Kapitel 29
Mit einem Ruck war Jess wach. Panisch umklammerte sie die Armlehnen und fragte sich eine Sekunde, wo sie war, dann hörte sie das Dröhnen der Flugzeugmotoren. Sie warf einen Blick zu William. Er hatte seinen Sitz zurückgeklappt, seine Augen waren geschlossen. Als sie aus dem Fenster schaute, konnte sie nichts sehen.
Seufzend schloss sie die Augen wieder. In knapp einer Stunde würden sie in England sein, und dann war ihre Chance, Eigons Geschichte weiter zu erleben, vorbei.
Außer …
Sie versetzte sich in Eigons Vergangenheit zurück, stellte sich das Haus in Rom vor, die friedliche Atmosphäre, die Wärme, die Menschen um sie her. Drusilla, die mit ihrer sanften, freundlichen Art sicherstellte, dass sie allein war, wenn sie Ruhe haben wollte, und Gesellschaft hatte, wenn sie jemanden zum Reden brauchte. Petrus’ Entschlossenheit, als er sie alle aus ihrem Elend und ihrem Kummer herausriss und mit ihnen betete. Die Entscheidung, Rom zu verlassen, die rasche Beschaffung von Passierscheinen, das Sammeln von Geld für ihre Reise. Aber es wollten sich keine Details einstellen, die Bilder gerieten ins Stocken, die Gestalten warteten, dass Jess ihnen die Worte in den Mund legte. Sie drehte den Kopf, starrte in die Dunkelheit hinaus und spürte, dass sie selbst den Tränen nahe war. »Wo bist du?«, flüsterte sie. »Bitte, zeig’s mir.«
 
Während die Wellen krachend über dem Deck zusammenbrachen und die stark gerefften Segel durchnässten, kauerten sich die Passagiere in panischer Angst unter Deck aneinander. Ein gutes Dutzend Leute hatte eine Überfahrt auf diesem Handelsschiff gebucht, das mit Vorräten für die Besatzungslegionen gefüllt war; sein Ziel war Massilia in der Provinz Narbonensis an der Südküste Galliens. Ihnen war nicht klar, dass sie in den ersten Herbststurm hinaussteuerten, der wie aus heiterem Himmel über diesem Meeresstreifen aufgezogen war. Drusilla lag, wenn sie sich nicht mit anderen Passagieren in die übelriechenden Eimer erbrach, flach auf dem Rücken und stöhnte. Commios sah sich suchend nach Eigon um.
Er fand sie schließlich an Deck, sie hielt sich an den Wanten fest und sah über die schaumgekrönten Wellen hinaus. Ihre Augen glänzten, ihr Haar, das sich aus den Kämmen gelöst hatte, wehte ihr um den Kopf wie ebenholzfarbene Schlangen. Er ging zu ihr. »Der Kapitän hat befohlen, dass alle unter Deck müssen.«
Sie drehte sich zu ihm. Seine Worte wurden vom Wind fortgetragen, aber sie hätte ihn über das Tosen der Wellen ohnehin nicht verstanden. »Ist es nicht großartig? Ich habe gar nicht gewusst, dass es etwas so Aufregendes geben kann!« Wasser strömte ihr übers Gesicht, ihre Kleider waren durchnässt und klebten an ihr wie eine zweite Haut. Er lachte. Er konnte ihre Worte zwar nicht verstehen, aber er konnte ahnen, was sie gesagt hatte. Es war wirklich großartig hier draußen, fort vom Gestank und Gejammer der anderen Passagiere, und wenn das Schiff kenterte, dann war es zweifellos besser, hier oben im Freien zu sein, ein Teil des Sturms, als gefangen unter Deck in der Holzkiste, die sich allzu leicht in einen überfluteten Sarg verwandeln konnte.
»Wie weit ist es noch?«, schrie Eigon.
Er zuckte mit den Schultern. Sie hatten so lange kein Land mehr gesehen, dass er unmöglich abschätzen konnte, wie viele Meilen sie bereits zurückgelegt hatten. Genauso gut war es möglich, dass sie wieder nach Ostia zurücktrieben oder über das Mare Tyrrhenum auf Karthago oder Hippo Regius zusteuerten. Angeblich sollte die Reise zwei Tage dauern, allerhöchstens zweieinhalb. Commios versuchte nachzurechnen, wie oft der Himmel dunkel geworden war, und gab auf. Solange sie nicht wieder in Ostia landeten … Er hatte gesehen, welche Last von Eigon abgefallen war, als sie den Hafen hinter sich gelassen hatten. Damit hatte sich auch ihre Angst vor einer Verfolgung gelegt. Commios war der Einzige, dem Petrus von Titus’ wahnwitzigem Rachefeldzug erzählt hatte. Er hatte geschworen, das Geheimnis für sich zu behalten, aber das bedeutete auch, dass er die Augen offen halten musste, bis sie wirklich in Sicherheit waren. Eigons Aufregung war ansteckend, und wider Willen musste er mitlachen, als wieder eine Woge auf Deck krachte und sie abermals durchnässt wurden.
Es ging bereits auf Abend zu, als der Sturm sich etwas legte und das Schiff an Fahrt gewann. Der Himmel klarte auf, und dann sahen sie zu ihrer Rechten schließlich die Küste, weit näher, als sie erwartet hatten. Langsam wagten sich auch andere Passagiere an Deck, die Nachricht machte die Runde, dass sie sich tatsächlich ihrem Ziel näherten und dass die erstaunlich präzise Navigation des Kapitäns einzig den Opfergaben zu verdanken war, die er vor der Abfahrt Neptun dargebracht hatte.
Im Hafen war es laut und dreckig, überall wimmelte es vor Menschen. Sobald sie auf unsicheren Beinen an Land wankten, übernahm Commios die Führung. Ihnen war nur allzu bewusst, wie erbärmlich und abgerissen sie in ihrer nassen Kleidung aussahen. Sie suchten ihre Habseligkeiten zusammen, letztlich nicht mehr, als sie zu dritt tragen konnten, und machten sich auf die Suche nach dem Haus von Tullius Gaius, einem Freigelassenen, dessen Vater für Drusillas Großvater gearbeitet hatte. Mittlerweile war er in Massilia ein erfolgreicher Kaufmann geworden, der für einen ständig wachsenden Markt Güter ein- und ausführte. Ihnen wurde der Weg zu einem prachtvollen Haus mitten im Handelsviertel gewiesen, und dort betraten sie ein luxuriöses, behagliches Zuhause.
Gaius war nicht anwesend, doch seine Frau Aemilia begrüßte sie herzlich und beauftragte sofort die Sklaven, Zimmer für die Gäste herzurichten. Auf den Vorschlag ihrer Gastgeberin hin suchten die drei sehr bald das nahe gelegene öffentliche Bad auf, und als sie sauber, ausgeruht und mit frischen Kleidern am Leib zurückkehrten, stand das Essen bereit. Ihr Gastgeber war aus seinem Kontor herbeigerufen worden, und er und mehrere seiner Freunde hatten es sich bereits auf Liegen rund um den Tisch bequem gemacht und warteten gespannt auf die Neuigkeiten aus Rom. Bald war klar, dass sie weder von Drusillas Übertritt zum Christentum wussten noch dass auch Eigon und Commios Mitglieder dieser Sekte waren. Auf einen warnenden Blick Commios’ hin schwieg Eigon zu diesem Thema, vielmehr sprachen sie alle davon, dass sie sobald wie möglich weiter nach Norden aufbrechen müssten.
Später saßen Eigon und Drusilla in ihrem Zimmer auf dem Bett und unterhielten sich leise. »Hier möchte ich immer bleiben!«, sagte Eigon lachend. »Hier ist es wunderbar!« Ihren Kummer hatte sie zwischenzeitlich tief in ihrem Inneren vergraben. Es war zu viel, zu umfassend, als dass sie es ertragen konnte. Eines Tages würde sie sich dem Schmerz wieder stellen, aber nicht jetzt, wo er noch so frisch war.
Drusilla nickte. »Und es wogt nicht auf und ab und wird nicht ständig von Wasser überflutet«, meinte sie. »Commios hat sich umgehört, ob wir nicht eine Fahrt auf einem Kahn den Fluss Rhodanus hinauf buchen können. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
Eigon lächelte. »Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Kähne wogen nicht auf und ab. Du hast sie doch auf dem Tiber gesehen. Die fahren völlig ruhig dahin.«
Drusilla nickte wieder, dann warf sie einen Blick zur Tür. »Ich finde, wir sollten niemandem sagen, wohin wir als Nächstes wollen«, flüsterte sie. »Ich bin zwar überzeugt, dass wir diesen Leuten vertrauen können, aber vielleicht wäre es trotzdem besser, die Route für uns zu behalten.«
Eigons strahlendes Gesicht fiel in sich zusammen, sie schauderte. »Du hast Recht«, sagte sie widerstrebend. »Wir sollten bald weiterreisen, das stimmt. Sobald unsere Kleider getrocknet sind.« Unvermittelt sah sie sich im Zimmer um und schauderte wieder. »Drusilla«, flüsterte sie. »Spürst du das auch? Als würde uns jemand beobachten?«
Drusilla schüttelte den Kopf. »Sei nicht albern. Entschuldige, jetzt habe ich dir einen Schrecken eingejagt. Das wollte ich nicht.«
»Nein.« Eigon nahm ihre Hand. »Nein, das hast du auch nicht. Du hast vollkommen Recht.« Dann gab sie Drusilla einen Gutenachtkuss.
Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, stand sie einen Moment nur starr vor Erschöpfung da. Jetzt, da sie sich nicht mehr zusammenzureißen brauchte, überkam sie das Gefühl von Einsamkeit. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Am schlimmsten war es in Momenten wie diesen, wenn sie ganz allein war. Die Sehnsucht nach Julius überwältigte sie, sie dachte an die letzte Reise mit ihm nach Rom, an seinen letzten Kuss. Mit einem schweren Seufzen kniete sie am Bett nieder und betete. Für Julius, für seinen Großvater, für Antonia und für Petrus und seine Hilfe. Und sie betete, dass ihr selbst nichts zustoßen möge. Dann schob sie ihr Unglück wieder fort.
Als sie schließlich aufstand, sah sie sich erneut um. Es war immer noch da, dieses Gefühl, dass irgendwo irgendjemand war, der sie beobachtete. Nicht Julius. Keiner der Menschen, die sie liebte, da war sie sich sicher. Sie setzte sich auf die Bettkante und schaute in die flackernde Flamme der Öllampe, die auf dem kunstvoll geschnitzten Eichentisch neben dem Bett brannte. Die Muster im Holz erinnerten sie an ihre Kindheit. Das waren die wirbelnden, verwobenen Muster von zu Hause. Kaum hatten sie angelegt, hatte Eigon im Hafen Keltisch sprechen hören, eine von einem Dutzend Sprachen, die in dem Menschenauflauf gerufen wurde, und sie hatte in mehreren Gesichtern die unverkennbare Hautfarbe der Männer und Frauen von den nördlichen Grenzen des Reichs gesehen. Schon sehr lange hatte sie ihr Heimweh erfolgreich verdrängt, aber jetzt plötzlich konnte sie es nicht mehr erwarten, die grünen, nebelverhangenen Hügel zu sehen. Das waren die Bilder, die sie in ihren Träumen heimgesucht hatten.
Plötzlich spannten sich ihre Muskeln an. Da war es wieder, dieses Gefühl. Die Atmosphäre im Raum war schwer geworden, die Temperatur war plötzlich gesunken. Ängstlich sah sie sich um, dann schloss sie die Augen. »Bete, umgib dich mit Gebeten und mit dem goldenen Licht der Sicherheit.« Das hatte Melinus ihr beigebracht. Petrus hatte mehr oder minder dasselbe gesagt. »Schick die Dämonen fort im Namen Christi, mein Kind. Umgib dich mit seiner Liebe. Er wird dich behüten. Bete.« Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, ob ihre Gebete inbrünstig genug waren, ob sie überhaupt funktionierten, denn dort draußen war jemand, der sie finden wollte. Titus. Und er bediente sich eines Sachkundigen, eines Meisters, dem es nicht die mindeste Mühe bereitete, sie aufzuspüren.
 
»O mein Gott!« Vor Schreck wachte Jess auf. »Er folgt ihr. Er weiß, wo sie ist.«
William seufzte. Von wem sie sprach, brauchte er gar nicht zu fragen. »Das heißt, sie verfolgt dich sogar in zehntausend Metern Höhe?«
Jess schüttelte den Kopf. »Ich hab geträumt …«
»Spielt keine Rolle. Wir sind beinahe in Stansted. Schau.« Er deutete zum Fenster hinaus. Das Flugzeug flog immer tiefer, sie konnten bereits die Lichter unter sich ausmachen. »Jetzt bist du in Sicherheit, Jess. Das ist das Einzige, was zählt.«
»Aber verstehst du denn nicht, Titus folgt ihr. Und wenn er das tut, dann folgt Daniel mir auch.«
»Das bezweifle ich.« William klang verärgert. »Aber wenn, Jess, dann ist das auch egal. Jetzt sind wir zu Hause. Wenn nötig, rufen wir die Polizei. Außerdem findet er dich nicht. Wir fahren sofort nach Cornwall, da kann dir nichts passieren. Er wird nie im Leben auf die Idee kommen, dort nach dir zu suchen. Da hast du Zeit, zu entscheiden, was du als Nächstes tun willst, da kannst du dich entspannen und zur Ruhe kommen.«
Der Flugkapitän sprach über Lautsprecher zu den Fluggästen. Bald würden sie landen. Als er geendet hatte, drehte Jess sich zu William. »Es tut mir leid, du bist wirklich großartig gewesen. Wahrscheinlich hast du mir das Leben gerettet«, sagte sie sanft. »Aber ich komme nicht mit nach Cornwall.«
»Warum nicht?« Er runzelte die Stirn.
»Du kennst den Grund. Ich muss wieder nach Ty Bran. Da geht Eigon hin.«
»Tu das nicht, Jess. Da wird Daniel als Erstes nach dir suchen.«
»Das Risiko muss ich eingehen.« Sie legte ihre Hand auf seine. »William, du hast mehr getan, als ich erwartet oder verdient hätte. Ich darf dich nicht bitten, noch mehr für mich zu tun.« Es holperte ein wenig, das Fahrwerk wurde ausgefahren. »Ich möchte, dass du zu deinen Eltern fährst. Mach dir einen schönen Sommer, oder was vom Sommer noch bleibt. Ich fahre wieder zu Steph.«
Er verzog das Gesicht. »Du schickst mich also weg?«
Sie grinste. »Das klingt ein bisschen harsch. So meine ich das nicht. Ich will einfach nicht, dass du dich für mich verantwortlich fühlst.«
Er war ein wenig rot geworden, aber sie wusste nicht, ob er verletzt oder nur wütend war. »Fährst du wieder nach Wales, um ihn zu sehen?«, platzte es dann aus ihm heraus.
»Wen?« Einen Moment war sie aufrichtig verwundert.
»Rhodri.« Er presste die Lippen aufeinander.
»Aber wirklich nicht! Ich bezweifle, ob er mich je wiedersehen will.« Sie lachte laut auf. Sie warf ihm einen Seitenblick zu und wandte sich dann ab, um zum Fenster hinauszuschauen. Das Flugzeug war jetzt gerade gut hundert Meter über dem Boden. Jess sah das Gewirr der Straßen unter sich, die Scheinwerfer der Autos. Rhodri. Einen Moment sah sie ihn vor sich, seine breiten Schultern, sein gebräuntes Gesicht, seinen sauber gestutzten, aber dennoch verwegenen Dreitagebart, seine lachenden Augen und seinen beschützenden Zorn. Er war ein attraktiver Mann, keine Frage. Aber das gehörte zu seinem Beruf. Sie hatte sich von seinem Charisma verführen lassen. Mehr nicht. »Du bist doch nicht eifersüchtig, William, oder?«
»Wohl kaum. Erst vor kurzem hast du mich wieder daran erinnert, dass wir getrennt sind.«
»Und das war deine Entscheidung«, sagte sie leise. »Du hast mich verlassen, weißt du noch? Nach unserer Trennung war ich am Boden zerstört, aber du hast einfach sehr viel früher als ich gespürt, dass zwischen uns nicht alles zum Besten stand. Und jetzt ist mir klar, dass du Recht hattest.«
»Ich war dumm.« Er starrte vor sich hin. »Muss es denn für immer sein? Darf ich nicht meine Meinung ändern?«
»Niemand weiß, was für immer ist, William. Aber momentan ist es so.« Traurig schaute sie zu ihm. William hatte so viel für sie getan. Er hatte sein Leben für sie riskiert, das stimmte, und sie mochte ihn immer noch sehr gern. Die Wut und der Schmerz waren verschwunden. Aber Dankbarkeit und Zuneigung genügten nicht als Grundlage einer Beziehung.
Er wich ihrem Blick aus. »Also fährst du gleich nach Wales?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Zuerst muss ich nach Heathrow. Da steht mein Auto.«
William schaute zu ihr. »Mist! Entschuldige. Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen.«
»Schon in Ordnung. Es gibt bestimmt einen Bus oder Zug, der dorthin fährt. Und von dort fahre ich dann nach Wales.«
»Und ich vermute mal, wo immer Eigon hingeht, gehst du auch hin.« Er klang bitter. »Rufst du mich an, wenn du Hilfe brauchst? Du weißt, ich komme sofort.« Er und Rhodri hatten einen Pakt geschlossen, dass sie sich Daniel vorknöpfen würden. Konnte er mit Rhodri gemeinsam etwas unternehmen? Er seufzte. Vermutlich schon, wenn sie damit Jess von dieser Qual erlösten.
»Ich ruf dich an, William.« Jetzt lächelte sie ihn an. »Aber du fährst doch trotzdem nach Cornwall, oder?«
»Vielleicht später. Jetzt fahre ich erst mal nach Hause. Vergiss nicht, du kannst jederzeit kommen. Ohne jede Verpflichtung.«
Sie grinste. »Noch müssen wir uns ja nicht verabschieden. Wir fahren doch zusammen nach London hinein.«
Sie verabschiedeten sich bei der U-Bahn-Station Liverpool Street Station. Dort stieg Jess in einen Verbindungszug zur Piccadilly Line, die sie nach Heathrow bringen würde, William fuhr weiter nach Südlondon. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und gab ihm einen leichten Kuss auf die Lippen. »Pass auf dich auf, William.«
»Und du auf dich.« Kurz umarmte er sie. »Lass dich nicht von Titus erwischen.« Einen Augenblick dachte sie, er wollte noch mehr sagen, aber dann hatte er sich bereits umgedreht.
 
Bedächtig trank Daniel seinen Cappuccino und beobachtete die gegenüberliegende Straßenseite. Die Sonne war grell, die Hitze reflektierte von den Pflastersteinen, die Luft roch nach Abgasen und heißem Stein. Er war müde, deprimiert und so wütend, dass ihn die Wogen des Zorns, die sich seiner mit erschreckender Regelmäßigkeit bemächtigten, völlig überforderten. Er hatte mehrere SMS von Nat bekommen. Jede klang besorgter, ärgerlicher, ungeduldiger. Sie wollte wissen, wo er war. Er habe versprochen, mittlerweile zu Hause zu sein. Die Polizei, simste sie, habe sie inzwischen dreimal angerufen, ebenso wie der Rektor. Was in Teufels Namen gehe da vor sich? Er trank noch einen Schluck Cappuccino, wischte sich den Schaum von der Oberlippe und bestellte einen Prosecco. Jess war spurlos verschwunden. Und er hatte auch keine Ahnung, wo die anderen waren. Er hatte Carmellas Wohnung ausspioniert. Da waren sie nicht und in der Pension auch nicht. Er leerte das Glas und knallte es auf den Tisch.
Und von Titus war auch nichts zu sehen.
Verdammt! Er hieb mit der Faust so plötzlich auf den Tisch, dass die Tasse auf der Untertasse hochsprang. Die Frau am Nachbartisch drehte sich um und starrte ihn an, dann wandte sie sich um und rückte ihren Stuhl so, dass sie ihm den Rücken zukehrte.
»Du kannst mich mal«, brummelte er. Dann stand er auf, warf einige Münzen auf den Tisch und marschierte auf die Straße.
 
Schweigend sah Titus zu, wie die Frau ihre Orakel befragte. Seherinnen waren teuer, und dies war sein dritter Besuch. Jedes Mal sagte sie ihm gerade genug, um ihn zu überzeugen, dass sie tatsächlich in die Tiefen der Zeit und des Raums jenseits des dunklen Zimmers, in dem sie saßen, blicken konnte. »Ich sehe andere Menschen, Patrizierfamilien, die in diese Geschichten verstrickt sind. Ich sehe zwei Frauen, die sich unterhalten. Sie haben sich mit Eurer Prinzessin angefreundet. Und sie haben Freunde an einflussreichen Stellen. Die sind jenseits Eures Zugriffs.« Sie warf ihm einen unheilvollen Blick zu. »Ich sehe eine Frau, die Euch aus großer Ferne beobachtet, ebenso wie Ihr sie beobachtet.« Sie schenkte ihm ein rätselhaftes Lächeln. Sie hatte diese Frau schon früher gespürt, sie suchte nach der Wahrheit jenseits der Zeit, genau wie sie selbst. Aber sie kam aus einer anderen Ära. Marcia Maximillas Neugier war geweckt. Jetzt wendete sie sich allerdings wieder den praktischen Dingen zu. »Wollt Ihr mehr über die Prinzessin herausfinden?«
Titus bezwang den überwältigenden Drang, der Frau den Hals umzudrehen. »Deshalb bin ich hier, Herrin.«
Mit einem kurzen Blick auf ihn fragte sie sich, ob dies wohl der geeignete Moment war, ihren Preis zu erhöhen. Dann überlegte sie es sich anders und schaute beiseite. In Gegenwart dieses Kunden wurde ihr allmählich unbehaglich zumute. Es war besser, ihm das, was er haben wollte, so schnell wie möglich zu geben und ihn dann wegzuschicken. »Sie ist fort. Über die Meere. Ich sehe raue, aufgewühlte Wellen. Sie stand im Bug des Schiffes, blickte vor sich in ihre Träume. Sie hat Rom für immer hinter sich gelassen.«
Titus ballte die Hände zur Faust. »Sagt mir, wohin sie fährt.«
Zum ersten Mal runzelte die Seherin die Stirn. »Ich sehe sie in Schleier gehüllt. Ihr Schicksal ist unklar. Nein!«, schrie sie, als er sie über den Tisch hinweg an der Schulter packte. »Ich würde es Euch sagen, Herr, wenn ich es sähe. Sie ist ebenfalls eine Meisterin. Sie spürt, dass ich nach ihr suche. Sie hat sich in Nebel gehüllt.«
Er ließ sich auf seinen Sitz fallen. Es war unvernünftig, diese Frau umzubringen. Sie war die Beste, die es in Rom gab. »Aber irgendeinen Hinweis muss es doch geben. Ist sie nach Gallien gegangen? Geht sie nach Britannien zurück?«
Marcia rang immer noch nach Fassung. Sie wollte diesen Mann nur noch loswerden. Sie schaute auf, und ihr Gesicht wurde wieder freundlich. »Jetzt weiß ich es, ihre Gedanken haben sie einen Moment verraten. Sie fährt nach Britannien.«
Ihr fiel kein Ort ein, der in weiterer Ferne lag.
 
Britannien! Daniel erfasste den Gedanken wie einen grellen Blitz. Sie war nach Britannien zurückgekehrt. Und wenn Eigon sich nach Britannien aufgemacht hatte, dann würde Jess dasselbe tun. Ein eiskalter Schauer überlief ihn. Er musste schnell nach England, bevor sie dort ankam. Er musste bei ihr sein, bevor sie mit irgendjemandem reden und ihre dummen Vorwürfe und ihre nichtigen Wahnvorstellungen loswerden konnte. Vor allen Dingen musste er sicherstellen, dass sie nicht mit Nat sprach.
 
Jess’ Auto stand immer noch da, wo sie es auf dem Langzeitparkplatz abgestellt hatte. So viel war passiert, dass es ihr vorkam, als seien seitdem Monate vergangen. Mit dem bezahlten Ticket in der Hand öffnete sie die Fahrertür und stieg ein. Dann ließ sie die Tür zufallen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder sicher.
Nach einer Weile griff sie nach ihrem Handy und wählte Stephs Nummer. Keine Antwort. Sie versuchte es bei Kim. Keine Antwort. Sie widerstand dem Drang, Carmella anzurufen. Sie war jetzt allein, und zwar auf ihren eigenen Wunsch hin. William hatte sich widerstrebend von ihr verabschiedet. Jetzt lag alles an ihr. Sie musste selbst Entscheidungen treffen, und sie musste einen Ort finden, von dem aus sie mit Eigon in Kontakt treten konnte. Das war ganz bestimmt nicht der Flughafenparkplatz. Seufzend steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und fuhr hinaus.
 
»Wir müssen los. Sofort.« Eigon rüttelte Drusilla an der Schulter. Der Morgen war gerade angebrochen, von der Straße draußen schallten bereits die Rufe der Händler herein. »Es tut mir wirklich sehr leid, aber wir können nicht hierbleiben. Er kommt. Er weiß, wo wir sind. Ich habe in meinen Gebeten eine Warnung erhalten.«
Ohne eine weitere Frage stand Drusilla auf und machte sich daran, ihre Sachen zusammenzupacken.
Sie buchten eine Reise auf einem Flussfrachter, den sie erst kurz vor der Abfahrt bestiegen. Es war ein flacher Kahn, der mit Waren vollgeladen war und mühsam nach Norden geschleppt wurde. Drusilla und Eigon wurde ein kleiner, mit Vorhängen abgetrennter Bereich zugewiesen, während Commios sich damit begnügte, bei der Mannschaft zu schlafen. Dadurch wurde nicht nur die Fahrt sehr viel billiger, er konnte auch mit den Leuten sprechen, die auf dem Boot arbeiteten. Einen davon erkannte er sofort als einen Mann, der zum selben Stamm gehörte wie er.
»Er ist glücklich«, flüsterte Drusilla Eigon ins Ohr. Auf die Reling gestützt, sahen sie das Flussufer an sich vorbeiziehen.
»Und wenn wir nicht aufpassen, sind wir ihn los. Er ist wieder in seiner Heimat.« Drusilla seufzte. »Er ist ein attraktiver Mann, findest du nicht?« Sie lächelte sehnsüchtig.
Eigon warf einen Blick zu ihr. »Mir ist bereits aufgefallen, dass du ihn beobachtest.«
Drusilla schaute über das Wasser auf eine Schar Enten, die gegen die Strömung paddelte. »Und er hat Augen nur für dich. Wenn er bei uns bleibt, dann deinetwegen. Er wird dich nicht im Stich lassen.«
»Das stimmt nicht. Er passt auf uns beide auf. Das ist die Aufgabe, die Petrus ihm übertragen hat, Drusilla!« Eigon war nie auf den Gedanken gekommen, dass sich noch einmal jemand in sie verlieben könnte. Das erschien ihr unvorstellbar.
»Und ich bin überzeugt, er wird die Aufgabe erfüllen, solange er kann.« Drusilla schüttelte den Kopf. »Achte nicht auf mich, Eigon. Ich bin eine eifersüchtige, nichtsnutzige alte Frau. Mich will doch kein Mann mehr ansehen. Wenn du ihn willst, dann nimm ihn!«
Entsetzt starrte Eigon sie an. »Das ist doch Unsinn. Du bist nicht alt!« Eine Weile betrachtete sie ihr Gesicht. »Ich sehe eine reife, schöne Frau. Aber …«, sie zögerte. »Wir dürfen nicht vergessen, weshalb wir diese Reise machen.«
»Petrus hat uns keine Enthaltsamkeit abverlangt!«, erwiderte Drusilla scharf.
»Nein.« Eigon seufzte. »Keine Sorge, Drusilla. Ich will Commios nicht. Er ist ein guter Mann, und ich mag ihn gern, ich schätze seine Freundschaft, aber für mich hat es immer nur einen Mann gegeben.«
Daraufhin herrschte eine Weile Stille. Drusilla biss sich auf die Unterlippe und berührte sacht Eigons Hand. »Entschuldige.«
Nach einem Augenblick wandte Eigon sich wieder zu ihr. »Du glaubst doch nicht, dass Commios uns wirklich verlassen will?«
Beide drehten sich zu ihm um und sahen, wie er mit seinem Landsmann lachte und scherzte. Als er ihre Blicke bemerkte, hob er grüßend die Hand.
»Nein«, sagte Drusilla schließlich. »Ich glaube, er wird uns sicher bis an unser Ziel begleiten.«
»Und wenn nicht? Wenn er beschließt, in Gallien zu bleiben, würdest du dann bei ihm bleiben?« Eigon beobachtete angelegentlich die Enten.
Drusilla lächelte. »Dazu wird es nicht kommen. Mach dir keine Sorgen. Ich bleibe bei dir. Wenn du das willst«, fügte sie hinzu.
Eigon nahm ihre Hand und drückte sie. »Ich möchte, dass du bei mir bleibst. Ich habe so viel Angst. Ich war zehn Jahre alt, als wir Britannien verlassen mussten. Ich kann mich kaum noch daran erinnern. Und je mehr ich daran denke, desto mehr Angst bekomme ich. Es wird niemanden geben, der sich noch an mich erinnert. Ich weiß nicht einmal, wohin ich gehen soll. Mein Vater ist ständig umhergezogen. Er war ein Feldherr. Ein Soldat. Er kam von einem Stamm und herrschte über einen anderen. Vielleicht wird keiner der beiden mich willkommen heißen.«
»Und woher kam deine Mutter?«
»Sie gehörte zu den Silurern. Das Stammesgebiet ihres Vaters lag in den Bergen im Westen.« Sie zögerte. »Die erste Gemahlin meines Vaters gehörte zu den Trinovanten, das war der Stamm, den er zusammen mit den Catuvellaunen regierte. Sie starb im Kindbett, so wurde mir zumindest erzählt. Als er dann sein Heer nach Westen führte, um den Widerstand gegen Rom zu organisieren, hat er meine Mutter kennengelernt und sie geheiratet. Es sind wohl ihre Berge, die ich als Heimat betrachte und die ich in meinen Träumen sehe. Aber am meisten erinnere ich mich daran, dass wir mit meinem Vater ewig kreuz und quer übers Land reisten, während er die römischen Eindringlinge bekämpfte.« Sie lächelte. »Euer Volk war unser Albtraum!«
Drusilla nickte. »Das kann ich mir gut vorstellen, meine Liebe. Es muss schrecklich für euch gewesen sein. Wir denken immer, dass die Welt nur auf uns gewartet hat und sich nichts sehnlicher wünscht, als an unserer Zivilisation und unserer Herrschaft teilzuhaben. Die Götter Roms haben ihren Nachfolgern die ganze Welt verheißen.« Sie winkte einem kleinen Kind zu, das im seichten Wasser am Flussufer herumplanschte. Es starrte sie an und machte dann eine unhöfliche Geste. Die beiden Frauen mussten lächeln. »Da ist noch jemand, der nur unfreiwillig zum Römer geworden ist!«, sagte Drusilla leise.
Eigon lachte. »Die Leute schätzen ihre Freiheit mehr als ihr Leben.«
»Und trotzdem hat dein Vater nie versucht, wieder nach Britannien zu gehen?«, fragte Drusilla. »Entschuldige, die Frage ist nicht besonders einfühlsam.«
»Er hat davon geträumt«, antwortete Eigon langsam. »In unserer ersten Zeit in Rom hat er oft davon gesprochen, aber dann ging es ihm gesundheitlich so schlecht, dass er wusste, er würde seinem Volk nicht helfen können. Dafür musste er erst wieder zu Kräften kommen. Manchmal erhielten wir Nachrichten, dass sie ihn nach wie vor als ihren Befreier betrachteten, aber sie führten den Kampf ohne ihn weiter, und irgendwann kamen keine Nachrichten mehr. Wahrscheinlich dachten die Leute zu Hause, mein Vater wäre tot.« Ihre Miene verfinsterte sich.
»Du glaubst, sie haben den Kampf aufgegeben?«
Eigon zuckte mit den Schultern. »Nach allem, was ich gehört habe, hat sich der Großteil Britanniens still dem Joch gebeugt. Vor vier Jahren gab es unter der Königin der Icener einen Aufstand, aber auch der wurde niedergeschlagen. Es gibt zwar immer noch Landstriche, wo sie die Niederlage nicht anerkennen wollen, aber darüber habe ich sehr wenig erfahren.«
»Und du glaubst nicht, dass du als Erbin deines Vaters als Königin empfangen werden wirst?«
Eigon sah sie entgeistert an. »Das glaube ich nicht.«
»Meine Liebe, ich denke, du solltest dich für vieles wappnen. Es ist gut möglich, dass der römische Statthalter dir ganz bestimmte Motive für deine Rückkehr unterstellt. Bislang sind wir davon ausgegangen, dass wir einfach in die Provinz reisen und uns dort frei bewegen können, um die Botschaft Jesu zu verbreiten, wie Er es uns aufgetragen hat. Aber vor unserer Abfahrt habe ich mit Gaius gesprochen, natürlich ohne ihn in unsere tatsächlichen Pläne einzuweihen. Er war wenig zuversichtlich. Wir wissen einfach nicht, was uns erwartet. Der Statthalter ist ein Mann namens Marcus Trebellius Maximus. Nach allem, was ich hörte, konnte er die Britannier ganz gut davon überzeugen, dass das Leben im Römischen Reich gewisse Vorteile mit sich bringt. Er wird dich vielleicht nicht unbedingt wohlwollend empfangen.« Unvermittelt lächelte sie, ihre Augen blitzten. »Das müssen wir abwarten. Es ist spannend! Und Commios mag spannende Unternehmungen. Wir müssen ihm einfach immer wieder sagen, dass das Ganze ein Abenteuer ist. Dann bleibt er ganz bestimmt bei uns.«
Eigon warf ihr einen besorgten Blick zu, dann lächelte auch sie. »Du tust mir wirklich gut, Drusilla. Du bist eine sehr starke Frau. Und so optimistisch. Manchmal gerate ich in meinem Entschluss ins Wanken. Ich habe Zweifel. Und Angst.« Sie machte eine kurze Pause. »Manchmal überwältigt mich die Einsamkeit, obwohl ich bete.« Sie schaute nach unten ins Wasser. »Ich konnte mit Julius nie richtig zusammen sein.« Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Aber er fehlt mir so sehr.«
Drusilla legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich weiß.«
»Ich dachte, ich würde ihn in der Nähe spüren.« Eigon machte eine hilflose Geste. »Du weißt doch, unser Volk spürt manche Sachen einfach. Manchmal sehen wir die Menschen, die gestorben sind. Aber er ist nicht da.«
»Er ist bei Jesus, Eigon. Er ist jetzt in Sicherheit und ruht in Frieden.«
Eigon kämpfte gegen die Tränen an. »Ich spüre keinen Frieden. Wenn ich etwas gespürt habe, dann Zorn. Aber mit jeder Meile, die wir nach Norden fahren, entfernen wir uns von seinem Schatten.«
Drusilla runzelte die Stirn. Sie wünschte, Commios wäre bei ihnen. Er würde Eigon ablenken und sie beide mit seinem Humor und seiner Tatkraft aufmuntern, aber jetzt stritt er sich gerade mit einem aus der Mannschaft, fuchtelte mit den Armen herum und deutete aufs Land hinaus, während der Frachter unentwegt nach Norden fuhr. Sie drehte sich wieder zu Eigon.
»Hast du immer noch das Gefühl, dass dieser Titus nach dir sucht?«, fragte sie leise. Commios hatte vor einer Weile beschlossen, dass auch Drusilla von diesem Mann wissen müsse, der ihnen womöglich folgte. Eigon hatte ihre Gefährten sehr schnell davon überzeugt, dass er ihnen bereits auf den Fersen war. Diese Kelten glaubten an eine Welt der Schatten und Ahnungen und Echos, die für einen gebürtigen Römer ein Rätsel darstellten. Aber es bestand kein Zweifel, dass Eigon von Dingen wusste, die den Wahrnehmungshorizont anderer Menschen überstiegen.
Eigon seufzte tief. »Ich habe Angst, das Fenster in die Dunkelheit zu öffnen. Es ist zu durchlässig. Wenn ich ihn sehe, kann er mich auch sehen.«
Drusilla schauderte. »Dann hoffen wir, dass er noch in Rom ist und weder dienstfrei bekommt noch einen Passierschein!«
Jetzt schließlich gesellte Commios sich zu ihnen. Eigon wandte sich zu ihm. »Und? Hast du den Streit für dich entschieden?«
Er hob die Augenbrauen. »Welchen Streit denn? Der Mann wusste, dass er nur verlieren kann, wenn er sich mit mir anlegt!«
»Dürfen wir erfahren, worüber ihr euch so ereifert habt?«, fragte Drusilla.
»Das ist nichts für weibliche Ohren!« Commios lachte, war zu beiden gleichermaßen freundlich, wie Eigon bemerkte. »Ihr werdet euch freuen zu hören, dass das Boot beim nächsten Dorf anlegt, und dort gibt es eine Taverne, wo es zu essen gibt und wir Teile für das Ruder bekommen können, das offenbar beschädigt ist. Dann können wir an Land essen und uns vielleicht sogar die Beine ein bisschen vertreten.«
Und einen bleibenden Eindruck hinterlassen bei einem der Wirtsleute. Zwei römische Frauen, die mit nur einem Mann als Begleitung reisten, waren auf dem Fluss eher ungewöhnlich. Zumal die beiden Frauen ausgesprochen attraktiv waren und sich nach Kräften bemühten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
 
William öffnete die Flügeltüren, die aus dem kleinen Wohnzimmer seiner Erdgeschosswohnung nach draußen führten, und trat in seinen handtuchgroßen Garten. Er freute sich immer, nach Hause zu kommen. Diese Wohnung war sein Zufluchtsort, der Ort, an dem er seine Wunden geleckt hatte, nachdem er und Jess sich getrennt hatten. Nein, nachdem er sich von Jess getrennt hatte. Sie hatte Recht. Die freundliche Zurechtweisung im Flugzeug hatte er verdient. Er hatte geglaubt, was er in den letzten Tagen für sie getan hatte, hätte alles verändert, hätte den Kummer, den er ihr bereitet hatte, wieder wettgemacht. Aber dem war nicht so. Natürlich nicht. Überhaupt war ihr ganzes Dilemma eigentlich seine Schuld. Wären sie noch zusammen gewesen, hätte er sie nach der Disco nach Hause gebracht, oder sie wären zu ihm nach Hause gegangen. Dann hätte Daniel nie die Möglichkeit gehabt, ihr zu folgen, sich Zutritt zu ihrer Wohnung zu verschaffen und das zu tun, was er getan hatte. William schauderte vor Abscheu. Der Schuft. Der widerliche, ekelerregende Schuft!
Er rief bei der Polizei an. Der Beamte dort hörte ihm ruhig und aufmerksam zu, notierte Namen und Adressen und schüttelte dann seufzend den Kopf. »Wenn Miss Kendal diese Sache nicht verfolgen will, dann sind uns die Hände gebunden. Und sie hat Recht: Wenn es keine Beweise gibt, können wir nichts unternehmen.«
»Aber Sie können seinen Namen notieren. Sie können die Augen nach ihm offen halten. Sie können ihn beobachten, und wenn er etwas tut …« William schüttelte den Kopf. »Er ist gefährlich. In Rom hat er versucht, mich umzubringen. Und er hat Jess gedroht. Der Mann ist durchgedreht. Sie müssen doch etwas unternehmen können!«
Aber sie konnten nichts unternehmen. Mit dem Rat, sich zu melden, wenn er erneut Anlass zur Sorge habe, beendete der Polizist das Gespräch höflich, aber bestimmt. William trat auf die Straße hinaus und fuhr Richtung Schule. Er hatte das Gefühl, dringend mit seinem Chef sprechen zu müssen.
Catherine Barker öffnete die Tür des Hauses, das dem Schulgebäude direkt gegenüberlag. Sie empfing ihn mit einem strahlenden Lächeln. Die Ehefrau des Rektors war eine ungemein attraktive Frau mit leuchtend roten Haaren und smaragdgrünen Augen, zehn Jahre jünger als ihr Mann. Sie sprach Englisch mit dem Anflug eines irischen Einschlags. »William! Wie schön, dich zu sehen. Komm rein. Brian ist oben. Ich hole ihn.«
Brian, groß, hager und drahtig, mit einer weißen Mähne und einer gesunden Gesichtsfarbe, ging William in sein Arbeitszimmer im ersten Stock voraus und schloss die Tür hinter ihnen. Catherine blieb am Fuß der Treppe stehen und sah den beiden Männern besorgt nach.
»Es tut mir leid, Brian. Ich hoffe, sie ist jetzt nicht gekränkt. Aber ich finde, das sollte momentan unter uns bleiben.« Da Brian ihn nicht aufforderte, sich zu setzen, hob William selbst einen Stapel Bücher von einem Stuhl und nahm Platz, ehe er zu erzählen begann.
»Jess wollte nicht, das irgendjemand davon erfährt«, sagte er, als er das Ende der Geschichte erreichte. »Sie hat sich mit Händen und Füßen gewehrt, jemandem etwas davon zu sagen. Es gibt keine Beweise. Es steht ihr Wort gegen Daniels, und in den vergangenen Wochen hat Daniel alles darangesetzt, ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören und sie unter Druck zu setzen.«
»Und du sagst, dass er ihr nach Rom gefolgt ist?«, meinte Brian nachdenklich. »Weiß Nat davon? Ich habe versucht, ihn zu erreichen, und sie wusste nicht so recht, wo er ist.«
»Das glaube ich sofort«, sagte William trocken. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihr irgendetwas davon erzählt hat.« Er machte eine kurze Pause. »Warum willst du ihn denn erreichen?«
»Wegen einer seiner Schüler. Ashley. Der hat Ärger mit der Polizei. Eine dumme Sache. Ein Missverständnis, wenn du mich fragst, aber der Junge ist schwarz, und, na ja …« Er zuckte mit den Schultern. »Du weißt ja, wie’s geht. Das könnte seine Zukunft zerstören, und dabei sieht alles so gut für ihn aus.«
»Er war Jess’ Schützling. Du hättest sie anrufen sollen.«
»Ich habe nicht gewusst, wie ich sie erreichen kann. Ich habe bei ihr zu Hause angerufen, und die Frau, mit der ich sprach, sagte, sie wohne bloß zur Untermiete dort und Jess sei für ein halbes Jahr verreist. Vergiss nicht, sie hat an der Schule gekündigt.«
William verzog das Gesicht. »Sie war bei ihrer Schwester in Wales. Daniel ist ihr dorthin gefolgt.« Er machte eine kurze Pause. »Vielleicht kann ja ich etwas für Ash tun. Ich habe ihn auch unterrichtet.«
Brian nickte. »Ich gebe dir die Nummer, bei der du anrufen musst.« Er schlenderte zum Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Die Hände hatte er in der Hosentasche vergraben. »Das ist vielleicht eine verdammt dumme Geschichte. Ich habe mich für Daniel eingesetzt und ihn zur Beförderung vorgeschlagen, als Rektor einer eigenen Schule. Er hat - er hatte - eine große Zukunft.« Er zögerte kurz. »Und du sagst, die Polizei interessiert sich nicht dafür?«
William schüttelte den Kopf.
»Ehrlich gesagt, überrascht mich das nicht. Bei jemandem wie Ash, da sind sie schnell bei der Hand, oder bei jemandem, der es auf kleine Kinder abgesehen hat, aber ein potenzieller Mörder …« Er drehte sich um und stützte sich seufzend aufs Fenstersims. »Können wir die Geschichte Catherine erzählen? Sie schweigt wie ein Grab, und sie verfügt über eine gute Menschenkenntnis. Vielleicht fällt ihr ein, was wir tun können.«
William nickte. »Natürlich.«
»Liebst du Jess noch, William?«
William lachte wehmütig. »Wenn, dann ist es zu spät. Ich habe sie verloren.«
 
Eine Weile stand Daniel auf dem Bürgersteig und schaute nachdenklich zu Williams Haustür. Er grinste verschlagen. Reiner Zufall, dass er den Schlüssel noch hatte, den William ihm vor zwei Jahren gegeben hatte, als sie gemeinsam an einem Schulprojekt arbeiteten. William hatte vergessen, ihn zurückzufordern, und Daniel hatte ihn einfach behalten. Die ganze Zeit hatte er im Handschuhfach gelegen, und als Daniel am Nachmittag zu Williams Wohnung gefahren war und zwischen den ganzen Bonbons, dem Abfall und den alten Kugelschreibern und Parkscheinen danach gesucht hatte, hatte er ihn tatsächlich gefunden. Er steckte ihn ins Schloss und öffnete die Tür. »William? Bist du da?«
Die Wohnung war leer, Williams Tasche lag direkt neben der Wohnungstür. Offenbar hatte er nicht einmal ausgepackt, bevor er wieder weggegangen war. Nachdenklich sah Daniel sich um. Tja, wohin war William wohl in solcher Eile aufgebrochen? Er ging zum Telefon und drückte auf Wiederwahl.
Die Polizei.
Fluchend ließ er sich auf einen Stuhl fallen, stützte das Kinn auf die Hände und dachte angestrengt nach.
 
Jess saß am Straßenrand in ihrem Wagen, nur wenige Hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt, und hörte Caractacus. Die Musik trug sie mit sich fort, beschrieb die geliebten Hügel von Malvern, das Getümmel der Schlacht, das Elend der Niederlage. Eigon klang völlig falsch. Alle klangen völlig falsch. Irgendwie stimmte die ganze Oper nicht, aber die Musik war ungemein kraftvoll. Nationalistisch, mitreißend, lyrisch. Schließlich war sie zu Ende. Jess schloss die Augen. Sie war völlig kaputt, aber sie wusste nicht, wo sie schlafen konnte. Der blanke Hohn. Ihre Wohnung lag um die Ecke, Jess war aus Gewohnheit hierhergefahren, zu müde, um auf die lange Fahrt nach Wales aufzubrechen, und hatte die Untermieterin schlicht vergessen. Sie hätte Williams Einladung annehmen sollen, erst einmal zu ihm zu fahren. Sie versuchte noch einmal, Steph zu erreichen. Ihre Schwester hob immer noch nicht ab, und auch der Anrufbeantworter schaltete sich nicht ein.
Stöhnend lehnte sie sich zurück und schloss wieder die Augen. Wenigstens hatte sie für dieses Viertel einen Parkausweis. Sie konnte das Auto stehen lassen und sich etwas zu essen holen. Sie ging zu ihrem Lieblingsinder und bestellte sich Reis, ein Hühner-Madras und einen Papadam zum Mitnehmen. Der Junge hinter der Theke erkannte sie und begrüßte sie wie eine alte Bekannte. Das hellte ihre Laune ein wenig auf. Sie kaufte sich noch eine Dose Bier und setzte sich wieder in ihren Wagen. Als es dunkel wurde, ging das Licht in ihrer Wohnung an. Sie stopfte das Verpackungsmaterial in die Plastiktüte, stieg aus und warf alles in einen überquellenden Abfalleimer, der an der Straßenecke stand. Dann setzte sie sich wieder ins Auto, trank ihr Bier und schaute zu ihrem beleuchteten Wohnzimmerfenster hinauf. Eine halbe Stunde später wurde das Licht ausgeschaltet.
Ihre Suche nach einer anderen CD beförderte eine Zusammenstellung meditativer Musik zutage, die William ihr vor mehreren Jahren nach einer besonders aufreibenden Schulinspektion, die sie beide den letzten Nerv kostete, geschenkt hatte. Sie lächelte traurig. Der gute alte William. Warum wanderten ihre Gedanken immer wieder zu ihm? Hatte sie vielleicht einen großen Fehler gemacht, ihn einfach so zurückzulassen? Der sehnsüchtige Ausdruck in seinen Augen beim Abschied ging ihr nicht aus dem Kopf. Plötzlich fasste sie einen Entschluss. Sie würde zu ihm fahren und ihn bitten, sie für die Nacht bei sich aufzunehmen. Und sie würde die Gelegenheit nutzen, ihm richtig zu danken für alles, was er für sie getan hatte, und ihm sagen, dass sie wusste, wie viel er für sie aufs Spiel gesetzt hatte. Sie würde dafür sorgen, dass sie sich in aller Freundschaft trennten. Sie legte die CD ein, startete den Wagen und fuhr zu den zarten Klängen Debussys aus der Parklücke hinaus.
 
William schloss die Wohnungstür auf und trat in den Flur. Er hatte den ganzen Abend bei den Barkers verbracht. Sie hatten ihn eingeladen, sich in ihrer gemütlichen Küche mit ihnen an den Esstisch zu setzen. Ihre beiden halbwüchsigen Töchter waren herein- und herausgesprungen und hatten sie ein wenig von ihrer düsteren Stimmung abgelenkt. Als die Mädchen schließlich ausgegangen waren und sie warteten, dass der Kaffee durchlief, wandte Catherine sich wieder an ihren Gast.
»Du solltest wirklich nach ihr schauen, William. Ich wette, sie hat es sich mittlerweile anders überlegt. Wahrscheinlich tut es ihr schon bitter leid, dass sie dich in die Wüste geschickt hat.«
William grinste. »Meinst du wirklich?«
»Mir würde es auf jeden Fall bitter leidtun, wenn ich an ihrer Stelle wäre.« Sie lächelte. Er musste doch wissen, wie attraktiv er auf Frauen wirkte. »Ruf sie an und wirf dich ihr zu Füßen. Sag ihr, dass du ihr Sklave sein wirst, ihr bewaffneter Leibwächter, ihr Beschützer, was immer. Aber du darfst sie diese Sache nicht allein durchstehen lassen.«
»Ich wollte sie nach Cornwall bringen. Ich dachte, bei meinen Eltern könnte ihr nichts passieren.«
»Hast du ihr das gesagt, oder hast du sie gebeten?«
William schaute sie verblüfft an, dann lachte er. »O mein Gott, du hast Recht. Wahrscheinlich habe ich sie gar nicht gefragt. Ich fand es einfach eine gute Idee.«
»Dann ruf sie an. Jetzt.« Catherine deutete zur Tür. »Da hören wir dich nicht bitten und betteln.«
Keine zwei Minuten später war William wieder zurück. »Sie geht nicht ran.« Er legte sein Handy auf den Tisch.
Catherine warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wahrscheinlich hat sie sich irgendwo für die Nacht ein Zimmer genommen. Versuch es morgen früh nochmal.«
William runzelte die Stirn. Wenn das Handy ausgeschaltet wäre, wäre sofort die Mailbox angesprungen. Wenn es nicht ausgeschaltet war, wäre es in ihrer Jackentasche oder ihrer Handtasche, und sie würde es hören. Er spürte, wie Sorge sich in ihm breitmachte.
Keine halbe Stunde später fuhr er nach Hause.
Als er die Wohnung betrat, blieb er stehen. Irgendwie fühlte es sich anders an. Es war zwar dunkel und still, aber er spürte, dass jemand da war. »Jess? Bist du das?«
Er konnte sich nicht erinnern, ob sie noch einen Schlüssel hatte. Zumindest hatte er jetzt noch einen Grund mehr, mit ihr zu reden. Wegen Ash. »Jess, Brian hat mit mir über Ash gesprochen.« Er suchte nach dem Lichtschalter und betätigte ihn. Nichts passierte. Er knipste den Schalter ein paarmal auf und ab, dann trat er verwundert ins Zimmer und tastete nach der kleinen Stehlampe auf dem Tisch. »Jess? Bist du da?«
Er sah die Gestalt hinter sich überhaupt nicht. Nur ein leises Geräusch aus der Dunkelheit. Noch während er herumwirbelte, hob sich eine Hand, die etwas Hartes, Schweres hielt. Es landete mit einem dumpfen Krachen auf seinem Kopf. Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte William zu Boden.
Die Tochter des Königs
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