Kapitel 23
Er ist uns auf den Leim gegangen. Er folgt uns tatsächlich.« Zum zweiten Mal warf Rhodri einen kurzen Blick in den Rückspiegel. »Wie zum Teufel hat er so schnell ein Auto aufgetrieben?«
Nervös schaute Steph über die Schulter hinter sich. »Ich kann nichts sehen.« Kein einziges Auto war unterwegs auf der Straße, die sich in einer langgestreckten Kurve hinzog, ehe sie in den Bergen verschwand.
»Er hält großen Abstand. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es ist.« Rhodri grinste. »Der Trick ist, so zu fahren, dass er an uns dranbleibt, aber nicht zu nah kommt.« Er war immer noch verblüfft, wie ähnlich sich die beiden Schwestern sahen, wenn Steph wie jetzt Jess’ auffälliges türkisfarbenes Oberteil trug und ihre Sonnenbrille aufsetzte. Allerdings beschränkte sich die Ähnlichkeit rein aufs Äußerliche; was die Persönlichkeit betraf, konnten sie unterschiedlicher nicht sein. Er lächelte bedauernd. Trotzdem, offenbar klappte ihr Täuschungsmanöver. »Schau mal auf die Karte. Kommt demnächst eine Abzweigung, die uns in ein paar Kilometern auf die Hauptstraße zurückbringt? Wenn der Wagen uns folgt, wissen wir, dass es wirklich Daniel ist. Dann fahren wir auf die Autobahn, und ich kann Gas geben.«
Steph schlug den Straßenatlas auf und fuhr ihre bisherige Route mit dem Finger nach. »Ja, in vier bis fünf Kilometern kommt eine Abzweigung.«
»Gut, die nehmen wir.«
»Und was machen wir, wenn wir irgendwo anhalten müssen?«
Rhodri lachte. »Was, hast du schon Hunger? Wir müssen einfach dafür sorgen, dass er dich nicht aus der Nähe sieht. Das sollte sich einrichten lassen. Ich bezweifle, dass er uns allzu sehr auf die Pelle rücken will. Nur so weit, um Jess Angst zu machen. Wenn du Jess wärst.«
»Er darf nicht ungeschoren davonkommen, Rhodri.«
Rhodris Miene verfinsterte sich. Vor ihnen erschien der Wegweiser für die Abzweigung, die sie nehmen wollten. »Das wird er auch nicht«, antwortete er überzeugt. »Da sind William und ich uns einig.« Er warf ihr ein kurzes, fast raubtierhaftes Lächeln zu und bog mit dem schweren Wagen in hohem Tempo auf die Nebenstraße ab. »Sobald wir wieder in heimischen Gefilden sind, machen wir Daniel Nicolson das Leben zur Hölle, darauf kannst du dich verlassen.«
Steph legte den Straßenatlas in den Fußraum. »Meine Schwester gefällt dir, oder?« Sie warf ihm einen Seitenblick zu.
Er lachte laut. »Das würde ich nicht sagen. Eher, dass sie gewaltig nervt! Genau wie du.«
»Aber auf eine anziehende Art, oder?«, fragte Steph nach, ohne auf die Beleidigung einzugehen.
»Beide Töchter eurer Mutter sind attraktiv.«
Sie schüttelte den Kopf. »Walisische Phrasendrescherei.«
»Aber mitnichten!« Er schaute in den Rückspiegel. »Der Wagen hinter uns kommt jetzt ein bisschen näher.«
»Also folgt der Wagen uns tatsächlich.«
»Offenbar. Es ist ein großes Auto mit viel PS. Braun. Die Marke kann ich aber noch nicht erkennen.«
»Das heißt, wenn er’s wirklich ist, könnte er uns einholen?« Steph zog sich vor Angst der Magen zusammen.
»Nicht, wenn ich Vollgas gebe. Unser Schlitten ist schneller als seiner.« Rhodri schien Spaß an der Verfolgungsjagd zu finden. »Und ich will nicht, dass er uns einholt. Zumindest jetzt noch nicht. Vorzugsweise erst, wenn wir den Ärmelkanal erreichen. Sobald wir auf der Autobahn sind, hat er keine Chance mehr, aber ich sorge dafür, dass wir ihn nicht ganz abhängen.«
 
In ihrem hübschen Zimmer in der Pension sah Jess, dass es in der Vergangenheit wieder Sommer war. Eigon saß mit Antonia draußen beim Feigenbaum. Jess lächelte. Die jungen Frauen freuten sich an der Stille des Gartens, zwischen ihnen stand auf dem Boden ein Korb mit getrockneten Kräutern. Eigon sang leise, während sie die Blätter der Kräuter abstreiften und in beschriftete Gefäße füllten. Der Hof lag im Windschatten der Hausmauern, doch im Obstgarten, der sich über die Abhänge hinter der Villa erstreckte, bogen sich die Bäume im heftigen Sommerwind. Eigon wischte Kräuterbrösel von ihrem Rock, nahm eine weitere Handvoll getrockneter Stiele, füllte ihr Gefäß und verschloss es fest mit dem Stöpsel. Als Nächstes griff sie nach einem Sträußchen getrockneten Thymians, von dem sie die Blättchen abstreifte, während Antonia sich daranmachte, die Gefäße auf ein Tablett zu schlichten. Als Eigon das Ende des Lieds erreichte und eine einvernehmliche Stille einsetzte, richtete sich ihre Freundin mit einem leisen Stöhnen auf.
»Es ist unglaublich heiß, trotz des Windes. Schau mal zum Himmel. Ich glaube, da braut sich ein Gewitter zusammen.«
Eigon schaute nach oben und runzelte die Stirn. Der Himmel über der Stadt hatte eine seltsam metallische Färbung angenommen. »Das ist kein Gewitter, das ist Rauch!«, rief sie.
Die beiden Frauen sprangen auf und liefen durch den Garten zur Mauer, von der der Berg steil nach Süden abfiel und man einen guten Blick auf die Stadt hatte. Das sumpfige Gelände, das den Tiber säumte, ging rasch in die Elendsviertel über, die rund um die hohen Stadtmauern entstanden waren. Der Himmel über der Stadt war fast schwarz vor Rauch.
Hinter ihnen raschelte etwas. Sie drehten sich um, und Aelius stand vor ihnen.
»Es brennt! Ein großes Feuer mitten in der Stadt!« Erregt trat er von einem Fuß auf den anderen. »Einer unserer Sklaven ist gerade zurückgekommen. Er sagt, in der Stadt herrscht das reinste Chaos, die Straßen sind verstopft vor Menschen, die zu fliehen versuchen.« Er machte eine kurze Pause. »Mein Sohn ist in der Stadt.«
Eigon hatte Flavius erst nach langer Zeit verzeihen können, dass er Julia allein in die Stadt hatte gehen lassen und sie damit in den Tod geschickt hatte. Selbst jetzt erwähnte Aelius seinen Namen in Eigons Gegenwart nur widerstrebend. »Ich wollte nicht mit der Königin, Eurer Mutter, darüber sprechen. Sie hat mit Eurem kranken Vater schon genug Sorgen.« Erschöpfung und Kummer waren ihm ins Gesicht geschrieben.
»Das war richtig von dir, mich zu benachrichtigen.« Eigon seufzte, dann wandte sie sich unvermittelt an Antonia. »Wo sind Julius und dein Großvater?« Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Einen Moment schwiegen sie bestürzt.
Schließlich machte Antonia eine hilflose Geste. »Es wird ihnen schon nichts passiert sein.« Beide Frauen blickten wieder über die Mauer hinweg zur Stadt. »Die Alarmglocken werden geläutet haben, und die Kohorten und Wachen werden sofort zur Stelle gewesen sein.« Damit sprach Antonia vor allem sich selbst Mut zu. Im Stadtzentrum mit den übervölkerten Holzbauten, die zwischen die etwas sichereren Steinhäuser gepfercht waren, brachen oft Brände aus. »Wir können nur beten, dass ihnen nichts zustößt.«
Aelius hob skeptisch die Augenbrauen. »Möge Vulkan gnädig sein.« Er verbeugte sich förmlich.
»Gib mir Bescheid, sobald du etwas erfährst«, rief Eigon ihm nach, als er sich zum Gehen wandte. »Flavius wird bestimmt auf sich aufpassen«, fügte sie noch hinzu, doch das hörte Aelius offenbar nicht mehr.
Mit einem Schaudern setzte sie sich auf eine Steinbank. »Ich bete zu deinem Gott und zu meinen, dass niemandem etwas zustößt.« Beide Frauen schauten zum Himmel. Die Rauchwolken über der Stadt hatten die Farbe von geschmolzenem Eisen angenommen.
»Vater im Himmel, halte schützend deine Hand über die Menschen in dieser Stadt«, murmelte Antonia leise. »Schick einen Regen zur Unterstützung der Feuerwehr.« Sie sah verzagt aus. »Erst gestern hat Großvater über die Prophezeiungen gesprochen, von denen der Apostel Petrus uns erzählt hat. Er sagte, die Propheten hätten Rom als Hure bezeichnet, und die Weisen aus Ägypten hätten vorhergesagt, dass an dem Tag, an dem der Hundsstern aufgeht, eine große Stadt fallen werde. Und dass diese Stadt Rom sei.«
Entsetzt schaute Eigon ihre Freundin an. »Das ist heute«, flüsterte sie. »Der vierte Tag nach den Iden des Juli. Das Aufgehen des Hundssterns. Das steht in meinem Almanach.« Beide richteten den Blick wieder zum Himmel.
»Ich muss zu ihnen!« Antonia sprang auf. »Wenn es in der Stadtmitte brennt, muss ich Großvater und Julius suchen und herausfinden, ob ihnen auch nichts zugestoßen ist.«
»Nein!« Eigon hielt sie am Arm zurück. »Du kannst nichts tun! Wenn du gehst, machst du alles nur schlimmer. Momentan wissen sie, dass zumindest du bei uns in Sicherheit bist.«
Im Lauf des Nachmittags wurde der Himmel im Süden immer dunkler. Gelegentlich sahen sie, wie sich der messingfarbene Schein der Flammen in den Wolken spiegelte. Der Brandgeruch wurde vom Wind zu ihnen herübergetragen und dann, als er die Richtung änderte, wieder fortgeweht. Der Strom der Flüchtlinge, der aus der brennenden Stadt an der verriegelten Villa vorbeikam, riss nicht ab. Männer, Frauen und Kinder, erschöpft, verängstigt und schwarz vor Ruß, schoben ihre Habseligkeiten auf Karren und Wagen vor sich her und schleppten sich immer weiter die Straße entlang, gleichgültig wohin, solange sie nur der Feuersbrunst entkamen. Gerüchte verbreiteten sich so schnell wie die Asche im Wind. Das Feuer sei eingedämmt worden. Es sei völlig außer Kontrolle geraten. Es sei in einem Stadtviertel gelöscht worden, nur um über die mit Holzschindeln gedeckten Häuser in ein anderes überzuspringen. Eine Frau sei beim Viehmarkt von ihren Nachbarn erschlagen worden, die glaubten, ihre Lampe habe sich in den Tüchern verfangen, die zum Trocknen in ihrem Raum hingen, und dadurch das Feuer ausgelöst. Andere beschuldigten eine Schmiede auf dem Viminal, wieder andere eine Bäckerei auf dem Aventin. Die Prätorianergarde war sofort herbeigerufen worden wie auch die Feuerwehrleute. Als am Abend die Dunkelheit einsetzte, wurde das ganze Ausmaß der Feuersbrunst sichtbar. Von Julius war noch keine Nachricht eingetroffen, und auch Flavius war nicht zurückgekehrt. Caradoc und Cerys hatten eine Weile ebenfalls im Obstgarten gestanden und zum Himmel geschaut, bis sich Caradoc überreden ließ, wieder das Bett aufzusuchen. Cerys war noch eine Weile geblieben, hatte hilfesuchend die Hände ihrer Tochter umklammert, dann hatte auch sie sich ins Haus zurückgezogen.
»Es ist außer Kontrolle geraten.« Als es dunkel wurde, kam Aelius wieder zu den beiden jungen Frauen heraus. »Ich haben den Sklaven verboten, sich den Löschtrupps anzuschließen. Wozu? Eine Handvoll Männer mehr nützen jetzt auch nichts. Sie müssen hierbleiben und unsere Tore bewachen. Überall wird geplündert.«
»Sind wir hier in Gefahr?« Antonia schaute in sein blasses Gesicht. Aelius war seit dem Morgen um zehn Jahre gealtert.
Er schüttelte den Kopf. »Der Wind bläst von uns fort. Außerdem liegen zwischen uns und der Stadt viele Felder, Abhänge und Gärten.«
»Wo ist Flavius heute hingegangen, Aelius?«, fragte Eigon. Sie wusste, dass er ihr das nicht von sich aus sagen würde.
»Er sollte für Eure Mutter ein Päckchen zu Pomponia Graecina bringen, Prinzessin. Danach, sagte ich ihm«, er unterbrach sich und seufzte schwer, »solle er sich einen schönen Tag in der Stadt machen. Er arbeitet schwer hier in der Villa. Er hatte eine Belohnung verdient.« Er sah Eigon flehentlich an.
»Das weiß ich, Aelius.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. Er hatte Recht. Seit Julias Tod arbeitete Flavius unentwegt, als befürchte er, in einer Ruhepause könnten ihn seine Schuldgefühle überwältigen. Eigon wusste, dass ihr Vater schließlich mit ihm gesprochen und ihm gesagt hatte, dass, wer immer den Mord an Julia geplant habe, sich durch Flavius nicht davon hätte abhalten lassen. Hätte er sie begleitet, wäre er nur ebenfalls ermordet worden. Caradoc hatte es gut gemeint und dem jungen Mann etwas von der Last nehmen wollen, die ihn bedrückte. Ob es genützt hatte, konnte niemand sagen. »Ich bin mir sicher, dass ihm nichts passiert ist«, sagte Eigon jetzt freundlich. »Die letzte Nachricht lautete, dass das Feuer eingedämmt worden sei.« Sie schaute zum Himmel im Süden, und alle verstummten. Eingedämmt schien nicht ganz das richtige Wort für das Glühen, das immer größere Teile des Himmels zu erfassen schien.
Kurz vor Morgengrauen kehrte Flavius schließlich zurück. Als ihm auf sein Rufen hin das nördliche Tor geöffnet wurde, waren seine Hände von Blasen übersät, sein Haar versengt, sein Gesicht rußgeschwärzt. Eigon und Antonia waren im Atrium in einen unruhigen Schlaf gefallen, als Aelius mit seinem Sohn an seiner Seite erschien.
»Herrinnen.« Vor Heiserkeit konnte Flavius kaum sprechen. »Felicius Marinus Publius und sein Enkel Julius sind in Sicherheit. Ich habe die beiden am frühen Abend gesehen. Das ganze Viertel rund um das Forum und den Palatin ist evakuiert worden. Sie sind jetzt bei Aulus Plautius und dessen Familie in deren Villa in den Bergen. Alle sind außer Gefahr.« Einen Moment drohte ihm die Stimme überzuschnappen, er atmete tief durch, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen.
Eigon begriff sofort, was er getan hatte. Gleich nach dem Ausbruch des Feuers hatte er sich aufgemacht, um Julias Familie beizustehen. Zutiefst berührt stand sie auf und schenkte ihm einen Becher Wein ein. Als sie merkte, dass seine Hände zu heftig zitterten, um ihn zu halten, schloss sie mit sanftem Druck seine Finger darum. »Das Feuer ist bis zum Forum vorgedrungen?«, fragte sie.
Er nickte. »Das ganze Viertel ist abgebrannt. Die Häuser der Senatoren, der Palatin, der Esquilin, die Domus Transitoria.«
»Was? Der Kaiserpalast?« Sein Vater starrte ihn mit offenem Mund an.
Flavius nickte. Nach dem Schluck Wein war seine Stimme fester. »Angeblich ist der Kaiser aus Antium zurückgekommen. Es heißt, dass er selbst an der Spitze der Feuerwehrmänner steht. Die Leute sagen, es handele sich um Brandstiftung.«
»Nein.« Antonia spielte nervös mit dem Saum ihrer Stola. »Wer sollte so etwas tun? Es muss ein Unglück gewesen sein. Jeden Tag brechen doch Hunderte kleiner Feuer aus.«
Nach einem Blick zu ihr zögerte Flavius einen Moment, ehe er fortfuhr. »Ich habe gehört, dass der Kaiser die Christen dafür verantwortlich macht.« Es war ihm anzuhören, wie schwer es ihm fiel, die Worte auszusprechen.
Eine Weile herrschte Stille, in der nur das Plätschern des Wassers im Brunnen zu hören war. Die beiden jungen Frauen starrten auf die feinen Tröpfchen, die von einer plötzlichen Brise aus Westen erfasst wurden und auf die Pflastersteine regneten, ehe die Fontäne wieder gerade nach oben schoss. »Und warum?« Es war Eigon, die schließlich die Frage aussprach, die sich im Stillen alle stellten.
»Er sagt, sie hätten ein Feuer prophezeit. In den ärmeren Vierteln sind Traktate im Umlauf, in denen es heißt, nur eine Feuersbrunst könnte die Stadt reinigen. Er sagt, sie hätten den Brand selbst gelegt, um sicherzustellen, dass sich ihr Orakel auch erfüllt.«
Antonia und Eigon tauschten einen Blick. Der aufgehende Hundsstern am Morgenhimmel war im Schein der lodernden Flammen nicht zu erkennen gewesen.
»Er sagt«, fuhr Flavius stockend fort, »dass die Christen das mit dem Leben bezahlen werden.«
 
Jess öffnete die Augen und schaute auf den Teppich, doch sie sah nur die Reflexion der Flammen am Himmel, roch den Brandgeruch. Rings um sie her fiel ein feiner Ascheregen. Unwirsch fuhr sie sich über die Arme, nur um festzustellen, dass keine Asche auf sie gefallen war. Es gab keine Feuersbrunst, sie saß in einem stillen, leeren Raum. Ohne sich dessen recht bewusst zu sein, stand sie auf und ging zu der unverputzten Wand, um die rauen Steine zu berühren. Bevor sie ihrer Pensionswirtin die Treppe hinaufgefolgt war, hatte diese ihr ein Infoblättchen in die Hand gedrückt, das sie vermutlich allen Gästen gab und das die Geschichte des Hauses erläuterte. Dort hieß es unter anderem, dass die rückwärtige Mauer von etwa 200 v. Chr. stammte und in die spätere Kirche integriert worden war. Diese Mauer hatte den großen Brand von Rom überstanden. Jetzt drückte Jess die Stirn dagegen und schloss die Augen, als könnte sie die Steine dazu zwingen, ihr ihre Geschichte zu erzählen. War das der Grund, weshalb Carmella sie in dieser Pension untergebracht hatte? Zweifellos kannte sie die Geschichte des Gebäudes. Jess spürte die Rauheit der Steine auf ihrer Haut, aber keine Bilder wollten sich einstellen. Kein Rauch, keine prasselnden Flammen, nichts. Nach ein paar Minuten setzte sie sich entmutigt wieder aufs Bett.
 
»Bald muss ich tanken.« Rhodri hatte immer häufiger einen Blick aufs Armaturenbrett geworfen. »Siehst du ihn?«
Steph schaute angestrengt in den Außenspiegel. »Ich glaube, er ist vier Autos hinter uns.«
»Verdammt!« Rhodri schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Schau auf die Landkarte. Kommt nicht bald eine Ausfahrt? Vielleicht können wir abbiegen, ohne dass er es merkt, und dann lassen wir ihn an uns vorbeirauschen. Aber lieber früher als später.«
Obwohl Steph die Landkarte mittlerweile praktisch auswendig kannte, schaute sie noch einmal nach. Auf den nächsten Kilometern gab es keine einzige Ausfahrt. »Vielleicht kann ich mich auf der Damentoilette verbarrikadieren, so dass er mich gar nicht zu Gesicht bekommt. Und wer weiß, vielleicht merkt er zu spät, dass wir abgebogen sind.« Ihr Unbehagen wuchs. Daniel war einfach zu dicht hinter ihnen. Eigentlich hatte sie angenommen, dass sie ihn mittlerweile längst abgehängt hätten, aber er war immer gerade in Sichtweite hinter ihnen, beschleunigte gleichzeitig wie Rhodri, bremste gleichzeitig wie Rhodri, ein böser dunkler Schatten, der sie verfolgte.
»Jetzt oder nie. Wenn ich nicht bei dieser Raststätte tanke, geht uns das Benzin aus. Halt dich fest.« Als die Tankstelle in Sicht kam, wartete Rhodri bis zum letzten Moment, dann trat er voll auf die Bremse und schlingerte fast auf die Abbiegespur. Der Fahrer im Auto direkt hinter ihm hupte empört und zog an ihm vorbei. Rhodri fuhr in schnellem Tempo an den Tanksäulen vorbei hinter die Gebäude, so dass der Mercedes von der Straße aus nicht zu sehen war. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Entschuldige den grauenhaften Fahrstil. Hat er wenigstens seinen Zweck erfüllt?«
Steph drehte sich um. »Ich kann nichts sehen.« Sie zitterte.
Rhodri schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze. »Ich bin völlig kaputt.«
»Wenn wir ihn abgehängt haben, können wir hier vielleicht einen Kaffee trinken.« Steph grinste erschöpft. »Und auf die Toilette gehen!«
Rhodri stieg aus und schaute sich um. »Bleib mal im Auto. Ich schau um die Ecke, ob die Luft rein ist.«
Steph öffnete die Beifahrertür, schwang die Beine nach draußen und blieb eine Weile so sitzen, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Als Rhodri nach einigen Minuten nicht zurückgekommen war, folgte sie ihm zum Hauptgebäude. An einer der Tanksäulen stand ein staubiger kastanienbrauner BMW. Entgeistert starrte sie den Wagen an, Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen. Vom Fahrer war nichts zu sehen. Rasch drehte sie sich um und lief zum Damenklo, steuerte auf die nächste freie Kabine zu und verriegelte hastig die Tür hinter sich. Was jetzt? Hatte er sie erkannt? Wo war Rhodri? Steph wartete mehrere Minuten, hörte andere Frauen hereinkommen, die Toilette benutzen und sie wieder verlassen, hörte ihre Schritte auf dem Fliesenboden. Niemand sprach ein Wort. Sie spitzte die Ohren, ob von draußen Stimmen zu hören waren, doch über das Rauschen des Wassers war nichts zu verstehen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte hinaus. Der Toilettenraum war menschenleer. Sie wusch sich Gesicht und Hände, fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare und ging schließlich zum Ausgang. Zögernd blieb sie stehen und schaute auf die Uhr. Zehn Minuten war sie jetzt fort. Wenn der braune Wagen nichts mit Daniel zu tun hatte, musste er mittlerweile weitergefahren sein. Abrupt riss sie die schwere Schwingtür auf. Der Parkplatz und die Zufahrt zu den Tanksäulen lagen brütend im gleißenden Sonnenlicht. Am blauen Himmel sausten Mauersegler vorbei, so hoch, dass ihre gellenden Schreie kaum zu hören waren.
Beim ersten Schritt ins Freie traf die Hitze sie wie ein Schlag. Automatisch wanderte ihr Blick zu den Zapfsäulen im Schatten des Dachs. Der braune BMW war verschwunden, an dessen Stelle stand jetzt Rhodris Mercedes. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sie sich in den Beifahrersitz sinken, öffnete das Fenster und wartete, bis Rhodri vom Zahlen zurückkam. Als sie das nächste Mal aufschaute, stand Daniel neben dem Wagen und schaute zu ihr hinunter. Er lächelte kalt, als sie erschreckt aufschrie.
»Steph! Tja, das hätte ich mir ja denken können.« Er verschränkte die Arme. »Wie dumm von mir.«
»Daniel!« Sie spielte die Überraschte. »Was für ein Zufall, dich hier zu sehen. Fährst du auch nach Hause?« Ihre Handflächen waren schweißnass geworden, unauffällig wischte sie sie an den Knien ab. Daniel trug eine Sonnenbrille, so dass sie seine Augen nicht sehen konnte. Hinter ihm erschien Rhodri, einen Karton mit zwei Kaffeebechern und einer Tüte mit Gebäck in der Hand. Als er Daniel erkannte, beschleunigte er seine Schritte und blieb neben ihm stehen.
»Das habe ich mir doch gedacht, dass du das bist! Du mieser Dreckskerl! Für das, was du Jess angetan hast, verpass ich dir eine Tracht Prügel!« Rhodri deponierte den Karton auf Stephs Schoß. »Dich mach ich fertig, du Schuft!«
Als Rhodri ihn am Hemdkragen packen wollte, trat Daniel einen Schritt zurück, machte auf dem Absatz kehrt und lief davon.
Rhodri gab sich gar nicht die Mühe, ihm zu folgen. »Feigling!«, brüllte er ihm nach. »Gib auf, Mann! Sie ist längst weg. Du wirst sie nicht mehr finden!«
Daniel blieb kurz stehen und schaute über die Schulter zu ihm zurück. »Sie ist nicht weg«, rief er. »Du verstehst wirklich überhaupt nichts. Sie wird nicht gehen, bis Titus ihre Nemesis umgebracht hat.« Er lachte freudlos. »Das war nicht besonders schlau von mir, euch zu folgen. Was für eine Farce! Jetzt ist er sauer.« Wenige Sekunden später sahen Steph und Rhodri, wie er aus seinem Parkplatz zwischen den Lastwagen herausfuhr, mit quietschenden Reifen wendete und davonraste.
»Das Schwein. Schnell, dein Handy!« Rhodri setzte sich hinters Steuer und fuhr von der Tanksäule weg, blieb aber abrupt wieder stehen. »Es ist sinnlos, ihm nachzujagen. Ruf William an. Sag ihm, dass Daniel nach Rom zurückfährt. Scheiße! Scheiße! Scheiße!«
»Und was machen wir jetzt?« Steph hatte das Handy bereits am Ohr.
»Frag William, was er meint.« Rhodri griff sich einen Kaffeebecher, nahm den Deckel ab und blies in den dampfenden Cappuccino.
»Ich fahr mit ihr zum Flughafen«, sagte William, als Steph ihm alles erzählt hatte. »Er weiß ja nicht, in welchem Hotel sie ist. Das ist ein Vorteil. Ich fahre sofort mit ihr nach Ciampino. Und dann bringe ich sie nach Cornwall. Da wird Daniel sie nie im Leben finden.«
»Und was sollen wir machen?«, fragte Steph. »Sollen wir zurückkommen?«
»Das ist doch sinnlos, wenn wir gleich nach London fliegen. Ich finde, ihr solltet weiterfahren. Genießt die Fahrt. Aber sei vorsichtig, wenn du nach Ty Bran kommst. Wenn er die Fährte verloren hat, zieht es ihn vielleicht dorthin.«
 
Titus Marcus Olivinus warf der Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Das hätte ich nicht besser machen können, selbst wenn ich das Feuer eigenhändig gelegt hätte!«
Lucius warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Bist du dir sicher, dass du’s nicht doch warst?«
Titus rieb sich einen Nasenflügel. »Wer weiß? Ein Wort hier, ein Wort da. Wie es heißt, hat es an mehreren Stellen gleichzeitig zu brennen angefangen. Wenn ich eine bescheidene Rolle gespielt haben könnte, dann höchstens mit Vorschlägen, wer was wo macht.« Er grinste selbstzufrieden.
»Du wärst also bereit, eine ganze Stadt zu vernichten, um deine kleine Prinzessin für dich zu haben?«
»Du musst zugeben, der Plan hat Stil.« Titus lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Vor der Kaserne liefen Männer hin und her, die einen kehrten von ihrer Schicht beim Feuerlöschen zurück und sanken erschöpft auf ihre Schlafstatt, während diejenigen, die sie ablösen sollten, bereits vom Exerzierplatz zum Brandherd abmarschiert waren. »Bis das Feuer gelöscht ist, steht kein Stein mehr auf dem anderen. Es ist völlig außer Kontrolle geraten. Unser Kaiser wird überglücklich sein. Wenn er erst einmal all diejenigen ausgemerzt hat, denen er die Schuld dafür geben will, steht seinen Plänen für eine neue Stadt nichts mehr im Wege.«
»Und du meinst, er will Eigons Freunden die Schuld dafür geben?«
»Die gehören bestimmt dazu. Christen und alle, die er für seine Feinde hält. Wenn ich jetzt Senator wäre, würde ich um mein Leben bangen.« Titus lachte zynisch.
»Ist dir schon der Gedanke gekommen, dass Eigon von dieser Säuberungsaktion vielleicht selbst betroffen sein könnte? Mein Informant glaubt, dass sie sich hat taufen lassen«, sagte Lucius nachdenklich.
Titus schnitt eine Grimasse. »Dann werde ich dafür sorgen müssen, dass ihr meine persönliche Aufmerksamkeit zuteilwird, bevor alle zusammengetrieben werden.«
»Dafür bist du zu spät dran. Die aufgebrachten Bewohner sind schon auf den Straßen. Sie wollen jemanden, dem sie die Schuld geben können, und zwar auf der Stelle.«
»Dann hat Nero ja den perfekten Sündenbock gefunden. Christen gibt’s mehr als genug. Aber wenn du mich fragst, hat er mindestens eins der Feuer selbst gelegt!«, fuhr Titus höhnisch lachend fort. »Das würde ich ihm durchaus zutrauen. Er versucht doch schon seit Ewigkeiten, seine Pläne für einen neuen Riesenpalast vom Senat absegnen zu lassen. Außerdem will er die Macht der Senatoren einschränken. Da gibt es keinen besseren Weg, als sie auszuräuchern.«
»Und die Schuld jemand anderem anzulasten.« Lucius schüttelte den Kopf. »Und an einem anderen Ort eines seiner grauenvollen Konzerte zu geben, wenn das Feuer ausbricht. Ein großartiges Alibi!« Irgendwie war ihm die Vorstellung lieber, der Kaiser selbst stünde hinter dieser Feuersbrunst, als dass sie von dem kalten, berechnenden Mann neben ihm verursacht worden war.
Titus hievte sich aus seinem Sitz. »Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, ein paar Pläne zu schmieden.«
»Du willst nicht zum Feuerlöschen raus?«
Titus hob die Augenbrauen. »Ich bin nicht eingeteilt, und freiwillig melde ich mich bestimmt nicht. Wozu denn? Ein Mann mehr oder weniger, der Wasser in die Flammen schüttet - auf den kommt es jetzt auch nicht an. Für mich stehen spannendere Sachen an. Bist du mit von der Partie?« Er sah Lucius in die Augen.
Lucius zögerte, dann schüttelte er den Kopf. Er war nicht bereit, noch länger bei Titus’ sadistischen Plänen mitzumachen. Das hatte er schon vor einiger Zeit beschlossen. Julias Tod hatte ihn mehr verstört, als er sich eingestehen wollte. Es hatte seine Freundschaft mit diesem Mann in den Grundfesten erschüttert, so sehr, dass er nicht einmal wusste, ob er ihn noch als Freund bezeichnen wollte. Mit einem entschlossenen Lächeln nahm er seinen Umhang und ging zur Tür. »Ich gehe mal raus zum Löschen. Da draußen sterben Männer und Frauen und Kinder. Wer immer für dieses Feuer verantwortlich ist, sie waren’s auf jeden Fall nicht!«
Titus machte eine wegwerfende Geste. »Wie du willst. Ich glaube, es ist sowieso Zeit, dass Eigon und ich uns ein bisschen allein amüsieren. Und für meine Pläne kann ich keine Zeugen brauchen!«
 
Beim Läuten ihres Handys fuhr Jess zusammen. Ihr war flau, sie hatte entsetzliche Angst. Sie musste Eigon warnen. Irgendwie musste sie Kontakt zu ihr aufnehmen. Und sie zwingen, ihr zuzuhören. Das Handy klingelte beharrlich weiter. Mit einem ärgerlichen Seufzen bückte sie sich nach ihrem Lederrucksack, der neben der Kommode auf dem Boden lag, und fischte es heraus. Ohne einen Blick auf die Nummer des Anrufers zu werfen, schaltete sie es aus. Carmella und William hatten ihr zwar eingeschärft, es rund um die Uhr anzulassen, aber nicht jetzt. Nicht, wenn sie versuchte, mit Eigon in Kontakt zu treten. Sie warf das Handy in den Rucksack zurück und setzte sich mit geschlossenen Augen wieder aufs Bett. Vergiss nicht, dich zu schützen. Einen Moment hallte Carmellas Stimme durch ihren Kopf. Dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Jetzt musste sie handeln. »Eigon«, flüsterte sie. »Eigon, bist du da? Hör mir zu. Bitte hör mir zu. Du musst vorsichtig sein.« Lange herrschte Stille, nichts passierte. Dann kam Jess eine Idee. Sie riss die Augen auf. Lucius hatte gesagt, dass Eigon sich habe taufen lassen. Sie war Christin geworden. Warum hatte sie das nicht miterlebt? Wie konnte ihr ein so wichtiges Ereignis entgangen sein? War es ein so großes Geheimnis, dass sogar Jess davon ausgeschlossen worden war? Ungeduldig verzog sie das Gesicht. »Jetzt komm schon!«, murmelte sie. »Wo bist du?«
Selbst jetzt war ihr nicht klar, wie der Vorgang funktionierte. Manchmal träumte sie. Manchmal schien sie in eine Trance zu fallen. Manchmal war sie wach und verfolgte die Szene, als würde sich ein Film vor ihren Augen abspielen. Vermittelte Eigon ihr bewusst, was gerade passierte? Wollte sie, dass Jess ihre Geschichte erfuhr? Wollte sie Hilfe, wie damals als kleines Mädchen in den Wäldern von Wales? Oder spielte sich das alles nur in ihrem, Jess’, Kopf ab? Sie ballte die Hände zur Faust. »Eigon, bitte hör mir zu! Pass auf! Er ist auf der Suche nach dir.«
Nach sechs Tagen war das Feuer schließlich gelöscht. Doch bis auch nur ansatzweise wieder Ordnung in die zerstörte Stadt einzog, würde weitaus mehr Zeit vergehen. Überall herrschte ein Durcheinander, selbst in den Stadtteilen, die vom Feuer verschont geblieben waren. Sogar hier draußen in den Vororten waren die Zustände chaotisch. Doch das Tor zur Villa stand offen. Titus lächelte. Er sah, wie ein Wagen hineinfuhr, über den staubigen Hof rumpelte und vor der Eingangstür zum Stehen kam. Nachlässig war das einzige Wort, mit dem dieser Haushalt zu bezeichnen war.
Aelius war nicht mehr er selbst. Er wurde alt. Ohne starke Hand, die ihn leitete, hatte er zu lang nach eigenem Gutdünken schalten und walten können, und der Schock über das Feuer und die Ungewissheit wegen seines Sohns hatten ihm die letzte Kraft geraubt. Allerdings hatte er nach wie vor keine Ahnung, was sein Sohn tatsächlich trieb. Titus grinste höhnisch. Es war so einfach gewesen, Flavius für sich zu gewinnen. Ein paar Denare hier und da, und der Bursche tat alles, was man von ihm verlangte. Stirnrunzelnd zog er sich an den Straßenrand in den Schatten eines Baumes zurück, denn ein weiterer Wagen näherte sich. Dieser holperte allerdings an ihm vorbei aufs offene Land hinaus. Freilich, er hatte nicht geahnt, wie sehr der Kerl in diese Julia verliebt gewesen war. Taktisch war es wohl ein Fehler gewesen, ihm aufzutragen, sie an dem Tag beim Aufbruch nach Rom hinzuhalten, so dass sie ohne ihn fuhr. Offenbar war er ein besserer Kenner des weiblichen Charakters als Flavius, er hatte gewusst, dass sie eher allein gehen würde, als auf ihr Vergnügen zu verzichten. Aber womöglich hatte er damit Flavius’ Misstrauen geweckt. Auf jeden Fall war der Junge, solange er über die dumme Gans geheult hatte, monatelang zu nichts nutze gewesen. Titus verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln, als er sich an den Tag erinnerte. Er spürte, dass er hart wurde. Die Sache mit Julia hatte ihn mehr erregt, als er je für möglich gehalten hatte, und jetzt war endlich der ersehnte Moment gekommen. Bald würde sich das alles wiederholen.
Allerdings würde es weit schwerer sein, Eigon aus ihrem Versteck zu locken. Eine richtige Herausforderung. Er schaute zum Tor hinüber. Es standen zwar Wachposten in der Nähe, so viel hatte er herausgefunden, doch sie trieben sich im Schatten herum, ohne groß achtzugeben. Wenn er in seiner schneidigen Uniform durchs Tor ritt, würden sie ihn nur an die Haussklaven verweisen und auffordern, zum Villeneingang zu reiten. Er band sein Pferd los und schwang sich in den Sattel. Eigon würde ihn nicht sehen, ihr Tagesablauf war immer gleich. Den ganzen Vormittag verbrachte sie in ihren Zimmern und verarztete eine endlose Schlange von kranken Bauern und Sklaven. Ohne Bezahlung anzunehmen, schenkte sie ihnen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, ihr sanftes Lächeln, ihre Salben und Pillen und Heiltränke, bis ihr Vater aufwachte und nach ihr verlangte. Bei den Göttern, das Mädchen würde ihm noch dankbar sein dafür, dass er ihr in ihren letzten Stunden auf Erden etwas Aufregung bot. Er trabte auf das Tor zu, blieb kurz dahinter stehen und wartete, dass jemand ihn ansprach.
»He da!«, rief er herrisch. »Ist da jemand?«
Der Unterstand, in dem üblicherweise der Torwächter saß, war unbemannt. Titus schnaubte verächtlich. Wenn es so einfach war, würde er sich betrogen vorkommen. Das stundenlange Planen, die vielen Träume sollten reine Zeitverschwendung gewesen sein? Er hätte einfach hereinspazieren und sie ungehindert mitnehmen können?
»Herr, kann ich Euch behilflich sein?« Bei der Stimme, die hinter ihm erklang, fuhr er zusammen. Also wurde das Tor doch bewacht. Sein Pferd tänzelte nervös auf der Stelle, ungeduldig riss er am Zügel. Der Mann ergriff das Zaumzeug und tätschelte dem Pferd beruhigend die Nüstern. »Verzeiht, dass niemand da war, um Euch zu empfangen. Die Wachposten begleiten gerade einen Wagen hinters Haus. Möchtet Ihr zu König Caradoc?« Er war ein Sklave, aber tadellos gekleidet und zuvorkommend. Titus zügelte sein Pferd noch mehr, so dass der Sklave gezwungen war, die Hand vom Zaumzeug zu nehmen. »Ich möchte seinen Haushofmeister Aelius sprechen«, sagte er barsch. »Nicht nötig, den König zu behelligen.«
Der Sklave nickte und streckte wieder die Hand nach dem Zaumzeug aus. »Herr, wenn Ihr absitzen und zur Tür gehen würdet, ich schicke jemanden, der ihm ausrichtet, dass Ihr gekommen seid.«
Titus blieb reglos im Sattel sitzen. »Ruf ihn her«, befahl er.
Der Sklave runzelte die Stirn, drehte sich aber wortlos um und verschwand zwischen dem Säulengang im Inneren des Hauses. Titus sah ihm aus zusammengekniffenen Augen nach. Er nahm kein einziges Lebenszeichen wahr, keine Hunde, keine eilfertigen Dienstboten. Es hatte den Anschein, als würde das Haus schlafen, aber das bedeutete nicht, dass nicht dennoch Wachen da waren.
Als der Sklave wieder erschien, war er allein, wie Titus erwartet hatte. »Es tut mir leid, Herr, Aelius ist am frühen Morgen in die Stadt aufgebrochen. Er wird erst am Abend zurückerwartet. Möchtet Ihr mit jemand anderem sprechen?«
Titus schüttelte den Kopf. »Ich komme ein anderes Mal wieder.« Ohne Gruß machte er kehrt und trabte zum Tor. Der Sklave würde ihn wiedererkennen, aber das tat nichts zur Sache. Er lächelte in sich hinein, trieb sein Pferd auf der gepflasterten Straße zum Galopp an und jagte Richtung Stadt zurück.
»Signorina!« Das Klopfen an der Tür hallte laut durch das Zimmer. »Da will jemand am Telefon mit Ihnen sprechen. Sind Sie da?« Eine kurze Pause. »Signorina?« Wieder einige Sekunden Stille, gefolgt vom Klappern der Sandalen, als die Frau die Treppe hinunterlief.
Jess wurde etwas unruhig, hörte aber nichts. In ihrem Kopf war sie jetzt in der Villa, war durch den dunklen Eingang ins Atrium getreten, das durchflutet war von der Sonne, die durch die Dachöffnung direkt über dem Brunnen hereinströmte. Sie ging weiter zu Eigons Räumen, trieb wie ein Schatten durch den verwaisten Empfangsbereich zu einem Korridor mit einer Bank, auf der einige der Patienten warteten, bis sie in Eigons Kräuterkammer gerufen wurden.
Eigon sah müde aus. Irgendwie war Jess durch die Tür getreten, stand jetzt mit ihr in der Kräuterkammer und beobachtete sie. Eigon verband gerade die Entzündung am Arm eines kleinen Jungen, der sich weinend unter dem Rock seiner Mutter verstecken wollte. Die Frau sah ärmlich aus. »Ich weiß nicht, warum er das immer wieder macht!«, sagte sie hilflos. »Ich habe ihm verboten, die Mauer hinaufzuklettern, und ich sage ihm immer wieder, dass er vorsichtiger sein soll.«
Eigon lächelte, ohne aufzuschauen, konzentrierte sich ganz auf das Verbinden der Wunde. »So sind Jungen nun mal. So, jetzt geht’s dir gleich besser.« Sie tätschelte dem Kind den Kopf. »Ich gebe dir eine Tinktur für die Wunde mit, Cilla. Sorg dafür, dass kein Schmutz hineinkommt, sonst heilt sie nicht.«
Als die Frau gegangen war, blieb sie einen Moment stehen und legte sich seufzend die Hände auf den Rücken. Sie war immer noch schön, immer noch jung, aber sie umgab eine Schwere, die von ihrer Erschöpfung stammte.
»Eigon!«, sagte Jess eindringlich. »Eigon, kannst du mich hören? Du musst mich hören. Titus ist ganz in der Nähe. Er wird bald kommen und dich entführen. Er will dich umbringen. Bitte, bitte, hör mir zu!«
Eigon richtete sich auf und sah sich verwundert um. »Ist da jemand?«
»Ja!« Jess war überglücklich. »Eigon, du kannst mich verstehen! Jetzt hör mir zu!«
Kopfschüttelnd fasste Eigon sich an die Stirn. »Glads?«
Also dachte sie immer noch an ihre kleine Schwester. Vielleicht hörte sie immer noch die einsame Stimme aus ihrer Kindheit. Wieder schaute sie sich um, dann ging sie zur Tür und bedeutete dem nächsten Patienten einzutreten.
Jess stöhnte. »Nein, bitte nicht! Bitte, hör mir…«
»Schsss!«
Das plötzliche Zischen im Ohr ließ Jess zusammenfahren. »Hör auf! Lass sie in Ruhe! Ich weiß genau, was du vorhast!« Das barsche, heisere Flüstern ging im staubigen Echo fast unter.
Benommen richtete Jess sich auf und sah sich panisch um. Das Flüstern war so nah gewesen, dass es noch in ihrem Kopf nachhallte, doch das Zimmer, ihr Zimmer in der Pension, war leer. Einer der Fensterläden war aufgeschwungen, ein breiter Streifen Sonnenlicht fiel auf den Teppich zu ihren Füßen. Die Atmosphäre war dicht, lautlos, stickig. Jess legte die Hand auf die Brust, schluckte schwer und spürte, wie heftig ihr Herz klopfte. Sie hatte einen trockenen Mund. Die Tür zur Vergangenheit war geschlossen, sie konnte Eigon nicht mehr sehen, aber sie spürte, dass jemand mit ihr im Zimmer war. Sie versuchte sich zu sammeln, tastete sich rückwärts zur Tür vor. »Wer ist da?« Vor Angst wurde ihre Stimme schrill. »Was willst du von mir?«
Sie starrte in die Sonnenstrahlen, in denen Staubpartikel tanzten. War das eine Gestalt, die kurz dort stand, vage Umrisse, die sich sofort wieder auflösten?
»Titus?« Jess hauchte das Wort nur, doch sofort veränderte sich die Atmosphäre, als stünde das Zimmer plötzlich unter elektrischer Spannung. Dazu kam ein Gefühl von Enge im Kopf, als würde ihr jemand ein Stahlseil um die Stirn spannen.
Schütz dich, Jess. Das darfst du nie vergessen. Und denk daran, du darfst seinen Namen nicht aussprechen. Nie! Du darfst ihn nicht einmal denken! Von irgendwoher tauchten Carmellas Worte in ihrem Kopf auf. Christliche Gebete helfen da nicht weiter. Carmella war auch keine Kirchgängerin. Du musst ihm mit seinen eigenen Göttern entgegentreten!
»Verschwinde im Hades, aus dem du gekommen bist, du gemeiner Mörder!« Jess’ Stimme war heiser.
Umgib dich mit Licht. Sorge dafür, dass du immer in deinem eigenen Bereich bleibst. Umgib dich mit Begleitern und Engeln. Beschwöre dein Krafttier. Wen immer du als inneren Freund siehst, bitte ihn, dich zu beschützen!
Jess ballte die Fäuste. Sie hatte keine inneren Freunde und keine Begleiter, und von einem Krafttier hatte sie noch nie etwas gehört. Sie hätte besser zuhören sollen. Sie war wirklich dumm gewesen. Besessen von dem Gedanken, mit Eigon zu reden, hatte sie Angst gehabt, sie würde sie ausschließen, wenn sie sich selbst schützte. Und jetzt war sie mit dem bösartigen Mörder ganz allein hier im Zimmer, war ihm schutzlos ausgeliefert. Aber dann kam ihr schlagartig der Gedanke. Natürlich! Es hatte in ihrem Leben ein Tier gegeben, das jedes von Carmella genannte Kriterium erfüllte.
»Hugo!« Es war ein Hilfeschrei, sie rief nach dem Hund, den sie als Kind geliebt hatte, den großen zotteligen Briard ihrer Mutter, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihr und Stephs Bewacher, Mentor und Beschützer zu sein. Und tatsächlich war er plötzlich bei ihr, ein Wirbelwind schwarzer Schatten, seine Krallen klickten auf dem Boden vor dem Fenster, und Titus war fort.
Weinend ließ Jess sich aufs Bett fallen. Auf einmal war es wieder ganz still im Raum. Sie spürte einen leisen Druck am Bein, das Gewicht eines Hundes, der sich zufrieden an ihre Wade schmiegte, dann war er wieder fort.
Von der Treppe draußen hörte sie laufende Schritte. »Signorina? Ist alles in Ordnung? Signorina Jess, bitte machen Sie auf!« Wankend stand sie auf, drehte mit zitternden Händen den Schlüssel und öffnete die Tür.
Vor ihr stand Margaretta, ihre Hauswirtin. »Fehlt Ihnen etwas?« Sie schaute sie aus aufgerissenen Augen an. »Sie haben gerufen. Ich habe Sie unten gehört.«
Jess nickte und lachte verlegen, während sie ein Taschentuch hervorkramte. »Entschuldigen Sie, ich habe geschlafen. Ich habe von dem Hund geträumt, den meine Mutter hatte, als ich ein Kind war. Ich dachte, er wäre mit mir hier im Raum.«
»Dio!« Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Sie haben geschlafen, deswegen haben Sie mich vorhin nicht gehört!«
»Sie gehört?«
Margaretta nickte. »Es war Ihre Schwester. Sie sagte, Sie würden Ihr Handy nicht beantworten. Sie sagte, es sei dringend.«
»Ich muss wirklich sehr müde gewesen sein, wenn ich nichts gehört habe. Ich wollte Ihnen keinen Schreck einjagen, entschuldigen Sie.« Jess zuckte mit den Schultern.
Misstrauisch schaute die Frau ins Zimmer, dann trat sie zurück. »Wenn wirklich alles in Ordnung ist - rufen Sie sie dann gleich an?«
»Ja, natürlich.« Irgendwie gelang es Jess zu lächeln, während sie die Tür sanft vor Margarettas Nase schloss. Sie hatte nicht vor, Steph anzurufen. Das Zimmer hinter ihr war leer.
 
Daniel fuhr an den Straßenrand. Ihm war etwas übel. Er wusste gar nicht mehr, wie lange er schon am Steuer saß und wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Der Drang, immer weiterzufahren, war zu stark, trieb ihn unerbittlich nach Rom zurück. Und auch das Bild in seinem Kopf war unerbittlich. Er musste Eigon finden. Kopfschüttelnd umklammerte er das Lenkrad. Nicht Eigon, Jess. Er musste Jess finden. Wenn er das mit Jess nicht auf die Reihe brachte, würde sie ihn vernichten. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Wenn sie erst einmal in der Sänfte saß, würde niemand sie sehen. Die Sklaven würden es nie wagen, ihn aufzuhalten und zu befragen. Er würde wieder eine Droge verwenden, wie damals. Er griff in seine Tasche und spürte das Glasfläschchen mit den Tropfen. Sie würde nichts merken. Sie würde keine Angst haben, würde nichts spüren. Danach würde er sie irgendwo liegen lassen, und bis sie gefunden wurde, wäre er schon längst über alle Berge. Aber da war jetzt wieder die Stimme, die ihm unablässig zusetzte. Du lässt sie nicht einfach liegen, vorher vergnügst du dich noch mit ihr. Und beim letzten Mal hat’s dir doch Spaß gemacht, oder vielleicht nicht? Sie hilflos daliegen zu sehen. Die Angst in ihren Augen. Das ist es doch, was du willst, oder nicht?
Daniel fuhr sich mit dem Handrücken über das schweißnasse Gesicht. Warum konnte die Stimme ihn nicht in Frieden lassen? Der verrückte, sadistische Kerl war ständig in seinem Kopf. Er konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen, immer funkte ihm der andere dazwischen. Seine Fingerknöchel waren weiß, so fest umklammerte er das Lenkrad. Einen Moment legte er die Stirn auf die Hände und atmete tief durch. Es war sowieso egal. Er wusste nicht, wo Eigon - wo Jess - war. Sie hatten sie irgendwo versteckt oder nach England zurückgebracht. Oder wieder nach Ty Bran.
Er runzelte die Stirn. War sie in die kalte, nebelfeuchte Ferne zurückgekehrt? Nach Britannien? Die Stationierung, vor der ihnen allen graute, denn weiter konnte man sich von Rom kaum entfernen, ohne über den Rand der Welt hinabzufallen. Er schauderte. Die wilden keltischen Frauen mit den langen Haaren und den hellen, spöttischen Augen, mit denen sie die Männer verführten. Und sogar die Kinder waren begehrenswert, die Kinder des Feindes, die unterworfen und bestraft und vernichtet werden sollten. Aber sie hatte sich nicht vernichten lassen. Sie war herangewachsen, um ihn aus ihren vorwurfsvollen Augen zu beobachten, um ihn wiederzuerkennen und seine Stellung, seine Zukunft, sein Leben zu gefährden.
Also, Titus, wo ist sie? Du musst sie finden, denn ich kann’s nicht. Daniel richtete sich auf, schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Nackenstütze. Ich finde sie nicht. Sie ist weg. Geflohen. Wenn du willst, dass ich sie umbringe, musst du mir helfen. Unvermittelt riss er die Augen auf und starrte zur Windschutzscheibe hinaus. Und was hast du mit ihr gemacht, Titus? Was hast du gemacht, als du sie schließlich in deiner Gewalt hattest? Hast du deine Fantasien ausgelebt? Hast du sie vergewaltigt und gefoltert und umgebracht? War es ihr Geist, der dir entkommen ist? Geht es bei dieser ganzen Sache nur darum? Selbst als deine Hände um ihren Hals lagen, hat sie dir da lächelnd in die Augen geschaut im Wissen, dass du ihr nicht folgen kannst dorthin, wohin sie geht?
Julius schloss die Tür zur Kräuterkammer und trat zu Eigon. Er war außer Atem, sein Gesicht war blass. Sie drehte sich zu ihm und streckte lächelnd die Arme aus. »Julius?« Ihr Lächeln verblasste. »Was hast du? Was ist passiert?«
»Eigon, fehlt dir auch nichts? Hat es hier draußen keine Probleme gegeben? In den Straßen Roms wimmelt es vor Soldaten. Nero hat einen Rachefeldzug gegen die Christen geschworen. Er wirft uns vor, wir hätten Rom in Brand gesetzt. Er treibt uns alle zusammen. Unsere Bekannten, unsere Freunde sind in den Kerker auf dem Esquilin gebracht worden. Sie sollen den Tieren vorgeworfen werden.« Tränen standen ihm in den Augen. »Er ist wahnsinnig, völlig wahnsinnig.«
Er legte die Arme um sie und drückte seine Wange auf ihr Haar. »Ach, Eigon, was sollen wir bloß tun?«
Einen Moment überließ sie sich seiner Umarmung, dann schob sie ihn von sich. »Dein Großvater? Und Antonia? Wo sind sie?«
»Mein Großvater ist fort, das Haus liegt in Schutt und Asche. Er ist mit den Sklaven aufs Land gegangen. Ich glaube, dass er in Sicherheit ist - aber wer weiß? Ich verstehe nicht, warum es dazu kommen musste.« Fassungslos schüttelte er den Kopf.
»Und Antonia? Wo ist sie? Ich habe sie zu überreden versucht, hierzubleiben, aber sie wollte nicht. Sie hat sich zu große Sorgen um euch gemacht.« Eigon sah ihm fest in die Augen. »Wo ist sie, Julius?«
Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Seine Stimme war so heiser, dass er kaum zu verstehen war. »Deswegen bin ich ja hergekommen. Ich weiß, deine Mutter hat mir Hausverbot erteilt, aber sie hat Antonia sehr gern. Deswegen wird sie meine Sorge bestimmt verstehen.«
»Natürlich.« Eigon tat das Verbot ihrer Mutter mit einer Handbewegung ab. »Wo hast du schon nach ihr gesucht?«
»Überall. Und ich habe überall nachgefragt.«
»Wird sich Antonia nicht zu eurem Landgut begeben haben? Das ist doch im Augenblick bestimmt der sicherste Ort.« Ihr Unbehagen wuchs. »Was ist mit Petrus?«, fragte sie dann.
»Er ist momentan in Sicherheit. Ich glaube nicht, dass Nero es wagen wird, gegen ihn vorzugehen.«
»Könnte sie bei ihm sein?« Eigon umfasste Julius′ Hände. »Zu ihm würde sie doch als Erstes gehen, oder nicht? Als sie sah, dass euer Haus nicht mehr steht, und als sie kein Lebenszeichen von dir oder eurem Großvater gesehen hat, ist sie doch sicher zu ihm geflohen. Oder zu Paulus. Ist er noch in Rom?«
Julius wiegte den Kopf. »Das wäre möglich. Alles ist ein einziges Durcheinander. Ich mache mich jetzt auf den Weg und suche weiter nach ihr. Aber du, Eigon.« Er schaute sie an. »Ich glaube nicht, dass du hier sicher bist. Deswegen bin ich gekommen. Du musst dich verstecken. Die Leute tuscheln, dass du Christin geworden seiest. Du bist zu oft bei uns zu Besuch gewesen, du hast Petrus zu Füßen gesessen.«
»Und ich rette mich immer noch in Ausflüchte.« Sie lächelte bekümmert. »Petrus betrachtet mich als Herausforderung, aber ich habe ihm gesagt, dass ich die Götter aus der Heimat meiner Mutter und meines Vaters nicht aufgeben kann.« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Geh, Julius. Du musst sie finden. Bring sie zu eurem Großvater.«
»Ich gehe nicht ohne dich. Du bist hier nicht sicher.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern und schaute ihr streng ins Gesicht. »Du weißt, dass ich dich liebe.«
Sie lächelte. »Das weiß ich, Julius.«
»Und liebst du mich auch?«
Sie nickte. »Ich glaube schon.«
»Willst du mich heiraten?«
»Selbst wenn ich keine Christin bin?«
»Im Herzen bist du’s doch. Und das sieht Jesus.«
Sie lächelte wieder. »Was immer Jesus glaubt, meine Mutter und mein Vater stehen an erster Stelle, Julius. Ich darf mich ihren Wünschen nicht widersetzen.«
Die Tür wurde so abrupt geöffnet, dass ihnen keine Zeit blieb, sich voneinander zu lösen. Aelius trat ein und betrachtete sie einen Moment mit geschürzten Lippen. »Im Hof stehen zwei Offiziere der Prätorianer. Sie fragen nach Euch, Prinzessin.«
Julius hielt sie am Ärmel fest. »Nein, geh nicht!«
Eigon zögerte. »Was wollen sie von mir, Aelius? Weißt du das?« Ihr Magen verkrampfte sich.
Der Haushofmeister zuckte mit den Schultern und warf Julius einen unverhohlen feindseligen Blick zu. »Warum schaut Ihr nicht selbst nach, Herrin? Sie baten eigens, dass Ihr zu ihnen hinauskommt.«
»Nein!« Julius hielt sie immer noch fest. »Du darfst nicht hinausgehen.«
»Soll ich sie dann an den König verweisen?«, fragte Aelius. »Ich bin mir sicher, dass er sich mit ihrem Anliegen befasst, was immer es ist.«
»Nein.« Eigon löste sich aus Julius′ Griff. »Du weißt, dass das nicht geht, Aelius. Mein Vater ruht. Ich kümmere mich darum.« Sie wandte sich an Julius. »Ich möchte, dass du jetzt gehst und Antonia suchst. Mir passiert dort draußen nichts.«
»Das glaube ich nicht.« Er schaute ihr ernst in die Augen. »Lass mich zumindest mit dir hinausgehen, um zu erfahren, was die Männer von dir wollen.«
»Damit sie mich in Begleitung eines bekennenden Christen sehen?« Sie lächelte. »Dann könntest allzu leicht du derjenige sein, der in Gefahr ist, Julius, und mein Leben würde dadurch auch nicht leichter. Bitte, geh jetzt. Geh durch die Küche, hol dein Pferd und verlass die Villa durch das nördliche Tor. Niemand hat etwas davon, wenn du festgenommen wirst. Und selbst wenn nicht, wie kannst du Antonia und deinem Großvater helfen, wenn du hier bist? Bitte.« Sie stellte sich noch einmal auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss.
Aelius hob die Augenbrauen. »Herrin, soll ich Euch zu den Offizieren begleiten?«
»Ja, bitte.« Sie holte tief Luft. »Komm mit«, trug sie ihm auf, als sie an ihm vorbeieilte.
Zu ihrer Erleichterung kannte sie die beiden Offiziere nicht, die im Hof standen. Als sie erschien, salutierten sie, einer von ihnen trat vor. »Ich habe eine Nachricht für Euch, Herrin.« Er reichte ihr eine Schriftrolle. »Wir haben den Auftrag, Euch zu einem Haus im benachbarten Ort zu bringen.«
Skeptisch blickte sie zwischen den Männern hin und her und entrollte dabei das Schreiben. Der Größere der beiden hatte grüne Augen, sein Gesicht verschwand fast unter einer Staubschicht, er sah erschöpft aus.
»Wart Ihr beim Löschen in der Stadt?«, fragte sie. Er nickte. Der andere Mann war gepflegter, er hielt sich sehr aufrecht, seine Augen wirkten hart und hatten die Farbe von Feuerstein. Instinktiv fasste sie eine Abneigung gegen ihn. Der Brief war kurz und bündig: Eigon, ich brauche dich. Bitte komm. Sag niemandem Bescheid. Antonia.
Die Schrift war zittrig, aber unverkennbar Antonias. Eigon schaute zu dem größeren der beiden Männer. »Wer hat Euch den gegeben?«
»Ein Kamerad, Herrin. Er wollte ihn Euch selbst bringen, aber er ist bei dem Brand verletzt worden.«
»Wisst Ihr, was darin steht?«
Er nickte. »Wir sollen Euch zu einem Haus rund zwei Meilen von hier bringen, die Via Flaminia hinauf. Dort ist eine junge Herrin, meines Wissens ist sie verletzt. Sie braucht Eure Hilfe.«
»Aelius, schnell! Schau, ob Julius noch da ist!«, rief Eigon über die Schulter. »Sag ihm, die Nachricht kommt von Antonia. Und dann bitte einen Sklaven, meine braune Stute zu bringen.« Sie wandte sich an die Offiziere. »Wartet. Ich packe rasch meine Medizin und Verbände zusammen.« Kurz hielt sie inne. Was, wenn es eine Falle war? »Was fehlt ihr denn?«, fragte sie misstrauisch.
Beide zuckten mit den Achseln. Der kleinere Mann lächelte. »Nach allem, was ich gehört habe, ist es ernst, Herrin.« Sie betrachtete sein Gesicht nachdenklich. Seine Miene gefiel ihr nicht, aber was sollte sie tun? Sie konnte Antonia nicht im Stich lassen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief durchs Atrium in ihre Räume. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie einige Phiolen mit Tinktur, mehrere kleine Tongefäße mit Medizin und ein paar Leinenbandagen in eine Tasche gepackt, nahm einen leichten Umhang vom Haken an der Tür und eilte in den Hof zurück.
Aelius erschien gleichzeitig mit ihr. »Zu spät, Herrin. Er war schon fort.« Er zögerte. »Ich sollte Euch selbst begleiten.« Auch er war offenbar besorgt.
»Das ist nicht nötig.« Der größere Offizier trat vor. »Wir begleiten Prinzessin Eigon. Solange wir bei ihr sind, kann ihr nichts passieren.«
Aelius zögerte. »Jemand sollte Euch begleiten. Es gehört sich nicht …«
»Beeilt Euch, Herrin.« Der kleine Mann warf die Zügel über den Kopf seines Pferds und schwang sich in den Sattel, und im selben Moment führte der Sklave Silas Eigons Pony in den Hof. »Kommt mit oder auch nicht, aber lasst uns nicht warten.«
»Du geh mit!«, befahl Aelius dem Sklaven, als der junge Mann sich auf den Boden kniete, um Eigon mit einer Handstütze beim Aufsitzen zu helfen. »Lauf mit ihr mit. Und bleib bei ihr. Du bist ihre Eskorte, verstehst du?«
»Jawohl, Herr!« Silas nickte. Er grinste den Offizieren zu, mittlerweile hatte auch der zweite Mann aufgesessen. »Reitet nur nicht zu schnell, Herren!«
Im raschen Trott brachen sie auf, gelangten am Ende der Zufahrt auf die Via Flaminia und folgten ihr gut zwei Meilen, ehe sie auf einen anderen staubigen Weg zu einer heruntergekommenen Villa abbogen. Das Haus hatte einem Nachbarn gehört, der vor einigen Jahren nach Actium gezogen war.
Befangen betrachtete Eigon die Umgebung. Sie verließ die Villa so selten, dass ihr im ersten Moment jede Orientierung fehlte. Sie zügelte ihre Stute. »Hier wohnt doch niemand. Da kann etwas nicht stimmen.«
»Herrin, wenn ich es recht verstehe, hat sich Eure Freundin versteckt.« Der jüngere Offizier mit den kalten Augen ritt neben sie und packte ihre Zügel. »Deswegen ist sie ja hier. Damit niemand sie findet. Ich glaube, wir sollten uns beeilen. Sie will ja nicht, dass die Behörden sie entdecken, da sie doch Christin ist.«
Eigon starrte ihn an, ihre Blicke begegneten sich. »Ihr seid doch im Auftrag der Behörden unterwegs, oder etwa nicht?«, fragte sie spitz.
Er machte eine abschätzige Geste. »Ich tue nur, was mir aufgetragen wird. Ich persönlich habe nichts gegen irgendjemanden. Ich habe eine Nachricht überreicht und Euch wie beauftragt hierhergebracht. Jetzt reiten wir in die Kaserne zurück.« Er ritt ihr voraus in den Hof hinter der Villa, der von Unkraut überwuchert war und verwaist wirkte.
Böse Ahnungen beschlichen Eigon, als sie sich umschaute. »Das kommt mir merkwürdig vor.« Sie warf einen Blick zu Silas. Er trug ihre Tasche und rang immer noch nach Luft, nachdem er die ganze Strecke neben ihnen hergelaufen war. »Wo ist sie?« Sie wandte sich an den größeren Mann.
Er zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Ich klopfe mal.«
Die Tür wurde sofort geöffnet, doch der Mann, der dort stand, war im tiefen Schatten nicht zu erkennen. Eigon trat einen Schritt näher. »Wo ist Antonia?« Plötzlich bekam sie Angst. Sie hätte eine richtige Eskorte mitnehmen sollen, ein Sklave allein genügte nicht.
»Sie ist im Haus. Sie kann nicht aufstehen, sie hat sich den Knöchel verstaucht.« Die tiefe Stimme klang beruhigend. »Antonia, hörst du mich?«, rief er über die Schulter. »Deine Freundin mit dem Verbandszeug ist gekommen. Bald geht’s dir besser.« Zur Antwort erklang ein schmerzvolles Wimmern. Der Mann warf einen Blick zu Silas. »Ich schlage vor, dass du mit dem Pferd deiner Herrin zurückreitest. Morgen kannst du sie und ihre Freundin dann mit der Sänfte abholen; bis dahin sollte sie wieder transportfähig sein.« Er wich einen Schritt beiseite, damit Eigon eintreten konnte. Zweifelnd sah sie zu Silas. Sie wollte dringend zu Antonia, die Stimme des Mannes, der sich offenbar um sie kümmerte, beruhigte sie, doch die Vorstellung, allein zurückzubleiben, war ihr unangenehm.
Auch Silas zögerte. »Ich sollte hierbleiben, Herrin.«
Als Antonia wieder ächzte, fasste Eigon rasch einen Entschluss. »Wir machen es so, wie er es vorgeschlagen hat, aber sag Aelius, wo wir sind.« Sie nahm dem jungen Mann die Tasche ab und ging an ihm vorbei ins Haus.
Antonia lag auf einem Strohhaufen unter einer vor Dreck starrenden Decke, sie war mit einem Tuch geknebelt. Ihr Blick schoss wild umher. Eigon wirbelte herum, doch der Mann, der sie hereingebeten hatte, war verschwunden. Auch von Silas war nichts mehr zu sehen. Jemand anderes stand in der Tür. Sie erkannte ihn sofort. Titus Marcus Olivinus.
 
Daniel lächelte. Jetzt hast du sie also gekriegt. Beide auf einmal sogar. Ein Glückstreffer! War sie wirklich so naiv, die Villa einfach so, ohne zu zögern, zu betreten? Seufzend schaute er durch die Windschutzscheibe nach draußen. Schwarze Gewitterwolken türmten sich am Horizont auf. Ohne die Klimaanlage herrschte im Wagen brütende Hitze. Er wollte das drohende Unwetter nicht am Straßenrand abwarten. Es war Zeit, nach Rom hineinzufahren. Er ließ den Motor an. Wenn Titus wollte, dass er Jess fand, dann würde Titus einen Weg finden, ihm ihren Aufenthaltsort mitzuteilen.
Die Tochter des Königs
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