Kapitel 31
Also gab es Eigons Insel der Seligen doch. Julius lag da und schaute schläfrig zur Decke. Voller Staunen sah er Bäume und Kinder und wilde Tiere und mythische Wesen, die ausgelassen und ineinander verschlungen herumtollten. Ab und zu kam ein Kind mit flachsblondem Haar und wusch seinen Kopf mit einem weichen Tuch, das in etwas Kaltes, Beruhigendes getaucht war und nach exotischen Kräutern duftete. Er schlief ein und wachte wieder auf. Die Szene war dieselbe, doch statt der Sonne waren jetzt Schatten über ihm, und er hörte den Wind durch die Ritzen in der Tür pfeifen. Zeit war vergangen, das war ihm klar, aber wie viel? Jeder Gedanke strengte ihn an. Er versuchte sich zu bewegen und schrie vor Schmerz leise auf. Seine Schulter brannte, und in seinen Eingeweiden tat es so weh, als stocherte dort jemand mit einer Ahle herum.
Er war verwundet worden. Vage erinnerte er sich an einen Kampf. Gestalten, die in Scharen aus der Dunkelheit auftauchten. Schreie. Das Klirren von Eisen. Das entsetzliche Gurgeln, als jemand mit durchtrennter Kehle zu seinen Füßen starb. Er schauderte, und wieder durchfuhr ihn der Schmerz. »Im Namen Jesu Christi …« Es war Marcellus gewesen. Er war vom Feuer aufgestanden, um ihn mit einem Lächeln und einer Umarmung zu begrüßen, und sein Segen war in Blut ertränkt worden. Julius stöhnte. Sofort erschien ein Licht. Die Schatten rasten über die Decke hinauf, und eine Gestalt trat an sein Bett. »Bist du wach, mein Sohn?« Ein alter Mann schaute zu ihm hinunter. Nicht sein Großvater. Ein Fremder. Dieser legte ihm sacht die Hand auf die Stirn und nickte. »Endlich scheinst du auf dem Weg der Besserung.«
Julius versuchte zu lächeln. Seine Lippen waren wund und rissig, seine Stimme heiser. Es kostete ihn einfach zu viel Mühe. Er schloss die Augen, und alles wurde schwarz.
Als er das nächste Mal aufwachte, war es wieder hell. Verwundert sah er sich im Zimmer um. Im Vergleich zur Decke waren die Wände recht schlicht, bemalt mit Säulen und Arkaden und hier und dort einem Baum. Von irgendwo in der Nähe hörte er ein Kratzen, eine Feder, die sich rasch über Pergament bewegte. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte zu rufen. Er brachte zwar nur ein Krächzen zustande, aber es hatte die gewünschte Wirkung. Das Kratzen hörte auf, ein Schemel wurde verrückt. Dann erschien wieder der alte Mann in seinem Blickfeld. »Wach? Gut.« Er lächelte. »Jetzt versuch nicht, wieder zu reden, bis ich dir ein bisschen Medizin eingeflößt habe!« Was immer diese Medizin noch enthalten mochte, Mohnsaft war es auf jeden Fall, und der half ihm, sich vor dem Schmerz in den Schlaf zu retten. Julius spürte, wie er wieder in die Schwärze eintauchte. Sie war ein warmer, sicherer Ort. Im wachen Zustand war die Qual zu groß, als dass er sie ertragen konnte.
 
Als Jess wach wurde, prasselte Regen auf das Dach des Ateliers vor ihrem Fenster. Sie blieb liegen und versuchte, ihre Träume zusammenzufügen. Hatte sie Eigon gesehen? Nein, Julius. Julius, der dem Blutbad auf dem Bauernhof irgendwie entkommen war und nicht wusste, dass seine Schwester und sein Großvater tot waren und dass die Frau, die er liebte, Rom in ihrer Verzweiflung verlassen hatte und in das Land ihrer Geburt zurückkehrte. Und William. Warum hatte sie von William geträumt? Sie würde ihn am Vormittag gleich anrufen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach fünf, zu früh, um aufzustehen. Zu früh, um an den kommenden Tag zu denken und an die Entscheidung, was sie mit dem Kinderskelett tun sollten.
Unruhig drehte sie sich um und zog sich die Decke über den Kopf. Rhodri hatte gemeint, sie sollten die Knochen irgendwo in der Nähe begraben. Nicht auf dem Friedhof, das Kind war ja heidnisch, aber an einem besonderen Ort. Einem heiligen Ort. »Auf der Farm gibt es sehr viele besondere Orte«, hatte er beim Abschied gesagt. »Die gibt es in Wales wie Sand am Meer. Im Grunde ist das ganze Land heilig!«
Vor der Haustür hatten sie sich verabschiedet, er hatte ihr einen Kuss auf die Wange gegeben. Zwinkernd hatte er sich dann umgedreht. »Keine Sorge, meine Schöne, wir finden schon einen guten Platz für sie.«
Jetzt kuschelte sich Jess ins Kissen, schlang lächelnd die Arme um sich und dachte an sein attraktives Gesicht, seinen muskulösen Oberkörper. Steph konnte ihn nicht leiden, aber Jess fühlte sich zunehmend zu ihm hingezogen. Und er war ihr eine große Unterstützung. Wenn er da war, hatte sie viel weniger Angst. Solange sie wusste, dass er im nächsten Tal war, würde sie sogar mit Daniel fertig werden, sollte er wieder auftauchen.
Sie konnte nicht mehr schlafen. Ächzend stand sie auf, schlüpfte in ihren Morgenrock und ging nach unten. Sie griff nach dem Wasserkessel, und eine Weile später saß sie am Küchentisch, trank eine Tasse Tee und lauschte dem Gesang der Drossel von draußen, als sie in der Ferne ein Stimmchen hörte.
Dürfen wir jetzt aufhören zu spielen? Ich will nach Hause.
 
Daniel war die Nacht durchgefahren, auf der M40 immer weiter nach Norden, hatte nur einmal bei einer Raststätte haltgemacht, um ein bisschen zu schlafen und noch mehr Kaffee zu trinken. Kurz nach acht Uhr bog er, fast zu müde, um noch richtig zu funktionieren, in das Tor zum Haus von Natalies Eltern am Rand von Shrewsbury ein.
»Daddy!« Georgie musste ihn wohl vom Fenster aus gesehen haben. Die Haustür ging auf, und ein kleines Mädchen sauste heraus, um ihn zu begrüßen. Er ging in die Knie und fing sie in seinen Armen auf.
»Grüß dich, mein Schatz! Wie geht’s dir? Wo ist Jack? Und Mum? Und Oma?« Er nahm sie auf den Arm und ging ins Haus. Seine Schwiegermutter stand im Flur. »Guten Tag, Belle. Schön, dich zu sehen!«
Belle war eine große, anmutige Frau Anfang sechzig mit sehr dunkel getönten Haaren. Die Farbe war zu kräftig für ihren Teint und ließ sie streng wirken, ein Ausdruck, der in Daniels Gegenwart noch strenger wurde. Das wusste er. Belle Foxley mochte ihren Schwiegersohn nicht besonders und gab sich auch keine Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Er beugte sich zu ihr und drückte seine Wange kurz an ihre. »Im Auto sind ein paar italienische Leckereien für alle. Wo ist Nat?«
Belle sah ihn fragend an. »Sie ist oben bei Jack. Er hat schlecht geschlafen. Georgie, geh und sag Mummy, dass dein Vater gekommen ist.«
Während das Mädchen die Treppe hinauflief, ging Belle Daniel voraus in die Küche, wo ihr Mann Gordon gerade den Daily Telegraph las. Er schaute über den Rand der Zeitung auf. »Daniel.« Mehr sagte er zur Begrüßung nicht, dann wandte er sich wieder den Kricketergebnissen zu. Daniel fühlte sich von seinem Schwiegervater noch mehr eingeschüchtert als von Belle. Die groß gewachsene Patriziergestalt und die schneidend klare Oberschichtaussprache gaben ihm das Gefühl, als sei er in der Gosse groß geworden, und wie immer fühlte er sich sofort unbehaglich.
Er griff nach der Teekanne, schüttelte sie versuchshalber, holte sich Tasse und Untertasse aus dem Schrank, der über der Arbeitsfläche hing, und schenkte sich, ohne zu fragen, eine Tasse ein. Schließlich war ihm keine angeboten worden, und das erschien ihm eine noch größere Beleidigung. »Ich bin die Nacht durchgefahren.«
»Warum hast du nicht bis zum Morgen gewartet?«, fragte Belle mit gerunzelter Stirn.
»Ich wollte euch sehen. Ihr habt mir gefehlt.« Daniel versuchte zu lächeln. Es gefiel ihm nicht, wie sie ihn musterte. Der lange, abschätzende Blick gab ihm wie immer das Gefühl, ein kleiner Junge zu sein. Er fragte sich, ob Nat ihr wohl je erzählt hatte, was hinter der geschlossenen Schlafzimmertür vor sich ging. Beim Gedanken, wie viel er eigentlich zu verbergen hatte, lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken. Wie viel er zu verlieren hatte. Und um wie viel schlimmer er alles in den vergangenen vierundzwanzig Stunden gemacht hatte.
Jack kam hereingestürmt und brach das Schweigen. »Daddy! Gestern haben wir eine Kuh gesehen. Die hat ganz viel Milch in einen Eimer getropft!« Der kleine Junge mit den langen goldenen Locken kletterte auf seinen Schoß und schlang ihm die Arme um den Hals. »Ich hab was davon getrunken, und sie war warm und eklig!«
Daniel lächelte. »Und wo war das?« Er schaute über den Kopf seines Sohnes zu Belle.
Sie zuckte mit den Schultern. »Gestern war Tag des Bauernhofs, und Natalie hat mit ihnen einen Ausflug gemacht. Sie haben viele Lebensmittel mitgebracht, stimmt’s nicht, Jack? Käse und Eier.« Beim Reden betrachtete sie aber gar nicht das Kind, sondern musterte noch immer ihren Schwiegersohn. Ihm wurde zunehmend unbehaglich zumute, vor allem, als Jack von seinem Schoß rutschen wollte.
»Bleib doch noch ein bisschen bei Daddy.« Er hielt den Jungen fest. »Ihr habt mir beide so gefehlt.«
»Hallo, Daniel.« Nat trat in die Tür. Ihre ätherische Schönheit verblasste allmählich, auf ihrem Gesicht zeigten sich nun die Spuren der Ehe, der Kinder und der Erschöpfung. Sie war sehr blass. Ihm entging nicht, dass sie ihn nicht mit einem Kuss begrüßte.
»Hallo, Liebling.« Er lächelte zu ihr hinüber. »Wie geht’s dir? Es ist so schön, euch alle zu sehen.«
»Wirklich?« Ihre Miene war ausdruckslos, ihr Blick kühl.
Nervös fuhr er sich über die Lippen und hielt Jack fest, der sich in seinem Griff wand.
»Gib ihn mir!« Jetzt trat Nat zu ihm und streckte die Arme nach Jack aus, der ihr die Ärmchen entgegenreckte. »Warum bist du nicht nach London gefahren, Daniel, und hast dort auf uns gewartet? Du hast doch bestimmt viel zu tun, um das neue Schuljahr vorzubereiten. Und du sollst dich auch beim Rektor melden. Und bei der Polizei.« Sie machte eine ganz kurze Pause. »Was will die Polizei eigentlich von dir, Daniel?« Nervös strich sie sich das lange, glänzende Haar aus dem Gesicht.
Langsam senkte Gordon die Zeitung und begann, sie akribisch zusammenzufalten. Alle Augen waren auf Daniel gerichtet, selbst die Kinder schienen auf seine Antwort zu warten. Einen Moment überfiel ihn Panik. »Ich habe keine Ahnung. Nicht die geringste.« Seine Handflächen waren schweißnass. »Wahrscheinlich ist in der Schule etwas vorgefallen. Der eine oder andere Schüler kriegt doch immer Schwierigkeiten.« Mit einem Blick überraschter Unschuld schaute er zwischen den drei Erwachsenen hin und her. »Ihr glaubt doch wohl nicht, ich hätte etwas angestellt?« Ihm gelang ein Lachen.
Gordon stand auf, seine Lippen waren geschürzt. »Auf einen solchen Gedanken würden wir niemals kommen, Daniel. Ich fürchte, ich muss jetzt gehen. Natalie tut es sicher sehr leid, dass du sofort nach London fahren musst, um dich mit diesem Problem zu befassen, was immer es sein mag. Aber sei versichert, wir kümmern uns für den Rest des Sommers gern um sie und unsere Enkel.«
Daniel sah seinem Schwiegervater nach, wie er den Raum verließ. Sein Gesicht eine Maske der Abneigung. Er warf einen Blick zu Belle und merkte erschreckt, dass seine Miene ihn vermutlich verraten hatte. Wieder zwang er sich zu einem Lächeln. »Belle, vielleicht könntest du ein Weilchen auf die Kinder aufpassen, damit Nat und ich noch ein bisschen miteinander reden können, bevor ich wieder fahre.« Er hatte nicht die geringste Absicht, nach London zurückzufahren, aber es würde Natalie sein, die ihre Eltern dazu brachte, ihre Meinung zu ändern, und die ihn anflehen würde zu bleiben. »Liebling, gehen wir nach oben, damit wir uns ungestört ein bisschen unterhalten können?«
Ihr Gesicht war immer noch blass. »Mir wäre es lieber, wenn wir in den Garten gehen, Daniel«, sagte sie leise. »Schau dir Mummys Blumen an. Die sind wunderschön.« Sie ging ihm voraus zur Küchentür hinaus.
Sobald sie außer Sichtweite des Fensters waren, umfasste er ihr Handgelenk. Sie schrie leise auf, als er sie zu sich zog, seine Finger umklammerten ihr zartes Gelenk wie eine Schraubzwinge. »Was zum Teufel ist los?«
»Nichts.« Sie schaute schuldbewusst drein. »Ich denke bloß, dass du dich hier nur langweilst, und in London wirst du doch sicher gebraucht.«
»Da werde ich nicht gebraucht. Wer mich braucht, ist meine Familie. Ich bin praktisch die ganze Nacht durchgefahren, um so bald wie möglich bei euch zu sein, stelle mir in meiner Naivität vor, dass ihr euch alle freut, mich zu sehen, und dann befiehlt dein Vater mir mehr oder minder, auf der Stelle nach London zurückzufahren!«
Natalie wurde rot und versuchte verzweifelt, sich aus seinem Griff zu befreien. »Daniel, Daddy dachte nur, dass du zurückfahren und bei der Schule anrufen …«
»Nein, das hat er nicht. Er kann meinen Anblick nicht ertragen, und er hat mir ziemlich unverblümt gesagt, dass ich verdammt nochmal aus seinem Haus verschwinden soll. Aber da werde ich ihn enttäuschen. Ich bleibe. Und ich schlafe im selben Zimmer wie meine Frau. Und wenn die Kinder noch bei dir im Zimmer sind, dann bittest du deine Mutter, ihnen ein anderes zu geben, damit wir für uns sind. Hast du mich verstanden?« Er schob sein Gesicht ganz nah an ihres.
Auf ihren Wangen erschienen rote Flecken. »Hör auf, mich so herumzukommandieren, Daniel.« Schließlich gelang es ihr, sich aus seinem Griff zu befreien. »Ich bin keine Sklavin, die dir in allem gehorchen muss …«
Daniel starrte sie an. Eine Sklavin. Titus hatte für alles Sklaven gehabt, wofür auch immer. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wo war Titus? Ohne etwas wahrzunehmen, starrte er seine Frau an, der Gedanke lenkte ihn momentan ab, dann lächelte er. Die Vorstellung seiner ach so gepflegten, kultivierten Frau in Ketten gefiel ihm überaus gut.
Sie bemerkte den Ausdruck, und einen Moment zeigte sich Panik auf ihrem Gesicht. Dann blickte sie ihn entschlossen an. »Verschwinde, Daniel«, zischte sie. »Fahr nach London. Ich bin kein verängstigtes Kind, das alles tut, was du ihm aufträgst. Ich bin die Mutter deiner Kinder und eine selbstständige Frau, und momentan habe ich nicht den Wunsch, dich jemals wiederzusehen. Vielleicht ändere ich meine Meinung, das ist möglich, aber jetzt möchte ich in diesem Sommer erst einmal meine Ruhe.«
Er packte sie am Unterarm. »Wovon redest du da? Hast du mit Jess gesprochen?« Seine Augen blitzten vor Wut.
Einen Moment sah sie überrascht aus, dann seufzte sie. »Ach, Jess ist es also gewesen. Ich habe mich schon gefragt, wer es war. Ehrlich gesagt, bin ich nicht besonders überrascht. Sie hat dir doch immer schon gefallen, oder etwa nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Die arme Jess. Hast du ihr sehr wehgetan?«
»Was?« Plötzlich schäumte er vor Wut. »Ich habe ihr überhaupt nicht wehgetan! Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst!«
Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu, bevor sie sich umdrehte und ins Haus zurückging. Einen Moment blieb er reglos stehen, dann lief er zum Tor, sprang in den Wagen und fuhr rückwärts zur Einfahrt hinaus. Mit quietschenden Reifen wendete er und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. Nach Ty Bran war es nicht weit, und wenn sie dort war, dann würde er sie finden und dafür sorgen, dass es ihr leidtat, je mit Nat gesprochen zu haben. Es würde ihr noch leidtun, je geboren worden zu sein.
 
Togo? Togo? Wo bist du? Lass mich nicht allein!
Jess stand am offenen Fenster ihres Schlafzimmers und sah über den Hof hinaus.
Sie runzelte die Stirn. »War das Togo dort im Grab, mein Herz?«, flüsterte sie. »Bist du weggegangen, um nach deiner großen Schwester zu suchen, und dann konntest du ihn auch nicht mehr finden?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Togo! Togo!
Die Stimme verschwand langsam den Pfad hinauf.
»Was ist mit dir passiert, mein Herz?«, fragte Jess heiser. Leise öffnete sie die Tür. Die anderen waren mittlerweile auch aufgestanden. Sie hörte ihre Stimmen aus der Küche. Stephs Kichern, das dunkle Lachen ihrer Mutter. Die konnte sie jetzt nicht ertragen. Sie wollte allein sein. Alles war ihr einfach zu viel. Das kleine Skelett, die Vorstellung, dass das Kind mutterseelenallein und verängstigt davonkroch inmitten der Wälder, wo es das einsame Heulen eines Wolfs und das Krächzen eines Raben und den wilden Schrei eines Adlers hörte, der den Boden aus großer Höhe nach Beute absuchte. Das Kind, das sich versteckte, vielleicht sogar die Menschen nach sich rufen hörte, aber zu große Angst hatte, herauszukommen, weil seine großen Schwestern ihm gesagt hatten, es solle sich versteckt halten.
Leise ging sie die Stufen hinab und zur Haustür hinaus. Durchs Fenster sah sie die beiden in der Küche, Steph stand am Herd, während Aurelia den Tisch deckte.
Sie schaute zu dem kühlen, süß duftenden Schatten unter dem Blätterdach des Waldes, ging durchs Tor und den Feldweg hinauf zu den Bäumen.
 
Sie spürte einen Druck am Hals, knapp unter dem Ohr. Noch während Eigon sich fragte, was sie denn geweckt hatte, hörte sie ein Flüstern. »Pst! Hör mal.« Es war Commios, er kniete an ihrem Bett, seine Hand lag auf dem Kissen neben ihrem Kopf. Er hatte den alten Soldatentrick angewendet, um sie ohne einen Laut zu wecken. »Titus ist hier. Er hat im mansio nach uns gefragt. Drei römische Reisende. Wir waren leicht zu erkennen. Wir müssen sofort weg.«
»Drusilla?« Eigon setzte sich auf, ihr Herz raste.
»Sie ist schon wach und packt unsere Sachen. Wir dürfen keine Spur hinterlassen. Wir dürfen auch nicht zum Fluss. Sie überwachen alle Anlegestellen, ebenso die Ein- und Ausfahrt zur Stadt. Wir müssen sofort aufbrechen, über die Mauer in die Wälder, und wir müssen beten, dass sie uns keine Hunde nachhetzen, bis wir irgendwo Wasser überqueren und die Fährte unterbrechen.« Mittlerweile hatte er ihr die Zudecke weggezogen. »Zieh dich schnell an und hüll dich in den Umhang. Wir warten bei der Küchentür. Und mach kein Licht!«
»Und was ist mit Felix?«, fragte Eigon im Flüsterton, als die drei wenige Minuten später durch den Garten schlichen. Ihr geduldiger Maulesel war ihnen allen ans Herz gewachsen.
»Den behält unsere Wirtin. Sie kann ihn gut gebrauchen. Von jetzt an tragen wir unser Gepäck selbst.« Er hatte der Wirtin erklärt, dass es zu ihrem eigenen Vorteil sei ebenso wie zum Vorteil ihrer Gäste, wenn sie vergessen würde, dass die drei je bei ihr gewesen waren, und sie hatte sich bereit erklärt, den Maulesel als Bezahlung für ihren Aufenthalt anzunehmen. Commios war ziemlich sicher, dass die Frau sie nicht verraten würde.
Er hatte bereits ausgekundschaftet, wo die Mauer eingefallen und deshalb leicht zu überwinden war. Jetzt half er den Frauen, in den Birnbaum zu steigen, von dem sie auf die Mauer gelangen und von dort in die Brennnesseln auf der anderen Seite springen konnten. Als Nächstes folgte das Gepäck, dann verwischte er sorgfältig alle Spuren, die sie im Laub und auf dem Moos hinterlassen hatten, und sprang selbst über die Mauer. In der Ferne, am westlichen Ende der Stadt, wurden plötzlich Rufe laut, Fackeln loderten in der Nacht auf.
»Sie durchsuchen jedes Haus«, wisperte Commios. »Mir tun alle Familien leid, die sich ihnen widersetzen. Kommt. Ein Glück, dass ich, als ich fürs Abendessen gesungen habe, in die andere Richtung gegangen bin und dann im Schutz der Dunkelheit kehrtgemacht habe. Niemand weiß, dass wir die Nacht hier verbracht haben.«
Mit sicherem Tritt ging er ihnen voraus, als spürte er, wo der Pfad zwischen den Bäumen verlief. Sie hatten keine Zeit gehabt, zu beratschlagen, wohin sie gehen sollten. Jetzt kam es nur darauf an, den Ort möglichst schnell und möglichst weit hinter sich zu lassen.
Sie gingen immer weiter in den Wald. Nichts deutete darauf hin, dass sie verfolgt würden, keine Geräusche, kein plötzlich aufflammendes Licht, nichts als hier und da der Alarmruf eines Vogels, den sie aufstöberten, und ein aufgeschrecktes Rudel Rehe, das am Ufer eines Teichs geschlafen hatte. Erst nach langer Zeit erlaubte Commios ihnen stehen zu bleiben. Die beiden Frauen hörten nichts als ihr mühsames Atmen, aber Commios hatte offenbar einen sechsten Sinn für die Geräusche des Waldes. Er hob eine Hand, sie hielten die Luft an und spitzten die Ohren. »Hört ihr das auch?«, fragte er schließlich. Er sprach mit ganz normaler Stimme, die in der Stille der Bäume erschreckend laut klang. »Wasser. Hier fließt irgendwo ein Bach.« Eigon stellte fest, dass sie jetzt sein Gesicht sehen konnte und das Weiß seiner Zähne, wenn er lächelte. Ohne dass sie es bemerkt hatte, wurde es allmählich hell. »Wir überqueren das Wasser, vielleicht waten wir ein paar Hundert Fuß darin, um unsere Fährte zu unterbrechen, obwohl ich keine Hunde gehört habe.« Schon hatte er sich wieder in Bewegung gesetzt. Die beiden Frauen warfen sich einen erschöpften Blick zu, bückten sich nach ihrem Gepäck und folgten ihm.
Als er ihnen endlich eine Rast genehmigte, war der Tag bereits weit fortgeschritten. Sie hatten den ersten Bach und dann einen zweiten überquert, hatten die Richtung geändert und waren kreuz und quer immer tiefer in die Wälder gegangen, bis sie schließlich eine niedrige Felswand erreichten, in die flache Höhlen eingelassen waren. In eine von diesen verkrochen sie sich. Die beiden Frauen waren am Ende ihrer Kräfte und schliefen innerhalb kürzester Zeit ein. Commios setzte sich in die Mündung der Höhle, schaute auf die Schlucht unter ihnen und hörte auf das leiseste Geräusch, das jemanden zwischen den Bäumen verraten würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie ihren Verfolgern entkommen. »Lieber Herr Jesus«, murmelte er. »Sei hier bei uns. Beschütze uns, damit wir deine Arbeit verrichten können. Führe uns zu unserem Ziel, und verbirg uns mit den Schleiern deines Nebels.« Er warf einen Blick zu Eigon, die mit geschlossenen Augen an der Felswand lehnte. Ihr Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, unter der Kapuze ihres Umhangs hatte sich ihr Haar gelöst und fiel ihr in weichen Locken über die Brust. Er seufzte liebevoll. Sein Blick wanderte nicht zu Drusilla, die auf dem Boden lag, den Kopf auf den Arm gelegt. Im Halbschlaf wachte sie kurz auf, um es sich bequemer zu machen. Mit einem Stich der Eifersucht bemerkte sie die Miene, mit der er Eigon beobachtete, dann schloss sie die Augen wieder.
Commios hielt noch etwas länger Wache, dann lehnte auch er sich an die Höhlenwand und schlief.
Einige Zeit später wachten sie auf und zitterten in dem kalten Nebel, der in die Höhle vorgedrungen war. Commios ging hinaus und lauschte. Mit einem bestätigenden Nicken kam er zurück. »Ich kann nichts hören. Ich glaube, wir können eine Weile hierbleiben, aber wir sollten trotzdem kein Feuer machen.« Er griff nach seinem Beutel und öffnete die Klappe. »Brot, die Damen?«
Drusilla machte große Augen. »Wo hast du das her?«
Er grinste. »Ich fürchte, das habe ich geklaut, als wir durch die Küche gelaufen sind. Ich bin sicher, der eine Laib wird unserer Wirtin nicht fehlen. Es ist Brot von gestern. Wahrscheinlich hätte sie es sowieso nur den Hunden vorgeworfen.« Er riss es in Stücke, die er an die Frauen austeilte. »Eigon, segnest du unser Essen?« Nachdem sie das Gebet gesprochen hatte, biss sie herzhaft in das derbe Brot. Eine Weile aßen sie schweigend, dann schaute Eigon wieder zu ihm. »Ich habe dich vorhin um Nebel beten hören.« Alle schauten zur Mündung der Höhle, vor der eine feuchte weiße Decke hing. »Unser Herr hat uns erhört.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ein altes Druidengebet, um das Wetter zu beeinflussen.«
Sie lächelte. »Das habe ich mir schon gedacht. Melinus hat mir solche Gebete auch beigebracht. Aber wir dürfen nicht mehr zu den alten Göttern beten, das ist Sünde.«
»Das glaube ich nicht.« Commios zog die Beine an, stützte die Ellbogen auf die Knie und kaute nachdenklich. »Unsere Vorfahren wussten nichts von Christus. Sie nannten Gott mit anderen Namen, mehr nicht. Die Geister des Landes sind immer noch da. Man kann sie spüren und sehen. Wie können sie einfach fort sein? Christus ist unser Gott, unser Herr. Er weiß, dass die Geister existieren. Er nennt sie Engel, mehr nicht. Wir sind nicht mehr in Rom, Eigon. Wir sind in Gallien. Wir sind auf dem Weg in deine Heimat, und in unserer Heimat müssen wir uns unseren eigenen Göttern zuwenden.«
Sie sah ihn zweifelnd an, sagte aber nichts. Es war Drusilla, die den Kopf schüttelte. »Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir.«
Eigon lächelte. »Und das stimmt auch. Er ist der Gottvater. Aber Commios hat auch Recht. Petrus sprach ständig von Engeln, er nannte sie die Boten Gottes. Sie sind überall um uns.« Sie schauderte. »Kannst du sie im Nebel nicht spüren?«
Drusilla zog die Stirn kraus. »Das stimmt nicht«, sagte sie scharf.
Commios und Eigon schauten verwundert zu ihr. Es passierte nicht oft, dass die sanftmütige Drusilla die Stimme hob.
Commios schüttelte den Kopf. »Also, wer immer es ist, der dort draußen ist, beten wir, dass er und der Herr uns aus dieser Wildnis führen«, sagte er inständig. »Denn wenn wir dieses Brot aufgegessen haben, haben wir nur noch das, was wir im Wald finden. Es gibt reichlich Nüsse und Früchte, aber nicht mehr lange. Die Vögel und Tiere schlagen sich die Bäuche voll.«
»Wir sollten aufbrechen, solange der Nebel uns schützt, Commios«, sagte Eigon. Sie warf die letzten Brotkrumen auf den Boden, als Opfergabe an die Geister der Höhle.
Er bemerkte es und grinste. »Krumen für die Engel?«
»Oder für die kleinen Tiere, die hier leben«, gab sie zurück. »Die Höhle ist ihr Zuhause, und ich danke ihnen, dass sie uns erlaubt haben, hier Unterschlupf zu suchen.«
»Aber es ist kalt und feucht, und der Nebel, den du von Gott erbeten hast, ist scheußlich!«, sagte Drusilla gereizt.
Ein gespenstischer Klang hallte aus dem Wald zu ihnen herauf. Sie erstarrten. »Ein Jagdhorn«, sagte Commios besorgt.
»Glaubst du, dass sie unsere Fährte gefunden haben?« Eigon spürte, dass ihr alles Blut aus dem Gesicht wich.
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht machen sie Jagd auf Wildschweine, möglicherweise wissen sie überhaupt nichts von uns, aber wir sollten trotzdem so schnell wie möglich weiter.« Er hielt inne, als das Horn wieder von den Bäumen in der Ferne widerhallte. »Sie sind weit im Osten von uns und bewegen sich von uns fort«, sagte er leise. »Wir folgen dem Bach dort unten in die entgegengesetzte Richtung.«
In kürzester Zeit hatten sie ihre Habseligkeiten zusammengepackt und stiegen in die Schlucht hinunter.
Am späten Abend hatten sie die Höhle, in der sie gerastet hatten, viele Meilen hinter sich gelassen. Sie wichen mehreren Dörfern aus, überquerten ein Dutzend Bäche und Flüsse und hielten sich unentwegt nach Westen, bis sie schließlich auf einer Bergkuppe eine verlassene Schäferhütte entdeckten. Dort konnten sie die Nacht in relativer Wärme und Sicherheit verbringen. Commios, der mittlerweile so wild aussah, dass niemand ihn mehr für einen Römer halten würde, ging ins nächste Dorf. Da er die Sprache der Region beherrschte, erregte er so gut wie kein Aufsehen und konnte etwas zu essen und Bier und zwei derbe, im hiesigen Muster gewebte Umhänge besorgen.
In der Nacht schliefen sie gut, und am nächsten Morgen brachen sie in hellem Sonnenschein auf. Ihre gute Laune machte sie sorglos. Selbst Commios hatte die Gruppe Männer, die sich in den Bäumen versteckt hielten, nicht bemerkt. Gerade noch waren sie hintereinander dem sonnenbeschienenen Pfad durch das Tal gefolgt, dann waren sie plötzlich von Stammesleuten umringt, von denen einer Commios ein Messer an die Kehle hielt.
Drusilla schrie. Jemand schlug ihr auf den Mund, und die drei wurden ins Gebüsch gezerrt. Eine barsche Stimme sprach Commios ins Ohr. »Wer seid ihr? Wohin geht ihr?«
Die Männer gehörten eindeutig zu seinem eigenen Stamm, wie er an ihrer Sprache erkannte, und er fluchte so lautstark und umgangssprachlich korrekt, dass die Häscher erstaunt von ihnen abließen. Eigon sah sich um. Es waren rund ein Dutzend Männer, die im Halbkreis um sie herumstanden, das Schwert gezückt, die Kleidung einfach, das Haar wild, die Augen zornig. Sie warf einen kurzen Blick zu Commios, der mittlerweile die Männer anherrschte, wen sie denn vor sich zu haben glaubten und ob sie sie vielleicht auch noch auszurauben gedachten? Die zwei jungen Männer, die bereits die Bündel der Frauen an sich genommen hatten, ließen sie beschämt zu Boden fallen. Ein Mann trat vor, offenbar war er der Anführer. Er und Commios unterhielten sich angeregt, wobei der Stammesmann im Lauf des Gesprächs zunehmend verlegen dreinsah. Schließlich starrten alle ehrfürchtig zu Eigon.
»Was hast du gesagt, Commios?«, fragte sie misstrauisch. Sie sprach Lateinisch.
Er grinste. »Ich habe ihm gesagt, dass du die Königin der Silurer bist, die Tochter des großen Caradoc, und dass du ihren Kopf fordern wirst für die Beleidigung, die sie dir zugefügt haben.«
Sie hob die Augenbrauen. »Gute christliche Gefühle, Commios.«
Er schnaubte. »Das sind keine Christen. Und diesen Wunsch, bereitwillig als Märtyrer zu sterben, habe ich nie verstanden.«
»Und Lügen. Ich bin keine Königin.«
»Das weißt du nicht so genau. Bist du die Tochter Caradocs oder nicht?«
Sie nickte.
»Dann benimm dich als solche. Sei königlich!«
Nervös betrachtete sie ihre Häscher. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Sie straffte die Schultern, setzte eine so hochmütige Miene auf, wie ihr nur möglich war, und freute sich zu sehen, dass der eine oder andere der Männer vor Angst förmlich zu zittern begann. »Wer ist euer Anführer?« Ihr Keltisch war zwar etwas eingerostet, aber noch gut genug, um sich verständlich zu machen; schließlich kam sie von einem entfernt verwandten Stamm jenseits des Meeres. Nach den ersten heiseren Worten war ihre Stimme stark und überzeugend. »Habt ihr uns auf seinen Befehl hin überfallen?«
Ihr fiel auf, dass Commios bei ihren Worten respektvoll ein paar Schritte zurücktrat und dann leise und unauffällig auf Drusilla einredete. »Selbst wenn du ihr nachher in die Suppe spuckst, bitte benimm dich ehrerbietig. Im Moment bist du ihre Dienerin.«
Empört wollte Drusilla das Gesicht verziehen, aber dann wurde ihr klar, dass in diesem Moment ihrer aller Leben von Eigons Fähigkeit abhing, als Königin anerkannt zu werden.
Das fiel ihr nicht schwer. Eigon brauchte nur an das Auftreten ihres Vaters vor seiner Erkrankung zu denken, an diese Mischung aus Sanftheit, natürlicher Autorität und Macht. Das ergänzte sie durch einen Anflug der Arroganz ihrer Mutter, drückte den Rücken noch weiter durch und trat in den Kreis der Männer vor. »Bringt uns in euer Dorf. Ich spreche selbst mit eurem Anführer.« Sie wandte sich an die zwei jungen Männer, die ihre Beutel hatten nehmen wollen. »Ihr zwei, ihr tragt unser Gepäck. Ihr werdet ihm sagen, dass ihr versucht habt, die Königin der Silurer zu berauben. Du«, sie betrachtete den Anführer mit einem Blick, der ihm sagte, dass sie sein Gesicht nie vergessen würde, »wirst ihm erklären, warum ihr Reisende auf den Straßen eures Königreichs überfallt und das heilige Gebot der Gastfreundschaft derart missachtet.«
Das Dorf lag in der Biegung eines Flüsschens. Zwei oder drei größere Holzhäuser waren von mehreren kleineren, länglichen Gebäuden umgeben, die alle mit Reet gedeckt waren. Die ganze Siedlung war von einem zweifachen Kreis kräftiger Staketen umgeben, der Eingang wurde bewacht. Als Eigon den kleinen Ort anstarrte, kehrte eine Flut von Erinnerungen zurück.
»Commios! Alles ist ja so armselig!«, flüsterte sie. »Das hatte ich völlig vergessen.«
Hochmütig hob er die Augenbrauen. »Vielleicht für Leute, die am Hof eines Kaisers gelebt haben. Du solltest dich besser daran gewöhnen. Das ist das Leben, das wir von jetzt an führen werden.«
Er ging ihr voraus, doch am Tor blieb er stehen und bedeutete ihr mit einer Verneigung, den äußeren Hof an der Spitze der Männer zu betreten. Drusilla hastete ihr nach, richtete ihren Umhang und strich ihn glatt. »Warte nur, große Königin, bis wir allein sind. Von dieser Sonderbehandlung will ich meinen Anteil«, flüsterte sie lächelnd.
Eigon grinste. »Im Angesicht des Herrn sind wir alle gleich, Drusilla. Wenn wir allein sind, dann sind wir wieder Schwestern.« Sie verstummte und sah sich mit königlicher Würde um. Der Hof war verwaist, kein Lebenszeichen war zu sehen bis auf den Rauch, der vor einem der Gebäude von zwei Feuerstellen aufstieg. »Wo ist euer Anführer?«
Aus einem der größeren Häuser waren Geräusche zu hören, dann erschien ein älterer Mann. Sein Gewand war weit prächtiger als das der Männer um ihn her. Er schritt näher und blieb, auf seinen Stab gestützt, wenige Fuß vor Eigon stehen. »Sei gegrüßt, Herrin. Welchen Umständen haben wir die Ehre deiner Gegenwart zu verdanken?« Er warf einen Blick zu dem Mann, der hinter ihr stand und unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat.
»Diese Herrin ist ein ehrwürdiger Gast. Sie ist die Königin des Stamms der Silurer.«
Das Gesicht des Alten blieb ausdruckslos. »Das halte ich für unwahrscheinlich.« Seine Augen bohrten sich in Eigons. »Ich habe das Land der Silurer besucht und dort nichts von einer Königin gehört.«
Verblüfft von dieser Information, gelang es Eigon dennoch, seinem Blick standzuhalten. »Caradoc war mein Vater, Herr.« Wenn dieser Mann wirklich die Silurer kannte, dann musste er auch den Namen ihres Vaters kennen.
Der Mann hob die Augenbrauen. »Caradoc war ein großer König, aber er wurde vor vielen Jahren gefangen genommen und nach Rom gebracht. Soweit ich weiß, ist er immer noch dort.«
Eigon schüttelte den Kopf. »Du hast Recht. Wir wurden nach Rom gebracht, aber ich muss dir leider berichten, dass mein Vater gestorben ist. Ich bin die Einzige, die ihm nachkommt.«
»Und du wurdest von den Ältesten seines Stammes gewählt?« Sein Gesicht war wie versteinert.
Sie seufzte. »Nein. Seit wir gefangen genommen wurden, war ich nicht im Land der Silurer. Jetzt bin ich mit der Empfehlung meines Vaters und seinem Segen als seine Nachfolgerin auf dem Weg dorthin.« Sie machte eine kurze Pause. »Und darf ich fragen, wer du bist, Herr?«
Er lächelte freudlos. »Fragen darfst du. Ich verzichte darauf, dir zu antworten. Madunos?« Er sprach den Mann an, der direkt neben ihr stand. »Gib unseren Gästen zu essen und ein Bett für die Nacht, wie es ihnen im Namen der Gastfreundschaft zusteht. Morgen gib ihnen Vorräte für ihre Reise und zeige ihnen den Weg nach Westen.« Mit widerwilligem Respekt verbeugte er sich vor ihr, wandte sich ab und kehrte in sein Haus zurück.
Commios atmete hörbar aus. »Er ist euer Druide, ja?«, fragte er Madunos. »Freundlicher Mensch. Nun ja, wir brauchen nur etwas zu essen und eine Unterkunft, da ihr uns von unserem Weg abgebracht habt. Es kann nicht unsere Sorge sein, wenn ihr Königin Eigon nicht erkennt. Sie reist ohnehin in Verkleidung, um den Römern zu entkommen. Wohin gehen wir?«
Madunos zögerte. Er war nicht sicher, ob er sie mit Respekt behandeln sollte oder mit Verachtung für den Fall, dass sie Schwindler waren.
Eigon las seine Gedanken und trat einen Schritt auf ihn zu. Er zuckte zusammen, als habe sie ihm einen Schlag versetzt. »Gehorche deinem Druiden, Kerl«, befahl sie scharf. »Mit ihm spreche ich später. Er entehrt unseren Gott mit seinem Unglauben, aber er hat dir aufgetragen, uns zu essen und eine Unterkunft zu geben, also bring uns unsere Habseligkeiten und zeig uns, wo wir schlafen können.«
»Eigon, leg dich nicht mit dem Alten an«, sagte Commios, als sie das kleine Gebäude betrachteten, das ihnen für die Nacht zur Verfügung gestellt worden war. »Ich glaube, er ist ein hartherziger Mann und misstrauisch obendrein. Lass uns hier einfach essen und schlafen, und morgen früh brechen wir wieder auf.«
»Die Druiden können die Römer nicht leiden«, sagte sie mit Nachdruck. »Er ist klug, er ist in den Westen Britanniens gereist, er könnte ein Verbündeter sein. Er misstraut uns wegen der römischen Kleidung unter unseren Umhängen. Du und ich, wir werden später mit ihm reden und ihn überzeugen, dass wir wirklich von hier stammen. Und ich glaube, wir sollten uns andere Kleider besorgen. Wir bitten sie, uns gallische Kleidung zu verkaufen, damit wir auf unserer Weiterreise wie Einheimische aussehen. Wenn Titus uns folgt, müssen wir die Stadtzentren ohnehin meiden, wir müssen den Pfaden durch den Wald folgen und den Römern aus dem Weg gehen. Da dürfen wir nicht auffallen. « Nach einem Blick auf Drusillas Gesicht lachte sie laut auf. »Schau nicht so entsetzt! Die Kleidung ist bequem und warm.«
»Aber sie stinkt!«, sagte Drusilla schaudernd.
»Dann bitten wir sie um saubere Sachen. Diese Leute sind arm«, sagte Commios spitz. »Schäm dich! Die Armen in Rom stinken genau so, wenn nicht noch mehr. Das weißt du doch aus der Zeit, als wir das Wort Gottes unter ihnen verbreiteten.«
Drusilla presste die Lippen aufeinander und nickte widerwillig. »Entschuldigt.«
Zu ihrer Überraschung wurden sie aufgefordert, sich zum Essen zu den Dorfbewohnern ans Gemeinschaftsfeuer zu gesellen. Nachdem der Druide ihnen aufgetragen hatte, die Gäste freundlich zu empfangen, hatten sie offenbar den Entschluss gefasst, das Beste aus der unerwarteten Gesellschaft zu machen. Es war sehr spät, als Eigon sich erhob, Commios und Drusilla zu sich winkte und ihren Gastgebern eine gute Nacht wünschte.
Drusilla zog sich in ihre gemeinsame Schlafkammer zurück, während Eigon und Commios auf das Haus des Druiden zugingen. Sie wollten gerade durch die niedrige Tür treten, als aus dem Schatten eine Gestalt auftauchte und sie mit einer Handbewegung zurückhielt. »Wohin wollt ihr?«
»Wir wollen mit deinem Druiden sprechen«, sagte Eigon.
»Taxilos? Er ist nicht hier. Er ist in seinem Haus im Wald.«
Eigon warf einen Blick zu Commios. »Dann reden wir eben dort mit ihm«, sagte Commios mit Nachdruck. »Führ uns hin und frage ihn, ob wir mit ihm sprechen können. Es ist dringend.«
Zu ihrer Überraschung wurde ihnen ihr Ansinnen sofort erfüllt. Der alte Mann saß in einer kleinen Hütte mitten im Wald jenseits des Staketenzauns an einem Tisch. Als sie eintraten, schaute er auf und lächelte kalt. »Ich habe euch erwartet.«
Eigon sah sich im Raum um. Er wurde von drei Lampen erhellt, die ein goldenes Licht auf seinen Schreibtisch warfen. Darauf lagen ein Stapel Schriftrollen, einige Notizbücher aus Holzblättern, ein Wachstäfelchen und ein Stilus. Es gab verschlossene Glasgefäße, ein kompliziertes Metallgerät, von dem Eigon vermutete, dass es sich um ein sehr kleines Astrolabium handelte, und einen komplexen Kalender, bei dem die Daten auf eine dünne Messingplatte graviert waren. Des Stab des Druiden lehnte an der Wand. Mit einer müden Geste bedeutete er ihnen, sich auf die zwei unbesetzten Schemel zu setzen, und drehte sich zu ihnen, die Hände im Schoß verschränkt.
»Was kann ich für euch tun?«
»Wir sind hier, um dich um Hilfe zu bitten«, sagte Eigon bedächtig. Sie schaute nicht zu Commios, der schweigend neben ihr saß. »Mittlerweile wirst du deine Götter befragt haben, und sie werden dir bestätigt haben, dass wir die Wahrheit sagen.«
Er senkte den Kopf.
»Wir möchten für unsere Reise Kleidung und Proviant kaufen und dich um Rat bitten, auf welchem Weg wir am besten zur Küste gelangen. Wir werden von einem römischen Offizier verfolgt, der mir Böses will. Ich muss ihm aus dem Weg gehen und wenig benutzte Pfade nehmen.«
Er hob die Augenbrauen. »Titus Marcus Olivinus.«
Entsetzt starrte sie ihn an. »Du weißt von ihm?«
»Er hat seine Boten durchs ganze Land geschickt. Er ist überaus entschlossen. Er hat eine gewaltige Summe für Informationen über deinen Verbleib ausgesetzt.«
Einen Moment verschlug es ihr die Sprache, und Commios nutzte die Gelegenheit, um sich zu Wort zu melden.
»Wir würden es dir und deinem Stamm nicht vorwerfen, wenn ihr euch die Belohnung verdienen wollt.«
»Das würde uns nicht zur Ehre gereichen«, antwortete Taxilos streng. »Ihr habt von uns nichts zu befürchten, aber ich möchte euch warnen, dass er in Rom eine mächtige Verbündete hat. Sie kann ebenso in die Ferne sehen wie in die Vergangenheit und die Zukunft.«
»Marcia«, murmelte Eigon. »Ich habe sie gesehen.«
Damit hatte sie seine Aufmerksamkeit geweckt. »Dann wurdest du von einem Druiden ausgebildet, Herrin, so römisch du sonst wirken magst.«
Sie nickte. »Melinus. Er war jahrelang mein Lehrer.«
»Und jetzt ist er tot?«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Er ist in Rom im Zirkus gestorben.«
Taxilos verzog das Gesicht. »Und uns nennen sie Barbaren! Du weißt, dass er noch immer über dich wacht? Bitte ihn um Rat, wenn du ihn brauchst.«
Eigon warf einen Blick zu Commios, der nur mit den Schultern zuckte. Sein Gesicht war blass, er sah sich unbehaglich im Raum um. Eigon spannte sich an. Lauerte hier Gefahr?
Der Druide bemerkte ihr Unbehagen und lächelte dünn. »Du hast von mir nichts zu befürchten. Ich bin kein Kundschafter der römischen Soldaten. Ich sorge dafür, dass euch morgen alles gegeben wird, was ihr braucht. Jetzt schlage ich vor, dass ihr euch schlafen legt. Ihr habt noch eine weite Reise vor euch, die Winde werden immer stärker, und die Wellen, die eure Insel beschützen, werden mit jedem Tag größer.«
Damit drehte er sich wieder zu seinem Schreibtisch. Eigon und Commios erhoben sich wortlos und gingen. Erst nachdem sie fort waren, schaute Taxilos von seiner Schriftrolle auf und starrte nachdenklich zum Fenster. Marcia Maximilla war eine mächtige Gegnerin. Von ihrem Haus hinter dem Tempel der Vestalinnen aus tasteten sich ihre gierigen Finger durch das ganze römische Universum. Selbst hier, im abgelegenen Gallien, hatte man von ihr gehört und zuckte bei ihrem Namen zusammen. Lächelnd spielte er einen Moment mit der reizvollen Überlegung, die Herausforderung anzunehmen und ihre Pläne zu vereiteln. War er dem gewachsen? Der Gedanke war verlockend.
 
»Wo bist du, Titus, du Schwein?« Daniel hieb mit den Fäusten aufs Lenkrad. Er schwitzte heftig, das Hemd klebte ihm am Rücken. Er kurbelte das Fenster herunter und wich, nur eine Hand am Steuer, laut fluchend einem Radfahrer aus. Endlich entdeckte er an der schmalen Straße eine Parkbucht, in der er stehen bleiben konnte. In der Ferne zeichnete sich die Hügelkette jenseits von Ty Bran ab.
»Und was mach ich, wenn sie hier ist?«, fragte er laut. »Du willst, dass sie stirbt, stimmt’s, du perverser Lüstling? Aber du willst die Dreckarbeit nicht selber machen! Du willst zuschauen, wie ich sie für dich erledige!«
Er stieß die Tür auf und stieg aus. Seine Beine zitterten, er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Er stand neben der Hecke, starrte über das Tal hinaus und wartete, ob er sich gleich übergeben musste. In der Ferne konnte er gerade das Haus ausmachen, das sich an den Rand des Grats unterhalb des Waldes schmiegte. Von hier aus sah er, wie unendlich weit sich diese Wälder hinzogen, die sich wie ein weicher, grüner Teppich über die Bergkämme und hinab ins nächste Tal erstreckten, während weit hinter ihnen die höheren, unbewaldeten Berggipfel aufragten. In den Wäldern konnte sich jederzeit jemand verirren und nie wieder gefunden werden! Er lächelte kalt und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab. Die Übelkeit verging.
In seinem Kopf klang noch die Verachtung in Nats Stimme nach. Er versuchte die Erinnerung daran zu verdrängen. Dieser Teil seines Lebens war jetzt vorbei, jetzt konnte er nicht mehr zurück. Und weshalb sollte er auch? Selbst die Kinder waren ihm fremd geworden, kleine Klone ihrer Mutter, die ihn insgeheim vermutlich genauso verachteten. Er schüttelte den Kopf und schob die Erinnerung an seinen kleinen Sohn fort, der ihm die Arme um den Hals schlang. Sein Mund verzog sich zu einem gehässigen Grinsen. Die konnte er jetzt getrost vergessen. Sie hatten ihm ohnehin nur im Weg gestanden. Endlich konnte er hingehen, wohin es ihn trieb, endlich konnte er die Dinge tun, von denen er so lange schon träumte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Als Allererstes würde er sich für die kommende Nacht ein bequemes Bett suchen. Verflucht sollte er sein, wenn er auch nur ein Mal noch in einem billigen Motel, oder, schlimmer noch, im Auto schlief. Diese Nacht würde er sich jeden Luxus leisten, aber davor würden Titus und er Jess einen Besuch abstatten, einen Besuch, den er in vollen Zügen genießen würde.
Die Tochter des Königs
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