschwöre dein Krafttier. Wen immer du als inneren Freund
siehst, bitte ihn, dich zu beschützen!
Jess ballte die Fäuste. Sie hatte keine inneren
Freunde und keine Begleiter, und von einem Krafttier hatte sie noch
nie etwas gehört. Sie hätte besser zuhören sollen. Sie war wirklich
dumm gewesen. Besessen von dem Gedanken, mit Eigon zu reden, hatte
sie Angst gehabt, sie würde sie ausschließen, wenn sie sich selbst
schützte. Und jetzt war sie mit dem bösartigen Mörder ganz allein
hier im Zimmer, war ihm schutzlos ausgeliefert. Aber dann kam ihr
schlagartig der Gedanke. Natürlich! Es hatte in ihrem Leben ein
Tier gegeben, das jedes von Carmella genannte Kriterium
erfüllte.
»Hugo!« Es war ein Hilfeschrei, sie rief nach dem
Hund, den sie als Kind geliebt hatte, den großen zotteligen Briard
ihrer Mutter, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihr und
Stephs Bewacher, Mentor und Beschützer zu sein. Und tatsächlich war
er plötzlich bei ihr, ein Wirbelwind schwarzer Schatten, seine
Krallen klickten auf dem Boden vor dem Fenster, und Titus war
fort.
Weinend ließ Jess sich aufs Bett fallen. Auf einmal
war es wieder ganz still im Raum. Sie spürte einen leisen Druck am
Bein, das Gewicht eines Hundes, der sich zufrieden an ihre Wade
schmiegte, dann war er wieder fort.
Von der Treppe draußen hörte sie laufende Schritte.
»Signorina? Ist alles in Ordnung? Signorina Jess, bitte machen Sie
auf!« Wankend stand sie auf, drehte mit zitternden Händen den
Schlüssel und öffnete die Tür.
Vor ihr stand Margaretta, ihre Hauswirtin. »Fehlt
Ihnen etwas?« Sie schaute sie aus aufgerissenen Augen an. »Sie
haben gerufen. Ich habe Sie unten gehört.«
Jess nickte und lachte verlegen, während sie ein
Taschentuch hervorkramte. »Entschuldigen Sie, ich habe geschlafen.
Ich habe von dem Hund geträumt, den meine Mutter hatte, als ich ein
Kind war. Ich dachte, er wäre mit mir hier im Raum.«
»Dio!« Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Sie
haben geschlafen, deswegen haben Sie mich vorhin nicht
gehört!«
»Sie gehört?«
Margaretta nickte. »Es war Ihre Schwester. Sie
sagte, Sie würden Ihr Handy nicht beantworten. Sie sagte, es sei
dringend.«
»Ich muss wirklich sehr müde gewesen sein, wenn ich
nichts gehört habe. Ich wollte Ihnen keinen Schreck einjagen,
entschuldigen Sie.« Jess zuckte mit den Schultern.
Misstrauisch schaute die Frau ins Zimmer, dann trat
sie zurück. »Wenn wirklich alles in Ordnung ist - rufen Sie sie
dann gleich an?«
»Ja, natürlich.« Irgendwie gelang es Jess zu
lächeln, während sie die Tür sanft vor Margarettas Nase schloss.
Sie hatte nicht vor, Steph anzurufen. Das Zimmer hinter ihr war
leer.
Daniel fuhr an den Straßenrand. Ihm war etwas
übel. Er wusste gar nicht mehr, wie lange er schon am Steuer saß
und wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Der Drang, immer
weiterzufahren, war zu stark, trieb ihn unerbittlich nach Rom
zurück. Und auch das Bild in seinem Kopf war unerbittlich. Er
musste Eigon finden. Kopfschüttelnd umklammerte er das Lenkrad.
Nicht Eigon, Jess. Er musste Jess finden. Wenn er das mit Jess
nicht auf die Reihe brachte, würde sie ihn vernichten. Schweiß
stand ihm auf der Stirn. Wenn sie erst einmal in der Sänfte saß,
würde niemand sie sehen. Die Sklaven würden es nie wagen, ihn
aufzuhalten und zu befragen. Er würde wieder eine Droge verwenden,
wie damals. Er griff in seine Tasche und spürte das Glasfläschchen
mit den Tropfen. Sie würde nichts merken. Sie würde keine Angst
haben, würde nichts spüren. Danach würde er sie irgendwo liegen
lassen, und bis sie gefunden wurde, wäre er schon längst über alle
Berge. Aber da war jetzt wieder die Stimme, die ihm unablässig
zusetzte. Du lässt sie nicht einfach liegen, vorher vergnügst du
dich noch mit ihr. Und beim letzten Mal hat’s dir doch Spaß
gemacht, oder vielleicht nicht? Sie hilflos daliegen zu sehen. Die
Angst in ihren Augen. Das ist es doch, was du willst, oder
nicht?
Daniel fuhr sich mit dem Handrücken über das
schweißnasse Gesicht. Warum konnte die Stimme ihn nicht in Frieden
lassen? Der verrückte, sadistische Kerl war ständig in seinem Kopf.
Er konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen, immer funkte
ihm der andere dazwischen.
Seine Fingerknöchel waren weiß, so fest umklammerte er das
Lenkrad. Einen Moment legte er die Stirn auf die Hände und atmete
tief durch. Es war sowieso egal. Er wusste nicht, wo Eigon - wo
Jess - war. Sie hatten sie irgendwo versteckt oder nach England
zurückgebracht. Oder wieder nach Ty Bran.
Er runzelte die Stirn. War sie in die kalte,
nebelfeuchte Ferne zurückgekehrt? Nach Britannien? Die
Stationierung, vor der ihnen allen graute, denn weiter konnte man
sich von Rom kaum entfernen, ohne über den Rand der Welt
hinabzufallen. Er schauderte. Die wilden keltischen Frauen mit den
langen Haaren und den hellen, spöttischen Augen, mit denen sie die
Männer verführten. Und sogar die Kinder waren begehrenswert, die
Kinder des Feindes, die unterworfen und bestraft und vernichtet
werden sollten. Aber sie hatte sich nicht vernichten lassen. Sie
war herangewachsen, um ihn aus ihren vorwurfsvollen Augen zu
beobachten, um ihn wiederzuerkennen und seine Stellung, seine
Zukunft, sein Leben zu gefährden.
Also, Titus, wo ist sie? Du musst sie finden, denn
ich kann’s nicht. Daniel richtete sich auf, schloss die Augen und
lehnte den Kopf an die Nackenstütze. Ich finde sie nicht. Sie ist
weg. Geflohen. Wenn du willst, dass ich sie umbringe, musst du mir
helfen. Unvermittelt riss er die Augen auf und starrte zur
Windschutzscheibe hinaus. Und was hast du mit ihr gemacht, Titus?
Was hast du gemacht, als du sie schließlich in deiner Gewalt
hattest? Hast du deine Fantasien ausgelebt? Hast du sie
vergewaltigt und gefoltert und umgebracht? War es ihr Geist, der
dir entkommen ist? Geht es bei dieser ganzen Sache nur darum?
Selbst als deine Hände um ihren Hals lagen, hat sie dir da lächelnd
in die Augen geschaut im Wissen, dass du ihr nicht folgen kannst
dorthin, wohin sie geht?
Julius schloss die Tür zur Kräuterkammer und trat
zu Eigon. Er war außer Atem, sein Gesicht war blass. Sie drehte
sich zu ihm und streckte lächelnd die Arme aus. »Julius?« Ihr
Lächeln verblasste. »Was hast du? Was ist passiert?«
»Eigon, fehlt dir auch nichts? Hat es hier draußen
keine Probleme gegeben? In den Straßen Roms wimmelt es vor
Soldaten. Nero hat einen Rachefeldzug gegen die Christen
geschworen. Er wirft uns vor, wir hätten Rom in Brand gesetzt. Er
treibt uns alle zusammen. Unsere Bekannten, unsere Freunde sind in
den Kerker auf dem Esquilin gebracht worden. Sie sollen den Tieren
vorgeworfen werden.« Tränen standen ihm in den Augen. »Er ist
wahnsinnig, völlig wahnsinnig.«
Er legte die Arme um sie und drückte seine Wange
auf ihr Haar. »Ach, Eigon, was sollen wir bloß tun?«
Einen Moment überließ sie sich seiner Umarmung,
dann schob sie ihn von sich. »Dein Großvater? Und Antonia? Wo sind
sie?«
»Mein Großvater ist fort, das Haus liegt in Schutt
und Asche. Er ist mit den Sklaven aufs Land gegangen. Ich glaube,
dass er in Sicherheit ist - aber wer weiß? Ich verstehe nicht,
warum es dazu kommen musste.« Fassungslos schüttelte er den
Kopf.
»Und Antonia? Wo ist sie? Ich habe sie zu überreden
versucht, hierzubleiben, aber sie wollte nicht. Sie hat sich zu
große Sorgen um euch gemacht.« Eigon sah ihm fest in die Augen. »Wo
ist sie, Julius?«
Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es
nicht.« Seine Stimme war so heiser, dass er kaum zu verstehen war.
»Deswegen bin ich ja hergekommen. Ich weiß, deine Mutter hat mir
Hausverbot erteilt, aber sie hat Antonia sehr gern. Deswegen wird
sie meine Sorge bestimmt verstehen.«
»Natürlich.« Eigon tat das Verbot ihrer Mutter mit
einer Handbewegung ab. »Wo hast du schon nach ihr gesucht?«
»Überall. Und ich habe überall nachgefragt.«
»Wird sich Antonia nicht zu eurem Landgut begeben
haben? Das ist doch im Augenblick bestimmt der sicherste Ort.« Ihr
Unbehagen wuchs. »Was ist mit Petrus?«, fragte sie dann.
»Er ist momentan in Sicherheit. Ich glaube nicht,
dass Nero es wagen wird, gegen ihn vorzugehen.«
»Könnte sie bei ihm sein?« Eigon umfasste Julius′
Hände. »Zu ihm würde sie doch als Erstes gehen, oder nicht? Als sie
sah, dass euer Haus nicht mehr steht, und als sie kein
Lebenszeichen von dir oder eurem Großvater gesehen hat, ist sie
doch sicher zu ihm geflohen. Oder zu Paulus. Ist er noch in
Rom?«
Julius wiegte den Kopf. »Das wäre möglich. Alles
ist ein einziges Durcheinander. Ich mache mich jetzt auf den Weg
und suche weiter nach ihr. Aber du, Eigon.« Er schaute sie an. »Ich
glaube nicht, dass du hier sicher bist. Deswegen bin ich gekommen.
Du musst dich verstecken. Die Leute tuscheln, dass du Christin
geworden seiest. Du bist zu oft bei uns zu Besuch gewesen, du hast
Petrus zu Füßen gesessen.«
»Und ich rette mich immer noch in Ausflüchte.« Sie
lächelte bekümmert. »Petrus betrachtet mich als Herausforderung,
aber ich habe ihm gesagt, dass ich die Götter aus der Heimat meiner
Mutter und meines Vaters nicht aufgeben kann.« Sie stellte sich auf
Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Geh, Julius. Du
musst sie finden. Bring sie zu eurem Großvater.«
»Ich gehe nicht ohne dich. Du bist hier nicht
sicher.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern und schaute ihr
streng ins Gesicht. »Du weißt, dass ich dich liebe.«
Sie lächelte. »Das weiß ich, Julius.«
»Und liebst du mich auch?«
Sie nickte. »Ich glaube schon.«
»Willst du mich heiraten?«
»Selbst wenn ich keine Christin bin?«
»Im Herzen bist du’s doch. Und das sieht
Jesus.«
Sie lächelte wieder. »Was immer Jesus glaubt, meine
Mutter und mein Vater stehen an erster Stelle, Julius. Ich darf
mich ihren Wünschen nicht widersetzen.«
Die Tür wurde so abrupt geöffnet, dass ihnen keine
Zeit blieb, sich voneinander zu lösen. Aelius trat ein und
betrachtete sie einen Moment mit geschürzten Lippen. »Im Hof stehen
zwei Offiziere der Prätorianer. Sie fragen nach Euch,
Prinzessin.«
Julius hielt sie am Ärmel fest. »Nein, geh
nicht!«
Eigon zögerte. »Was wollen sie von mir, Aelius?
Weißt du das?« Ihr Magen verkrampfte sich.
Der Haushofmeister zuckte mit den Schultern und
warf Julius einen unverhohlen feindseligen Blick zu. »Warum schaut
Ihr nicht selbst nach, Herrin? Sie baten eigens, dass Ihr zu ihnen
hinauskommt.«
»Nein!« Julius hielt sie immer noch fest. »Du
darfst nicht hinausgehen.«
»Soll ich sie dann an den König verweisen?«, fragte
Aelius. »Ich bin mir sicher, dass er sich mit ihrem Anliegen
befasst, was immer es ist.«
»Nein.« Eigon löste sich aus Julius′ Griff. »Du
weißt, dass das nicht geht, Aelius. Mein Vater ruht. Ich kümmere
mich darum.« Sie wandte sich an Julius. »Ich möchte, dass du jetzt
gehst und Antonia suchst. Mir passiert dort draußen nichts.«
»Das glaube ich nicht.« Er schaute ihr ernst in die
Augen. »Lass mich zumindest mit dir hinausgehen, um zu erfahren,
was die Männer von dir wollen.«
»Damit sie mich in Begleitung eines bekennenden
Christen sehen?« Sie lächelte. »Dann könntest allzu leicht du
derjenige sein, der in Gefahr ist, Julius, und mein Leben würde
dadurch auch nicht leichter. Bitte, geh jetzt. Geh durch die Küche,
hol dein Pferd und verlass die Villa durch das nördliche Tor.
Niemand hat etwas davon, wenn du festgenommen wirst. Und selbst
wenn nicht, wie kannst du Antonia und deinem Großvater helfen, wenn
du hier bist? Bitte.« Sie stellte sich noch einmal auf die
Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss.
Aelius hob die Augenbrauen. »Herrin, soll ich Euch
zu den Offizieren begleiten?«
»Ja, bitte.« Sie holte tief Luft. »Komm mit«, trug
sie ihm auf, als sie an ihm vorbeieilte.
Zu ihrer Erleichterung kannte sie die beiden
Offiziere nicht, die im Hof standen. Als sie erschien, salutierten
sie, einer von ihnen trat vor. »Ich habe eine Nachricht für Euch,
Herrin.« Er reichte ihr eine Schriftrolle. »Wir haben den Auftrag,
Euch zu einem Haus im benachbarten Ort zu bringen.«
Skeptisch blickte sie zwischen den Männern hin und
her und entrollte dabei das Schreiben. Der Größere der beiden hatte
grüne Augen, sein Gesicht verschwand fast unter einer Staubschicht,
er sah erschöpft aus.
»Wart Ihr beim Löschen in der Stadt?«, fragte sie.
Er nickte. Der andere Mann war gepflegter, er hielt sich sehr
aufrecht, seine Augen wirkten hart und hatten die Farbe von
Feuerstein. Instinktiv fasste sie eine Abneigung gegen ihn. Der
Brief war kurz und bündig: Eigon, ich brauche dich. Bitte komm.
Sag niemandem Bescheid. Antonia.
Die Schrift war zittrig, aber unverkennbar
Antonias. Eigon schaute zu dem größeren der beiden Männer. »Wer hat
Euch den gegeben?«
»Ein Kamerad, Herrin. Er wollte ihn Euch selbst
bringen, aber er ist bei dem Brand verletzt worden.«
»Wisst Ihr, was darin steht?«
Er nickte. »Wir sollen Euch zu einem Haus rund zwei
Meilen von hier bringen, die Via Flaminia hinauf. Dort ist eine
junge Herrin, meines Wissens ist sie verletzt. Sie braucht Eure
Hilfe.«
»Aelius, schnell! Schau, ob Julius noch da ist!«,
rief Eigon über die Schulter. »Sag ihm, die Nachricht kommt von
Antonia. Und dann bitte einen Sklaven, meine braune Stute zu
bringen.« Sie wandte sich an die Offiziere. »Wartet. Ich packe
rasch meine Medizin und Verbände zusammen.« Kurz hielt sie inne.
Was, wenn es eine Falle war? »Was fehlt ihr denn?«, fragte sie
misstrauisch.
Beide zuckten mit den Achseln. Der kleinere Mann
lächelte. »Nach allem, was ich gehört habe, ist es ernst, Herrin.«
Sie betrachtete sein Gesicht nachdenklich. Seine Miene gefiel ihr
nicht, aber was sollte sie tun? Sie konnte Antonia nicht im Stich
lassen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief durchs Atrium in
ihre Räume. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie einige Phiolen mit
Tinktur, mehrere kleine Tongefäße mit Medizin und ein paar
Leinenbandagen in eine Tasche gepackt, nahm einen leichten Umhang
vom Haken an der Tür und eilte in den Hof zurück.
Aelius erschien gleichzeitig mit ihr. »Zu spät,
Herrin. Er war schon fort.« Er zögerte. »Ich sollte Euch selbst
begleiten.« Auch er war offenbar besorgt.
»Das ist nicht nötig.« Der größere Offizier trat
vor. »Wir begleiten Prinzessin Eigon. Solange wir bei ihr sind,
kann ihr nichts passieren.«
Aelius zögerte. »Jemand sollte Euch begleiten. Es
gehört sich nicht …«
»Beeilt Euch, Herrin.« Der kleine Mann warf die
Zügel über den Kopf seines Pferds und schwang sich in den Sattel,
und im selben Moment führte der Sklave Silas Eigons Pony in den
Hof. »Kommt mit oder auch nicht, aber lasst uns nicht
warten.«
»Du geh mit!«, befahl Aelius dem Sklaven, als der
junge Mann sich auf den Boden kniete, um Eigon mit einer Handstütze
beim Aufsitzen zu helfen. »Lauf mit ihr mit. Und bleib bei ihr. Du
bist ihre Eskorte, verstehst du?«
»Jawohl, Herr!« Silas nickte. Er grinste den
Offizieren zu, mittlerweile hatte auch der zweite Mann aufgesessen.
»Reitet nur nicht zu schnell, Herren!«
Im raschen Trott brachen sie auf, gelangten am Ende
der Zufahrt auf die Via Flaminia und folgten ihr gut zwei Meilen,
ehe sie auf einen anderen staubigen Weg zu einer heruntergekommenen
Villa abbogen. Das Haus hatte einem Nachbarn gehört, der vor
einigen Jahren nach Actium gezogen war.
Befangen betrachtete Eigon die Umgebung. Sie
verließ die Villa so selten, dass ihr im ersten Moment jede
Orientierung fehlte. Sie zügelte ihre Stute. »Hier wohnt doch
niemand. Da kann etwas nicht stimmen.«
»Herrin, wenn ich es recht verstehe, hat sich Eure
Freundin versteckt.« Der jüngere Offizier mit den kalten Augen ritt
neben sie und packte ihre Zügel. »Deswegen ist sie ja hier. Damit
niemand sie findet. Ich glaube, wir sollten uns beeilen. Sie will
ja nicht, dass die Behörden sie entdecken, da sie doch Christin
ist.«
Eigon starrte ihn an, ihre Blicke begegneten sich.
»Ihr seid doch im Auftrag der Behörden unterwegs, oder etwa
nicht?«, fragte sie spitz.
Er machte eine abschätzige Geste. »Ich tue nur, was
mir aufgetragen wird. Ich persönlich habe nichts gegen
irgendjemanden.
Ich habe eine Nachricht überreicht und Euch wie beauftragt
hierhergebracht. Jetzt reiten wir in die Kaserne zurück.« Er ritt
ihr voraus in den Hof hinter der Villa, der von Unkraut überwuchert
war und verwaist wirkte.
Böse Ahnungen beschlichen Eigon, als sie sich
umschaute. »Das kommt mir merkwürdig vor.« Sie warf einen Blick zu
Silas. Er trug ihre Tasche und rang immer noch nach Luft, nachdem
er die ganze Strecke neben ihnen hergelaufen war. »Wo ist sie?« Sie
wandte sich an den größeren Mann.
Er zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Ich
klopfe mal.«
Die Tür wurde sofort geöffnet, doch der Mann, der
dort stand, war im tiefen Schatten nicht zu erkennen. Eigon trat
einen Schritt näher. »Wo ist Antonia?« Plötzlich bekam sie Angst.
Sie hätte eine richtige Eskorte mitnehmen sollen, ein Sklave allein
genügte nicht.
»Sie ist im Haus. Sie kann nicht aufstehen, sie hat
sich den Knöchel verstaucht.« Die tiefe Stimme klang beruhigend.
»Antonia, hörst du mich?«, rief er über die Schulter. »Deine
Freundin mit dem Verbandszeug ist gekommen. Bald geht’s dir
besser.« Zur Antwort erklang ein schmerzvolles Wimmern. Der Mann
warf einen Blick zu Silas. »Ich schlage vor, dass du mit dem Pferd
deiner Herrin zurückreitest. Morgen kannst du sie und ihre Freundin
dann mit der Sänfte abholen; bis dahin sollte sie wieder
transportfähig sein.« Er wich einen Schritt beiseite, damit Eigon
eintreten konnte. Zweifelnd sah sie zu Silas. Sie wollte dringend
zu Antonia, die Stimme des Mannes, der sich offenbar um sie
kümmerte, beruhigte sie, doch die Vorstellung, allein
zurückzubleiben, war ihr unangenehm.
Auch Silas zögerte. »Ich sollte hierbleiben,
Herrin.«
Als Antonia wieder ächzte, fasste Eigon rasch einen
Entschluss. »Wir machen es so, wie er es vorgeschlagen hat,
aber sag Aelius, wo wir sind.« Sie nahm dem jungen Mann die Tasche
ab und ging an ihm vorbei ins Haus.
Antonia lag auf einem Strohhaufen unter einer vor
Dreck starrenden Decke, sie war mit einem Tuch geknebelt. Ihr Blick
schoss wild umher. Eigon wirbelte herum, doch der Mann, der sie
hereingebeten hatte, war verschwunden. Auch von Silas war nichts
mehr zu sehen. Jemand anderes stand in der Tür. Sie erkannte ihn
sofort. Titus Marcus Olivinus.
Daniel lächelte. Jetzt hast du sie also gekriegt.
Beide auf einmal sogar. Ein Glückstreffer! War sie wirklich so
naiv, die Villa einfach so, ohne zu zögern, zu betreten? Seufzend
schaute er durch die Windschutzscheibe nach draußen. Schwarze
Gewitterwolken türmten sich am Horizont auf. Ohne die Klimaanlage
herrschte im Wagen brütende Hitze. Er wollte das drohende Unwetter
nicht am Straßenrand abwarten. Es war Zeit, nach Rom
hineinzufahren. Er ließ den Motor an. Wenn Titus wollte, dass er
Jess fand, dann würde Titus einen Weg finden, ihm ihren
Aufenthaltsort mitzuteilen.