Kapitel 33
Jess regte sich. Etwas berührte ihr Gesicht. Mühsam versuchte sie, die Augen zu öffnen. Über sich sah sie ein Blätterdach, das Laub bewegte sich sacht und warf einen leichten Schatten auf sie. Sie versuchte, sich zur Seite zu drehen, und schrie vor Schmerz auf. Jeder Knochen tat ihr weh. Sie biss die Zähne zusammen und blieb einen Moment ruhig liegen, bevor sie es noch einmal versuchte. Sie war schweißüberströmt, doch wenige Sekunden später fröstelte sie. Das Sonnenlicht spielte auf ihrem Gesicht. Wieder versuchte sie, klar zu sehen. Jemand stand über ihr und schaute auf sie herab. Sie kniff die Augen zusammen, um ihn besser erkennen zu können. »Hilf mir.« Ihr Flüstern war zu leise, um verständlich zu sein.
Da war sie wieder, die leichte Berührung im Gesicht. Was immer es war, sie spürte, wie es über ihre Wange zu ihrem Hals wanderte. Kalt. Scharf. Die Spitze eines Schwerts. Er hielt es ihr an die Kehle. Jetzt zitterte sie heftig, schaute flehentlich in sein Gesicht. Sie sah, wie er kalt auf sie herablächelte. Seine Augen waren hart wie Feuersteine, sein Kopf hob sich als Silhouette vor den schimmernden Blättern ab.
Etwas tropfte auf ihr Gesicht. Sie zuckte zusammen. Es war Blut. Sie sah es die breite, flache Schneide hinabrinnen. »Bitte hilf mir.« Sie spürte, dass die Worte an ihrer Zunge klebten, sie fast erstickten. Kein Laut kam über ihre Lippen.
»Jess!« Jemand rief aus der Ferne nach ihr. »Jess, wo bist du?«
»Ich bin hier!«, wollte sie antworten, aber wieder war kein Laut zu hören. Zu hören war nur das leise Gurren einer Taube hoch oben im Baum.
Die Lederriemen an seiner Tunika ächzten ein wenig, als er sich bewegte. Sie sah, dass seine Finger das Schwert fester umfassten und die Knöchel weiß wurden.
»Titus«, flüsterte sie. »Bitte tu mir nicht weh.« Jetzt schluchzte sie lautlos, Tränen rannen ihr über die Wangen ins Moos, auf dem sie lag. »Wo ist Daniel? Bitte sorge dafür, dass er mich nicht findet.«
Er sagte nichts.
Dann hörte sie aus der Nähe das tiefe, bedrohliche Knurren eines Hundes. Sie versuchte, den Kopf zu drehen, um etwas zu sehen. Ein schwarzer Schatten war bei ihr. »Hugo?«, flüsterte sie fast lautlos. »Hilf mir.«
Das Knurren wurde lauter. Titus drehte sich halb zu dem Tier um. Sie schloss die Augen und hielt die Luft an. Als sie sie wieder öffnete, war Titus fort.
»Hugo? Hilf mir.« Sie versuchte, eine Hand auszustrecken, fühlte einen Moment Wärme auf ihrer Haut, die Zunge eines Hundes. Dann war auch das fort.
Aus der Ferne hörte sie wieder die Stimme, die nach ihr rief. Dieses Mal war sie weiter weg. Sie versuchte, ihre Position zu verändern, damit ihr nicht alles so wehtat, und zögernd, als spräche sie eine Sprache, die sie kaum beherrschte, begann sie zu beten. Es kostete sie zu viel Mühe. Langsam schlossen sich ihre Augenlider wieder, sie glitt in die warme Dunkelheit, in der es weder Angst noch Schmerz gab.
Als die Sonne aus dem Meer hinter ihnen aufstieg, fuhr das Boot auf weichen Sand, und die beiden Männer sprangen hinaus. Commios folgte ihnen und machte sich sofort daran, ihr Gepäck auf den Strand zu werfen.
»Habt Dank, meine Freunde.« Er streckte Eigon eine Hand hin, damit sie auf den Rand des Boots treten konnte, und von dort hob er sie auf den Sand. Ihrer Erschöpfung zum Trotz lächelte sie, die Überfahrt hatte ihr neue Kraft verliehen. Commios konnte nicht anders, er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ehe sie darauf reagieren konnte, hatte er sich wieder zum Boot umgedreht. »Drusilla?« Er grinste. Sie kauerte ächzend und stöhnend ganz unten im Boot, halb verborgen von dem Segel, das die Männer eingeholt hatten, als sie mit der Flut an Land trieben. »Wir sind da. Komm, raus mit dir! Das Segeln hat ein Ende!«
Irgendwie gelang es ihr, sich aufzusetzen, und zitternd vor Mattigkeit stand sie schließlich auf den Beinen. Commios schwang sie an den Strand, wo sie in sich zusammensackte, die Hände ächzend über den Bauch gelegt.
»Hoffentlich wollt ihr nicht so bald wieder zurück!« Einer der Seemänner beobachtete sie belustigt. »Die Dame taugt nicht für die Seefahrt!«
Commios lachte. »Gleich wird es ihr besser gehen! Gott segne euch, meine Freunde.« Die Überfahrt war bereits bezahlt, doch er holte eine weitere Münze aus der Börse und warf sie ihnen zu. Die beiden Seeleute schoben das Boot bereits wieder ins tiefere Wasser. »Sichere Rückfahrt!« Das Licht der aufgehenden Sonne fiel in einem schimmernden roten Strahl über das Wasser und glänzte im Dunst. Sie verfolgten, wie die Männer das Segel setzten und im sich drehenden Wind die Küste hinuntersteuerten. Innerhalb kürzester Zeit waren sie im Dunst verschwunden.
»Gut!« Commios sah sich um. »Und wohin gehen wir jetzt?« Fragend schaute er zu Eigon.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht mehr als du! Vielleicht sollten wir uns zu einer Stadt durchschlagen, wo wir eine Unterkunft finden. Dann fangen wir an.«
»Womit fangen wir an?« Fröstelnd strich sich Drusilla das zerzauste Haar aus dem Gesicht. Die Verheißung des Sonnenaufgangs verschwand bereits, es sollte ein grauer Tag werden. Der Wind wehte kalt. Bis sie sich so weit gesammelt hatten, um von der Küste fort auf das Strauchwerk zuzusteuern, das auf den niedrigen Klippen vor ihnen wuchs, froren sie alle.
»Mit unserer Mission.« Eigon versuchte zu lächeln. So lange waren sie mittlerweile unterwegs nach Britannien, und jetzt, wo sie ihr Ziel endlich erreicht hatten, wussten sie nicht recht, was sie tun sollten. Sie wussten nicht einmal, in welchem Teil Britanniens sie gelandet waren.
»Wenn wir ein normales Frachtboot genommen hätten, hätten wir wenigstens in einem Hafen angelegt«, sagte Drusilla scharf.
»Und Titus hätte uns auf dem nächsten Boot folgen können«, tadelte Commios sie sanft. »Irgendein Ort muss doch in der Nähe sein.« Er grinste. »Beten wir doch um Führung.«
Oben entlang der Klippen verlief ein Pfad. Dem folgten sie eine Weile in zunehmend gedrückter Stimmung, denn es wurde stetig kälter und windiger. Gerade hatten sie beschlossen, ein geschütztes Plätzchen zu finden und ein Feuer zu entzünden, als Commios lauschend stehen blieb.
»Da hat jemand unsere Ankunft vorausgesehen. Riecht ihr das Feuer?«
»Ich rieche Essen!« Eigon lächelte ermutigend. »Hoffen wir, dass die Einheimischen freundlich sind!« Sie wollte schon weitergehen, als Commios sie zurückhielt.
»Ich finde, bis wir wissen, wie freundlich sie wirklich sind, sollten wir verschweigen, wer du bist, Eigon, und was wir hier tun. Meint ihr nicht auch?«
Eigon nickte. Beide blickten zu Drusilla, die lediglich mit den Achseln zuckte. »Schaut mich nicht so an. Ich bin wohl kaum diejenige, die mit irgendetwas herausplatzen wird!« Sie zog den Umhang fester um sich.
Gleich um die nächste Biegung stießen sie auf eine kleine Köhlersiedlung. Zu ihrer Überraschung wurden sie aufs Herzlichste willkommen geheißen. Im Kessel, der über dem Feuer hing, köchelte ein würziger Haseneintopf, der mit getrockneten Erbsen zubereitet und mit wildem Knoblauch gewürzt war, im Lehmofen lagen Brotlaibe und Bohnenkuchen bereit, und zu trinken gab es Krüge voll Dünnbier. Die kleine Siedlung bestand neben dem Familienvorstand noch aus seiner Frau, ihren drei Kindern und zwei seiner Brüder. Die Männer hielten sich scheu im Hintergrund, aber die Frau und die Kinder waren neugierig und unterhielten sich munter mit den Gästen. Als sie hörten, dass sie das Meer in einem kleinen Fischerboot überquert hatten, waren sie wie vom Donner gerührt. Sie erklärten, sie gehörten zum Stamm der Cantiacer und hätten die römische Siedlung Durovernum Cantiacorum besucht. Dort, so sagten sie, gäbe es viele Menschen und Häuser, Kaufleute und Geschäfte und Tempel sowie ein Freilichttheater. Es sei eine sehr große, prächtige Stadt. Die, so meinten sie, sollten ihre Gäste als Nächstes aufsuchen und dann der Straße nach Londinium folgen.
Sie verbrachten die Nacht in einer Köhlerhütte, und am nächsten Tag brachen sie erholt nach Durovernum auf.
Sie hatten eine große Handelsstadt wie Massilia erwartet, doch dieser Ort war weit kleiner. Zwar gab es schöne Häuser und, wie ihnen gesagt worden war, auch Geschäfte und Tempel, aber die Stadt ließ sich innerhalb kürzester Zeit durchqueren. Sie nahmen sich Zimmer in einem Privathaus in der Nähe der äußeren Befestigungsmauer. Es war sauber und ordentlich und gehörte der Witwe eines Offiziers der vierzehnten Legion. Octavia Candida war eine kräftig gebaute Frau mit ausgeblichenem blondem Haar und hellblauen Augen, die ihre britannische Herkunft verrieten. Als ihre Sklaven die Abendmahlzeit auftrugen, fragte sie ihre Gäste nach ihren Reisen aus und erkundigte sich, wo sie überall gewesen seien. Als sie erfuhr, dass sie aus Rom stammten, riss sie die Augen auf. »Ist es wirklich so schön, wie es heißt? Ich bin nie weiter gekommen als bis Verulamium. Ursprünglich bin ich eine Catuvellauna. Ihr habt wahrscheinlich schon vermutet, dass ich britannisch bin. Mein Gemahl und ich kamen hierher, als er sich aus der Legion zurückzog.«
Eigon schnappte bei dem Namen leise nach Luft, aber Commios warf ihr einen warnenden Blick zu. »Und, Herrin, wie ist das Leben in Britannien?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nach dem Aufstand war es nicht leicht. Fast alles war verwüstet. Ihr wisst sicher, dass Verulamium abgebrannt wurde, von Boudicca. Meine ganze Verwandtschaft, die dort lebte, wurde von ihren Anhängern ermordet. Sie konnte denen, die sich für die Herrschaft der Römer aussprachen, nicht vergeben.« Sie seufzte. »Selbst hier gab es Aufstände und Kämpfe, weil einige britannische Stammesleute sie unterstützten. Aber zumindest wurde Durovernum nicht abgebrannt. Ihr werdet sehen, es wird sehr viel gebaut. Die Stadt wird immer wohlhabender. Momentan errichten sie ein neues öffentliches Bad und einen weiteren Tempel.« Sie warf der jungen Sklavin, die die Schalen mit Speisen auf den Tisch stellte, ein Lächeln zu. »Wohin wollt Ihr?«
»Silurien.« Eigon antwortete, ohne nachzudenken.
Octavias Augen wurden kugelrund vor Staunen. »Das ist ein weiter Weg.«
Eigon nickte und hob, als Commios sie unterbrechen wollte, warnend die Augenbrauen. »Meine Familie kam von dort. Ich möchte sehen, wie es jetzt dort ist.« Sie lächelte verbindlich.
Octavia machte eine ausweichende Geste. »Ich weiß, in Isca Silurum gibt es eine Festung. Dort war mein Gemahl vor der Schlacht gegen Caratacus stationiert, in der Zeit, als sie die Silurer zu unterwerfen versuchten, und dann wieder, nachdem sie ihn besiegt hatten. Soweit ich weiß, ist es ein kriegerisches, schreckenerregendes Volk. Sie machen den Behörden immer noch sehr zu schaffen.« Sie unterbrach sich, ihr wurde bewusst, wie taktlos diese Bemerkung gewesen war. »Entschuldigt. Wenn das Euer Stamm ist, meine Liebe, dann verzeiht. Manchmal ist es schwer, nicht das Falsche zu sagen.«
Eigon lächelte. »Das kann ich verstehen. Wir haben ganz Gallien durchquert, und dort ist die Situation sehr ähnlich. Römische Familien haben uns ebenso gastfreundlich aufgenommen wie Einheimische, beide waren hilfsbereit, aber sie misstrauen einander.«
Octavia nickte. »Hier ist es besser. Da wir an der Hauptstraße von Rutupiae nach Londinium liegen, kommen ständig Reisende aus den abgelegensten Winkeln des Reichs durch die Stadt. Das ist auch der Grund, weswegen ich beschlossen habe, Gäste aufzunehmen. Es ist interessant und«, ergänzte sie ohne einen Anflug von Verlegenheit, »es vergrößert die Pension meines Gemahls. Erst vor drei Tagen hatte ich eine kleine Reisegruppe aus Rom zu Gast.« Zum ersten Mal zögerte sie und schien ihre Worte sorgsam zu wählen. »Seit diesem entsetzlichen Feuer sind die Zustände in Rom offenbar ziemlich schwierig geworden. Ihr wisst davon?«
Sie nickten. Commios griff nach einem weiteren Stück Brot. »Wir waren dabei. Es war entsetzlich.«
»Nach allem, was ich höre, machen sie dafür eine Sekte verantwortlich, die einem Mann namens Jesus Christus folgt.« Octavia griff nach dem Weinkrug und schenkte ihnen allen nach. »Nero rächt sich grausam an allen, die er zu fassen bekommt. Es kommt mir merkwürdig vor, dass einem Menschen, der sich Gott der Liebe nennt, derart viel Schuld aufgeladen wird.« Sie schüttelte den Kopf. Da sie gerade den Krug beiseitestellte, bemerkte sie nicht, wie ihre Gäste beklommene Blicke tauschten. »Ich habe gehört, dass ihr Anführer gekreuzigt wurde, genau wie ihr Gott Jesus.«
»Ihr Anführer?« Es war Drusilla, die mit dieser Frage herausplatzte. Jetzt schließlich schaute Octavia auf und bemerkte ihren besorgten Gesichtsausdruck. »Oh, meine Lieben, sagt mir nicht, dass Ihr Anhänger dieses Christus seid? Es tut mir leid, ich habe unbedacht gesprochen.«
»Kennt Ihr den Namen des Anführers? Wer war es?«
»Ein Mann namens Petrus. Der Fels, so sagten sie. Offenbar war er schon ein alter Mann.« Sie seufzte. »Nero hat wirklich schon viel Schreckliches getan, aber das …« Sie machte eine kurze Pause. »Sie haben gesagt, dass er kopfüber gekreuzigt wurde, in Neros Zirkus. Ihr wisst vermutlich, wo der ist?«
Commios nickte. Ihm war flau geworden. »Den besucht Nero, um sich zu amüsieren.« Bitterer Sarkasmus schwang in seiner Stimme mit. Einen Moment herrschte Stille. Drusilla und Eigon hielten sich an der Hand und kämpften gegen die Tränen an.
Octavia sah voll Mitgefühl zwischen ihnen hin und her. »Ihr kanntet ihn? Aber natürlich. Verzeiht, dass ich Euch derart schreckliche Nachrichten überbringen muss.« Sie stand auf. »Ich lasse Euch eine Weile allein«, flüsterte sie. »Sicher wollt Ihr für ihn beten.«
Commios schaute fragend auf. »Ihr hattet schon Christen hier, Herrin?«
Sie lächelte. »Natürlich. Wie ich schon sagte, nach Durovernum kommen Menschen aus aller Herren Länder. Und alle sind in diesem Haus willkommen.«
»Ich kann es nicht glauben!« Sobald sich die Tür hinter ihrer Gastgeberin geschlossen hatte, hieb Commios mit der Faust auf den Tisch. »Wie kann er gefasst worden sein? Hat jemand ihn verraten?« Jetzt standen auch ihm Tränen in den Augen. »Ist denn niemand vor Nero sicher?«
»Vielleicht hat er es gewusst«, sagte Eigon traurig. »Vielleicht ist das der Grund, weshalb er uns fortgeschickt hat. Und andere. Wenn hier in diesem Land noch mehr Christen sind, hat vielleicht er sie hierhergeschickt, oder Paulus.« Sie versuchte zu lächeln. »Zumindest ist er jetzt bei unserem Herrn, und ich glaube, dass er in diesem Moment über uns wacht.«
Nervös schaute Drusilla zur Decke. »Denkst du das auch?« Sie warf einen Blick zu Commios und errötete. »Glaubst du, dass er unsere Gedanken lesen kann?«
»Wenn«, antwortete er streng, »dann weiß er auch, dass wir gleich gemeinsam für seine Seele beten und dass wir unserer Pflicht nachkommen werden, das Wort zu verbreiten.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Die Aufgabe haben wir bis jetzt sträflich vernachlässigt.«
»Erst mussten wir überhaupt nach Britannien gelangen«, widersprach Eigon scharf. »Es wäre sinnlos gewesen, unterwegs überall zu erzählen, wer wir sind, und bei unserem ersten oder zweiten Halt gefasst zu werden. Wir mussten Titus überlisten.« Sie schauderte. »Glaubst du, er folgt uns übers Meer?«
Commios nickte matt. »Ja, ich glaube schon. Deshalb denke ich, dass wir morgen wieder aufbrechen sollten. Diese Stadt ist offenbar die erste Station für alle, die mit dem Schiff aus Gallien angekommen sind. Wir müssen uns eine Route suchen, die abseits der Hauptstraßen verläuft, damit er uns endgültig in Ruhe lässt. Ich bin es leid, ständig vor dem Mann auf der Flucht zu sein!« Wieder hieb er mit der Faust auf den Tisch, dann schaute er zu den beiden Frauen. »So, und jetzt lasst uns für Petrus und unsere Freunde in Rom beten.«
Sie senkten die Köpfe.
Während sie beteten, ritt ein Mann erschöpft zum Stadttor herein. Sein Pferd war verstaubt, seine Uniform mit Schlamm und Salzwasser bespritzt. Beim ersten Gasthof saß er ab und bedeutete einem dort stehenden Jungen, sein Pferd zu nehmen. »Mein Junge, hast du Freunde?«
Der Junge schaute ihn ausdruckslos an, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. »Wenn du Freunde hast und wenn sie sich ein bisschen Geld verdienen wollen, dann sollen sie zu mir kommen, sobald mein Pferd Wasser und etwas zu fressen bekommen hat. Ich habe eine Aufgabe für euch.«
Das hatte in jeder Stadt funktioniert, die er in Gallien betreten hatte. Erkundigungen in jeder Taverne, jedem Tempel, jeder jüdischen Siedlung, jedem Haus, das jemals Gäste aufgenommen hatte. Bei jeder Kreuzung, an jeder Fähre. Die Leute erinnerten sich an Fremde, selbst in einer Stadt, die an Durchreisende gewöhnt war. Und ein Mann, der in Begleitung zweier Frauen reiste, fiel ohnehin auf. Er lächelte düster. Die ganze Zeit war er ihnen näher gekommen, und jetzt war er ihnen so nahe, dass er es in den Fingerspitzen prickeln spürte. Er lächelte in sich hinein. Vielleicht war es an der Zeit, zu handeln. Und er würde mit Commios anfangen, das gebot allein schon die Notwendigkeit. Ohne sich der Geste bewusst zu sein, griff er nach seinem Schwert und lockerte es ein wenig in der Scheide.
 
Rhodri schaute über die sanfte Hügellandschaft zum Farmhaus seiner Eltern, das gerade unterhalb seines Blickfelds im nächsten Tal lag. Hinter den Hügeln türmten sich dunkle Wolken auf. In der Ferne grollte Donner, wenig später zuckte ein Blitz über den Himmel. Wo war sie? Wenn Daniel sie zu fassen gekriegt hatte, konnte er nicht weit mit ihr gekommen sein, es sei denn, er hatte sie irgendwie in sein Auto geschafft. Aber auf dem Feldweg waren keine Spuren eines fremden Wagens zu sehen gewesen. Hier kam niemand zufällig vorbei; die einzigen Reifenabdrücke waren die seines eigenen Wagens und eines Traktors sowie die ganz frischen Spuren vom Range Rover der Polizei und dem Auto seiner Mutter. Alle früheren Spuren hatte der Regen der vergangenen Tage ausgelöscht. Wenn Daniel innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden hergefahren wäre, dann hätte er Spuren hinterlassen. Rhodri seufzte.
Was, wenn es nicht Daniel war? Was, wenn sie in die völlig falsche Richtung dachten? Vielleicht war sie auf einem steilen Berghang abgestürzt? Hatte sich verletzt? Oder vielleicht streifte auch Titus zwischen den Bäumen umher?
Er atmete tief durch. Ein so großes Gebiet ließ sich nur mit Hunden absuchen. Nach Ansicht der Polizei war es noch zu früh, um Spürhunde einzusetzen, aber er, Rhodri, konnte ja die Hunde von der Farm herbringen. Er fischte sein Handy aus der Tasche. Wenn es etwas zu finden gab, würden sie es aufspüren. Und während er wartete, dass seine Mutter die Hunde herbrachte, würde er weitersuchen. Er holte tief Luft. Das Gefühl von Verlust schmerzte ihn beinahe körperlich. Wenn er je gezweifelt hatte, jetzt wusste er es: Er hatte sich in sie verliebt.
»Jess?« Seine Stimme hallte verloren über den Berg. »Jess, meine Schöne, bist du da? Jess …«
 
»Das ist Rhodri, der da ruft.« Steph und Aurelia standen im Hof, als Megan losfuhr, um die Hunde zu holen.
»Er ist am Boden zerstört«, sagte Aurelia nachdenklich. »Mittlerweile sollte er eigentlich schon wieder in London sein. In ein paar Wochen singt er bei den Proms, und er sagte, er müsse an dem Stück noch viel arbeiten, aber solange hier alles unklar ist, will er auf keinen Fall fahren. Hast du gewusst, dass Jess ihm so viel bedeutet?«
Verwundert schüttelte Steph den Kopf. »Wie’s aussieht, hat er sich wirklich in sie verknallt. Weiß Gott, warum!«
»Geht es Jess genauso?«
Steph überlegte kurz, dann nickte sie. »Ich denke schon. Ich glaube, sie mochte William immer noch gern, aber mehr auch nicht. Er hatte sie so verletzt, dass sie ihm wohl nie wieder vertraut hätte. Der arme William.« Sie seufzte.
Komm und finde mich! Wo bist du?
Die Stimme eines Kindes trieb aus der Ferne zu ihnen herüber. Aurelia wurde blass. »Hast du das gehört?«
Steph nickte.
»Ist das dein Gespenst?«
»Ich glaube schon. Hier in den Wäldern laufen keine Kinder herum.«
Als in der Ferne Donner grollte, schauten sie beide auf.
»Und die arme kleine Seele, die da oben liegt«, sagte Aurelia leise. »Ich kann es gar nicht fassen.« Schaudernd schlang sie die Arme um sich. »Aber sie sprechen unsere Sprache?«
Steph zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, weil wir zuhören. Filtern wir das nicht durch unser Gehirn oder etwas in der Art? Sonst würden wir sie ja nicht verstehen.«
»Ich hoffe, dass Meryn sich bald meldet. Er weiß bestimmt, was wir tun sollen. Wegen des Kindes und wegen Titus. Und wahrscheinlich weiß er auch, was wir wegen Daniel unternehmen sollen.« Aurelia schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, Rhodri wäre zurück. Ich fühle mich hier mit dir allein sehr angreifbar.« Schaudernd sah sie sich um. »Das Haus ist wirklich abgelegen, Steph. Ich kann gar nicht verstehen, dass du ganz allein hier leben magst.«
Steph lächelte spöttisch. »Und das muss ich mir von einer Frau sagen lassen, die tollkühn unerforschte Wüsten durchquert und in der Einsamkeit der Pyrenäen lebt, kilometerweit von jeder menschlichen Ansiedlung entfernt, und die früher einmal selbst hier gewohnt hat!«
»In meinen Bergen spuken keine Gespenster«, sagte Aurelia spitz.
»Ich wette, schon!«
»Na ja, wenn doch, dann machen sie sich nicht die Mühe, mich heimzusuchen.« Sie fröstelte wieder.
In der Küche läutete das Telefon. Steph lief ins Haus, Aurelia folgte ihr etwas langsamer.
Steph reichte ihr den Hörer. »Dein Freund Meryn.«
Mit einem Lächeln legte Aurelia am Ende des Gesprächs den Hörer auf. Meryn hatte ihr zugehört, einige Fragen gestellt und dann vorgeschlagen, dass er sofort von Schottland herunterkam.
»Er wird im Lauf des Abends hier sein. Ich glaube, er hat sich gefreut, einen Grund zu haben, wieder hierherzukommen.«
Steph hob die Augenbrauen. »Ich vermute, es ist sinnlos, dich nach ihm zu fragen?«
Aurelia nickte. »Wenn du meinst, seinet- und meinetwegen - ich habe dir ja gesagt, da gibt es nichts zu erzählen. Worauf es ankommt, ist, dass er sich sein Leben lang mit schrägen Sachen beschäftigt hat und uns jetzt helfen kann.«
Steph setzte sich an den Küchentisch und stützte das Kinn auf die Hände. »Was Schrägeres als diese Sache gibt’s vermutlich nicht! Ich hoffe wirklich, dass er uns helfen kann.« Sie blinzelte heftig, um nicht in Tränen auszubrechen. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist.« Sie griff nach den Händen ihrer Mutter und drückte sie fest.
Wenige Minuten später kam Megan zurück, parkte ihren uralten Landrover im Hof und stieg aus, während die beiden Hunde von der Ladefläche sprangen. »Wo ist Rhodri?«
»Er ist noch nicht zurück.« Steph hatte ihre Wanderstiefel angezogen und hielt einen Stock in der Hand. »Mummy macht hier Telefondienst. Ich dachte, ich gehe mit dir den Berg hinauf. Die Hunde werden doch zumindest Rhodri finden, oder? Dann können wir drei uns aufteilen.«
Rhodri saß auf einem Baumstumpf in einer Lichtung rund zwei Kilometer vom Gipfel entfernt. Er war einem kaum sichtbaren Pfad durchs Gebüsch gefolgt, ohne sich groß zu überlegen, wohin er führen könnte. Vom vielen Rufen war er heiser geworden, und er war erschöpft. Als die Hunde schwanzwedelnd zu ihm liefen, schaute er auf. Seine Augen waren rot und verquollen.
»Ich habe einen Schal von Jess mitgebracht.« Steph suchte in ihrer Tasche. »Damit die Hunde daran schnüffeln können.«
Rhodri lächelte. »Sie sind nicht dafür ausgebildet, Fährte aufzunehmen, Steph. Nur fürs Schafehüten. Am besten sagen wir ihnen einfach, dass sie Jess suchen sollen. Wahrscheinlich haben sie keine Ahnung, wonach sie suchen, aber sie werden wie wild herumsausen und anschlagen, wenn sie etwas finden, was immer es sein mag.« Er warf einen kurzen Blick zu seiner Mutter. »Dad wollte nicht mitkommen?« Es begann zu regnen. Rhodri wischte sich die Tropfen aus dem Gesicht.
Sie schüttelte den Kopf. »Er war gar nicht da. Ich glaube, er ist heute früh zum Markt gefahren. Das macht nichts. Ich schicke sie los. Wir können doch genauso gut hier anfangen, oder?« Sie drehte sich um und rief nach den Hunden. Auf ihren Befehl hin schnüffelten sie beide interessiert an Jess’ Schal und wedelten mit dem Schwanz, dann schickte Megan sie los. Sie rasten davon, und wenige Sekunden später waren sie außer Sichtweite verschwunden. Ein Donnerschlag hallte um den Berg.
Sie suchten den ganzen Bergrücken ab, aber ohne Erfolg. Gegen vier Uhr prasselte der Regen herab, und alle waren zu erschöpft, um die Suche noch fortzusetzen. Bedrückt gingen sie nach Ty Bran zurück, ließen sich um den Küchentisch auf die Stühle fallen und sahen den Hunden zu, die gierig aus der großen Wasserschüssel tranken, die Aurelia ihnen hinstellte.
»Die Polizei hat angerufen.« Aurelia schaute zu Rhodri. »Sobald das Gewitter vorbei ist, schicken sie einen Hubschrauber her.« Sie bemühte sich, ruhig zu klingen. »Esst doch wenigstens ein bisschen. Essen hält Leib und Seele zusammen! Ihr schaut alle völlig erledigt aus.«
»Hat man etwas von Daniel gehört?« Rhodri strich sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht. Auf der Stirn hatte er einen langen blutigen Kratzer.
Aurelia schüttelte den Kopf. »Sie suchen noch nach ihm.«
»Wir müssen doch etwas unternehmen können. Ich ruf nochmal an.« Müde ging Rhodri zum Telefon.
Als er sich wieder zu ihnen umdrehte, sah er sehr bedrückt aus. »Sie haben Daniels Wagen gefunden. Angeblich wollten sie uns gerade Bescheid geben. Wahrscheinlich nächstes Jahr! Er stand abgeschlossen in Newtown auf dem Parkplatz im Stadtzentrum. Und von ihm fehlt jede Spur.«
»Das heißt, er ist auf dem Weg hierher.«
Rhodri zuckte mit den Schultern. »Sie sagen, die Spurensicherung arbeitet daran.« Er machte eine kurze Pause. »Vielleicht ist er ja doch noch nicht hier.« Die Hoffnung, die in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.
»Das heißt, womöglich hat es gar nichts mit ihm zu tun, dass Jess verschwunden ist.« Aurelia starrte mit sorgenvoller Miene zum Fenster hinaus. Der Regen strömte an den Scheiben herab, ein Blitz zuckte über den Hof, ein weiterer Donnerschlag ließ das ganze Haus erzittern.
»Oder er war hier und ist schon wieder fort, bevor wir überhaupt gemerkt haben, dass Jess nicht da ist.« Rhodri ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. »Das ist alles meine Schuld. Hätte ich bloß auf sie gewartet!«
Megan streichelte seine Hand. »Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Das lenkt dich nur ab. Wir finden sie schon.«
 
Meryn war ziemlich erschöpft, als er schließlich in Ty Bran in den Hof fuhr. Megan und die Hunde waren schon längst zur Farm zurückgekehrt, aber Rhodri war noch da. Er weigerte sich zu gehen.
Meryn war ein großer, distinguierter Mann, dessen hageres, wettergegerbtes Gesicht durch die graue, nach hinten gekämmte Haarmähne noch betont wurde. Er holte zwei Taschen aus dem Kofferraum und ging durch den Regen zum Haus. Die kleinere der beiden Taschen enthielt seine Zahnbürste, einen Rasierapparat und frische Wäsche, die größere die Gegenstände, die er in seiner professionellen Eigenschaft als Wanderer zwischen den Welten vielleicht brauchen würde. In der verblichenen Jeans und dem offenen Hemd sah er eher wie ein pensionierter Lehrer aus als wie der ehrwürdige Druide, den Steph und Rhodri erwartet hatten. Er begrüßte Aurelia mit einem Kuss auf die Wange, gab den anderen die Hand und folgte ihnen in die Küche.
Schon spürte er die Energien, die durch das Gebäude wirbelten. Einige stammten aus der Gegenwart, aber andere, weit interessantere, kamen aus der fernen Vergangenheit.
Aurelia hatte versucht, sich mit Kochen von ihren Sorgen abzulenken, und so duftete es im ganzen Haus köstlich nach einem Eintopf.
»Du musst nach der langen Fahrt doch Hunger haben«, sagte sie und reichte Meryn ein Glas Wein. »Und beim Essen können wir dir alles erzählen.«
Steph übernahm das Reden. Ab und zu warf sie hilfesuchend einen Blick zu Rhodri, aber der stocherte nur betrübt in seinem Essen herum. Sie sah, dass auch Meryn ihn beobachtete, doch die meiste Zeit waren sein nachdenklicher Blick und seine Aufmerksamkeit ganz auf sie gerichtet.
Als sie schließlich geendet hatte, herrschte lange Zeit Stille. Schließlich schob Rhodri den Teller von sich und fragte: »Glauben Sie, dass Sie Jess helfen können?«
Meryn nickte. »Das hoffe ich doch. Aber bis ich hier ein bisschen herumgegangen bin und mir einen Eindruck verschafft habe, kann ich Ihnen wenig sagen.« Er warf einen Blick zu Aurelia. »Dieses Essen war ein Fest für die Sinne, meine Liebe.« Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Wenn ich darf, würde ich mir jetzt gern allein das Haus anschauen und auch die Außengebäude. Danach gehe ich vielleicht den Berg hinauf, den Weg, von dem ihr gesprochen habt. Ich gebe euch den Rat, euch währenddessen ein bisschen Ruhe zu gönnen. Macht was anderes, trinkt eine Tasse Tee.«
»Darf ich nicht mitkommen?« Beklommen sah Steph zu ihm.
Er schüttelte den Kopf. »In diesem Stadium wäre es mir lieber, Sie blieben hier. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich besser höre und sehe, wenn ich allein bin. Aber ich melde mich, sobald ich Ihre Unterstützung brauche. Wenn ich die Situation richtig deute, dann stehen Eigon und Titus im Zentrum dieses ganzen Chaos. Jess und Daniel sind bloß hineingezogen worden und werden von den beiden mal mehr, mal weniger in ihrem endlosen Kampf benutzt. Ich hoffe, wir finden sie bald. Vermutlich kann Eigon uns dabei helfen. Ich muss Kontakt zu ihr aufnehmen, und das kann ich am besten allein.« Er warf einen Blick zu Rhodri. »Dafür verwende ich Schamanentechniken. Später brauche ich vielleicht Ihre Hilfe.«
Rhodri hob fragend die Augenbrauen und zuckte dann mit den Schultern. »Ich tue, was immer ich kann.«
»Das glaube ich.« Mit der Andeutung eines Lächelns senkte Meryn den Kopf.
»Darf ich Ihnen zumindest mein Atelier zeigen?« Steph erhob sich rasch. »Laut Jess hat alles dort angefangen.«
 
Eine ganze Weile stand Meryn nur da, die Daumen in den Gürtel seiner Jeans gesteckt, und lauschte der Stille. Das Gewitter hatte sich verzogen. Er hörte es weit im Osten noch leise grollen, aber hier hatte es sich ausgetobt. Der Regen ließ nach. Irgendwo im Hof gurgelte Wasser die Rinne hinab, gelegentlich platschten ein paar Tropfen aufs Dach, aber sonst war es sehr still. Die Atmosphäre in diesem großen Raum wurde vom Ton merkwürdig gedämpft, das fand er spannend. In einem Atelier hatte er noch nie gearbeitet. Die Mischung der irdenen Materialien und der angeregten Kreativität legte sich wie ein Schleier um die Botschaften, die er aus der Umgebung empfing. Langsam ging er umher, betrachtete die Töpfe und Skulpturen, die auf den Regalen standen, den großen Brennofen, den staubigen Tisch, die Säcke und Beutel mit den Rohstoffen, die Dosen und Flaschen mit Pigmenten und Lasur. Langsam tastete er sich seinen Weg durch die Schichten vor. Früher war das Atelier ein Viehstall gewesen, ein Lagerraum für Gegenstände, aber auch für Tiere. Menschen hatten hier Unterschlupf gefunden ebenso wie Schafe. Lange Zeitabschnitte waren verstrichen, in denen der Bau überhaupt nicht benutzt worden war. Bäume hatten hier gestanden, hatten die Steine der Mauern umschlossen. Sie waren alt und morsch geworden und schließlich umgestürzt. Andere waren gefällt worden. Holunderbäume waren ohne jeden Gedanken an ihre Heiligkeit gerodet, ihre Wurzeln schreiend aus der Erde gerissen worden. Vor einer Wand hatten Schieferhaufen gestanden, die von Moos überwuchert wurden, so dass sie wieder zu einem Felsgestein zusammenwuchsen, aus dem sie dereinst abgebaut worden waren. Die Haufen waren entfernt worden, Handwerker waren gekommen und hatten die Mauer verputzt. Meryn lächelte in sich hinein. Deren Gedanken und Ängste und Scherze waren ebenso im Echo des Gebäudes aufgezeichnet wie das Zögern der gegenwärtigen Besitzerin bei ihrem kreativen Prozess. Vielleicht konnte er ihr helfen zu erkennen, welche Richtung sie einschlagen sollte. Ihr Talent verpuffte, ihr fehlte das Selbstvertrauen, es weiterzuentwickeln.
Er schüttelte den Kopf. Er musste das alles überwinden, musste weiter zurückgehen, die Jahre hinab in die Dunkelheit.
Jetzt sah er es. Der Bau war wieder ein Stall, die Mauern waren halb eingestürzt, nur ein baufälliges Dach schützte es vor dem Schnee des Winters. Aber hier war eine Gruppe Männer, ihre Begierde blitzte wie ein blutroter Schnitt durch die Dunkelheit der Nacht. Sie hatten in der blutigen Schlacht, an der sie teilgenommen hatten, jede Selbstbeherrschung hinter sich gelassen. Ihr Denken war ausgeschaltet, sie folgten keiner Vernunft mehr. Ihr Anführer war Titus Marcus Olivinus. Wohin er ihnen auch voranging, sie folgten ihm.
Meryn beobachtete sie, ein Schatten aus der Zukunft, als die Männer immer und immer wieder in die schreienden, hilflosen Frauen stießen. Er sah, wie das Kind herbeigezerrt wurde, er sah, wie die anderen zögerten, aber Titus, dessen Augen vom Blutrausch verschleiert waren, warf es zu Boden und fiel über es her.
Als er fertig war, gingen sie zu ihren Pferden und ließen die Frauen und das Kind scheinbar leblos zurück. Titus war berauscht, seine Begleiter bedrückt. Ihre Hufschläge hallten in der Dunkelheit der Zeit.
Meryn wartete. Er hatte gelernt, seinen Kopf zu leeren, zu warten, ohne etwas zu bewerten, ohne sich einzubringen. Wenn er handeln sollte, musste er Kontrolle besitzen.
Er sah die Ankunft der zweiten Gruppe Soldaten. Er sah das Mitgefühl ihres Anführers, die Abscheu der Männer. Das waren disziplinierte Legionäre, die dem Kodex des Krieges folgten.
Die Frauen wurden fortgebracht. Der Stall versank wieder in der Dunkelheit, aber der Gestank von Angst und Blut blieb zurück. Nach einer kurzen Weile erschien ein kleines Kind, ängstlich wie ein Rehkitz mit riesigen dunkelblauen Augen. Es spähte umher. »Eigon?« Seine Stimme zitterte. »Eigon, wo bist du? Spielen wir das Spiel immer noch? Dürfen wir jetzt rauskommen?«
Er spürte die Bäume, die alles beobachteten. Das Mädchen betrat den Stall, schnupperte die Atmosphäre wie ein kleines Tier, wusste, dass es etwas sehr Böses wahrnahm, wusste aber nicht, wie es seine Eindrücke deuten sollte. Dann sah er, wie sie plötzlich stehen blieb. Sie bemerkte einen Blutfleck, der im Gras rabenschwarz wirkte. Sie schaute nach oben. Es wurde hell. Die Dunkelheit zog sich zurück. Bald würde sie überall Blut sehen.
»Eigon? Wo bist du?« Ihre Stimme war plötzlich ganz dünn. »Ich weiß nicht, wo Togo ist.« Jetzt weinte sie. »Ich bin ganz allein.«
Hilflos sah Meryn ihr zu. Eine Weile trieb sie sich in der Nähe des Stalls herum, dann machte sie schließlich kehrt und verschwand zwischen den Bäumen.
Er schüttelte den Kopf. So viel Schmerz und Angst und Unglück, das in dieser Gegend steckte. Das Schlachtfeld unten im Tal, Tod und Zerstörung überall, hier oben diese kleine, qualvolle Szene, das gemeine Verbrechen eines Mannes, das nach Rache schrie.
Er wartete. Die Szene wurde dunkel. Tag folgte auf Nacht, das Wetter veränderte sich. Raben, die Diener der Kriegsgöttin, kreisten über dem Schlachtfeld. Milane pickten die nicht bestatteten Knochen ab. Es wurde kalt, es schneite. Das kleine Mädchen kehrte nicht zurück. Meryn schickte Fühler nach ihr in den Wald aus. Da war nichts. Er suchte nach dem kleinen Jungen. Er war ein schwacher Funke, allzu leicht auszulöschen, eine Lebenskraft, die verglomm, kaum hatte sie zu leuchten begonnen. Einen Moment sah er die kleine Gestalt zusammengekauert in der Dunkelheit. Der Junge lutschte am Daumen, die Augen vor Angst und Einsamkeit fest zusammengekniffen. Ein Fuchs trabte an seinem Versteck vorbei und hielt inne, hob schnuppernd eine Pfote. Es roch nach Mensch, es roch nach Fieber. Der Fuchs floh. Eine Wölfin hätte vielleicht ein verlassenes Jungtier gewittert und es gesäugt, der Fuchs hingegen ging seiner eigenen Wege und verschwand ohne einen weiteren Gedanken an das Menschenwesen in die Nacht. Am nächsten Morgen war der kleine Junge tot.
»Also«, flüsterte Meryn. »Wir haben zwei kleine Mädchen, Eigon und Glads. Wir wissen, was mit Eigon passiert ist, aber wo ist ihre Schwester?« Er wartete. Einen Moment teilten sich die Wolken, ein einzelner Sonnenstrahl bewegte sich über den Boden des Ateliers auf ihn zu. Nachdenklich betrachtete er ihn. Die Sonne war fast schon untergegangen. Das Mädchen war älter, vielleicht war es woanders hingegangen, um Hilfe zu finden.
Die Geschichte des Viehstalls war erzählt. Morgen würde er ihn von seinen Erinnerungen reinigen. Jetzt war es Zeit, sich draußen umzusehen. Meryn ging langsam in den Hof auf das Tor zu, hinter dem der Pfad begann. In der Ferne rief eine Eule. Er lächelte. An diesem Abend jagte sie nicht im Wald, sondern flog auf der Suche nach Mäusen über die regennassen Felder und Wiesen. Wenn er durch ihre Augen sehen könnte, würde er vielleicht Jess finden. Als Steph ihm erzählt hatte, dass am Nachmittag die Hunde nach ihr gesucht hatten, hatte sie mit dem Kopf auf den zerknitterten Seidenschal gedeutet, der den Hunden als Fährte dienen sollte. Vor dem Essen hatte Meryn ihn an sich genommen. Jetzt holte er ihn heraus, wickelte ihn sich um die Hand und stimmte sich auf die Frau ein, die ihn getragen hatte.
Und da war er. Titus Marcus Olivinus. Er war älter geworden, sein Haar wurde grau, seine harten Augen blickten wachsam, sein Herz und seine Seele waren schwer vor Hass und Angst. Besessen kreiste sein ganzes Sein um einen einzigen Menschen.
Eigon.
Jess.
Eigon.
Sie waren nicht dieselbe Person. Es gab keinerlei Anzeichen einer Wiedergeburt, keine Verwandtschaft, keine Abstammung. Nur Titus brachte die beiden in seinem Wahn in Verbindung. Nein. Nicht in seinem. Meryn tastete in größere Fernen, folgte geheimen Pfaden, die durch die Luft um ihn verliefen. Hier war es passiert. Hier, wo die Linien sich kreuzten. Jess war interessiert gewesen, mitfühlend, verletzlich. Irgendwie war sie in Eigons Erinnerungen geraten, irgendwie hatte sich ein Pfad zwischen ihnen aufgetan.
Aber es hatte auf beiden Seiten funktioniert. Daniel. Daniel und Titus. Nachdenklich fuhr sich Meryn über das Kinn. Daniel war Jess hierhergefolgt, und Titus war Eigon gefolgt. Jetzt sah er Daniel. Groß, angespannt, eifersüchtig. Daniel hatte wieder Hass und Zorn in die Berge gebracht, seine Gefühle hatten als Energieleiter fungiert. Die Lebensgeschichten waren aufgeflammt und wie ein Wildfeuer zwischen den vier Gestalten ausgebrochen, die sich hier in diesem Haus begegnet waren. Und die Zerstörung hatte ihren Lauf genommen.
»Aber bist du noch am Leben, Jess?« Meryn öffnete das Tor und blieb eine Minute auf dem Pfad stehen. Der Donner und die Blitze hatten die Luft gereinigt, jetzt spürte er alles mit mehr Klarheit. Sie war nach rechts abgebogen und bis zum Gipfel aufgestiegen, dann war sie halb zurückgekehrt. Sie hatte den Pfad verlassen, war einem inneren Drang gefolgt. Der hatte sie in die Bäume und schließlich hinter das Bauernhaus geführt.
Sie hatte jemanden singen gehört. Das war’s. Eine Stimme hatte sie immer tiefer in die Wälder geführt. Wie im Märchen. Er lauschte und spitzte die Ohren. Diese Stimme war gespenstisch gewesen. Die Stimme einer Frau, die um ihren toten Geliebten weinte.
Jess war ihr gefolgt, so wie Glads ihr zweitausend Jahre zuvor gefolgt war. Die Frau hatte neben dem Leichnam ihres Mannes gekniet, einem keltischen Krieger, gestorben auf dem Schlachtfeld, nackt bis auf seinen Schild. Sein Schwert hatten die Plünderer geraubt, die es bei jeder Schlacht gibt, seine Augen hatten die Raben ausgepickt.
Glads blieb bei ihr stehen und schaute auf den toten Mann hinunter. Die Frau hob den Kopf, Tränen rannen ihr über die Wangen, und sah das kleine Mädchen mit dem verängstigten Gesicht, dem schmutzigen Kleid, den Kratzern an Armen und Beinen.
Meryn verfolgte, wie die beiden sich in ihrer Einsamkeit und ihrem Kummer umarmten. In Glads’ Beisein begrub die Frau ihren Mann, damit sein Leichnam vor den Vögeln geschützt war. Glads sah, wie die Frau für seine Seele betete, dann gingen die Frau und das Kind Hand in Hand vom Schlachtfeld in den Nebel fort.
Er seufzte. Aus irgendeinem Grund konnte er ihnen nicht folgen. Jemand hatte eine Barriere errichtet. Er schaute sich nach Jess um. Sie hatte die Frau auch gehört und war dem Geräusch gefolgt. Wo war sie also? Er bog nach links auf den Pfad ab, ging in der Dunkelheit langsam zwischen den Hecken dahin und bog noch einmal links durch ein Gatter auf ein Feld ab. Hier konnte er mehr sehen, der Mond war aufgegangen. Der Weg führte hinter Ty Bran vorbei in die Dunkelheit der Schlucht, die ein Bach in die Bergflanke geschnitten hatte. Das Gelände war dicht mit Eichen und Birken bewachsen und fiel steil zum rauschenden Wasser hin ab. Wenn Jess tatsächlich abgestürzt war, könnte sie schwer verletzt sein. Er brauchte Hilfe, und er brauchte eine Taschenlampe. »Warte auf mich, Jess«, flüsterte er. »Bleib hier. Ich hole Rhodri. Wir kommen. Bald.«
Die Tochter des Königs
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