Kapitel 6
Am Nachmittag folgte sie dem Weg in den Wald, watete durch glitzernde Wasserlachen, hörte das geschäftige Rascheln der Blätter im Wind, spürte die Sonne auf ihrem Gesicht. Der Weg wand sich bergauf durch Eschen und Eichen, stellenweise so nah am Waldrand, dass sie über das weite Flusstal nach Norden blicken konnte. Der Fluss war von hier aus zu erkennen, ein blau schimmerndes, von Weiden gesäumtes Band, das sich durch die Flussauen schlängelte. Aus der Ferne hörte sie Schafe blöken und das Miauen eines Bussards, der hoch über den Bergen seine Kreise zog. Es war wunderbar friedvoll hier und kaum vorzustellen, dass in der Nähe eine Schlacht stattgefunden haben sollte.
Als Jess schließlich die Gruppe uralter, mit Flechten überzogener Eichen und die ehrwürdige einsame Eibe knapp unterhalb des Gipfels erreichte, war sie außer Atem. Der Hang fiel steil nach Süden ab, fast wirkte er terrassiert, knorrige Wurzeln und Dornengestrüpp schmiegten sich an den Abhang, der sich bis zum Wildbach weit unter ihr erstreckte. Während Jess dort stand und wieder zu Atem kam, schnürte nur wenige Meter von ihr entfernt ein Fuchs über die Lichtung. Er konzentrierte sich derart auf seinen Weg, dass er Jess gar nicht bemerkte, und war gleich darauf im Unterholz verschwunden.
Sie setzte sich auf einen bemoosten Holzklotz, der am Fuß einer Eiche stand, lehnte sich an den Stamm und beschloss, in der Sonne ein paar Minuten zu rasten. Unvermittelt hörte sie in der Ferne einen Hund bellen.
 
Der Präfekt schickte zehn Männer zu der Stelle, wo er Cerys und Eigon gefunden hatte. Den ganzen Tag suchten sie die Wälder nach den beiden Kindern ab, doch ohne Erfolg. Dann durchkämmten sie die Gegend noch einmal mit Hunden, und schließlich führten sie Eigon, begleitet von ihrer Mutter, zu dem halb verfallenen Viehstall. Das Mädchen weinte, als Cerys mit ihr zwischen den Bäumen hindurchging, gefolgt von den Legionären. Die Männer waren bedrückt. Sie und ihre Hunde hatten jeden Fuchs-und jeden Dachsbau mit seinen meilenlangen Verbindungsgängen abgesucht, ebenso den nant, der über sein felsiges Bett plätscherte, alle Gräben und Senken unter den Wurzeln der Bäume. Es gab keinen Ort, an dem sie noch suchen konnten. Wieder war es stürmisch, die Äste schlugen peitschend auf und ab, Laub wirbelte strudelnd in den Schlamm und verdeckte alle Spuren, die noch nicht von den genagelten Sandalen der Soldaten zertrampelt worden waren.
»Versuch dich zu erinnern, mein Herz. Seid ihr den Berg hinaufgelaufen oder eher aufs Tal zu? Weißt du das noch? Habt ihr den Bach überquert?« Cerys hielt die Hand ihrer Tochter sehr fest und tat ihr Bestes, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.
»Wir haben Verstecken gespielt. Ich hab ihnen gesagt, sie dürfen nicht rauskommen.«
»Das war auch richtig so. Das hatte ich dir ja aufgetragen.« Cerys’ Stimme zitterte. »Aber jetzt müssen wir nach ihnen rufen.«
Es wurde bereits dunkel, finstere Regenwolken zogen vom Westen übers Land herein und raubten dem Sonnenuntergang alle Farben.
Zwei Legionäre näherten sich dem Offizier und salutierten. »Wir werden sie nicht finden, Präfekt. Wir haben jeden Zoll abgesucht. Entweder haben sie sich von allein auf den Weg gemacht, oder jemand oder etwas hat sie geholt.«
»Nein!« Cerys’ verzweifelter Aufschrei hallte durch die Bäume. Sie ließ Eigons Hand los und packte den Präfekten am Arm. »Bitte, Ihr dürft die Suche nicht einstellen. Das dürft Ihr nicht!«
Er betrachtete sie nachdenklich. Die Frau hatte Recht. Es war zwar weniger die Not der Kinder, die ihn davon abhielt, die Suche einzustellen, als vielmehr der Gedanke, was der Oberbefehlshaber sagen würde, wenn zwei Mitglieder von Caratacus’ Familie fehlten. Geiseln waren immer ein wertvolles Unterpfand, und diese Geiseln noch mehr als andere. Das Gewicht, das sie bei Verhandlungen besaßen, war nicht zu unterschätzen. Er wandte sich an die beiden Legionäre. »Dehnt die Suche aus. Wenn es sein muss, die ganze Nacht hindurch. Holt fünfzig Mann Verstärkung.«
Justinus selbst brachte Cerys und ihre Tochter zum Lager zurück und begleitete sie bis zum Eingang ihres Zeltes. Als Eigon es betrat, ihr erschöpftes Gesicht vom Weinen verquollen, hielt er Cerys mit einer Geste zurück.
»Könntet Ihr die Männer identifizieren, die Euch überfallen haben?«, fragte er.
Cerys schüttelte den Kopf. »Ich habe das Bewusstsein verloren. Ich erinnere mich nicht an …«
»Und das Kind?«
Wieder schüttelte Cerys den Kopf. »Wie könnte ich sie danach fragen?«
»Wenn Ihr wollt, dass die Männer bestraft werden, müsst Ihr sie fragen.« Er sah sie mit einem strengen Blick an. »Herrin, bedenkt, dass dieselben Männer Euren Sohn und Eure jüngere Tochter gefunden haben könnten.«
Vor Kummer stöhnte sie auf und wandte sich ab. Als sie sich wieder zu ihm drehte, hatte er bereits salutiert und marschierte durch den Schlamm in die Dunkelheit davon. Die Wachposten vor ihrem Zelt kreuzten vor dem Eingang wieder die Lanzen. Innen, im warmen Licht der einen Öllampe, die auf der leeren Kleidertruhe stand, sah Cerys die Frau, die ihnen als Bedienstete zugewiesen worden war, wie sie Eigon das Haar mit einem Tuch trocknete.
»Mein Herz!« Sie bedeutete der Frau zu gehen, kniete sich vor ihre Tochter und umfasste ihre Oberarme. »Ich möchte, dass du mir etwas sagst. Der Mann, der dir so schrecklich wehgetan hat« - sie hielt kurz inne und sah Eigon unverwandt ins Gesicht -, »würdest du ihn wiedererkennen?«
Eigons Augen weiteten sich vor Entsetzen. Einen Moment war sie wie erstarrt, doch dann nickte sie widerstrebend.
»Woran würdest du ihn erkennen?«
»Er hatte Augen wie ein Wolf. Die Farbe von deinen Sonnentränen.«
Bernstein.
»Oben am Arm war er tätowiert. Aber es war kein schönes Muster wie bei unseren Kriegern, sondern grausam und hässlich. Das Bild von einem römischen Schwert, und darauf war etwas geschrieben.«
Cerys atmete tief durch, löste den Griff um die Arme ihrer Tochter und ballte die Hände in den Falten ihres Rockes so fest, dass die Knöchel weiß wurden. »Wenn du ihn sehen würdest, würdest du ihn erkennen?«
Das Mädchen nickte. »Sein Gesicht ist ein Bild in meinem Kopf. Und sein Arm auch. Ich habe mir den Arm genau angeguckt, als er« - sie schwieg, überwältigt von der schrecklichen Erinnerung -, »als er mir so wehgetan hat. Ich werde seinen Arm nie vergessen …«
 
»Sein Arm!« Jess riss die Augen auf. Der Arm quer über ihrem Hals, der sie nach hinten drückte, sie auf das Bett presste - plötzlich sah sie ihn so deutlich vor sich wie ihre eigene Hand, die zusammengeballt auf ihren Knien lag. Und der Arm war zwar gebräunt und mit feinen dunklen Haaren überzogen, aber es war eindeutig der Arm eines Weißen. Es war nicht Ash!
Sie saß immer noch mit dem Rücken am Baum gelehnt da. Die Sonne schien immer noch. Über ihr schrie ein Bussard, ein einsamer, wilder Ruf hoch oben in den Wolken. Plötzlich zitterte sie am ganzen Leib. Das Schwein! Er drückte sie aufs Bett. Sein Gesicht war da, über ihr, sie brauchte nur die Augen zu öffnen, dann würde sie sein Gesicht sehen. Aber sie sah sein Gesicht nicht. Die Erinnerung war fort.
»Verdammt!« Sie senkte den Kopf, bis die Stirn auf ihren Knien ruhte. William. Es musste William gewesen sein.
William - nein, die Vorstellung war unerträglich.
Aber wenn nicht William, wer dann?
Daniel?
Erst eine ganze Weile später stand sie auf und kehrte langsam zum Haus zurück.
Dort ging sie schnurstracks zum Telefon, um Daniel anzurufen. Sie konnte ihn ja zumindest fragen, ob er das Chaos im Esszimmer angerichtet hatte. Als Scherz, wie Rhodri gemeint hatte. Ein toller Scherz.
Der Anrufbeantworter blinkte. Eine Nachricht von Rhodri. »Jess? Ich habe gerade gesehen, dass es heute Abend auf Radio 4 ein Hörspiel gibt, es geht um Cartimandua. Haben Sie je von ihr gehört? Hören Sie sich’s an. Ich glaube, es könnte Sie interessieren. Um acht Uhr.«
»Nein, ich habe nichts von ihr gehört! Wer zum Teufel soll Cartimandua sein?«, brummelte Jess, während sie Daniels Nummer wählte. Sein Telefon läutete endlos, doch weder Daniel noch sein Anrufbeantworter ging ran. Seufzend legte sie wieder auf.
Im Haus war es sehr still - auf eine fast gespenstische Art, als würde jemand lauschen. Jess ging zur Tür und schaute in den Flur hinaus, dann suchte sie das ganze Haus ab. Niemand war da, und nichts deutete darauf hin, dass während ihres Spaziergangs jemand da gewesen wäre.
Als die Sonne unterging, verriegelte sie die Haustür, entfernte Stephs Trockenblumen aus dem Kamin im Wohnzimmer und zündete ein Feuer an. Zum Abendessen machte sie sich Rührei auf Toast, dann saß sie in der langen Abenddämmerung am Boden, hörte Radio und beobachtete, wie die Flammen aus den alten Apfelscheiten die rußgeschwärzten Kaminsteine umloderten.
Wie sich herausstellte, war Cartimandua eine Keltenkönigin der Eisenzeit, eine Zeitgenossin von Caratacus und Boudicca, doch im Gegensatz zu ihnen war sie mit Rom verbündet. Jess stellte ihren Teller beiseite, lehnte sich, ein Glas Wein in der Hand, bequem auf dem Sofa zurück und hörte gebannt zu. Caradoc. Während die Dämmerung langsam in Dunkelheit überging, hallte der Name durch den Raum. Caradoc war der Name, unter dem die Kelten ihren Kriegerkönig kannten, Caratacus war die römische Version. Er war der Mann, dessen Armee im Tal unterhalb von Stephs Haus besiegt worden war. Und jetzt erfuhr Jess auch, was in der Folge mit ihm passiert war. Nach der Schlacht war er, wenn auch schwer verwundet, in die Berge geflohen, zuerst nach Norden und dann nach Osten ins Land der Briganten, dem großen Zusammenschluss von Stämmen, über den Königin Cartimandua, seine Cousine, herrschte. Dort, so glaubte er, würde er Zuflucht und Unterstützung finden. Doch er täuschte sich. Cartimandua setzte ihn fest und lieferte ihn seinen Feinden aus, denn sie fühlte sich an den Vertrag gebunden, den sie mit Kaiser Claudius geschlossen hatte, der sieben Jahre zuvor in Britannien einmarschiert war.
»Dumme Pute!« Jess legte Holz nach und schenkte sich noch ein Glas Wein ein. »Und was ist dann mit ihm geschehen?«
Die Antwort darauf erfuhr sie nicht, im Weiteren drehte sich das Hörspiel um die Lebens- und Liebesgeschichten Cartimanduas. Nachdem geschildert wurde, wie die römischen Wachposten Caratacus in Ketten fortgeschleppt hatten, wurde er nicht weiter erwähnt. Jess fragte sich, ob Cartimandua wohl je wieder einen Gedanken an ihn verschwendet hatte.
Als das Hörspiel zu Ende war, blieb Jess noch eine ganze Weile am Boden sitzen, schaute in die Flammen und hörte auf das Knacken der brennenden Scheite. Hatte Caratacus seine Frau und Kinder jemals wiedergesehen? War er getötet worden? Hatten die Römer sie alle hingerichtet? Das wusste sie nicht.
Aber sie hatte den starken Verdacht, dass Eigon und Glads es ihr sagen würden.
In ihren Träumen, oder wenn die beiden Geisterkinder, die Caratacusʹ Töchter gewesen waren, in ihrer Angst und Wut durchs Haus tobten, würden sie ihr die Geschichte erzählen, ob Jess sie nun hören wollte oder nicht. Sie schauderte. Ihr blieb keine andere Wahl. Durch die Erfahrung von Vergewaltigung und Verrat war sie jetzt mit Eigon verbunden, und solange sie, Jess, in diesem Haus war, würde sie Eigons Geschichte zuhören müssen.
 
Ist Papa da?
Die quäkige, dünne Stimme hallte angstvoll über das Geräusch des Windes und des Regens hinweg zu ihr. Jess lag still da, die Decke bis unters Kinn hochgezogen, und starrte zur Decke. Es war halb drei Uhr morgens, sie hatte gerade noch einmal auf den Wecker geschaut. Sie schloss die Augen vor dem Schein der Nachttischlampe und drehte sich um, die Decke über den Kopf gezogen, um nicht geblendet zu werden. Sie traute sich nicht, das Licht auszumachen.
Hören wir mit dem Spiel auf? Papa wird wissen, wo Togo und Glads sind. Er weiß alles.
Von der Tür war ein Klicken zu hören. Jess drehte sich um und starrte sie panisch an. Langsam schwang sie auf. Im dahinterliegenden Flur war es pechschwarz.
Sie presste sich das Kissen an die Brust und setzte sich auf. Jemand kam durchs Zimmer auf sie zu. Sie konnte die Person, wer immer es war, weder sehen noch hören, sie spürte nur ihre Präsenz. »Geh weg!«, schrie sie. Ihre Stimme zitterte. »Bitte, geh weg. Ich kann dir nicht helfen. Ich weiß nicht, wo sie sind. Ich weiß nicht, wo dein Vater ist!«
Die Präsenz blieb stehen, sie lauschte. Jess klammerte sich am Kissen fest. »Wenn ich es könnte, würde ich dir wirklich gern helfen. Dein Vater hat sich an die Königin der Briganten gewendet. So viel weiß ich zumindest. Er ist in der Schlacht verwundet worden, aber war noch am Leben.«
Die Stille im Raum verdichtete sich, bis sie mit Händen zu greifen schien. Das Atmen fiel Jess schwer, ihr Mund war trocken, ihre Augen brannten. »Bitte, Eigon, geh wieder. Ich kann dir nicht helfen. Ich würde es tun, wenn ich es könnte. Ich weiß, wie es dir geht …« Sie machte eine kurze Pause. »Ich verstehe dich.« Natürlich verstand sie sie! Das Gefühl, des eigenen Willens beraubt zu werden, der Schmerz tief in ihrer Seele, die Qual einer Frau, die vergewaltigt und misshandelt und wie tot liegen gelassen worden war. Und dieses Mädchen war noch nicht einmal eine Frau gewesen, als die Männer über sie hergefallen waren!
»Mein Herz, ich weiß, wie es dir geht. Aber mit der Zeit wird es besser.« Sie schauderte. Wie konnte sie das einfach so behaupten? Solche Gemeinplätze von sich geben? Und das zu einer vagen Schattengestalt, die mitten in ihrem Schlafzimmer stand, obwohl sie, Jess, nicht einmal wusste, ob das Kind noch lange gelebt hatte, ob sein Vater, seine Mutter und seine Geschwister noch lange gelebt hatten. Alle konnten wenige Tage oder Wochen nach der Schlacht hingerichtet worden sein. Eines stand auf jeden Fall fest: Mittlerweile waren sie alle tot.
»Ich schlafe«, sagte sie unvermittelt zu sich selbst. »Das alles passiert überhaupt nicht. Das ist ein Traum. Ich schlafe, niemand ist hier. Ich bin ganz allein. Bald ist es Zeit, aufzustehen. Ich werde in der Sonne sitzen und frühstücken und mich fragen, worüber ich mich so aufgeregt habe. Ach was, ich werde mich an die ganze Sache überhaupt nicht erinnern.«
Das Kind war fort, das spürte sie. Jess sah sich im Zimmer um. Da war niemand mehr. Das Mondlicht wanderte über den Garten. In wenigen Sekunden würde es ihr Schlafzimmerfenster erreichen und einen silbernen Strahl auf den Boden werfen, und damit würde ihre Angst vorbei sein. Sie legte sich hin, ihr Atem ging jetzt leichter. Wenige Minuten später war sie wieder eingeschlafen.
 
Noch im Nachthemd, mit bloßen Füßen und ungekämmten Haaren trank sie am nächsten Morgen in der Küche schwarzen Kaffee, als das Telefon klingelte. Es war Rhodri. »Hören Sie Radio? Dann schalten Sie es ein. Sofort. Ich rufe später wieder an.«
Ihr dröhnte der Kopf, die Amnesie, die sie sich in der Nacht zuvor verordnet hatte, war ausgeblieben. Stöhnend stand sie auf und stellte das Radio an.
»Viv Lloyd Rees und Pat Hebdens Dokudrama Königin des Nordens, das wir gestern Abend ausstrahlten, war ein großer Erfolg«, sagte der Moderator gerade. »Jetzt sitzen die beiden Damen bei mir im Studio. Wir werden uns über ihr Hörspiel unterhalten, über ihre Recherchen dafür und über die außerordentlichen Erlebnisse, die ihnen widerfuhren, als sie die Geschichte ihrer Heldin erforschten.«
Jess setzte sich wieder, trank einen Schluck Kaffee und hörte dem Bericht der beiden Frauen zu. Indem sie die Vergangenheit untersuchten, hatten sie sie offenbar zum Leben erweckt. Selbst jetzt noch war ihnen unverkennbar unbehaglich dabei, über ihre Erfahrungen zu sprechen und die grauenhaften Erlebnisse zu schildern, die ihnen bei der Beschäftigung mit Cartimandua zugestoßen waren - Erlebnisse, die zu einer Katastrophe und sogar zu einem Todesfall geführt hatten.
Jess lauschte der Sendung mit wachsendem Grauen und wachsender Faszination, bis zu den gespenstischen disharmonischen keltischen Klängen der Abspannmusik. Nachdenklich stellte sie das Radio aus und griff nach dem Hörer. »Woher wussten Sie, dass die Sendung läuft?«, fragte sie, als Rhodri abhob.
»Das haben sie doch gestern nach dem Hörspiel angekündigt. Haben Sie das nicht gehört? Was sagen Sie dazu?«
Jess hörte bei Rhodri im Hintergrund donnernde Orchestermusik spielen, und plötzlich wünschte sie sich, in der gemütlichen Küche der Prices zu sitzen. »Ich fand es erschreckend. Glauben Sie wirklich, was die beiden erzählt haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das Stück über die Königin trotzdem fertig geschrieben haben. Ich hätte viel zu viel Angst gehabt, dass ich mit jedem Wort, das ich schreibe, die Toten noch weiter zum Leben erwecke.« Sie überlegte kurz. »Habe ich das auch gemacht, Rhodri? Die Geister hier geweckt?« Sie hatte ihre anfängliche Feindseligkeit gegenüber diesem Mann vergessen. Er verstand einfach vieles.
»Ich weiß nicht, ob nur Sie das sind«, meinte er nachdenklich. »Schließlich hat Steph auch schon dieses und jenes bemerkt. Obwohl es wirklich aussieht, als hätten Sie die Geister ganz besonders geweckt!«
Jess biss sich auf die Unterlippe. Er kannte ja nicht die Verbindung zwischen Eigon und ihr. Den Grund, weshalb das Mädchen, die Tochter Caratacus’, zu ihr kam und bei ihr Trost suchte. Und um Hilfe bat. Tat sie das wirklich?
»Es war auf jeden Fall interessant, fanden Sie nicht?«, fuhr Rhodri gut gelaunt fort. »Vielleicht sollten Sie mal nachschauen, ob die beiden nicht eine Website haben. Solange Sie keine Angst haben! Ein glücklicher Zufall, dass ich die Sendung gestern in der Fernsehzeitschrift gesehen habe. Ich habe nach einem Konzert mit mir gesucht, aber das kommt erst heute Abend.«
Jess lächelte matt. »Ich höre es mir an …« Sie brach ab, als die Spiegelung einer Windschutzscheibe über die Mauer huschte. »Rhodri, Entschuldigung, ich kriege Besuch. Ich ruf Sie später nochmal an.«
Williams rotes MG Sportcoupé war in den Hof gefahren. Jetzt stieg er aus, nahm die Sonnenbrille ab und schaute sich um. »Jess?« Er ging zur offenen Haustür. »Jess, bist du da?« Wenige Sekunden später stand er ihr gegenüber in der Küche. »Da bist du ja! Mein Gott, es war wirklich nicht leicht, dich aufzustöbern, Jess.« Er trat auf sie zu, doch als er die Panik auf ihrem Gesicht bemerkte und sah, wie sie ängstlich hinter den Tisch zurückwich, blieb er stehen. »Was ist denn los? Entschuldigung, habe ich dich erschreckt? Ich dachte, du hättest mich durchs Fenster gesehen.« Er warf seine Sonnenbrille auf den Tisch. »Ist in der Kanne noch ein bisschen Kaffee? Die Fahrt von London ist einfach höllisch weit. Weißt du noch, wie wir manchmal zusammen hergefahren sind, um vor Sonnenaufgang hier zu sein, noch bevor Steph aufstand?« Er zog einen Stuhl zu sich und setzte sich, dann musterte er ihr Gesicht. »Jess, was ist denn los? Was soll das Ganze?«
Seufzend nahm sie ihm gegenüber Platz. »Du weißt, worum es geht, William. Und du weißt, dass ich dich nie mehr sehen wollte. Also warum bist du hergekommen?«
»Ich bin gekommen, weil du auf meine Anrufe nicht reagiert hast, Jess. Ich will wissen, weshalb. Ich dachte, wir hätten uns nach der Schulparty relativ einvernehmlich getrennt, ich dachte, wir könnten Freunde bleiben. Ich dachte, es hätte uns gefallen, wieder miteinander zu tanzen. Dann finde ich heraus, dass du gekündigt hast und verschwunden bist, und niemand will mir sagen, wo du steckst. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Wenn Daniel mich nicht gestern angerufen hätte …«
»Daniel hat dir erzählt, wo ich bin?«
»Er macht sich auch Sorgen, Jess.«
»Das glaube ich gern. Hat er gewusst, dass du in den Wagen springen und schnurstracks herfahren würdest?« Sie merkte, dass sie zunehmend hysterisch wurde.
»Ich weiß nicht …«
»Und du bist überhaupt nicht auf die Idee gekommen, anzurufen und mich zu fragen, ob es mir passt? Zu fragen, ob ich dich sehen will?«
»Ich habe mir gedacht, dass …«
»Von wegen hast du gedacht!«
»Wenn du mich bitte ausreden lassen würdest. Ich habe mir gedacht, dass du mich nicht sehen willst, Jess, deshalb bin ich unangemeldet gekommen. Ich dachte, dann könnte ich dich wenigstens sehen. Ich weiß, dass wir uns getrennt haben, Jess, aber sieh mir bitte nach, dass ich wissen will, ob bei dir alles in Ordnung ist.«
»Ob bei mir alles in Ordnung ist! Wie könnte alles in Ordnung sein nach dem, was du getan hast!«
»Also wirklich, haben wir das nicht lang genug durchgekaut?«
Beide hatten im Zorn die Stimme erhoben.
Können wir jetzt mit dem Spiel aufhören? Die Worte hallten durch die Küche.
Jess holte erschrocken Luft.
»Jess, weißt du, es tut mir sehr leid, dass wir uns getrennt haben.« William nutzte den kurzen Moment der Stille, er hatte die Kinderstimme offenbar nicht gehört. »Du kannst gar nicht wissen, wie leid es mir tut. Du bist mir immer noch sehr wichtig. Wie könntest du mir nach der langen Zeit plötzlich nicht mehr wichtig sein? Ich wollte nur wissen, ob bei dir alles in Ordnung ist. Nachdem das ja offensichtlich der Fall ist, kann ich gleich wieder fahren.« Er stand auf, zögerte kurz und setzte sich wieder. »Können wir dieses Gespräch bitte nochmal von vorn anfangen? Seit wir uns getrennt haben, sind wir nicht besonders freundlich miteinander umgegangen. Wir haben es geschafft, in der Schule höflich zueinander zu sein. Ich hatte gehofft, wir könnten wenigstens befreundet bleiben. Ich weiß nicht, was ich getan habe, dass du plötzlich einen solchen Hass auf mich hast. Bitte erklär’s mir.«
»Wie bitte? Du weißt es nicht? Du dachtest, was du getan hast, ist völlig in Ordnung?« Ihre Stimme bebte.
»Nein, natürlich nicht. Das war nicht gut von mir. Ich war arrogant und ein Schuft. Und es tut mir leid. Ich bedauere es wirklich zutiefst.«
»Du hast also gedacht, du würdest mir beweisen, wie sehr du mich noch liebst?« Ihre Stimme bebte. »Da hast du dir eine sehr merkwürdige Art ausgesucht, mir das zu beweisen. Verschwinde, William.« Plötzlich war sie den Tränen nahe.
»Jess …«
»Raus!« Ihre Stimme stieg gellend in die Höhe.
Bitte, können wir jetzt mit dem Spielen aufhören? Das kleine Mädchen flüsterte ihr jetzt direkt ins Ohr. Jess legte die Hände auf die Ohren und schüttelte den Kopf. »Geh!« Das richtete sie an das Kind.
»Jess …«
»Und du geh auch, William! Jetzt! Ich will dich nie mehr sehen!«
»Aber bitte …«
»Geh! Verschwinde!« Jetzt schrie sie. »Ich bin hierhergefahren, um von dir wegzukommen. Ich habe in der Schule gekündigt, um von dir wegzukommen. Ich dachte, es wäre Ash, aber der war’s ja nicht, wie wir jetzt wissen, nicht wahr? Du hast mich bloß in dem Glauben belassen! Du hättest ihn als den Schuldigen dastehen lassen, sein Leben ruiniert, nur um deine Haut zu retten! Du bist nicht bloß ein perverses Ekel, du bist auch noch feige. Wenn du wüsstest, wie nah dran ich war, zur Polizei zu gehen. Und das könnte ich immer noch!«
»Jess …«
»Raus, William.« Sie sprach in einem gefährlich scharfen Flüsterton. »Raus, und zwar sofort.«
Schweigend stand er auf und ging zur Tür. Einen Moment blieb Jess wie gelähmt stehen, dann lief sie zum Fenster und sah, wie William in den Wagen stieg, den Motor aufjaulen ließ und rückwärts aus dem Hof schoss, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Als er außer Sichtweite war, brach sie in Tränen aus.
Erst eine ganze Weile später hörte sie zu weinen auf. Dann ging sie zum Telefon und wählte Daniels Nummer. Beim dritten Klingeln hob er ab.
»Daniel! Wie konntest du bloß! Warum in aller Welt hast du ihm gesagt, wo ich bin?«
»Einen Moment.« Kurz herrschte Stille, dann hörte sie gedämpfte Stimmen, eine Tür knallte ins Schloss. Daniel kam wieder an den Apparat. »Wovon redest du, Jess?«
»Du weißt genau, wovon ich rede. Du hast William gesagt, wo ich bin.«
»Das hat er schon gewusst, Jess. Ich meine, es war ja nicht schwer für ihn zu erraten.«
»Aber du hast ihn angerufen. Du hast ihn angerufen und es ihm gesagt.«
»Nein. Er hat bei mir angerufen.«
Sie verstummte. William hatte sie also auch in der Sache angelogen. »Aber du hättest es ihm nicht zu bestätigen brauchen. Du hättest ihm sagen können, dass er mich in Ruhe lassen soll.«
Am anderen Ende der Leitung war ein amüsiertes Lachen zu hören. »Du schreibst mir weit mehr Einfluss auf ihn zu, als ich tatsächlich habe, Jess. Ich glaube nicht, dass ich ihn davon hätte abhalten können. Er hat alles darangesetzt, dich zu finden. Verstehe ich es recht, dass er mit dir gesprochen hat?«
»Er ist hier gewesen.«
Eine kurze Pause. »Ah so. Und was ist passiert?«
»Wir haben uns gestritten. Ich habe ihm gesagt, dass er verschwinden soll.«
»Und das hat er vermutlich auch getan, oder?«
»Ja.«
»Also, dann ist doch gar nichts passiert.«
»Nichts bis auf die Tatsache, dass du mich verraten hast.« Sie zögerte. »Ich habe schon mal versucht, dich anzurufen, Daniel. Ich habe nochmal über die Sache mit meinem Skizzenblock nachgedacht. Hast du das Haus hier so auf den Kopf gestellt? War das deine Vorstellung von einem Scherz? Hast du die Gläser zerbrochen und den Wein verschüttet?«
»Jetzt immer mit der Ruhe! Du weißt genau, dass ich es nicht war. Wie hätte ich das anstellen sollen? Und warum? Krieg dich wieder ein, Jess.«
»Aber es war doch ein Scherz, oder? Als was hast du es bezeichnet? Als Massenhalluzination? Du hast mich für ziemlich dumm verkauft, Daniel! Und jetzt hast du mir auch noch William auf den Hals gehetzt. Was willst du denn damit bezwecken?«
»Ich bezwecke gar nichts, Jess!« Daniel war empört. »Reiß dich mal ein bisschen zusammen, meine Liebe.«
»Bevormunde mich nicht so!«
»Ich bevormunde dich nicht.« Sein Ton war übertrieben ruhig. »Ich versuche, dich zur Einsicht zu bringen. Du reagierst völlig überzogen. Wieso bist du so sonderbar? Du benimmst dich wirklich wie eine hysterische Zicke. Es könnte alle möglichen Erklärungen dafür geben. Hast du dir zum Beispiel überlegt, dass ein Vogel in die Küche geflogen und die Flaschen und Gläser umgeschmissen haben könnte? Vielleicht hat er sich an einer Scherbe verletzt.«
»Und ist dann wundersamerweise wieder genesen?« Ihre Stimme war eisig geworden. »Nein, Daniel, es war kein Vogel. In letzter Zeit sind ziemlich viele scheußliche Sachen passiert. Die haben alle nichts mit Tieren zu tun. Deine Hand, zum Beispiel. Wie ist sie so schnell verheilt?«
Es entstand eine weitere Pause, dann seufzte Daniel dramatisch. »Der arme William. Ist das alles immer noch wegen des Vorfalls in London, Jess? Also wirklich, so schlimm war es auch wieder nicht. Jeder würde meinen, ein bisschen heftiger Sex und ein paar Klapse seien das Ende der Welt. Du übertreibst. Du hast ihn zum Bösewicht gestempelt, er hat keine Chance mehr. Kein Wunder, dass er sauer ist.« Als er verstummte, herrschte eine ganze Weile Schweigen. »Jess, bist du noch dran?«, fragte er dann.
»Woher weißt du, was in London passiert ist?«, fragte Jess. »Ich habe es dir nie erzählt, Daniel.«
»Freilich hast du’s mir erzählt. Zumindest andeutungsweise. Du hast beschlossen, dass es dir keinen Spaß gemacht hat, dass du vergewaltigt worden bist oder so ähnlich, und das macht dir gehörig zu schaffen. Du bist wirklich ziemlich durch den Wind.«
Innerlich wurde Jess eiskalt, einen Moment verschlug es ihr die Sprache. »Wer hat etwas von Vergewaltigung gesagt?«, brachte sie schließlich hervor.
Er zögerte. »Na ja, vielleicht ist das Wort Vergewaltigung selbst nicht gefallen, aber es war nicht schwer, sich zusammenzureimen, was deiner Ansicht nach passiert ist. Ein bisschen nicht ganz einvernehmlicher Geschlechtsverkehr. Und du hast beschlossen, es Vergewaltigung zu nennen, stimmt’s nicht? Du hast alles so aufgebauscht, weil du zu betrunken warst, um dich noch an etwas zu erinnern, und dann hast du beschlossen, ein Riesendrama daraus zu machen.«
Einen Moment herrschte Stille, Jess sah noch einmal den Arm vor sich, der sie aufs Bett drückte, die gebräunte Haut, die dunklen Härchen.
Es war nicht William gewesen. Er konnte es nicht gewesen sein. William hatte blonde Haare.
»Du warst es, stimmt’s?«, sagte sie langsam. »Du hast mich vergewaltigt! Du hast Ash und William so überzeugend die Schuld zugeschoben, dass ich mich habe täuschen lassen. Ich bin nicht mal auf die Idee gekommen, dass du es hättest sein können. Aber es war dein Arm, der mich aufs Bett gedrückt hat. Dein Gesicht in meinen Alpträumen.« Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden. »Ich bin ja so dumm gewesen. Ich habe dir vertraut. Du bist ein unsagbar widerliches Schwein!«
»Sei nicht albern!«
»Nein, Daniel, plötzlich weiß ich alles wieder ganz genau. Du bist Ash und mir nach Hause gefolgt. Vor der Haustür hast du Ash weggeschickt und bist mit mir in die Wohnung hoch. Wir haben noch einen Wein getrunken …«
»Nein, Jess.«
»Warum? Was hast du mir gegeben? Du hattest dich also vorbereitet? Du hast K.-o.-Tropfen zu einer Schülerdisco mitgebracht!« Sie brach ab, ihre Hände waren schweißnass, sie konnte kaum noch das Telefon halten. »Was genau hast du vorgehabt, Daniel? Hattest du es auf mich abgesehen, oder war das eher egal? Wärst du mit jeder zufrieden gewesen? Mit einem der Mädchen, vielleicht? Einem Kind!«
»Jess, du spinnst!«
»Nein. Ich fange gerade erst an, etwas zu begreifen. Weiß Natalie von deinem netten kleinen Hobby, Daniel? Der Rektor weiß nicht Bescheid, das steht fest. Aber er sollte Bescheid wissen, oder nicht?«
»Jess, du bist total verrückt!«
»Nein. Mir wird gerade erst klar, wie dumm ich gewesen bin. Es gab doch tausend Hinweise. Du beobachtest die Mädchen, du fasst sie an. Ich hab’s doch gesehen!«
»Jess, ich warne dich. Das ist üble Nachrede …« Daniels Stimme war heiser vor Wut.
»Nein, Daniel, das ist die Wahrheit.«
»Jess, du verstehst das alles ganz falsch. Hör mal, ich fahre zu dir!«
»Spar dir die Mühe. Es ist zu spät.«
»Das glaube ich nicht. Ich komme. Ich kann dir alles erklären. Du täuschst dich auf ganzer Linie!«
»Ich täusche mich nicht, Daniel. Ich gehe zur Polizei.« Plötzlich war sie die Ruhe selbst.
Als Daniel schließlich antwortete, war ihm der Schock anzuhören. »Wenn du zur Polizei gehst, Jess, bin ich erledigt. Und Nat und die Kinder auch. Das willst du doch bestimmt nicht.« Sie hörte seine wachsende Panik. »Du hast die Situation völlig missverstanden. Ich wollte dir wirklich keinen Schrecken einjagen. Ich dachte, du wolltest es auch. Du wolltest es ja auch. Du hättest dich mal sehen sollen. Du warst so betrunken.« Er lachte verächtlich. »Das waren keine Drogen. Das bildest du dir nur ein. Es war bloß der Alkohol. Ash hat dir alles Mögliche zu trinken gegeben. Die Kids hatten doch literweise Alk dabei. Am Ende der Disco lagen die meisten im Koma. Zum Teufel noch eins, Jess, du darfst es niemandem sagen. Dann kann ich meine Karriere vergessen.« Er machte eine Pause. »Außerdem würde dir sowieso niemand glauben. Schließlich hast du ja bislang niemandem davon erzählt, oder?« Als sie schwieg, lachte er böse. »Das habe ich mir doch gedacht. Also, ich fahre jetzt los. Ich mache es wieder gut, ich kann dir alles erklären. Warte einfach!«
»Das tue ich nicht. Ich werde nicht hier sein, wenn du kommst, Daniel«, gab sie zurück. Ihre Worte hallten in die Stille hinein. »Daniel? Bist du noch dran?« Hatte er aufgelegt? Aber sie hörte doch, dass die Leitung nicht tot war.
Am Ende der Wiese, wo die Telefonleitung ein Stück weit durch den Wald verlief, brach ein Ast ab, verfing sich darin, blieb ein paar Sekunden baumeln und fiel dann auf den Boden. Die Leitung war unterbrochen.
»Daniel? Daniel, hörst du mich? Untersteh dich herzukommen!« Jess knallte den Hörer auf. Ihre Hände zitterten.
Können wir jetzt aufhören zu spielen?
Die Stimme war lauter als zuvor. Es war Glads.
Panisch sah Jess sich um. Sie würde nicht einfach hier sitzen und warten, bis Daniel kam und sie zu überreden versuchte, das Vorgefallene einfach zu vergessen. Nicht, wenn er so wütend war, wie er am Telefon geklungen hatte. Sie musste weg. Was hielt sie denn hier? Nur Stephs blöde Pflanzen. Und die waren jetzt ihre geringste Sorge.
In weniger als einer halben Stunde hatte sie alles gepackt und im Wagen verstaut. Wie weit war es von Shrewsbury nach Ty Bran? Wie lange würde Daniel für die Fahrt brauchen? Sie musste weg sein, bevor er kam. Sie sauste noch einmal ums Haus, um alle Türen abzuschließen, dann setzte sie sich ins Auto.
Es sprang nicht an.
»Tu mir das nicht an!« Sie schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad und drehte den Zündschlüssel noch einmal um. Nichts. Die Batterie war leer. Hatte sie denn die Scheinwerfer brennen lassen? Mist. Mist Mist Mist! Sie versuchte, ruhig durchzuatmen. Was konnte Daniel ihr antun? Er war wütend, er drohte ihr. Er konnte sie anschreien. Fluchen. Was noch? Was, wenn er gewalttätig wurde? Er könnte sie grün und blau schlagen. Oder sie noch einmal vergewaltigen. Oder versuchen, sie umzubringen. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Es stimmte, er hatte wirklich unendlich viel zu verlieren. War das ein Auto auf dem Feldweg? Panisch lauschte sie. Er konnte doch unmöglich schon hier sein. Sie schluckte, wie gelähmt vor Angst, bis ihr klarwurde, dass das Geräusch von einem Traktor irgendwo unten im Tal stammte, das in der unbewegten Luft nach oben trieb. Jess trat die Kupplung ein paarmal durch und drehte noch einmal den Zündschlüssel um. Immer noch nichts. Der Motor gab keinen Mucks von sich.
»O mein Gott, was soll ich bloß machen?«
Sie stieg aus und lief zum Telefon. Es war tot, und der Akku ihres Handys war leer.
 
Als Jess ankam, saß Rhodri am Klavier. Schon vom Tor aus hörte sie ihn singen, und sie blieb kurz stehen, gebannt von der Kraft und Schönheit seiner Stimme. Sobald die Hunde bellten, brach er ab und kam zur Tür. »Ach, Sie sind’s. Wie läuft die Gespensterjagd?«
Ohne Auto war ihr nichts anderes übrig geblieben, als über die Felder herzulaufen. »Darf ich rein?« Fast hatte sie Angst, dass sie, wenn sie sich umdrehte, Daniel sehen würde, der ihr übers Feld nachjagte.
Rhodri runzelte die Stirn. »Natürlich.« Er ging ihr voraus in die Küche. Durch die offene Wohnzimmertür sah Jess den Flügel mit dem geöffneten Deckel, auf der Klavierbank lagen Notizbuch und Bleistift, überall stapelten sich Noten. Sie hatte ihn bei der Arbeit gestört. »Was ist denn passiert? Sie sehen etwas mitgenommen aus.«
»Mitgenommen!« Plötzlich überlegte sich Jess, wie sie wohl wirklich aussehen musste - kaputt, außer Atem, das Haar zerzaust, die Schuhe verdreckt. Sie versuchte, sich zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Tränen traten ihr in den Augen. »Es tut mir sehr leid, Sie zu stören, aber ich brauche Ihre Hilfe! Das Telefon ist kaputt, und mein Handy funktioniert nicht.«
»Gut, dann setzen Sie sich doch mal.« Er griff nach dem Kessel, genau wie seine Mutter es getan hätte. Die beiden Hunde saßen in der Tür.
In den wenigen Sekunden, in denen Rhodri den Kessel füllte, bekam Jess sich wieder einigermaßen in den Griff. »Das Auto ist nicht angesprungen. Ich musste weg. Sie hatten Recht mit Daniel. Er ist nicht der Freund, für den ich ihn gehalten habe.«
»Und Sie laufen vor ihm davon?«, fragte er ungläubig.
Jess nickte unglücklich. »Dummerweise habe ich ihn angerufen und ihm Vorwürfe gemacht. Er sagte, er würde sofort herkommen. Ich habe meine Sachen ins Auto geworfen, ich wollte weg sein, bevor er ankommt. Aber dann ist das Auto nicht angesprungen, und ich konnte niemanden anrufen, und ich habe …« Sie brach ab und biss sich auf die Lippe, wütend über ihr Gefühl von Schwäche.
»Und Sie haben Angst bekommen?« Rhodri hob die Augenbrauen. Er stellte den Kessel auf den Küchenherd und setzte sich Jess gegenüber an den Tisch, schob Stapel von Briefen und Blöcken beiseite, um die Ellbogen aufzustützen und ihr Gesicht zu mustern. »Also, hier kann er Sie ja nicht finden, also erzählen Sie mir die Geschichte mal von Anfang an. Warum in Gottes Namen haben Sie Angst vor ihm? Als ich Sie beide das letzte Mal sah, kam mir Ihr Umgang sehr vertraut vor. Irgendwie geht es jetzt doch um mehr als nur einen dummen Streich.«
»Tut es auch.« Sie zögerte, widerstand dann aber dem Drang, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen. »Wir … wir haben uns an der Schule, an der wir unterrichten, nicht so recht verstanden.« Sie entschied sich für einen Kompromiss. Mein Gott, das würde sie sich nicht so schnell verzeihen, sich vor diesem Mann derart schwach gezeigt zu haben. Was musste er nur von ihr denken? »Deswegen habe ich gekündigt. Ich dachte, wir seien Freunde. Aber dann habe ich einen Fehler gemacht. Ich habe ihm gesagt, ich wüsste, dass er etwas Bestimmtes getan hat, und da ist er sehr wütend geworden.« Sie zwang sich zu einem matten Lächeln. »Es tut mir leid, Sie in die Sache reinzuziehen, aber er war so voller Zorn, als ich sagte, ich wüsste, dass er es gewesen ist. Und als er dann sofort herkommen wollte … Sie haben Recht, ich habe Angst gekriegt. Ich will ihn einfach nicht wiedersehen.«
»Das überrascht mich nicht.« Rhodri stand auf und machte Tee. »Wenn wir den getrunken haben, fahre ich Sie nach Hause. Dann kümmern wir uns um Ihren Wagen und warten auf den Casanova. Ich bin stärker als er, vergessen Sie das nicht!« Er zwinkerte ihr über die Schulter zu.
Trotz allem musste Jess lachen. Plötzlich nahm sie seine breiten Schultern und seinen muskulösen Oberkörper in dem Hemd mit dem offenen Kragen sehr bewusst wahr. Rasch schaute sie fort. »Das stimmt.«
»Dann lege ich ihm in aller Freundschaft nahe, dass er wieder fährt und Sie in Ruhe lässt.« Er schob einen Becher Tee zu ihr hinüber. »Sie Ärmste. Dabei sind Sie eigens in dieses gottverlassene Fleckchen Erde gekommen, um etwas Ruhe zu finden. Geister und arrogante Opernsänger und jetzt auch noch rachsüchtige Lehrer. Was für eine Mischung!«
»Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn Sie nicht da gewesen wären.«
»Ach, Ihnen wäre schon etwas eingefallen.« Er grinste. »Bald bin ich weg, eine Wohltätigkeitsgala in Mailand. Sie haben Glück, dass ich noch hier bin.«
Jess trank einen Schluck Tee und musste sich verblüfft eingestehen, wie enttäuscht sie über seine Abreise war. »Es tut mir wirklich leid, Sie in die ganze Sache mit reinzuziehen.«
»Machen Sie sich darüber mal keinen Kopf.« Plötzlich bemerkte er die Hunde und schnalzte mit den Fingern. Mit eingezogenem Schwanz schlichen sie nach draußen. »Schade, dass ich Ihnen die nicht als Wachhunde mitgeben kann. Die würden den Kerl verjagen. Aber sie würden nicht bei Ihnen bleiben. Ihre Arbeit ist hier.«
»Und die machen sie sehr gut.«
»Ja, es sind Arbeitshunde. Deswegen dürfen sie auch nicht ins Haus. Nicht, dass momentan Schafe hier wären. Deswegen können Mum und Dad ja auch ein paar Tage wegfahren. Dave, unser Schäfer, hütet die Herde oben auf dem Berg. Wenn ich weg bin, liegt die Verantwortung bei ihm.«
Jess lächelte. »Bei Ihrer Mutter dürfen die Hunde schon ins Haus. Ich habe gesehen, wie sie sie reinlässt.«
Rhodri lachte leise. »Ich wette, dass Dad das nicht weiß.« Er stand auf. »Also gut, sind Sie so weit?«
Als der massige Allrad über den steilen, holperigen Feldweg zum Haus hinauffuhr, ballte Jess die Hände vor Nervosität. Doch als sie in den Hof fuhren, war von Daniels Wagen nichts zu sehen. Rhodri stellte den Motor ab und stieg aus. »Dann schauen wir doch mal. Schlüssel?« Er streckte die Hand aus.
Mit einem ängstlichen Blick über die Schulter reichte Jess ihm die Autoschlüssel und sah zu, wie er die Tür aufschloss und sich auf den Fahrersitz setzte. Sie konnte nicht fassen, was sie gerade getan hatte: Sie hatte einen Mann um Hilfe gebeten und sich dafür den arrogantesten Kerl ausgesucht, den es auf Gottes Erdboden nur gab und der selbst nach eigenem Dafürhalten arrogant war, und jetzt händigte sie ihm auch noch ihren Autoschlüssel aus!
Das Auto sprang sofort an.
Ungläubig starrte sie es an. »Aber der Motor war tot. Die Batterie war leer. Hundertprozentig.«
Rhodri trat aufs Gas. »Klingt einwandfrei. Nettes kleines Auto.« Er warf Jess einen Blick zu und zwinkerte. »Vielleicht ist der Motor abgesoffen.«
»Das Auto hat keinen Ton von sich gegeben. Nicht mal das Lämpchen hat aufgeleuchtet, als ich den Schlüssel umgedreht habe!«, fuhr Jess auf. »Ich bin doch nicht blöd! Ich weiß, wie man ein Auto startet!« Ihre Panik war in Wut umgeschlagen.
Rhodri stieg aus, ohne den Motor abzustellen. »Wir lassen ihn ein bisschen laufen für den Fall, dass die Batterie nicht ganz voll war. Ich habe nie behauptet, dass Sie blöd sind, oder?«
»Nein, aber das haben Sie gedacht!«
»Das stimmt nicht.« Er ging auf das Haus zu. »So, und jetzt schauen wir uns mal dort um, und dann warten wir auf Ihren netten Kollegen.«
Nach zwei Stunden war Daniel immer noch nicht aufgetaucht. In der Zwischenzeit hatte Rhodri ihnen ein Omelett gemacht, zu dem sie ein Glas Wein tranken, aber Jess brachte kaum einen Bissen hinunter. Ihr war die Situation zunehmend peinlich.
»Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass er noch kommt«, meinte Rhodri schließlich. »Es tut mir wirklich leid, aber ich muss zurück.« Er lächelte verbindlich. »Ich muss vor der Abfahrt noch einiges erledigen.«
»Natürlich. Es tut mir schrecklich leid.« Jess sprang auf. »Und ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe. Ich habe mich wirklich sehr dämlich benommen!«
Er lächelte nachsichtig. »Nur ein bisschen. Sie sind einfach ein bisschen in Panik geraten. Ist schon in Ordnung. Ich rate Ihnen, schließen Sie sich ins Haus ein und schlafen Sie sich gut aus. Morgen können Sie dann in aller Ruhe entscheiden, was Sie machen wollen. Lassen Sie sich von Ihrem Kollegen nicht aus diesem Haus vertreiben, Jess. Es ist zu schön hier. Denken Sie einfach immer dran, die Haustür abzuschließen. Lassen Sie sie nicht so einladend offen stehen.« Bevor sie den Kopf wegdrehen konnte, hatte er ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt. »In zwei Tagen sind meine Eltern wieder hier. Dann haben Sie etwas mehr Hilfe und Gesellschaft, ja? Und vergessen Sie nicht, Ihr Handy aufzuladen und sich wegen der kaputten Leitung bei der Störungsstelle zu melden!« Er ging zur Haustür.
Jess sah ihm nach, wie er mit dem Wagen rückwärts aus dem Hof fuhr. Nachdem er über den Feldweg hinab verschwunden war, blieb sie mehrere Minuten dort stehen, hörte auf den Vogelchor, der vom Wald herüberschallte, dann kehrte sie ins Haus zurück und schloss fest die Tür. Sie würde nicht hierbleiben und sich einschließen. Sie würde wegfahren, und zwar sofort.
Die Tochter des Königs
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