Kapitel 33
Jess regte sich. Etwas berührte ihr
Gesicht. Mühsam versuchte sie, die Augen zu öffnen. Über sich sah
sie ein Blätterdach, das Laub bewegte sich sacht und warf einen
leichten Schatten auf sie. Sie versuchte, sich zur Seite zu drehen,
und schrie vor Schmerz auf. Jeder Knochen tat ihr weh. Sie biss die
Zähne zusammen und blieb einen Moment ruhig liegen, bevor sie es
noch einmal versuchte. Sie war schweißüberströmt, doch wenige
Sekunden später fröstelte sie. Das Sonnenlicht spielte auf ihrem
Gesicht. Wieder versuchte sie, klar zu sehen. Jemand stand über ihr
und schaute auf sie herab. Sie kniff die Augen zusammen, um ihn
besser erkennen zu können. »Hilf mir.« Ihr Flüstern war zu leise,
um verständlich zu sein.
Da war sie wieder, die leichte Berührung im
Gesicht. Was immer es war, sie spürte, wie es über ihre Wange zu
ihrem Hals wanderte. Kalt. Scharf. Die Spitze eines Schwerts. Er
hielt es ihr an die Kehle. Jetzt zitterte sie heftig, schaute
flehentlich in sein Gesicht. Sie sah, wie er kalt auf sie
herablächelte. Seine Augen waren hart wie Feuersteine, sein Kopf
hob sich als Silhouette vor den schimmernden Blättern ab.
Etwas tropfte auf ihr Gesicht. Sie zuckte zusammen.
Es war Blut. Sie sah es die breite, flache Schneide hinabrinnen.
»Bitte hilf mir.« Sie spürte, dass die Worte an ihrer Zunge
klebten, sie fast erstickten. Kein Laut kam über ihre
Lippen.
»Jess!« Jemand rief aus der Ferne nach ihr. »Jess,
wo bist du?«
»Ich bin hier!«, wollte sie antworten, aber wieder
war kein Laut zu hören. Zu hören war nur das leise Gurren einer
Taube hoch oben im Baum.
Die Lederriemen an seiner Tunika ächzten ein wenig,
als er sich bewegte. Sie sah, dass seine Finger das Schwert fester
umfassten und die Knöchel weiß wurden.
»Titus«, flüsterte sie. »Bitte tu mir nicht weh.«
Jetzt schluchzte sie lautlos, Tränen rannen ihr über die Wangen ins
Moos, auf dem sie lag. »Wo ist Daniel? Bitte sorge dafür, dass er
mich nicht findet.«
Er sagte nichts.
Dann hörte sie aus der Nähe das tiefe, bedrohliche
Knurren eines Hundes. Sie versuchte, den Kopf zu drehen, um etwas
zu sehen. Ein schwarzer Schatten war bei ihr. »Hugo?«, flüsterte
sie fast lautlos. »Hilf mir.«
Das Knurren wurde lauter. Titus drehte sich halb zu
dem Tier um. Sie schloss die Augen und hielt die Luft an. Als sie
sie wieder öffnete, war Titus fort.
»Hugo? Hilf mir.« Sie versuchte, eine Hand
auszustrecken, fühlte einen Moment Wärme auf ihrer Haut, die Zunge
eines Hundes. Dann war auch das fort.
Aus der Ferne hörte sie wieder die Stimme, die nach
ihr rief. Dieses Mal war sie weiter weg. Sie versuchte, ihre
Position zu verändern, damit ihr nicht alles so wehtat, und
zögernd, als spräche sie eine Sprache, die sie kaum beherrschte,
begann sie zu beten. Es kostete sie zu viel Mühe. Langsam schlossen
sich ihre Augenlider wieder, sie glitt in die warme Dunkelheit, in
der es weder Angst noch Schmerz gab.
Als die Sonne aus dem Meer hinter ihnen aufstieg,
fuhr das Boot auf weichen Sand, und die beiden Männer sprangen
hinaus. Commios folgte ihnen und machte sich sofort daran, ihr
Gepäck auf den Strand zu werfen.
»Habt Dank, meine Freunde.« Er streckte Eigon eine
Hand hin, damit sie auf den Rand des Boots treten konnte, und von
dort hob er sie auf den Sand. Ihrer Erschöpfung zum Trotz lächelte
sie, die Überfahrt hatte ihr neue Kraft verliehen. Commios konnte
nicht anders, er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die
Wange. Ehe sie darauf reagieren konnte, hatte er sich wieder zum
Boot umgedreht. »Drusilla?« Er grinste. Sie kauerte ächzend und
stöhnend ganz unten im Boot, halb verborgen von dem Segel, das die
Männer eingeholt hatten, als sie mit der Flut an Land trieben. »Wir
sind da. Komm, raus mit dir! Das Segeln hat ein Ende!«
Irgendwie gelang es ihr, sich aufzusetzen, und
zitternd vor Mattigkeit stand sie schließlich auf den Beinen.
Commios schwang sie an den Strand, wo sie in sich zusammensackte,
die Hände ächzend über den Bauch gelegt.
»Hoffentlich wollt ihr nicht so bald wieder
zurück!« Einer der Seemänner beobachtete sie belustigt. »Die Dame
taugt nicht für die Seefahrt!«
Commios lachte. »Gleich wird es ihr besser gehen!
Gott segne euch, meine Freunde.« Die Überfahrt war bereits bezahlt,
doch er holte eine weitere Münze aus der Börse und warf sie ihnen
zu. Die beiden Seeleute schoben das Boot bereits wieder ins tiefere
Wasser. »Sichere Rückfahrt!« Das Licht der aufgehenden Sonne fiel
in einem schimmernden roten Strahl über das Wasser und glänzte im
Dunst. Sie verfolgten, wie die Männer das Segel setzten und im sich
drehenden Wind die Küste hinuntersteuerten. Innerhalb kürzester
Zeit waren sie im Dunst verschwunden.
»Gut!« Commios sah sich um. »Und wohin gehen wir
jetzt?« Fragend schaute er zu Eigon.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht
mehr als du! Vielleicht sollten wir uns zu einer Stadt
durchschlagen, wo wir eine Unterkunft finden. Dann fangen wir
an.«
»Womit fangen wir an?« Fröstelnd strich sich
Drusilla das zerzauste Haar aus dem Gesicht. Die Verheißung des
Sonnenaufgangs verschwand bereits, es sollte ein grauer Tag werden.
Der Wind wehte kalt. Bis sie sich so weit gesammelt hatten, um von
der Küste fort auf das Strauchwerk zuzusteuern, das auf den
niedrigen Klippen vor ihnen wuchs, froren sie alle.
»Mit unserer Mission.« Eigon versuchte zu lächeln.
So lange waren sie mittlerweile unterwegs nach Britannien, und
jetzt, wo sie ihr Ziel endlich erreicht hatten, wussten sie nicht
recht, was sie tun sollten. Sie wussten nicht einmal, in welchem
Teil Britanniens sie gelandet waren.
»Wenn wir ein normales Frachtboot genommen hätten,
hätten wir wenigstens in einem Hafen angelegt«, sagte Drusilla
scharf.
»Und Titus hätte uns auf dem nächsten Boot folgen
können«, tadelte Commios sie sanft. »Irgendein Ort muss doch in der
Nähe sein.« Er grinste. »Beten wir doch um Führung.«
Oben entlang der Klippen verlief ein Pfad. Dem
folgten sie eine Weile in zunehmend gedrückter Stimmung, denn es
wurde stetig kälter und windiger. Gerade hatten sie beschlossen,
ein geschütztes Plätzchen zu finden und ein Feuer zu entzünden, als
Commios lauschend stehen blieb.
»Da hat jemand unsere Ankunft vorausgesehen. Riecht
ihr das Feuer?«
»Ich rieche Essen!« Eigon lächelte ermutigend.
»Hoffen wir, dass die Einheimischen freundlich sind!« Sie wollte
schon weitergehen, als Commios sie zurückhielt.
»Ich finde, bis wir wissen, wie freundlich sie
wirklich sind, sollten wir verschweigen, wer du bist, Eigon, und
was wir hier tun. Meint ihr nicht auch?«
Eigon nickte. Beide blickten zu Drusilla, die
lediglich mit den Achseln zuckte. »Schaut mich nicht so an. Ich bin
wohl kaum diejenige, die mit irgendetwas herausplatzen wird!« Sie
zog den Umhang fester um sich.
Gleich um die nächste Biegung stießen sie auf eine
kleine Köhlersiedlung. Zu ihrer Überraschung wurden sie aufs
Herzlichste willkommen geheißen. Im Kessel, der über dem Feuer
hing, köchelte ein würziger Haseneintopf, der mit getrockneten
Erbsen zubereitet und mit wildem Knoblauch gewürzt war, im Lehmofen
lagen Brotlaibe und Bohnenkuchen bereit, und zu trinken gab es
Krüge voll Dünnbier. Die kleine Siedlung bestand neben dem
Familienvorstand noch aus seiner Frau, ihren drei Kindern und zwei
seiner Brüder. Die Männer hielten sich scheu im Hintergrund, aber
die Frau und die Kinder waren neugierig und unterhielten sich
munter mit den Gästen. Als sie hörten, dass sie das Meer in einem
kleinen Fischerboot überquert hatten, waren sie wie vom Donner
gerührt. Sie erklärten, sie gehörten zum Stamm der Cantiacer und
hätten die römische Siedlung Durovernum Cantiacorum besucht. Dort,
so sagten sie, gäbe es viele Menschen und Häuser, Kaufleute und
Geschäfte und Tempel sowie ein Freilichttheater. Es sei eine sehr
große, prächtige Stadt. Die, so meinten sie, sollten ihre Gäste als
Nächstes aufsuchen und dann der Straße nach Londinium folgen.
Sie verbrachten die Nacht in einer Köhlerhütte, und
am nächsten Tag brachen sie erholt nach Durovernum auf.
Sie hatten eine große Handelsstadt wie Massilia
erwartet, doch dieser Ort war weit kleiner. Zwar gab es schöne
Häuser und, wie ihnen gesagt worden war, auch Geschäfte
und Tempel, aber die Stadt ließ sich innerhalb kürzester Zeit
durchqueren. Sie nahmen sich Zimmer in einem Privathaus in der Nähe
der äußeren Befestigungsmauer. Es war sauber und ordentlich und
gehörte der Witwe eines Offiziers der vierzehnten Legion. Octavia
Candida war eine kräftig gebaute Frau mit ausgeblichenem blondem
Haar und hellblauen Augen, die ihre britannische Herkunft
verrieten. Als ihre Sklaven die Abendmahlzeit auftrugen, fragte sie
ihre Gäste nach ihren Reisen aus und erkundigte sich, wo sie
überall gewesen seien. Als sie erfuhr, dass sie aus Rom stammten,
riss sie die Augen auf. »Ist es wirklich so schön, wie es heißt?
Ich bin nie weiter gekommen als bis Verulamium. Ursprünglich bin
ich eine Catuvellauna. Ihr habt wahrscheinlich schon vermutet, dass
ich britannisch bin. Mein Gemahl und ich kamen hierher, als er sich
aus der Legion zurückzog.«
Eigon schnappte bei dem Namen leise nach Luft, aber
Commios warf ihr einen warnenden Blick zu. »Und, Herrin, wie ist
das Leben in Britannien?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nach dem Aufstand
war es nicht leicht. Fast alles war verwüstet. Ihr wisst sicher,
dass Verulamium abgebrannt wurde, von Boudicca. Meine ganze
Verwandtschaft, die dort lebte, wurde von ihren Anhängern ermordet.
Sie konnte denen, die sich für die Herrschaft der Römer
aussprachen, nicht vergeben.« Sie seufzte. »Selbst hier gab es
Aufstände und Kämpfe, weil einige britannische Stammesleute sie
unterstützten. Aber zumindest wurde Durovernum nicht abgebrannt.
Ihr werdet sehen, es wird sehr viel gebaut. Die Stadt wird immer
wohlhabender. Momentan errichten sie ein neues öffentliches Bad und
einen weiteren Tempel.« Sie warf der jungen Sklavin, die die
Schalen mit Speisen auf den Tisch stellte, ein Lächeln zu. »Wohin
wollt Ihr?«
»Silurien.« Eigon antwortete, ohne
nachzudenken.
Octavias Augen wurden kugelrund vor Staunen. »Das
ist ein weiter Weg.«
Eigon nickte und hob, als Commios sie unterbrechen
wollte, warnend die Augenbrauen. »Meine Familie kam von dort. Ich
möchte sehen, wie es jetzt dort ist.« Sie lächelte
verbindlich.
Octavia machte eine ausweichende Geste. »Ich weiß,
in Isca Silurum gibt es eine Festung. Dort war mein Gemahl vor der
Schlacht gegen Caratacus stationiert, in der Zeit, als sie die
Silurer zu unterwerfen versuchten, und dann wieder, nachdem sie ihn
besiegt hatten. Soweit ich weiß, ist es ein kriegerisches,
schreckenerregendes Volk. Sie machen den Behörden immer noch sehr
zu schaffen.« Sie unterbrach sich, ihr wurde bewusst, wie taktlos
diese Bemerkung gewesen war. »Entschuldigt. Wenn das Euer Stamm
ist, meine Liebe, dann verzeiht. Manchmal ist es schwer, nicht das
Falsche zu sagen.«
Eigon lächelte. »Das kann ich verstehen. Wir haben
ganz Gallien durchquert, und dort ist die Situation sehr ähnlich.
Römische Familien haben uns ebenso gastfreundlich aufgenommen wie
Einheimische, beide waren hilfsbereit, aber sie misstrauen
einander.«
Octavia nickte. »Hier ist es besser. Da wir an der
Hauptstraße von Rutupiae nach Londinium liegen, kommen ständig
Reisende aus den abgelegensten Winkeln des Reichs durch die Stadt.
Das ist auch der Grund, weswegen ich beschlossen habe, Gäste
aufzunehmen. Es ist interessant und«, ergänzte sie ohne einen
Anflug von Verlegenheit, »es vergrößert die Pension meines Gemahls.
Erst vor drei Tagen hatte ich eine kleine Reisegruppe aus Rom zu
Gast.« Zum ersten Mal zögerte sie und schien ihre Worte sorgsam zu
wählen. »Seit diesem entsetzlichen Feuer sind die Zustände
in Rom offenbar ziemlich schwierig geworden. Ihr wisst
davon?«
Sie nickten. Commios griff nach einem weiteren
Stück Brot. »Wir waren dabei. Es war entsetzlich.«
»Nach allem, was ich höre, machen sie dafür eine
Sekte verantwortlich, die einem Mann namens Jesus Christus folgt.«
Octavia griff nach dem Weinkrug und schenkte ihnen allen nach.
»Nero rächt sich grausam an allen, die er zu fassen bekommt. Es
kommt mir merkwürdig vor, dass einem Menschen, der sich Gott der
Liebe nennt, derart viel Schuld aufgeladen wird.« Sie schüttelte
den Kopf. Da sie gerade den Krug beiseitestellte, bemerkte sie
nicht, wie ihre Gäste beklommene Blicke tauschten. »Ich habe
gehört, dass ihr Anführer gekreuzigt wurde, genau wie ihr Gott
Jesus.«
»Ihr Anführer?« Es war Drusilla, die mit dieser
Frage herausplatzte. Jetzt schließlich schaute Octavia auf und
bemerkte ihren besorgten Gesichtsausdruck. »Oh, meine Lieben, sagt
mir nicht, dass Ihr Anhänger dieses Christus seid? Es tut mir leid,
ich habe unbedacht gesprochen.«
»Kennt Ihr den Namen des Anführers? Wer war
es?«
»Ein Mann namens Petrus. Der Fels, so sagten sie.
Offenbar war er schon ein alter Mann.« Sie seufzte. »Nero hat
wirklich schon viel Schreckliches getan, aber das …« Sie machte
eine kurze Pause. »Sie haben gesagt, dass er kopfüber gekreuzigt
wurde, in Neros Zirkus. Ihr wisst vermutlich, wo der ist?«
Commios nickte. Ihm war flau geworden. »Den besucht
Nero, um sich zu amüsieren.« Bitterer Sarkasmus schwang in seiner
Stimme mit. Einen Moment herrschte Stille. Drusilla und Eigon
hielten sich an der Hand und kämpften gegen die Tränen an.
Octavia sah voll Mitgefühl zwischen ihnen hin und
her. »Ihr kanntet ihn? Aber natürlich. Verzeiht, dass ich Euch
derart schreckliche Nachrichten überbringen muss.« Sie stand auf.
»Ich lasse Euch eine Weile allein«, flüsterte sie. »Sicher wollt
Ihr für ihn beten.«
Commios schaute fragend auf. »Ihr hattet schon
Christen hier, Herrin?«
Sie lächelte. »Natürlich. Wie ich schon sagte, nach
Durovernum kommen Menschen aus aller Herren Länder. Und alle sind
in diesem Haus willkommen.«
»Ich kann es nicht glauben!« Sobald sich die Tür
hinter ihrer Gastgeberin geschlossen hatte, hieb Commios mit der
Faust auf den Tisch. »Wie kann er gefasst worden sein? Hat jemand
ihn verraten?« Jetzt standen auch ihm Tränen in den Augen. »Ist
denn niemand vor Nero sicher?«
»Vielleicht hat er es gewusst«, sagte Eigon
traurig. »Vielleicht ist das der Grund, weshalb er uns
fortgeschickt hat. Und andere. Wenn hier in diesem Land noch mehr
Christen sind, hat vielleicht er sie hierhergeschickt, oder
Paulus.« Sie versuchte zu lächeln. »Zumindest ist er jetzt bei
unserem Herrn, und ich glaube, dass er in diesem Moment über uns
wacht.«
Nervös schaute Drusilla zur Decke. »Denkst du das
auch?« Sie warf einen Blick zu Commios und errötete. »Glaubst du,
dass er unsere Gedanken lesen kann?«
»Wenn«, antwortete er streng, »dann weiß er auch,
dass wir gleich gemeinsam für seine Seele beten und dass wir
unserer Pflicht nachkommen werden, das Wort zu verbreiten.« Er biss
sich auf die Unterlippe. »Die Aufgabe haben wir bis jetzt sträflich
vernachlässigt.«
»Erst mussten wir überhaupt nach Britannien
gelangen«, widersprach Eigon scharf. »Es wäre sinnlos gewesen,
unterwegs überall zu erzählen, wer wir sind, und bei unserem ersten
oder zweiten Halt gefasst zu werden. Wir mussten Titus überlisten.«
Sie schauderte. »Glaubst du, er folgt uns übers Meer?«
Commios nickte matt. »Ja, ich glaube schon. Deshalb
denke ich, dass wir morgen wieder aufbrechen sollten. Diese Stadt
ist offenbar die erste Station für alle, die mit dem Schiff aus
Gallien angekommen sind. Wir müssen uns eine Route suchen, die
abseits der Hauptstraßen verläuft, damit er uns endgültig in Ruhe
lässt. Ich bin es leid, ständig vor dem Mann auf der Flucht zu
sein!« Wieder hieb er mit der Faust auf den Tisch, dann schaute er
zu den beiden Frauen. »So, und jetzt lasst uns für Petrus und
unsere Freunde in Rom beten.«
Sie senkten die Köpfe.
Während sie beteten, ritt ein Mann erschöpft zum
Stadttor herein. Sein Pferd war verstaubt, seine Uniform mit
Schlamm und Salzwasser bespritzt. Beim ersten Gasthof saß er ab und
bedeutete einem dort stehenden Jungen, sein Pferd zu nehmen. »Mein
Junge, hast du Freunde?«
Der Junge schaute ihn ausdruckslos an, ohne ihn
einer Antwort zu würdigen. »Wenn du Freunde hast und wenn sie sich
ein bisschen Geld verdienen wollen, dann sollen sie zu mir kommen,
sobald mein Pferd Wasser und etwas zu fressen bekommen hat. Ich
habe eine Aufgabe für euch.«
Das hatte in jeder Stadt funktioniert, die er in
Gallien betreten hatte. Erkundigungen in jeder Taverne, jedem
Tempel, jeder jüdischen Siedlung, jedem Haus, das jemals Gäste
aufgenommen hatte. Bei jeder Kreuzung, an jeder Fähre. Die Leute
erinnerten sich an Fremde, selbst in einer Stadt, die an
Durchreisende gewöhnt war. Und ein Mann, der in Begleitung zweier
Frauen reiste, fiel ohnehin auf. Er lächelte düster. Die ganze Zeit
war er ihnen näher gekommen, und jetzt war er ihnen so nahe, dass
er es in den Fingerspitzen prickeln spürte. Er lächelte in sich
hinein. Vielleicht war es an der Zeit, zu handeln. Und er würde mit
Commios anfangen, das gebot allein schon die Notwendigkeit. Ohne
sich der Geste bewusst zu sein, griff er nach seinem Schwert und
lockerte es ein wenig in der Scheide.
Rhodri schaute über die sanfte Hügellandschaft zum
Farmhaus seiner Eltern, das gerade unterhalb seines Blickfelds im
nächsten Tal lag. Hinter den Hügeln türmten sich dunkle Wolken auf.
In der Ferne grollte Donner, wenig später zuckte ein Blitz über den
Himmel. Wo war sie? Wenn Daniel sie zu fassen gekriegt hatte,
konnte er nicht weit mit ihr gekommen sein, es sei denn, er hatte
sie irgendwie in sein Auto geschafft. Aber auf dem Feldweg waren
keine Spuren eines fremden Wagens zu sehen gewesen. Hier kam
niemand zufällig vorbei; die einzigen Reifenabdrücke waren die
seines eigenen Wagens und eines Traktors sowie die ganz frischen
Spuren vom Range Rover der Polizei und dem Auto seiner Mutter. Alle
früheren Spuren hatte der Regen der vergangenen Tage ausgelöscht.
Wenn Daniel innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden
hergefahren wäre, dann hätte er Spuren hinterlassen. Rhodri
seufzte.
Was, wenn es nicht Daniel war? Was, wenn sie in die
völlig falsche Richtung dachten? Vielleicht war sie auf einem
steilen Berghang abgestürzt? Hatte sich verletzt? Oder vielleicht
streifte auch Titus zwischen den Bäumen umher?
Er atmete tief durch. Ein so großes Gebiet ließ
sich nur mit Hunden absuchen. Nach Ansicht der Polizei war es noch
zu früh, um Spürhunde einzusetzen, aber er, Rhodri, konnte ja die
Hunde von der Farm herbringen. Er fischte sein Handy aus der
Tasche. Wenn es etwas zu finden gab, würden sie es aufspüren. Und
während er wartete, dass seine Mutter die Hunde herbrachte, würde
er weitersuchen. Er holte tief Luft. Das Gefühl von Verlust
schmerzte ihn beinahe körperlich. Wenn er je gezweifelt hatte,
jetzt wusste er es: Er hatte sich in sie verliebt.
»Jess?« Seine Stimme hallte verloren über den Berg.
»Jess, meine Schöne, bist du da? Jess …«
»Das ist Rhodri, der da ruft.« Steph und Aurelia
standen im Hof, als Megan losfuhr, um die Hunde zu holen.
»Er ist am Boden zerstört«, sagte Aurelia
nachdenklich. »Mittlerweile sollte er eigentlich schon wieder in
London sein. In ein paar Wochen singt er bei den Proms, und er
sagte, er müsse an dem Stück noch viel arbeiten, aber solange hier
alles unklar ist, will er auf keinen Fall fahren. Hast du gewusst,
dass Jess ihm so viel bedeutet?«
Verwundert schüttelte Steph den Kopf. »Wie’s
aussieht, hat er sich wirklich in sie verknallt. Weiß Gott,
warum!«
»Geht es Jess genauso?«
Steph überlegte kurz, dann nickte sie. »Ich denke
schon. Ich glaube, sie mochte William immer noch gern, aber mehr
auch nicht. Er hatte sie so verletzt, dass sie ihm wohl nie wieder
vertraut hätte. Der arme William.« Sie seufzte.
Komm und finde mich! Wo bist du?
Die Stimme eines Kindes trieb aus der Ferne zu
ihnen herüber. Aurelia wurde blass. »Hast du das gehört?«
Steph nickte.
»Ist das dein Gespenst?«
»Ich glaube schon. Hier in den Wäldern laufen keine
Kinder herum.«
Als in der Ferne Donner grollte, schauten sie beide
auf.
»Und die arme kleine Seele, die da oben liegt«,
sagte Aurelia leise. »Ich kann es gar nicht fassen.« Schaudernd
schlang sie die Arme um sich. »Aber sie sprechen unsere
Sprache?«
Steph zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, weil
wir zuhören. Filtern wir das nicht durch unser Gehirn oder etwas in
der Art? Sonst würden wir sie ja nicht verstehen.«
»Ich hoffe, dass Meryn sich bald meldet. Er weiß
bestimmt, was wir tun sollen. Wegen des Kindes und wegen Titus. Und
wahrscheinlich weiß er auch, was wir wegen Daniel unternehmen
sollen.« Aurelia schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, Rhodri wäre
zurück. Ich fühle mich hier mit dir allein sehr angreifbar.«
Schaudernd sah sie sich um. »Das Haus ist wirklich abgelegen,
Steph. Ich kann gar nicht verstehen, dass du ganz allein hier leben
magst.«
Steph lächelte spöttisch. »Und das muss ich mir von
einer Frau sagen lassen, die tollkühn unerforschte Wüsten
durchquert und in der Einsamkeit der Pyrenäen lebt, kilometerweit
von jeder menschlichen Ansiedlung entfernt, und die früher einmal
selbst hier gewohnt hat!«
»In meinen Bergen spuken keine Gespenster«, sagte
Aurelia spitz.
»Ich wette, schon!«
»Na ja, wenn doch, dann machen sie sich nicht die
Mühe, mich heimzusuchen.« Sie fröstelte wieder.
In der Küche läutete das Telefon. Steph lief ins
Haus, Aurelia folgte ihr etwas langsamer.
Steph reichte ihr den Hörer. »Dein Freund
Meryn.«
Mit einem Lächeln legte Aurelia am Ende des
Gesprächs den Hörer auf. Meryn hatte ihr zugehört, einige Fragen
gestellt und dann vorgeschlagen, dass er sofort von Schottland
herunterkam.
»Er wird im Lauf des Abends hier sein. Ich glaube,
er hat sich gefreut, einen Grund zu haben, wieder
hierherzukommen.«
Steph hob die Augenbrauen. »Ich vermute, es ist
sinnlos, dich nach ihm zu fragen?«
Aurelia nickte. »Wenn du meinst, seinet- und
meinetwegen - ich habe dir ja gesagt, da gibt es nichts zu
erzählen. Worauf es ankommt, ist, dass er sich sein Leben lang mit
schrägen Sachen beschäftigt hat und uns jetzt helfen kann.«
Steph setzte sich an den Küchentisch und stützte
das Kinn auf die Hände. »Was Schrägeres als diese Sache gibt’s
vermutlich nicht! Ich hoffe wirklich, dass er uns helfen kann.« Sie
blinzelte heftig, um nicht in Tränen auszubrechen. »Ich bin so
froh, dass du gekommen bist.« Sie griff nach den Händen ihrer
Mutter und drückte sie fest.
Wenige Minuten später kam Megan zurück, parkte
ihren uralten Landrover im Hof und stieg aus, während die beiden
Hunde von der Ladefläche sprangen. »Wo ist Rhodri?«
»Er ist noch nicht zurück.« Steph hatte ihre
Wanderstiefel angezogen und hielt einen Stock in der Hand. »Mummy
macht hier Telefondienst. Ich dachte, ich gehe mit dir den Berg
hinauf. Die Hunde werden doch zumindest Rhodri finden, oder? Dann
können wir drei uns aufteilen.«
Rhodri saß auf einem Baumstumpf in einer Lichtung
rund zwei Kilometer vom Gipfel entfernt. Er war einem kaum
sichtbaren Pfad durchs Gebüsch gefolgt, ohne sich groß zu
überlegen, wohin er führen könnte. Vom vielen Rufen war er heiser
geworden, und er war erschöpft. Als die Hunde schwanzwedelnd zu ihm
liefen, schaute er auf. Seine Augen waren rot und verquollen.
»Ich habe einen Schal von Jess mitgebracht.« Steph
suchte in ihrer Tasche. »Damit die Hunde daran schnüffeln
können.«
Rhodri lächelte. »Sie sind nicht dafür ausgebildet,
Fährte aufzunehmen, Steph. Nur fürs Schafehüten. Am besten sagen
wir ihnen einfach, dass sie Jess suchen sollen. Wahrscheinlich
haben sie keine Ahnung, wonach sie suchen, aber sie werden wie wild
herumsausen und anschlagen, wenn sie etwas finden, was immer es
sein mag.« Er warf einen kurzen Blick zu seiner Mutter. »Dad wollte
nicht mitkommen?« Es begann zu regnen. Rhodri wischte sich die
Tropfen aus dem Gesicht.
Sie schüttelte den Kopf. »Er war gar nicht da. Ich
glaube, er ist heute früh zum Markt gefahren. Das macht nichts. Ich
schicke sie los. Wir können doch genauso gut hier anfangen, oder?«
Sie drehte sich um und rief nach den Hunden. Auf ihren Befehl hin
schnüffelten sie beide interessiert an Jess’ Schal und wedelten mit
dem Schwanz, dann schickte Megan sie los. Sie rasten davon, und
wenige Sekunden später waren sie außer Sichtweite verschwunden. Ein
Donnerschlag hallte um den Berg.
Sie suchten den ganzen Bergrücken ab, aber ohne
Erfolg. Gegen vier Uhr prasselte der Regen herab, und alle waren zu
erschöpft, um die Suche noch fortzusetzen. Bedrückt gingen sie nach
Ty Bran zurück, ließen sich um den Küchentisch auf die Stühle
fallen und sahen den Hunden zu, die gierig aus der großen
Wasserschüssel tranken, die Aurelia ihnen hinstellte.
»Die Polizei hat angerufen.« Aurelia schaute zu
Rhodri. »Sobald das Gewitter vorbei ist, schicken sie einen
Hubschrauber her.« Sie bemühte sich, ruhig zu klingen. »Esst doch
wenigstens ein bisschen. Essen hält Leib und Seele zusammen! Ihr
schaut alle völlig erledigt aus.«
»Hat man etwas von Daniel gehört?« Rhodri strich
sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht. Auf der Stirn
hatte er einen langen blutigen Kratzer.
Aurelia schüttelte den Kopf. »Sie suchen noch nach
ihm.«
»Wir müssen doch etwas unternehmen können. Ich ruf
nochmal an.« Müde ging Rhodri zum Telefon.
Als er sich wieder zu ihnen umdrehte, sah er sehr
bedrückt aus. »Sie haben Daniels Wagen gefunden. Angeblich wollten
sie uns gerade Bescheid geben. Wahrscheinlich nächstes Jahr! Er
stand abgeschlossen in Newtown auf dem Parkplatz im Stadtzentrum.
Und von ihm fehlt jede Spur.«
»Das heißt, er ist auf dem Weg hierher.«
Rhodri zuckte mit den Schultern. »Sie sagen, die
Spurensicherung arbeitet daran.« Er machte eine kurze Pause.
»Vielleicht ist er ja doch noch nicht hier.« Die Hoffnung, die in
seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.
»Das heißt, womöglich hat es gar nichts mit ihm zu
tun, dass Jess verschwunden ist.« Aurelia starrte mit sorgenvoller
Miene zum Fenster hinaus. Der Regen strömte an den Scheiben herab,
ein Blitz zuckte über den Hof, ein weiterer Donnerschlag ließ das
ganze Haus erzittern.
»Oder er war hier und ist schon wieder fort, bevor
wir überhaupt gemerkt haben, dass Jess nicht da ist.« Rhodri ließ
sich wieder auf seinen Stuhl fallen. »Das ist alles meine Schuld.
Hätte ich bloß auf sie gewartet!«
Megan streichelte seine Hand. »Hör auf, dir
Vorwürfe zu machen. Das lenkt dich nur ab. Wir finden sie
schon.«
Meryn war ziemlich erschöpft, als er schließlich
in Ty Bran in den Hof fuhr. Megan und die Hunde waren schon längst
zur Farm zurückgekehrt, aber Rhodri war noch da. Er weigerte sich
zu gehen.
Meryn war ein großer, distinguierter Mann, dessen
hageres, wettergegerbtes Gesicht durch die graue, nach hinten
gekämmte Haarmähne noch betont wurde. Er holte zwei Taschen aus dem
Kofferraum und ging durch den Regen zum Haus. Die kleinere der
beiden Taschen enthielt seine Zahnbürste, einen Rasierapparat und
frische Wäsche, die größere die Gegenstände, die er in seiner
professionellen Eigenschaft als Wanderer zwischen den Welten
vielleicht brauchen würde. In der verblichenen Jeans und dem
offenen Hemd sah er eher wie ein pensionierter Lehrer aus als wie
der ehrwürdige Druide, den Steph und Rhodri erwartet hatten. Er
begrüßte Aurelia mit einem Kuss auf die Wange, gab den anderen die
Hand und folgte ihnen in die Küche.
Schon spürte er die Energien, die durch das
Gebäude wirbelten. Einige stammten aus der Gegenwart, aber andere,
weit interessantere, kamen aus der fernen Vergangenheit.
Aurelia hatte versucht, sich mit Kochen von ihren
Sorgen abzulenken, und so duftete es im ganzen Haus köstlich nach
einem Eintopf.
»Du musst nach der langen Fahrt doch Hunger haben«,
sagte sie und reichte Meryn ein Glas Wein. »Und beim Essen können
wir dir alles erzählen.«
Steph übernahm das Reden. Ab und zu warf sie
hilfesuchend einen Blick zu Rhodri, aber der stocherte nur betrübt
in seinem Essen herum. Sie sah, dass auch Meryn ihn beobachtete,
doch die meiste Zeit waren sein nachdenklicher Blick und seine
Aufmerksamkeit ganz auf sie gerichtet.
Als sie schließlich geendet hatte, herrschte lange
Zeit Stille. Schließlich schob Rhodri den Teller von sich und
fragte: »Glauben Sie, dass Sie Jess helfen können?«
Meryn nickte. »Das hoffe ich doch. Aber bis ich
hier ein bisschen herumgegangen bin und mir einen Eindruck
verschafft habe, kann ich Ihnen wenig sagen.« Er warf einen Blick
zu Aurelia. »Dieses Essen war ein Fest für die Sinne, meine Liebe.«
Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Wenn ich darf, würde ich
mir jetzt gern allein das Haus anschauen und auch die Außengebäude.
Danach gehe ich vielleicht den Berg hinauf, den Weg, von dem ihr
gesprochen habt. Ich gebe euch den Rat, euch währenddessen ein
bisschen Ruhe zu gönnen. Macht was anderes, trinkt eine Tasse
Tee.«
»Darf ich nicht mitkommen?« Beklommen sah Steph zu
ihm.
Er schüttelte den Kopf. »In diesem Stadium wäre es
mir lieber, Sie blieben hier. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich
besser höre und sehe, wenn ich allein bin. Aber ich melde mich,
sobald ich Ihre Unterstützung brauche. Wenn ich die Situation
richtig deute, dann stehen Eigon und Titus im Zentrum dieses ganzen
Chaos. Jess und Daniel sind bloß hineingezogen worden und werden
von den beiden mal mehr, mal weniger in ihrem endlosen Kampf
benutzt. Ich hoffe, wir finden sie bald. Vermutlich kann Eigon uns
dabei helfen. Ich muss Kontakt zu ihr aufnehmen, und das kann ich
am besten allein.« Er warf einen Blick zu Rhodri. »Dafür verwende
ich Schamanentechniken. Später brauche ich vielleicht Ihre
Hilfe.«
Rhodri hob fragend die Augenbrauen und zuckte dann
mit den Schultern. »Ich tue, was immer ich kann.«
»Das glaube ich.« Mit der Andeutung eines Lächelns
senkte Meryn den Kopf.
»Darf ich Ihnen zumindest mein Atelier zeigen?«
Steph erhob sich rasch. »Laut Jess hat alles dort
angefangen.«
Eine ganze Weile stand Meryn nur da, die Daumen in
den Gürtel seiner Jeans gesteckt, und lauschte der Stille. Das
Gewitter hatte sich verzogen. Er hörte es weit im Osten noch leise
grollen, aber hier hatte es sich ausgetobt. Der Regen ließ nach.
Irgendwo im Hof gurgelte Wasser die Rinne hinab, gelegentlich
platschten ein paar Tropfen aufs Dach, aber sonst war es sehr
still. Die Atmosphäre in diesem großen Raum wurde vom Ton
merkwürdig gedämpft, das fand er spannend. In einem Atelier hatte
er noch nie gearbeitet. Die Mischung der irdenen Materialien und
der angeregten Kreativität legte sich wie ein Schleier um die
Botschaften, die er aus der Umgebung empfing. Langsam ging er
umher, betrachtete die Töpfe und Skulpturen, die auf den Regalen
standen, den großen Brennofen, den staubigen Tisch, die Säcke und
Beutel mit den Rohstoffen, die Dosen und Flaschen
mit Pigmenten und Lasur. Langsam tastete er sich seinen Weg durch
die Schichten vor. Früher war das Atelier ein Viehstall gewesen,
ein Lagerraum für Gegenstände, aber auch für Tiere. Menschen hatten
hier Unterschlupf gefunden ebenso wie Schafe. Lange Zeitabschnitte
waren verstrichen, in denen der Bau überhaupt nicht benutzt worden
war. Bäume hatten hier gestanden, hatten die Steine der Mauern
umschlossen. Sie waren alt und morsch geworden und schließlich
umgestürzt. Andere waren gefällt worden. Holunderbäume waren ohne
jeden Gedanken an ihre Heiligkeit gerodet, ihre Wurzeln schreiend
aus der Erde gerissen worden. Vor einer Wand hatten Schieferhaufen
gestanden, die von Moos überwuchert wurden, so dass sie wieder zu
einem Felsgestein zusammenwuchsen, aus dem sie dereinst abgebaut
worden waren. Die Haufen waren entfernt worden, Handwerker waren
gekommen und hatten die Mauer verputzt. Meryn lächelte in sich
hinein. Deren Gedanken und Ängste und Scherze waren ebenso im Echo
des Gebäudes aufgezeichnet wie das Zögern der gegenwärtigen
Besitzerin bei ihrem kreativen Prozess. Vielleicht konnte er ihr
helfen zu erkennen, welche Richtung sie einschlagen sollte. Ihr
Talent verpuffte, ihr fehlte das Selbstvertrauen, es
weiterzuentwickeln.
Er schüttelte den Kopf. Er musste das alles
überwinden, musste weiter zurückgehen, die Jahre hinab in die
Dunkelheit.
Jetzt sah er es. Der Bau war wieder ein Stall, die
Mauern waren halb eingestürzt, nur ein baufälliges Dach schützte es
vor dem Schnee des Winters. Aber hier war eine Gruppe Männer, ihre
Begierde blitzte wie ein blutroter Schnitt durch die Dunkelheit der
Nacht. Sie hatten in der blutigen Schlacht, an der sie teilgenommen
hatten, jede Selbstbeherrschung hinter sich gelassen. Ihr Denken
war ausgeschaltet,
sie folgten keiner Vernunft mehr. Ihr Anführer war Titus Marcus
Olivinus. Wohin er ihnen auch voranging, sie folgten ihm.
Meryn beobachtete sie, ein Schatten aus der
Zukunft, als die Männer immer und immer wieder in die schreienden,
hilflosen Frauen stießen. Er sah, wie das Kind herbeigezerrt wurde,
er sah, wie die anderen zögerten, aber Titus, dessen Augen vom
Blutrausch verschleiert waren, warf es zu Boden und fiel über es
her.
Als er fertig war, gingen sie zu ihren Pferden und
ließen die Frauen und das Kind scheinbar leblos zurück. Titus war
berauscht, seine Begleiter bedrückt. Ihre Hufschläge hallten in der
Dunkelheit der Zeit.
Meryn wartete. Er hatte gelernt, seinen Kopf zu
leeren, zu warten, ohne etwas zu bewerten, ohne sich einzubringen.
Wenn er handeln sollte, musste er Kontrolle besitzen.
Er sah die Ankunft der zweiten Gruppe Soldaten. Er
sah das Mitgefühl ihres Anführers, die Abscheu der Männer. Das
waren disziplinierte Legionäre, die dem Kodex des Krieges
folgten.
Die Frauen wurden fortgebracht. Der Stall versank
wieder in der Dunkelheit, aber der Gestank von Angst und Blut blieb
zurück. Nach einer kurzen Weile erschien ein kleines Kind,
ängstlich wie ein Rehkitz mit riesigen dunkelblauen Augen. Es
spähte umher. »Eigon?« Seine Stimme zitterte. »Eigon, wo bist du?
Spielen wir das Spiel immer noch? Dürfen wir jetzt
rauskommen?«
Er spürte die Bäume, die alles beobachteten. Das
Mädchen betrat den Stall, schnupperte die Atmosphäre wie ein
kleines Tier, wusste, dass es etwas sehr Böses wahrnahm, wusste
aber nicht, wie es seine Eindrücke deuten sollte. Dann sah er, wie
sie plötzlich stehen blieb. Sie bemerkte einen Blutfleck, der im
Gras rabenschwarz wirkte. Sie schaute
nach oben. Es wurde hell. Die Dunkelheit zog sich zurück. Bald
würde sie überall Blut sehen.
»Eigon? Wo bist du?« Ihre Stimme war plötzlich ganz
dünn. »Ich weiß nicht, wo Togo ist.« Jetzt weinte sie. »Ich bin
ganz allein.«
Hilflos sah Meryn ihr zu. Eine Weile trieb sie sich
in der Nähe des Stalls herum, dann machte sie schließlich kehrt und
verschwand zwischen den Bäumen.
Er schüttelte den Kopf. So viel Schmerz und Angst
und Unglück, das in dieser Gegend steckte. Das Schlachtfeld unten
im Tal, Tod und Zerstörung überall, hier oben diese kleine,
qualvolle Szene, das gemeine Verbrechen eines Mannes, das nach
Rache schrie.
Er wartete. Die Szene wurde dunkel. Tag folgte auf
Nacht, das Wetter veränderte sich. Raben, die Diener der
Kriegsgöttin, kreisten über dem Schlachtfeld. Milane pickten die
nicht bestatteten Knochen ab. Es wurde kalt, es schneite. Das
kleine Mädchen kehrte nicht zurück. Meryn schickte Fühler nach ihr
in den Wald aus. Da war nichts. Er suchte nach dem kleinen Jungen.
Er war ein schwacher Funke, allzu leicht auszulöschen, eine
Lebenskraft, die verglomm, kaum hatte sie zu leuchten begonnen.
Einen Moment sah er die kleine Gestalt zusammengekauert in der
Dunkelheit. Der Junge lutschte am Daumen, die Augen vor Angst und
Einsamkeit fest zusammengekniffen. Ein Fuchs trabte an seinem
Versteck vorbei und hielt inne, hob schnuppernd eine Pfote. Es roch
nach Mensch, es roch nach Fieber. Der Fuchs floh. Eine Wölfin hätte
vielleicht ein verlassenes Jungtier gewittert und es gesäugt, der
Fuchs hingegen ging seiner eigenen Wege und verschwand ohne einen
weiteren Gedanken an das Menschenwesen in die Nacht. Am nächsten
Morgen war der kleine Junge tot.
»Also«, flüsterte Meryn. »Wir haben zwei kleine
Mädchen, Eigon und Glads. Wir wissen, was mit Eigon passiert ist,
aber wo ist ihre Schwester?« Er wartete. Einen Moment teilten sich
die Wolken, ein einzelner Sonnenstrahl bewegte sich über den Boden
des Ateliers auf ihn zu. Nachdenklich betrachtete er ihn. Die Sonne
war fast schon untergegangen. Das Mädchen war älter, vielleicht war
es woanders hingegangen, um Hilfe zu finden.
Die Geschichte des Viehstalls war erzählt. Morgen
würde er ihn von seinen Erinnerungen reinigen. Jetzt war es Zeit,
sich draußen umzusehen. Meryn ging langsam in den Hof auf das Tor
zu, hinter dem der Pfad begann. In der Ferne rief eine Eule. Er
lächelte. An diesem Abend jagte sie nicht im Wald, sondern flog auf
der Suche nach Mäusen über die regennassen Felder und Wiesen. Wenn
er durch ihre Augen sehen könnte, würde er vielleicht Jess finden.
Als Steph ihm erzählt hatte, dass am Nachmittag die Hunde nach ihr
gesucht hatten, hatte sie mit dem Kopf auf den zerknitterten
Seidenschal gedeutet, der den Hunden als Fährte dienen sollte. Vor
dem Essen hatte Meryn ihn an sich genommen. Jetzt holte er ihn
heraus, wickelte ihn sich um die Hand und stimmte sich auf die Frau
ein, die ihn getragen hatte.
Und da war er. Titus Marcus Olivinus. Er war älter
geworden, sein Haar wurde grau, seine harten Augen blickten
wachsam, sein Herz und seine Seele waren schwer vor Hass und Angst.
Besessen kreiste sein ganzes Sein um einen einzigen Menschen.
Eigon.
Jess.
Eigon.
Sie waren nicht dieselbe Person. Es gab keinerlei
Anzeichen einer Wiedergeburt, keine Verwandtschaft, keine
Abstammung. Nur Titus brachte die beiden in seinem Wahn
in Verbindung. Nein. Nicht in seinem. Meryn tastete in größere
Fernen, folgte geheimen Pfaden, die durch die Luft um ihn
verliefen. Hier war es passiert. Hier, wo die Linien sich kreuzten.
Jess war interessiert gewesen, mitfühlend, verletzlich. Irgendwie
war sie in Eigons Erinnerungen geraten, irgendwie hatte sich ein
Pfad zwischen ihnen aufgetan.
Aber es hatte auf beiden Seiten funktioniert.
Daniel. Daniel und Titus. Nachdenklich fuhr sich Meryn über das
Kinn. Daniel war Jess hierhergefolgt, und Titus war Eigon gefolgt.
Jetzt sah er Daniel. Groß, angespannt, eifersüchtig. Daniel hatte
wieder Hass und Zorn in die Berge gebracht, seine Gefühle hatten
als Energieleiter fungiert. Die Lebensgeschichten waren aufgeflammt
und wie ein Wildfeuer zwischen den vier Gestalten ausgebrochen, die
sich hier in diesem Haus begegnet waren. Und die Zerstörung hatte
ihren Lauf genommen.
»Aber bist du noch am Leben, Jess?« Meryn öffnete
das Tor und blieb eine Minute auf dem Pfad stehen. Der Donner und
die Blitze hatten die Luft gereinigt, jetzt spürte er alles mit
mehr Klarheit. Sie war nach rechts abgebogen und bis zum Gipfel
aufgestiegen, dann war sie halb zurückgekehrt. Sie hatte den Pfad
verlassen, war einem inneren Drang gefolgt. Der hatte sie in die
Bäume und schließlich hinter das Bauernhaus geführt.
Sie hatte jemanden singen gehört. Das war’s. Eine
Stimme hatte sie immer tiefer in die Wälder geführt. Wie im
Märchen. Er lauschte und spitzte die Ohren. Diese Stimme war
gespenstisch gewesen. Die Stimme einer Frau, die um ihren toten
Geliebten weinte.
Jess war ihr gefolgt, so wie Glads ihr zweitausend
Jahre zuvor gefolgt war. Die Frau hatte neben dem Leichnam ihres
Mannes gekniet, einem keltischen Krieger, gestorben auf dem
Schlachtfeld, nackt bis auf seinen Schild. Sein Schwert
hatten die Plünderer geraubt, die es bei jeder Schlacht gibt,
seine Augen hatten die Raben ausgepickt.
Glads blieb bei ihr stehen und schaute auf den
toten Mann hinunter. Die Frau hob den Kopf, Tränen rannen ihr über
die Wangen, und sah das kleine Mädchen mit dem verängstigten
Gesicht, dem schmutzigen Kleid, den Kratzern an Armen und
Beinen.
Meryn verfolgte, wie die beiden sich in ihrer
Einsamkeit und ihrem Kummer umarmten. In Glads’ Beisein begrub die
Frau ihren Mann, damit sein Leichnam vor den Vögeln geschützt war.
Glads sah, wie die Frau für seine Seele betete, dann gingen die
Frau und das Kind Hand in Hand vom Schlachtfeld in den Nebel
fort.
Er seufzte. Aus irgendeinem Grund konnte er ihnen
nicht folgen. Jemand hatte eine Barriere errichtet. Er schaute sich
nach Jess um. Sie hatte die Frau auch gehört und war dem Geräusch
gefolgt. Wo war sie also? Er bog nach links auf den Pfad ab, ging
in der Dunkelheit langsam zwischen den Hecken dahin und bog noch
einmal links durch ein Gatter auf ein Feld ab. Hier konnte er mehr
sehen, der Mond war aufgegangen. Der Weg führte hinter Ty Bran
vorbei in die Dunkelheit der Schlucht, die ein Bach in die
Bergflanke geschnitten hatte. Das Gelände war dicht mit Eichen und
Birken bewachsen und fiel steil zum rauschenden Wasser hin ab. Wenn
Jess tatsächlich abgestürzt war, könnte sie schwer verletzt sein.
Er brauchte Hilfe, und er brauchte eine Taschenlampe. »Warte auf
mich, Jess«, flüsterte er. »Bleib hier. Ich hole Rhodri. Wir
kommen. Bald.«