Kapitel 9
Die Götter waren ihr wohlgesinnt, in
einer der Abendmaschinen nach Rom war noch ein Platz frei. Den
Großteil ihrer Habseligkeiten ließ Jess im Wagen, den sie auf dem
Langzeitparkplatz in Heathrow abstellte. Als das Flugzeug abhob und
im scharfen Bogen über London hinwegflog, machte sie es sich mit
einem Seufzer der Erleichterung in ihrem Sitz bequem.
Spätnachts kam sie schließlich vor dem Palazzo an.
Sie stieg aus dem Taxi, bezahlte den Fahrer und schleppte ihren
Koffer zur Tür. Auf der Straße ging es so geschäftig zu wie in
London zur Mittagszeit, wie sie erstaunt feststellte, aber zu mehr
Beobachtungen kam sie nicht, denn schon wurde sie von allen Seiten
umarmt und gedrückt und die breite Marmortreppe zu Kims Wohnung
hinaufgeführt. Kurz darauf saß sie in der altmodischen, hallenden
Küche vor einem Glas kalten Frascati und einem Teller Pasta.
»Und?« Steph setzte sich ihr gegenüber, stützte die
Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. »Was ist
passiert?«
»Was meinst du?« Heißhungrig steckte sich Jess eine
weitere Gabel Fettuccine alla marinara in den Mund. Seit der kurzen
Rast an der Autobahn hatte sie nichts mehr gegessen. Es kam ihr
vor, als wäre das in einer anderen Welt gewesen. Ein warmes Gefühl
von Behaglichkeit machte sich in ihr breit.
Kim löffelte den Rest der Soße auf Jess′ Teller und
warf Steph einen strengen Blick zu. »Keine Fragen jetzt«, sagte
sie. »Jess ist kaputt. Morgen früh ist auch noch Zeit.«
Keine Stunde später hatte Jess ein Entspannungsbad
genommen und lag im Bett. Sobald ihr Kopf das Kissen berührte,
schlief sie ein. Aber es war ein unruhiger Schlaf, aus dem sie
wenig später hochschreckte. Musik war durch ihren Kopf gehallt.
Elgar. Rhodri Prices Stimme, die die dunklen Winkel ihres Gehirns
ausfüllte. Nur war es nicht Rhodri Price, es war Caratacus.
Er stand in der Tür, sein markantes,
wettergegerbten Gesicht war von Schmerz gezeichnet, die dichten,
dunkelbraunen Locken von silbernen Strähnen durchsetzt, die
Schulter und der Oberarm noch verbunden, die Hände mit schweren
Ketten gefesselt. Er starrte seine Frau und seine Tochter an. »Wo
ist er?«, fragte er. »Wo ist mein Sohn?«
Gequält rang Cerys die Hände. Er trat ins Zimmer,
hinter ihm warf der Wachposten die Tür ins Schloss, dann hörten
sie, wie der Riegel vorgeschoben wurde.
»Wir haben nach ihm gesucht. Wir haben überall nach
ihm gesucht. Die Römer haben gesucht. Die ganze Legion hat sich an
der Suche beteiligt …« Cerys’ Stimme stieg vor Kummer in die Höhe.
»Eigon hat sie im Wald oberhalb des Schlachtfelds versteckt. Damit
ihnen nichts zustößt. Aber als wir nach ihnen gesucht haben, waren
sie nicht mehr da.«
Verzweifelt sah Eigon zu ihrem Vater. Sie begann zu
zittern, Tränen traten ihr in die Augen. »Ich habe ihnen gesagt,
sie sollen sich verstecken. Ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht
rauskommen dürfen.«
Einen kurzen Moment war sein Gesicht von Wut
verzerrt, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Das haben sie
mir schon gesagt. Besteht die Hoffnung, dass unsere
Leute sie gefunden haben? Und sie in Sicherheit gebracht
haben?«
»Darum bete ich«, sagte Cerys leise. »Ich bete
jeden Tag zur Göttin Bride, dass sie sie beschützt. Du darfst Eigon
keinen Vorwurf machen. Sie hat nur getan, was sie für richtig
hielt.« Ein Lächeln ließ ihre Stimme weicher klingen, als sie sich
zu ihrer Tochter umdrehte, doch ihr Kummer war nicht zu überhören.
Unglücklich schluchzte Eigon auf.
Caradoc betrachtete das Gesicht seiner Frau.
»Nichts lag mir ferner, als ihr einen Vorwurf zu machen. Komm her,
mein Kind.« Ungeschickt streckte er die Arme aus, und Eigon lief zu
ihm, schmiegte sich an seine Knie und drängte sich in seine
gefesselten Arme. »Du hast richtig gehandelt, mein Herz, und du
warst sehr tapfer.« Er gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Und
wer weiß« - er schaute bekümmert zu seiner Frau -, »vielleicht
werden Togo und Glads diejenigen sein, die überleben und unseren
Kampf fortführen.«
Die Musik verklang, und Jess versank wieder in
tiefen Schlaf. Als sie das nächste Mal aufwachte, ging sie zum
Fenster, schaute in die Dunkelheit hinaus und lauschte den
nächtlichen Geräuschen. Ihr Zimmer lag von der lärmenden Straße
abgewandt. Von irgendwo hörte sie Wasser tropfen, aber dahinter war
gedämpft das Summen des Verkehrs auszumachen. Jess lächelte. Die
Ewige Stadt. Sie dachte daran, wie begeistert sie alle gewesen
waren, als Kim ihre Verlobung mit einem römischen Adeligen
verkündet hatte. Sie hatten geschworen, immer in Kontakt zu bleiben
und gemeinsam mit Kim Italienisch zu lernen. Bei der Erinnerung
verzog Jess das Gesicht. Nach all den Jahren beherrschte Kim die
Sprache natürlich perfekt, während sie und Steph ihre
Italienischstunden praktisch sofort wieder abgebrochen hatten. Ihr
Gelübde, die Commedia Divina eines Tages
im Original zu lesen, hatte sie schändlicherweise widerrufen und
sich eingestanden, dass sich ihre Beherrschung der Sprache auf
einige nützliche Ausdrücke beschränken würde, die vorwiegend das
Essen betrafen.
Als sie wieder aufwachte, war es schon spät am
Morgen. Entzückt sah sie sich in dem großen Zimmer um. Als sie
nachts ins Bett gegangen war, hatte sie den Raum, nur von der
Nachttischlampe erleuchtet, vor lauter Müdigkeit nicht eingehender
betrachtet und nur bemerkt, dass er wohnlich war und über den Luxus
eines eigenen Bads verfügte. Jetzt stellte sie fest, dass sie in
einem barocken Himmelbett lag, dessen Vorhänge mit Brokatschlaufen
an die Pfosten zurückgebunden waren. Die etwas verblichenen
Damastgardinen vor den Fenstern waren halb zugezogen,
Sonnenstrahlen fielen auf die exotischen alten Teppiche und
tauchten das Zimmer in ein warmes Licht. Jess stand auf, trat ans
Fenster und sah in den Innenhof hinunter, der im Zentrum des alten
Palastes lag. Das beruhigende Plätschern, das sie nachts gehört
hatte, kam von einem reich verzierten Brunnen, der den Mittelpunkt
der in kunstvollen Mustern angelegten Beete und Kieswege
bildete.
»Bist du wach?« Steph stand in der Tür, zwei Tassen
Kaffee in der Hand.
Jess drehte sich zu ihrer Schwester um und strich
sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht. »Es ist himmlisch
hier! Ich hoffe, Kim hat wirklich nichts dagegen, dass ich so
urplötzlich aufgetaucht bin.« Noch während sie das sagte, merkte
sie, dass sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit absolut sicher
fühlte.
»Kim ist begeistert. Sie pusselt in der Wohnung
herum.« Kurz runzelte Steph die Stirn. »Weißt du, ich glaube, sie
ist ziemlich einsam. Solange Adriano lebte, war alles wunderbar,
aber ich habe den Verdacht, dass sie kaum richtige
Freunde hier hat, und die meisten verbringen den Sommer irgendwo,
wo es nicht so heiß ist. Neulich abends habe ich ein paar ihrer
Freunde kennengelernt, aber die meisten wollten in den nächsten
Tagen wegfahren.« Sie setzte sich aufs Bett und ließ die Füße
baumeln. »Ich finde es toll, dass du doch gekommen bist, Jessie.
Wir machen uns ein paar schöne Wochen.«
Jess warf ihrer Schwester einen skeptischen Blick
zu. Sie wusste, das Kreuzverhör würde nicht lange auf sich warten
lassen, es war nur eine Frage der Zeit. Mit einem Stich dachte sie
an die Begeisterung, mit der sie ihre Schwester gefragt hatte, ob
sie den Sommer in Ty Bran verbringen könne, um zu malen - da würde
ihre Ankunft in Rom zu nachtschlafender Zeit jeden stutzig machen.
Aber eins war sicher, sie würde Steph und Kim nie den wahren Grund
für ihr plötzliches Auftauchen erzählen.
»Und was hat dich dazu veranlasst, deine Meinung zu
ändern? Warum bist du plötzlich hergekommen?« Halb liegend stützte
sich Steph auf den Ellbogen und trank einen Schluck Kaffee. Jetzt
erst bemerkte sie, wie blass und mitgenommen ihre Schwester
aussah.
Jess stellte ihre Tasse auf das Wandtischchen am
Fenster und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Die Musik, die
sie im Traum und auf der langen Autofahrt gehört hatte, hallte in
ihrem Hinterkopf nach. Sie würde den beiden nichts von Daniel
sagen, aber von Eigon konnte sie ihnen ja erzählen. »Steph, hast du
in Ty Bran je eine Kinderstimme gehört? Eigons Stimme?«
Steph setzte sich auf. »Eine Stimme?«
»Eigon. Die Tochter von Caratacus!«
Steph sah sie verständnislos an.
»Das Gespenst! Das kleine Mädchen, das in deinem
Atelier spukt.«
»Ach so.« Steph stand auf, ging langsam zum Fenster
und schaute hinaus. »Ist das der Grund, weshalb du es dir anders
überlegt hast und doch nicht allein in Ty Bran bleiben wolltest?
Ist es dir unheimlich dort geworden?« Ihre Stimme klang beiläufig,
aber Jess hörte ihre Anspannung heraus.
»So ungefähr«, gab sie widerwillig zu. Es war
besser, Steph glauben zu lassen, sie habe sich von Gespenstern
vertreiben lassen, als ihr den wahren Grund zu nennen.
Steph setzte sich wieder aufs Bett und lehnte sich
mit untergeschlagenen Beinen ans Kopfteil. »In Ty Bran spukt es, so
viel steht fest. Ich habe oft etwas gehört und auch gespürt. Aber
richtig gesehen habe ich nichts.« Sie fuhr mit dem Zeigefinger über
die Seidenstickerei auf dem Kissenbezug. »Es hat mir nie Angst
gemacht. Sonst hätte ich dich gewarnt. Mich stört es nicht, ganz
allein da oben zu sein. Zumindest …«
»Sie hat mir keine Angst gemacht.« Jess setzte sich
zu ihrer Schwester aufs Bett. »Nicht, nachdem ich mich erst einmal
an sie gewöhnt hatte. Sie hat mich traurig gemacht. Sie ist so
einsam, so hilflos. Kennst du die Geschichte? Eigon wurde zusammen
mit ihren Eltern von den Römern gefangen genommen und
hierhergebracht, nach Rom. Aber ihr kleiner Bruder und ihre jüngere
Schwester sind im Wald in Ty Bran verloren gegangen.«
»Verloren gegangen?«
Jess nickte. »Sie hatten sich vor den Soldaten
versteckt. Die haben zwar Eigon gefunden, aber nicht die beiden
anderen. Zumindest glaube ich, dass sie sie nicht gefunden
haben.«
»Und du glaubst, dass sie immer noch nach ihnen
sucht?« Steph schüttelte den Kopf. »Mein Gott, das klingt ja
schauerlich. Woher weißt du das alles?«
»Von Rhodri Price.« Jess schnitt eine
Grimasse.
»Rhodri?« Steph sah sie ungläubig an.
Jess glitt vom Bett und wühlte in ihrer Tasche nach
einer CD, die sie ihrer Schwester zeigte.
»Elgars Caractacus.« Steph las das Cover.
»Das ist ja meine CD!« Sie schaute hoch.
»Du hättest mich vor ihm warnen sollen«, sagte
Jess. »Ich bin furchtbar ins Fettnäpfchen getreten, weil ich keinen
blassen Schimmer hatte, wer er ist!«
Steph lachte. »Du liebes bisschen. Entschuldige.
Das grenzt ja an Majestätsbeleidigung! Er ist unheimlich
empfindlich - und viel zu sehr von sich selbst eingenommen.«
»Das kannst du laut sagen!« Jess grinste. »Ich
hatte ganz vergessen, dass du ihn nicht besonders magst. Ich
glaube, ich weiß, warum.«
Steph ließ die CD aufs Bett fallen. »Erstaunlich,
dass er überhaupt da war. Er ist nur noch selten auf der Farm.
Eigentlich wohnt er jetzt in London, wenn er nicht gerade auf
Tournee ist. Du bist also gekommen, um ihn singen zu hören? Megan
hat mir erzählt, dass er demnächst an der Scala auftritt, aber die
ist nicht in Rom …«
»Ich bin doch nicht hier, um ihn singen zu hören!
Spinn doch nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass ich solche Musik
überhaupt nicht mag.« Die Musik, die dennoch unentwegt durch ihren
Kopf hallte und einfach nicht verstummen wollte. »Und die
Genugtuung, zu glauben, ich wollte ihn vielleicht singen hören,
würde ich ihm nie geben. Guter Gott, da könnte er mich ja für einen
Fan halten! Nein, ich bin hier, um ein paar Sachen nachzuforschen.«
Beim Reden wurde ihr bewusst, dass das zumindest zum Teil der
Wahrheit entsprach. Natürlich wollte sie eine möglichst große
Entfernung zwischen sich und Daniel bringen, aber sie wollte auch
herausfinden, was mit Eigon und den Kindern passiert
war. »Ich weiß, was sie in Rom mit Caratacus gemacht haben, das
steht ja in der offiziellen Geschichtsschreibung, aber ich möchte
auch wissen, was aus ihr geworden ist. Rhodri hat mir nur erzählt,
wer sie ist. Er hat mir auch von der Schlacht erzählt, bei der
Caratacus besiegt wurde. Schließlich hat er die Oper gesungen, in
der es um die ganze Geschichte geht, und die Farm liegt mitten auf
dem Schlachtfeld. Rhodri kennt sich da ganz gut aus. Und er hat
mich auf eine Sendung aufmerksam gemacht, die im Radio darüber
gelaufen ist.«
Sie erzählte die ganze Begebenheit noch einmal, als
sie mit Kim und Steph bei einem späten Mittagessen in einer
Trattoria in der Nähe des Palazzo saß. Kim starrte sie an. »Also,
von allen Gründen nach Rom zu fahren - auf den wäre ich nie
gekommen!«
Steph grinste. »Ich finde das toll. Eine
Recherchereise!«
»Aber wo kommt da der gefährliche Mann ins Spiel?«,
fragte Kim nachdenklich. »Steph, du hast ihr doch von Carmellas
Warnung erzählt, oder?«
»Welche Warnung denn? Welcher gefährliche Mann?«
Jess legte ihre Gabel beiseite.
»Meine Freundin Carmella hat für dich die Karten
gelegt und gesagt, dass du in Gefahr bist. Als deine Schwester dich
nicht erreichen konnte, weder am Handy noch auf dem Festnetz,
wollte sie dich fast polizeilich suchen lassen.«
»Wirklich?« Jess sah erstaunt zu Steph.
»Ja, wirklich.«
»Und dann tauchst du mit dieser merkwürdigen
Mission plötzlich hier auf.« Kims Augen funkelten. »Also, wer ist
Caractacus? Ich weiß, dass er ein König war, so viel zumindest habe
ich aus den Dokusoaps gelernt! Aber ich wusste nicht, dass er
wirklich existiert hat. Und ich wusste nicht, dass er gefährlich
war.«
»Eigentlich hieß er Caratacus, ohne c. Und in Wales
hieß er Caradoc«, sagte Jess langsam. »Die Römer haben ihn
geschlagen bei einer Schlacht, die im Tal unterhalb von Ty Bran
stattfand. Sie haben ihn mit seiner Frau und seiner Tochter
gefangen genommen und auf den Befehl von Kaiser Claudius hin in
Ketten nach Rom gebracht.«
»Was du nicht sagst!« Kim griff nach der
Weinflasche. »Und was hat das mit deinem Gespenst zu tun?« Sie
schenkte Jess nach.
»Die Gespenster in Ty Bran sind seine
Töchter.«
»Gespenster?«, warf Steph fragend ein. »Gibt es
mehr als eins?«
Jess nickte. »Eigon und ihre kleine Schwester
Glads. Ich habe sie beide gesehen.«
»Und sie sind in Ty Bran gestorben?«
Jess schüttelte den Kopf. »Ich glaube eigentlich
nicht. Genau das will ich ja herausfinden. Laut dem hier« - sie
holte die CD aus ihrer Tasche - »kam Eigon mit ihren Eltern nach
Rom. In dieser Oper ist sie eine erwachsene Frau, eine
selbstbewusste vollbusige Sopranistin! Für mich ist sie ein kleines
Mädchen, einsam, verlassen und unglücklich.«
»Der erste Widerspruch!« Kim schob ihren Teller
beiseite und stand auf. »Gut, ihr zwei, ich muss los. Ich habe
einen Termin beim Friseur. Ihr habt euch doch bestimmt viel zu
erzählen. Wir sehen uns später. Ciao, Mädels!«
»Also«, sagte Steph, als sie Kim nachschauten, die
unter den Sonnenschirmen durchtauchte und die Straße entlang
verschwand. »Was ist mit der anderen Schwester passiert?«
Jess schüttelte den Kopf. »Ich weiß es
nicht.«
Steph hob die Augenbrauen. »Nein, Jess, das klingt
ja alles ganz spannend, aber die Geschichte nehme ich dir nicht ab.
Du bist keine Historikerin. Die Wahrheit, bitte.«
Jess warf einen Blick zu Steph, deren Augen zum
Schutz vor der grellen Sonne hinter einer dunklen Brille verborgen
waren. Dann schaute sie auf den Tisch und zuckte mit den Schultern.
»Das ist die Wahrheit. Aber was ist das mit den Karten, die ihr für
mich gelegt habt?« Entschlossen wechselte sie das Thema.
Jetzt zuckte Steph mit den Schultern. »Ein blödes
Spiel. Eine Freundin von Kim macht das bei Festen quasi als
Gesellschaftsspiel. Sie liest die Tarotkarten. Sie sagte, du wärst
in Gefahr.« Heimlich beobachtete sie ihre Schwester. »Sie hat
gemeint, ein Mann würde dir nach dem Leben trachten.«
Jess starrte sie unverwandt an.
»Ich habe natürlich gesagt, dass das Unsinn ist,
aber Sorgen habe ich mir trotzdem gemacht. Das ist doch klar.
Deswegen habe ich ja versucht, dich zu erreichen.«
Jess steckte die CD in ihre Tasche zurück und holte
ihren Geldbeutel hervor. »Können wir ein bisschen spazieren gehen?«
Trotz der Hitze fröstelte sie ein wenig. »Lass mich kurz bezahlen,
dann würde ich gern ein Stück zu Fuß gehen.« Nachdenklich zog sie
mehrere Scheine aus dem Geldbeutel. »Warum sollte mich denn jemand
umbringen wollen? Hat sie das gesagt?« Sie gab dem Kellner ein
Zeichen.
»Nein.« Steph zögerte. »Sie hat auch etwas von
Liebe gesagt.«
Jess lächelte geistesabwesend. »Das gehört sich
doch so beim Kartenlegen.«
»Da hast du auch wieder Recht. Aber es stimmt doch,
dass ihr wieder zusammen seid, oder? Du und William?«
»Wie kommst du auf die Idee?«
Steph schaute auf, als der junge Kellner an den
Tisch trat. »Il conto, per favore.« Ihre Miene war besorgt.
»Weißt du, er liebt dich immer noch.« Sie wandte sich zu
Jess.
»Jetzt nicht mehr.«
»Wieso sagst du das?«
»Weil ich scheußlich zu ihm war. Weil ich ihn wegen
etwas verdächtigt habe.« Sie machte eine kurze Pause. »Es ist doch
egal, warum, Steph. Glaub mir einfach.«
»Magst du ihn noch, Jess? Wenigstens ein
bisschen?«
Sie legten etwas Trinkgeld auf den Tisch und
erhoben sich. Der Kellner, der in der Nähe herumstand, steckte es
mit einem Zwinkern in die Tasche seiner langen schwarzen Schürze,
während die beiden langsam Richtung Corso Vittorio Emanuele gingen.
Steph sah ihre Schwester von der Seite an. »Du hast mir nicht
geantwortet«, hakte sie nach. »Magst du ihn noch?«
Jess zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich
glaube nicht, dass wir je wieder zusammenkommen, wenn du das
meinst. Es ist in der Zwischenzeit einfach zu viel passiert.«
Steph schlang sich ihre Tasche über die Schulter.
Die Sonne reflektierte gleißend vom Pflaster, in der Luft über der
Kreuzung vor ihnen hingen Abgaswolken, sie konnten sich über den
Verkehrslärm kaum verständlich machen. Automatisch überquerten sie
die Straße, um in den Schatten zu kommen, und bogen in eine schmale
Gasse ab, die zur Piazza Navona führte.
»Aber du hättest nichts dagegen, ihn nochmal zu
sehen?«, fuhr Steph unbeirrt fort.
»Wahrscheinlich nicht.« Jess zögerte. »Obwohl ich
bezweifle, dass er mich sehen will.« Sie nahm die Sonnenbrille ab
und kniff die Augen zusammen. »Wieso fragst du mich das so genau,
Steph?«
»Weil er demnächst hier sein wird. Es tut mir leid.
Ich hätte vorher mit dir reden sollen. Das war blöd von mir. Aber
als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, hat er
mir gesagt, wie sehr er dich noch liebt. Na ja, so ungefähr. Und
ich dachte … Na ja, er war bei dir in Ty Bran, und als du anriefst
und sagtest, du würdest kommen, habe ich’s ihm erzählt.« Steph
seufzte bedrückt. »Ich hätte es dir gleich gestern Nacht sagen
sollen. Es war auch Kims Idee. Sie hat so viel Platz in der
Wohnung, und wir dachten, wir könnten uns ein paar schöne Tage
machen, und weil Carmella in Bezug auf dich etwas von Liebe sagte
…«
»Carmella!« Zornig drehte Jess sich zu ihr. »Wer
ist denn diese Frau, die offenbar einen so großen Einfluss auf euch
hat? Sie kennt mich doch gar nicht! Ich will nicht, dass William
herkommt! Ich bin hier, weil ich ein bisschen Ruhe und Frieden
brauche!«
»Es tut mir wirklich leid.«
Jess atmete heftig aus. »Also gut, davon geht die
Welt nicht unter. Aber ich bin nicht wieder mit ihm zusammen, und
ich will auch nicht wieder mit ihm zusammen sein. Wie du ihm das
klarmachst, ist deine Sache, Steph, aber du musst dafür sorgen,
dass er das weiß, bevor er hier auftaucht! Ich will keine peinliche
Situation erleben, weil er glaubt, ich falle vor ihm auf die Knie,
sowie er zur Tür reinkommt. Oder in sein Bett. Oder dass er sein
Gepäck zu mir ins Zimmer stellt!« Wütend setzte sie die Brille
wieder auf. »Ich bin hier, um ein paar Nachforschungen anzustellen.
Ich werde sowieso die meiste Zeit unterwegs sein.«
»Entschuldige.« Steph schüttelte wieder den Kopf.
»Es tut mir wirklich leid.« Einen Moment herrschte Stille. Sie
waren auf der Piazza angekommen und wie von selbst stehen
geblieben. In der Luft lag der Geruch der vielen Restaurants, die
den Platz säumten, darüber breitete sich das Plätschern des Wassers
von den drei großen Brunnen.
»Wann kommt er denn?«, fragte Jess nach einer
Weile.
»Heute.«
»Heute?«
Steph nickte. »Sonst könnte ich ihn ja anrufen und
sagen, dass er in London bleiben soll. Er hat sofort zugesagt. Er
meinte, ihr hättet euch gestritten, und es täte ihm leid, und er
wollte sich gern mit dir versöhnen. Entschuldige.«
»Hör auf, dich ständig zu entschuldigen!« Plötzlich
war Jess dem Weinen nahe. Alle Schwierigkeiten kehrten zurück. Der
wunderbare Moment der Ruhe und des Glücks, den sie nach dem
Aufwachen im Bett empfunden hatte, war vorbei. Das Gefühl,
hintergangen worden zu sein, schlug allerdings rasch in Wut um.
»Wie gesagt, ich werde die meiste Zeit unterwegs sein.«
»Wie willst du deine Recherchen denn anstellen,
Jess?«, fragte Steph leise. »Du sprichst doch kaum
Italienisch.«
Jess funkelte sie an. »Das schaffe ich schon. Es
gibt viele Websites. Außerdem brauche ich kein Italienisch, um mir
Ruinen anzugucken.«
William kam gegen sechs Uhr abends. Er ließ seine
Tasche im Flur auf den Boden fallen und gab Kim und Steph zur
Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Dann drehte er sich zu Jess und
lächelte.
»Wie geht’s dir?«, fragte er vorsichtig.
»Besser als beim letzten Mal, als wir uns sahen. Es
tut mir leid, wenn ich grob zu dir war.«
»Warum geht ihr beide nicht in den salotto?«
Kim wusste von Steph, dass Jess alles andere als erfreut war über
die Ankunft des neuen Gasts. Sie führte die beiden in den großen,
kühlen Empfangsraum. »Sprecht euch aus, dann kommt auf einen Drink
zu uns in die Küche.«
William schloss die Tür hinter Kim, lehnte sich
dagegen und schaute zu Jess. Ohne ein Lächeln wartete er ab, dass
sie das Wort ergriff.
»Es tut mir leid. Ich weiß, ich war gemein zu dir.«
Jess machte eine unbeholfene Geste. »Ich kann gut verstehen, wenn
du kein Wort mehr mit mir reden willst. Das war Steph und Kim nicht
klar. Es hat einen Grund gegeben, weshalb ich so scheußlich zu dir
war.« Sie bemerkte, dass er skeptisch die Stirn runzelte, und fuhr
fort: »Darf ich erklären?«
»Das solltest du wohl.« Jess wurde bewusst, dass
seine Miene sehr ernst war und er bislang keinen Schritt auf sie
zugemacht hatte.
»Als du mich in Wales besuchen kamst, dachte ich,
du hättest …« Sie wusste nicht, wie sie weiterreden sollte, und
brach ab.
»Als ich in Wales war, hast du mir lauter verrückte
Sachen an den Kopf geworfen, Jess. Du hast mich behandelt wie einen
Serienmörder!«, beendete er den Satz für sie.
Traurig schüttelte sie den Kopf und fuhr dann
zögernd fort: »Fast. Du weißt ja, ich dachte …« Wieder stockte sie.
»Ich dachte, du hättest etwas gemacht. Du wärst in meine Wohnung
eingebrochen.« Sie zwang sich, seinem Blick nicht auszuweichen.
»Ich weiß, ich habe mich getäuscht. Dafür möchte ich mich
entschuldigen. Ich möchte es wiedergutmachen.«
»Einfach so?«
»Einfach so.« Sie biss sich auf die
Unterlippe.
»Und hast du herausgefunden, wer bei dir
eingebrochen ist?« Er sah sie nach wie vor unverwandt an.
Sie schüttelte den Kopf.
»Haben sie etwas mitgenommen?«
Nur meine Selbstachtung. Meinen Seelenfrieden.
Vielleicht einen Teil meines gesunden Menschenverstands. Aber das
sagte sie alles nicht.
Als sie schwieg, fragte er: »Und warum hast du
gedacht, ich sei’s gewesen?«
»Weil …« Sie seufzte. »Weil jemand mir sagte, du
wärst es gewesen, und ich dumm genug war, der Person zu
glauben.«
»Daniel?«
»Woher weißt du das?« Jess war verblüfft.
»In letzter Zeit hat er mehrere seltsame Sachen
gesagt. Aber wenn er geglaubt hat, dass ich bei dir eingebrochen
bin, warum hat er mir dann vorgeschlagen, dich in Wales zu
besuchen?«
Jess zuckte bekümmert mit den Schultern. »Er hat
dich in eine Falle gelockt. Er wusste, dass du’s nicht gewesen
bist.«
Vor Zorn verengten sich seine Augen. »Er muss doch
gewusst haben, dass du mich rauswirfst.«
Guter Gott, sie konnte ihm doch unmöglich die
Wahrheit sagen! Dann würde er Daniel umbringen. Alle würden
erfahren, was passiert war. Und sie würde das Grauen und den
Skandal ihr Leben lang mit sich herumtragen. »Er hat jemand anderen
geschützt. William, es ist doch egal, warum …«
»Das ist alles andere als egal!« Er marschierte zum
großen runden Tisch, der in der Mitte des Raums stand, und fuhr mit
dem Finger die kunstvolle Einlegearbeit nach. Es war dämmrig in dem
Raum, das einzige Licht stammte von den wenigen Sonnenstrahlen, die
durch die geschlossenen Fensterläden hereinfielen. Und es roch nach
Bienenwachspolitur und Staub. »Und wen hat er geschützt?«
Jess spürte seine Wut, und die machte ihr Angst.
»Ash«, sagte sie schnell. »Er dachte, Ash sei bei mir eingebrochen.
Das ist er nicht«, ergänzte sie, sobald sie sah, dass Williams Mund
sich verzog. »Es war ein dummes Missverständnis. Deswegen wollte
ich dir auch erklären, weshalb ich mich dir gegenüber so gemein
benommen habe.« Bedrückt und verwirrt brach sie ab.
»Ein Missverständnis? Und warum dachte er, Ash
sei’s gewesen? Weil er ein Schwarzer ist und deswegen ein Dieb?«
Williams Wut schien mit jeder Sekunde zu wachsen.
»Nein! Nein, natürlich nicht. Daniel hat gesehen,
dass Ash mit mir nach der Schuldisco nach Hause gegangen ist, und
dann dachte er …« Sie verhaspelte sich. »Also, es war nicht Ash,
und du warst es auch nicht. Und es tut mir wirklich sehr, sehr
leid, dass ich dich verdächtigt habe.«
»Und dann hast du es so eingefädelt, dass ich nach
Rom komme, damit du dich bei mir entschuldigen kannst? Darf ich
fragen, warum du mich nicht einfach angerufen hast?«, fragte er
sarkastisch.
»Ich habe nicht gewusst, dass Kim und Steph dich
eingeladen haben. Dass du kommst, habe ich erst heute Nachmittag
erfahren.« Sie trat zu ihm. »Aber ich bin froh, dass du hier bist.
Wenigstens habe ich jetzt die Möglichkeit, mich zu entschuldigen
und dir alles zu erklären.«
»Ich sollte wahrscheinlich froh sein, dass dein
ganzer Zorn im Grunde gar nicht mir gegolten hat«, sagte William
mit einem Seufzen und schwieg dann eine Weile. »Was machst du
überhaupt hier in Rom? Ich dachte, du wolltest den ganzen Sommer in
Wales verbringen und malen.«
Jess zwang sich zu einem Lächeln. »Wenn du es
wirklich wissen willst, ich mache mich über ein Gespenst schlau.«
Sie verzog das Gesicht und hoffte, sie brächte ein entwaffnendes
Grinsen zustande. Sie konnte ihm doch unmöglich die Wahrheit
sagen.
Ich bin hier, weil ich Angst habe, dass Daniel
mich umbringt.
Ich bin auf der Flucht.
Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier machen
will oder wie lange ich bleibe oder was als Nächstes
kommt.
Momentan weiß ich nicht, ob ich mich je wieder
nach England zurücktraue!
Nein, das alles würde sie ihm nie im Leben
sagen.
Er sah ihr ins Gesicht. »Weißt du, ich verstehe
dich überhaupt nicht mehr. Ein Gespenst, was sonst? Die
natürlichste Erklärung der Welt!« Er beugte sich vor, und ehe sie
zurückweichen konnte, drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Freunde, aber mehr nicht, stimmt’s? Verstehe ich die Botschaft
richtig?«
Jess nickte wortlos.
»Na gut.« Er wandte sich ab. »Wo sind die anderen?
In der Küche?« Er ging zur Tür, doch noch während er die Hand auf
die kunstvoll geschmiedete goldene Klinke legte, drehte er sich
wieder zu ihr. »Und du weißt wirklich nicht, wer bei dir
eingebrochen ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Hast du die Polizei verständigt?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Es war zu spät. Keine Spuren mehr.«
Achselzuckend öffnete er die Tür und ging in den
Korridor hinaus.
Jess blieb reglos zurück.