Kapitel 29
Mit einem Ruck war Jess wach.
Panisch umklammerte sie die Armlehnen und fragte sich eine Sekunde,
wo sie war, dann hörte sie das Dröhnen der Flugzeugmotoren. Sie
warf einen Blick zu William. Er hatte seinen Sitz zurückgeklappt,
seine Augen waren geschlossen. Als sie aus dem Fenster schaute,
konnte sie nichts sehen.
Seufzend schloss sie die Augen wieder. In knapp
einer Stunde würden sie in England sein, und dann war ihre Chance,
Eigons Geschichte weiter zu erleben, vorbei.
Außer …
Sie versetzte sich in Eigons Vergangenheit zurück,
stellte sich das Haus in Rom vor, die friedliche Atmosphäre, die
Wärme, die Menschen um sie her. Drusilla, die mit ihrer sanften,
freundlichen Art sicherstellte, dass sie allein war, wenn sie Ruhe
haben wollte, und Gesellschaft hatte, wenn sie jemanden zum Reden
brauchte. Petrus’ Entschlossenheit, als er sie alle aus ihrem Elend
und ihrem Kummer herausriss und mit ihnen betete. Die Entscheidung,
Rom zu verlassen, die rasche Beschaffung von Passierscheinen, das
Sammeln von Geld für ihre Reise. Aber es wollten sich keine Details
einstellen, die Bilder gerieten ins Stocken, die Gestalten
warteten, dass Jess ihnen die Worte in den Mund legte. Sie drehte
den Kopf, starrte in die Dunkelheit hinaus
und spürte, dass sie selbst den Tränen nahe war. »Wo bist du?«,
flüsterte sie. »Bitte, zeig’s mir.«
Während die Wellen krachend über dem Deck
zusammenbrachen und die stark gerefften Segel durchnässten,
kauerten sich die Passagiere in panischer Angst unter Deck
aneinander. Ein gutes Dutzend Leute hatte eine Überfahrt auf diesem
Handelsschiff gebucht, das mit Vorräten für die Besatzungslegionen
gefüllt war; sein Ziel war Massilia in der Provinz Narbonensis an
der Südküste Galliens. Ihnen war nicht klar, dass sie in den ersten
Herbststurm hinaussteuerten, der wie aus heiterem Himmel über
diesem Meeresstreifen aufgezogen war. Drusilla lag, wenn sie sich
nicht mit anderen Passagieren in die übelriechenden Eimer erbrach,
flach auf dem Rücken und stöhnte. Commios sah sich suchend nach
Eigon um.
Er fand sie schließlich an Deck, sie hielt sich an
den Wanten fest und sah über die schaumgekrönten Wellen hinaus.
Ihre Augen glänzten, ihr Haar, das sich aus den Kämmen gelöst
hatte, wehte ihr um den Kopf wie ebenholzfarbene Schlangen. Er ging
zu ihr. »Der Kapitän hat befohlen, dass alle unter Deck
müssen.«
Sie drehte sich zu ihm. Seine Worte wurden vom Wind
fortgetragen, aber sie hätte ihn über das Tosen der Wellen ohnehin
nicht verstanden. »Ist es nicht großartig? Ich habe gar nicht
gewusst, dass es etwas so Aufregendes geben kann!« Wasser strömte
ihr übers Gesicht, ihre Kleider waren durchnässt und klebten an ihr
wie eine zweite Haut. Er lachte. Er konnte ihre Worte zwar nicht
verstehen, aber er konnte ahnen, was sie gesagt hatte. Es war
wirklich großartig hier draußen, fort vom Gestank und Gejammer der
anderen Passagiere, und wenn das Schiff kenterte, dann war es
zweifellos besser, hier oben im Freien zu sein, ein Teil des
Sturms, als gefangen unter Deck in der Holzkiste, die sich allzu
leicht in einen überfluteten Sarg verwandeln konnte.
»Wie weit ist es noch?«, schrie Eigon.
Er zuckte mit den Schultern. Sie hatten so lange
kein Land mehr gesehen, dass er unmöglich abschätzen konnte, wie
viele Meilen sie bereits zurückgelegt hatten. Genauso gut war es
möglich, dass sie wieder nach Ostia zurücktrieben oder über das
Mare Tyrrhenum auf Karthago oder Hippo Regius zusteuerten.
Angeblich sollte die Reise zwei Tage dauern, allerhöchstens
zweieinhalb. Commios versuchte nachzurechnen, wie oft der Himmel
dunkel geworden war, und gab auf. Solange sie nicht wieder in Ostia
landeten … Er hatte gesehen, welche Last von Eigon abgefallen war,
als sie den Hafen hinter sich gelassen hatten. Damit hatte sich
auch ihre Angst vor einer Verfolgung gelegt. Commios war der
Einzige, dem Petrus von Titus’ wahnwitzigem Rachefeldzug erzählt
hatte. Er hatte geschworen, das Geheimnis für sich zu behalten,
aber das bedeutete auch, dass er die Augen offen halten musste, bis
sie wirklich in Sicherheit waren. Eigons Aufregung war ansteckend,
und wider Willen musste er mitlachen, als wieder eine Woge auf Deck
krachte und sie abermals durchnässt wurden.
Es ging bereits auf Abend zu, als der Sturm sich
etwas legte und das Schiff an Fahrt gewann. Der Himmel klarte auf,
und dann sahen sie zu ihrer Rechten schließlich die Küste, weit
näher, als sie erwartet hatten. Langsam wagten sich auch andere
Passagiere an Deck, die Nachricht machte die Runde, dass sie sich
tatsächlich ihrem Ziel näherten und dass die erstaunlich präzise
Navigation des Kapitäns einzig den Opfergaben zu verdanken war, die
er vor der Abfahrt Neptun dargebracht hatte.
Im Hafen war es laut und dreckig, überall wimmelte
es vor Menschen. Sobald sie auf unsicheren Beinen an Land
wankten, übernahm Commios die Führung. Ihnen war nur allzu
bewusst, wie erbärmlich und abgerissen sie in ihrer nassen Kleidung
aussahen. Sie suchten ihre Habseligkeiten zusammen, letztlich nicht
mehr, als sie zu dritt tragen konnten, und machten sich auf die
Suche nach dem Haus von Tullius Gaius, einem Freigelassenen, dessen
Vater für Drusillas Großvater gearbeitet hatte. Mittlerweile war er
in Massilia ein erfolgreicher Kaufmann geworden, der für einen
ständig wachsenden Markt Güter ein- und ausführte. Ihnen wurde der
Weg zu einem prachtvollen Haus mitten im Handelsviertel gewiesen,
und dort betraten sie ein luxuriöses, behagliches Zuhause.
Gaius war nicht anwesend, doch seine Frau Aemilia
begrüßte sie herzlich und beauftragte sofort die Sklaven, Zimmer
für die Gäste herzurichten. Auf den Vorschlag ihrer Gastgeberin hin
suchten die drei sehr bald das nahe gelegene öffentliche Bad auf,
und als sie sauber, ausgeruht und mit frischen Kleidern am Leib
zurückkehrten, stand das Essen bereit. Ihr Gastgeber war aus seinem
Kontor herbeigerufen worden, und er und mehrere seiner Freunde
hatten es sich bereits auf Liegen rund um den Tisch bequem gemacht
und warteten gespannt auf die Neuigkeiten aus Rom. Bald war klar,
dass sie weder von Drusillas Übertritt zum Christentum wussten noch
dass auch Eigon und Commios Mitglieder dieser Sekte waren. Auf
einen warnenden Blick Commios’ hin schwieg Eigon zu diesem Thema,
vielmehr sprachen sie alle davon, dass sie sobald wie möglich
weiter nach Norden aufbrechen müssten.
Später saßen Eigon und Drusilla in ihrem Zimmer auf
dem Bett und unterhielten sich leise. »Hier möchte ich immer
bleiben!«, sagte Eigon lachend. »Hier ist es wunderbar!« Ihren
Kummer hatte sie zwischenzeitlich tief in ihrem Inneren vergraben.
Es war zu viel, zu umfassend, als dass sie
es ertragen konnte. Eines Tages würde sie sich dem Schmerz wieder
stellen, aber nicht jetzt, wo er noch so frisch war.
Drusilla nickte. »Und es wogt nicht auf und ab und
wird nicht ständig von Wasser überflutet«, meinte sie. »Commios hat
sich umgehört, ob wir nicht eine Fahrt auf einem Kahn den Fluss
Rhodanus hinauf buchen können. Ich weiß nicht, ob das eine gute
Idee ist.«
Eigon lächelte. »Da brauchst du dir keine Sorgen zu
machen. Kähne wogen nicht auf und ab. Du hast sie doch auf dem
Tiber gesehen. Die fahren völlig ruhig dahin.«
Drusilla nickte wieder, dann warf sie einen Blick
zur Tür. »Ich finde, wir sollten niemandem sagen, wohin wir als
Nächstes wollen«, flüsterte sie. »Ich bin zwar überzeugt, dass wir
diesen Leuten vertrauen können, aber vielleicht wäre es trotzdem
besser, die Route für uns zu behalten.«
Eigons strahlendes Gesicht fiel in sich zusammen,
sie schauderte. »Du hast Recht«, sagte sie widerstrebend. »Wir
sollten bald weiterreisen, das stimmt. Sobald unsere Kleider
getrocknet sind.« Unvermittelt sah sie sich im Zimmer um und
schauderte wieder. »Drusilla«, flüsterte sie. »Spürst du das auch?
Als würde uns jemand beobachten?«
Drusilla schüttelte den Kopf. »Sei nicht albern.
Entschuldige, jetzt habe ich dir einen Schrecken eingejagt. Das
wollte ich nicht.«
»Nein.« Eigon nahm ihre Hand. »Nein, das hast du
auch nicht. Du hast vollkommen Recht.« Dann gab sie Drusilla einen
Gutenachtkuss.
Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, stand sie
einen Moment nur starr vor Erschöpfung da. Jetzt, da sie sich nicht
mehr zusammenzureißen brauchte, überkam sie das Gefühl von
Einsamkeit. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Am schlimmsten war
es in Momenten wie diesen, wenn sie ganz allein war. Die Sehnsucht
nach Julius überwältigte sie,
sie dachte an die letzte Reise mit ihm nach Rom, an seinen letzten
Kuss. Mit einem schweren Seufzen kniete sie am Bett nieder und
betete. Für Julius, für seinen Großvater, für Antonia und für
Petrus und seine Hilfe. Und sie betete, dass ihr selbst nichts
zustoßen möge. Dann schob sie ihr Unglück wieder fort.
Als sie schließlich aufstand, sah sie sich erneut
um. Es war immer noch da, dieses Gefühl, dass irgendwo irgendjemand
war, der sie beobachtete. Nicht Julius. Keiner der Menschen, die
sie liebte, da war sie sich sicher. Sie setzte sich auf die
Bettkante und schaute in die flackernde Flamme der Öllampe, die auf
dem kunstvoll geschnitzten Eichentisch neben dem Bett brannte. Die
Muster im Holz erinnerten sie an ihre Kindheit. Das waren die
wirbelnden, verwobenen Muster von zu Hause. Kaum hatten sie
angelegt, hatte Eigon im Hafen Keltisch sprechen hören, eine von
einem Dutzend Sprachen, die in dem Menschenauflauf gerufen wurde,
und sie hatte in mehreren Gesichtern die unverkennbare Hautfarbe
der Männer und Frauen von den nördlichen Grenzen des Reichs
gesehen. Schon sehr lange hatte sie ihr Heimweh erfolgreich
verdrängt, aber jetzt plötzlich konnte sie es nicht mehr erwarten,
die grünen, nebelverhangenen Hügel zu sehen. Das waren die Bilder,
die sie in ihren Träumen heimgesucht hatten.
Plötzlich spannten sich ihre Muskeln an. Da war es
wieder, dieses Gefühl. Die Atmosphäre im Raum war schwer geworden,
die Temperatur war plötzlich gesunken. Ängstlich sah sie sich um,
dann schloss sie die Augen. »Bete, umgib dich mit Gebeten und mit
dem goldenen Licht der Sicherheit.« Das hatte Melinus ihr
beigebracht. Petrus hatte mehr oder minder dasselbe gesagt. »Schick
die Dämonen fort im Namen Christi, mein Kind. Umgib dich mit seiner
Liebe. Er wird dich behüten. Bete.« Sie schüttelte den Kopf.
Sie wusste nicht, ob ihre Gebete inbrünstig genug waren, ob sie
überhaupt funktionierten, denn dort draußen war jemand, der sie
finden wollte. Titus. Und er bediente sich eines Sachkundigen,
eines Meisters, dem es nicht die mindeste Mühe bereitete, sie
aufzuspüren.
»O mein Gott!« Vor Schreck wachte Jess auf. »Er
folgt ihr. Er weiß, wo sie ist.«
William seufzte. Von wem sie sprach, brauchte er
gar nicht zu fragen. »Das heißt, sie verfolgt dich sogar in
zehntausend Metern Höhe?«
Jess schüttelte den Kopf. »Ich hab geträumt
…«
»Spielt keine Rolle. Wir sind beinahe in Stansted.
Schau.« Er deutete zum Fenster hinaus. Das Flugzeug flog immer
tiefer, sie konnten bereits die Lichter unter sich ausmachen.
»Jetzt bist du in Sicherheit, Jess. Das ist das Einzige, was
zählt.«
»Aber verstehst du denn nicht, Titus folgt ihr. Und
wenn er das tut, dann folgt Daniel mir auch.«
»Das bezweifle ich.« William klang verärgert. »Aber
wenn, Jess, dann ist das auch egal. Jetzt sind wir zu Hause. Wenn
nötig, rufen wir die Polizei. Außerdem findet er dich nicht. Wir
fahren sofort nach Cornwall, da kann dir nichts passieren. Er wird
nie im Leben auf die Idee kommen, dort nach dir zu suchen. Da hast
du Zeit, zu entscheiden, was du als Nächstes tun willst, da kannst
du dich entspannen und zur Ruhe kommen.«
Der Flugkapitän sprach über Lautsprecher zu den
Fluggästen. Bald würden sie landen. Als er geendet hatte, drehte
Jess sich zu William. »Es tut mir leid, du bist wirklich großartig
gewesen. Wahrscheinlich hast du mir das Leben gerettet«, sagte sie
sanft. »Aber ich komme nicht mit nach Cornwall.«
»Warum nicht?« Er runzelte die Stirn.
»Du kennst den Grund. Ich muss wieder nach Ty Bran.
Da geht Eigon hin.«
»Tu das nicht, Jess. Da wird Daniel als Erstes nach
dir suchen.«
»Das Risiko muss ich eingehen.« Sie legte ihre Hand
auf seine. »William, du hast mehr getan, als ich erwartet oder
verdient hätte. Ich darf dich nicht bitten, noch mehr für mich zu
tun.« Es holperte ein wenig, das Fahrwerk wurde ausgefahren. »Ich
möchte, dass du zu deinen Eltern fährst. Mach dir einen schönen
Sommer, oder was vom Sommer noch bleibt. Ich fahre wieder zu
Steph.«
Er verzog das Gesicht. »Du schickst mich also
weg?«
Sie grinste. »Das klingt ein bisschen harsch. So
meine ich das nicht. Ich will einfach nicht, dass du dich für mich
verantwortlich fühlst.«
Er war ein wenig rot geworden, aber sie wusste
nicht, ob er verletzt oder nur wütend war. »Fährst du wieder nach
Wales, um ihn zu sehen?«, platzte es dann aus ihm heraus.
»Wen?« Einen Moment war sie aufrichtig
verwundert.
»Rhodri.« Er presste die Lippen aufeinander.
»Aber wirklich nicht! Ich bezweifle, ob er mich je
wiedersehen will.« Sie lachte laut auf. Sie warf ihm einen
Seitenblick zu und wandte sich dann ab, um zum Fenster
hinauszuschauen. Das Flugzeug war jetzt gerade gut hundert Meter
über dem Boden. Jess sah das Gewirr der Straßen unter sich, die
Scheinwerfer der Autos. Rhodri. Einen Moment sah sie ihn vor sich,
seine breiten Schultern, sein gebräuntes Gesicht, seinen sauber
gestutzten, aber dennoch verwegenen Dreitagebart, seine lachenden
Augen und seinen beschützenden Zorn. Er war ein attraktiver Mann,
keine Frage. Aber das gehörte zu seinem Beruf. Sie hatte sich von
seinem Charisma verführen lassen. Mehr nicht. »Du bist doch nicht
eifersüchtig, William, oder?«
»Wohl kaum. Erst vor kurzem hast du mich wieder
daran erinnert, dass wir getrennt sind.«
»Und das war deine Entscheidung«, sagte sie leise.
»Du hast mich verlassen, weißt du noch? Nach unserer Trennung war
ich am Boden zerstört, aber du hast einfach sehr viel früher als
ich gespürt, dass zwischen uns nicht alles zum Besten stand. Und
jetzt ist mir klar, dass du Recht hattest.«
»Ich war dumm.« Er starrte vor sich hin. »Muss es
denn für immer sein? Darf ich nicht meine Meinung ändern?«
»Niemand weiß, was für immer ist, William. Aber
momentan ist es so.« Traurig schaute sie zu ihm. William hatte so
viel für sie getan. Er hatte sein Leben für sie riskiert, das
stimmte, und sie mochte ihn immer noch sehr gern. Die Wut und der
Schmerz waren verschwunden. Aber Dankbarkeit und Zuneigung genügten
nicht als Grundlage einer Beziehung.
Er wich ihrem Blick aus. »Also fährst du gleich
nach Wales?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Zuerst muss ich nach
Heathrow. Da steht mein Auto.«
William schaute zu ihr. »Mist! Entschuldige. Auf
die Idee bin ich gar nicht gekommen.«
»Schon in Ordnung. Es gibt bestimmt einen Bus oder
Zug, der dorthin fährt. Und von dort fahre ich dann nach
Wales.«
»Und ich vermute mal, wo immer Eigon hingeht, gehst
du auch hin.« Er klang bitter. »Rufst du mich an, wenn du Hilfe
brauchst? Du weißt, ich komme sofort.« Er und Rhodri hatten einen
Pakt geschlossen, dass sie sich Daniel vorknöpfen würden. Konnte er
mit Rhodri gemeinsam etwas
unternehmen? Er seufzte. Vermutlich schon, wenn sie damit Jess von
dieser Qual erlösten.
»Ich ruf dich an, William.« Jetzt lächelte sie ihn
an. »Aber du fährst doch trotzdem nach Cornwall, oder?«
»Vielleicht später. Jetzt fahre ich erst mal nach
Hause. Vergiss nicht, du kannst jederzeit kommen. Ohne jede
Verpflichtung.«
Sie grinste. »Noch müssen wir uns ja nicht
verabschieden. Wir fahren doch zusammen nach London hinein.«
Sie verabschiedeten sich bei der U-Bahn-Station
Liverpool Street Station. Dort stieg Jess in einen Verbindungszug
zur Piccadilly Line, die sie nach Heathrow bringen würde, William
fuhr weiter nach Südlondon. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und
gab ihm einen leichten Kuss auf die Lippen. »Pass auf dich auf,
William.«
»Und du auf dich.« Kurz umarmte er sie. »Lass dich
nicht von Titus erwischen.« Einen Augenblick dachte sie, er wollte
noch mehr sagen, aber dann hatte er sich bereits umgedreht.
Bedächtig trank Daniel seinen Cappuccino und
beobachtete die gegenüberliegende Straßenseite. Die Sonne war
grell, die Hitze reflektierte von den Pflastersteinen, die Luft
roch nach Abgasen und heißem Stein. Er war müde, deprimiert und so
wütend, dass ihn die Wogen des Zorns, die sich seiner mit
erschreckender Regelmäßigkeit bemächtigten, völlig überforderten.
Er hatte mehrere SMS von Nat bekommen. Jede klang besorgter,
ärgerlicher, ungeduldiger. Sie wollte wissen, wo er war. Er habe
versprochen, mittlerweile zu Hause zu sein. Die Polizei, simste
sie, habe sie inzwischen dreimal angerufen, ebenso wie der Rektor.
Was in Teufels Namen gehe da vor sich? Er trank noch einen Schluck
Cappuccino, wischte sich den Schaum von der Oberlippe und
bestellte einen Prosecco. Jess war spurlos verschwunden. Und er
hatte auch keine Ahnung, wo die anderen waren. Er hatte Carmellas
Wohnung ausspioniert. Da waren sie nicht und in der Pension auch
nicht. Er leerte das Glas und knallte es auf den Tisch.
Und von Titus war auch nichts zu sehen.
Verdammt! Er hieb mit der Faust so plötzlich auf
den Tisch, dass die Tasse auf der Untertasse hochsprang. Die Frau
am Nachbartisch drehte sich um und starrte ihn an, dann wandte sie
sich um und rückte ihren Stuhl so, dass sie ihm den Rücken
zukehrte.
»Du kannst mich mal«, brummelte er. Dann stand er
auf, warf einige Münzen auf den Tisch und marschierte auf die
Straße.
Schweigend sah Titus zu, wie die Frau ihre Orakel
befragte. Seherinnen waren teuer, und dies war sein dritter Besuch.
Jedes Mal sagte sie ihm gerade genug, um ihn zu überzeugen, dass
sie tatsächlich in die Tiefen der Zeit und des Raums jenseits des
dunklen Zimmers, in dem sie saßen, blicken konnte. »Ich sehe andere
Menschen, Patrizierfamilien, die in diese Geschichten verstrickt
sind. Ich sehe zwei Frauen, die sich unterhalten. Sie haben sich
mit Eurer Prinzessin angefreundet. Und sie haben Freunde an
einflussreichen Stellen. Die sind jenseits Eures Zugriffs.« Sie
warf ihm einen unheilvollen Blick zu. »Ich sehe eine Frau, die Euch
aus großer Ferne beobachtet, ebenso wie Ihr sie beobachtet.« Sie
schenkte ihm ein rätselhaftes Lächeln. Sie hatte diese Frau schon
früher gespürt, sie suchte nach der Wahrheit jenseits der Zeit,
genau wie sie selbst. Aber sie kam aus einer anderen Ära. Marcia
Maximillas Neugier war geweckt. Jetzt wendete sie sich allerdings
wieder den praktischen Dingen zu. »Wollt Ihr mehr über die
Prinzessin herausfinden?«
Titus bezwang den überwältigenden Drang, der Frau
den Hals umzudrehen. »Deshalb bin ich hier, Herrin.«
Mit einem kurzen Blick auf ihn fragte sie sich, ob
dies wohl der geeignete Moment war, ihren Preis zu erhöhen. Dann
überlegte sie es sich anders und schaute beiseite. In Gegenwart
dieses Kunden wurde ihr allmählich unbehaglich zumute. Es war
besser, ihm das, was er haben wollte, so schnell wie möglich zu
geben und ihn dann wegzuschicken. »Sie ist fort. Über die Meere.
Ich sehe raue, aufgewühlte Wellen. Sie stand im Bug des Schiffes,
blickte vor sich in ihre Träume. Sie hat Rom für immer hinter sich
gelassen.«
Titus ballte die Hände zur Faust. »Sagt mir, wohin
sie fährt.«
Zum ersten Mal runzelte die Seherin die Stirn. »Ich
sehe sie in Schleier gehüllt. Ihr Schicksal ist unklar. Nein!«,
schrie sie, als er sie über den Tisch hinweg an der Schulter
packte. »Ich würde es Euch sagen, Herr, wenn ich es sähe. Sie ist
ebenfalls eine Meisterin. Sie spürt, dass ich nach ihr suche. Sie
hat sich in Nebel gehüllt.«
Er ließ sich auf seinen Sitz fallen. Es war
unvernünftig, diese Frau umzubringen. Sie war die Beste, die es in
Rom gab. »Aber irgendeinen Hinweis muss es doch geben. Ist sie nach
Gallien gegangen? Geht sie nach Britannien zurück?«
Marcia rang immer noch nach Fassung. Sie wollte
diesen Mann nur noch loswerden. Sie schaute auf, und ihr Gesicht
wurde wieder freundlich. »Jetzt weiß ich es, ihre Gedanken haben
sie einen Moment verraten. Sie fährt nach Britannien.«
Ihr fiel kein Ort ein, der in weiterer Ferne
lag.
Britannien! Daniel erfasste den Gedanken wie einen
grellen Blitz. Sie war nach Britannien zurückgekehrt. Und wenn
Eigon sich nach Britannien aufgemacht hatte, dann würde
Jess dasselbe tun. Ein eiskalter Schauer überlief ihn. Er musste
schnell nach England, bevor sie dort ankam. Er musste bei ihr sein,
bevor sie mit irgendjemandem reden und ihre dummen Vorwürfe und
ihre nichtigen Wahnvorstellungen loswerden konnte. Vor allen Dingen
musste er sicherstellen, dass sie nicht mit Nat sprach.
Jess’ Auto stand immer noch da, wo sie es auf dem
Langzeitparkplatz abgestellt hatte. So viel war passiert, dass es
ihr vorkam, als seien seitdem Monate vergangen. Mit dem bezahlten
Ticket in der Hand öffnete sie die Fahrertür und stieg ein. Dann
ließ sie die Tür zufallen, lehnte sich zurück und schloss die
Augen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder
sicher.
Nach einer Weile griff sie nach ihrem Handy und
wählte Stephs Nummer. Keine Antwort. Sie versuchte es bei Kim.
Keine Antwort. Sie widerstand dem Drang, Carmella anzurufen. Sie
war jetzt allein, und zwar auf ihren eigenen Wunsch hin. William
hatte sich widerstrebend von ihr verabschiedet. Jetzt lag alles an
ihr. Sie musste selbst Entscheidungen treffen, und sie musste einen
Ort finden, von dem aus sie mit Eigon in Kontakt treten konnte. Das
war ganz bestimmt nicht der Flughafenparkplatz. Seufzend steckte
sie den Schlüssel ins Zündschloss und fuhr hinaus.
»Wir müssen los. Sofort.« Eigon rüttelte Drusilla
an der Schulter. Der Morgen war gerade angebrochen, von der Straße
draußen schallten bereits die Rufe der Händler herein. »Es tut mir
wirklich sehr leid, aber wir können nicht hierbleiben. Er kommt. Er
weiß, wo wir sind. Ich habe in meinen Gebeten eine Warnung
erhalten.«
Ohne eine weitere Frage stand Drusilla auf und
machte sich daran, ihre Sachen zusammenzupacken.
Sie buchten eine Reise auf einem Flussfrachter, den
sie erst kurz vor der Abfahrt bestiegen. Es war ein flacher Kahn,
der mit Waren vollgeladen war und mühsam nach Norden geschleppt
wurde. Drusilla und Eigon wurde ein kleiner, mit Vorhängen
abgetrennter Bereich zugewiesen, während Commios sich damit
begnügte, bei der Mannschaft zu schlafen. Dadurch wurde nicht nur
die Fahrt sehr viel billiger, er konnte auch mit den Leuten
sprechen, die auf dem Boot arbeiteten. Einen davon erkannte er
sofort als einen Mann, der zum selben Stamm gehörte wie er.
»Er ist glücklich«, flüsterte Drusilla Eigon ins
Ohr. Auf die Reling gestützt, sahen sie das Flussufer an sich
vorbeiziehen.
»Und wenn wir nicht aufpassen, sind wir ihn los. Er
ist wieder in seiner Heimat.« Drusilla seufzte. »Er ist ein
attraktiver Mann, findest du nicht?« Sie lächelte
sehnsüchtig.
Eigon warf einen Blick zu ihr. »Mir ist bereits
aufgefallen, dass du ihn beobachtest.«
Drusilla schaute über das Wasser auf eine Schar
Enten, die gegen die Strömung paddelte. »Und er hat Augen nur für
dich. Wenn er bei uns bleibt, dann deinetwegen. Er wird dich nicht
im Stich lassen.«
»Das stimmt nicht. Er passt auf uns beide auf. Das
ist die Aufgabe, die Petrus ihm übertragen hat, Drusilla!« Eigon
war nie auf den Gedanken gekommen, dass sich noch einmal jemand in
sie verlieben könnte. Das erschien ihr unvorstellbar.
»Und ich bin überzeugt, er wird die Aufgabe
erfüllen, solange er kann.« Drusilla schüttelte den Kopf. »Achte
nicht auf mich, Eigon. Ich bin eine eifersüchtige, nichtsnutzige
alte Frau. Mich will doch kein Mann mehr ansehen. Wenn du ihn
willst, dann nimm ihn!«
Entsetzt starrte Eigon sie an. »Das ist doch
Unsinn. Du bist nicht alt!« Eine Weile betrachtete sie ihr Gesicht.
»Ich sehe eine reife, schöne Frau. Aber …«, sie zögerte. »Wir
dürfen nicht vergessen, weshalb wir diese Reise machen.«
»Petrus hat uns keine Enthaltsamkeit abverlangt!«,
erwiderte Drusilla scharf.
»Nein.« Eigon seufzte. »Keine Sorge, Drusilla. Ich
will Commios nicht. Er ist ein guter Mann, und ich mag ihn gern,
ich schätze seine Freundschaft, aber für mich hat es immer nur
einen Mann gegeben.«
Daraufhin herrschte eine Weile Stille. Drusilla
biss sich auf die Unterlippe und berührte sacht Eigons Hand.
»Entschuldige.«
Nach einem Augenblick wandte Eigon sich wieder zu
ihr. »Du glaubst doch nicht, dass Commios uns wirklich verlassen
will?«
Beide drehten sich zu ihm um und sahen, wie er mit
seinem Landsmann lachte und scherzte. Als er ihre Blicke bemerkte,
hob er grüßend die Hand.
»Nein«, sagte Drusilla schließlich. »Ich glaube, er
wird uns sicher bis an unser Ziel begleiten.«
»Und wenn nicht? Wenn er beschließt, in Gallien zu
bleiben, würdest du dann bei ihm bleiben?« Eigon beobachtete
angelegentlich die Enten.
Drusilla lächelte. »Dazu wird es nicht kommen. Mach
dir keine Sorgen. Ich bleibe bei dir. Wenn du das willst«, fügte
sie hinzu.
Eigon nahm ihre Hand und drückte sie. »Ich möchte,
dass du bei mir bleibst. Ich habe so viel Angst. Ich war zehn Jahre
alt, als wir Britannien verlassen mussten. Ich kann mich kaum noch
daran erinnern. Und je mehr ich daran denke, desto mehr Angst
bekomme ich. Es wird niemanden geben,
der sich noch an mich erinnert. Ich weiß nicht einmal, wohin ich
gehen soll. Mein Vater ist ständig umhergezogen. Er war ein
Feldherr. Ein Soldat. Er kam von einem Stamm und herrschte über
einen anderen. Vielleicht wird keiner der beiden mich willkommen
heißen.«
»Und woher kam deine Mutter?«
»Sie gehörte zu den Silurern. Das Stammesgebiet
ihres Vaters lag in den Bergen im Westen.« Sie zögerte. »Die erste
Gemahlin meines Vaters gehörte zu den Trinovanten, das war der
Stamm, den er zusammen mit den Catuvellaunen regierte. Sie starb im
Kindbett, so wurde mir zumindest erzählt. Als er dann sein Heer
nach Westen führte, um den Widerstand gegen Rom zu organisieren,
hat er meine Mutter kennengelernt und sie geheiratet. Es sind wohl
ihre Berge, die ich als Heimat betrachte und die ich in meinen
Träumen sehe. Aber am meisten erinnere ich mich daran, dass wir mit
meinem Vater ewig kreuz und quer übers Land reisten, während er die
römischen Eindringlinge bekämpfte.« Sie lächelte. »Euer Volk war
unser Albtraum!«
Drusilla nickte. »Das kann ich mir gut vorstellen,
meine Liebe. Es muss schrecklich für euch gewesen sein. Wir denken
immer, dass die Welt nur auf uns gewartet hat und sich nichts
sehnlicher wünscht, als an unserer Zivilisation und unserer
Herrschaft teilzuhaben. Die Götter Roms haben ihren Nachfolgern die
ganze Welt verheißen.« Sie winkte einem kleinen Kind zu, das im
seichten Wasser am Flussufer herumplanschte. Es starrte sie an und
machte dann eine unhöfliche Geste. Die beiden Frauen mussten
lächeln. »Da ist noch jemand, der nur unfreiwillig zum Römer
geworden ist!«, sagte Drusilla leise.
Eigon lachte. »Die Leute schätzen ihre Freiheit
mehr als ihr Leben.«
»Und trotzdem hat dein Vater nie versucht, wieder
nach Britannien zu gehen?«, fragte Drusilla. »Entschuldige, die
Frage ist nicht besonders einfühlsam.«
»Er hat davon geträumt«, antwortete Eigon langsam.
»In unserer ersten Zeit in Rom hat er oft davon gesprochen, aber
dann ging es ihm gesundheitlich so schlecht, dass er wusste, er
würde seinem Volk nicht helfen können. Dafür musste er erst wieder
zu Kräften kommen. Manchmal erhielten wir Nachrichten, dass sie ihn
nach wie vor als ihren Befreier betrachteten, aber sie führten den
Kampf ohne ihn weiter, und irgendwann kamen keine Nachrichten mehr.
Wahrscheinlich dachten die Leute zu Hause, mein Vater wäre tot.«
Ihre Miene verfinsterte sich.
»Du glaubst, sie haben den Kampf aufgegeben?«
Eigon zuckte mit den Schultern. »Nach allem, was
ich gehört habe, hat sich der Großteil Britanniens still dem Joch
gebeugt. Vor vier Jahren gab es unter der Königin der Icener einen
Aufstand, aber auch der wurde niedergeschlagen. Es gibt zwar immer
noch Landstriche, wo sie die Niederlage nicht anerkennen wollen,
aber darüber habe ich sehr wenig erfahren.«
»Und du glaubst nicht, dass du als Erbin deines
Vaters als Königin empfangen werden wirst?«
Eigon sah sie entgeistert an. »Das glaube ich
nicht.«
»Meine Liebe, ich denke, du solltest dich für
vieles wappnen. Es ist gut möglich, dass der römische Statthalter
dir ganz bestimmte Motive für deine Rückkehr unterstellt. Bislang
sind wir davon ausgegangen, dass wir einfach in die Provinz reisen
und uns dort frei bewegen können, um die Botschaft Jesu zu
verbreiten, wie Er es uns aufgetragen hat. Aber vor unserer Abfahrt
habe ich mit Gaius gesprochen, natürlich ohne ihn in unsere
tatsächlichen Pläne einzuweihen. Er war wenig zuversichtlich. Wir
wissen einfach nicht,
was uns erwartet. Der Statthalter ist ein Mann namens Marcus
Trebellius Maximus. Nach allem, was ich hörte, konnte er die
Britannier ganz gut davon überzeugen, dass das Leben im Römischen
Reich gewisse Vorteile mit sich bringt. Er wird dich vielleicht
nicht unbedingt wohlwollend empfangen.« Unvermittelt lächelte sie,
ihre Augen blitzten. »Das müssen wir abwarten. Es ist spannend! Und
Commios mag spannende Unternehmungen. Wir müssen ihm einfach immer
wieder sagen, dass das Ganze ein Abenteuer ist. Dann bleibt er ganz
bestimmt bei uns.«
Eigon warf ihr einen besorgten Blick zu, dann
lächelte auch sie. »Du tust mir wirklich gut, Drusilla. Du bist
eine sehr starke Frau. Und so optimistisch. Manchmal gerate ich in
meinem Entschluss ins Wanken. Ich habe Zweifel. Und Angst.« Sie
machte eine kurze Pause. »Manchmal überwältigt mich die Einsamkeit,
obwohl ich bete.« Sie schaute nach unten ins Wasser. »Ich konnte
mit Julius nie richtig zusammen sein.« Sie unterdrückte ein
Schluchzen. »Aber er fehlt mir so sehr.«
Drusilla legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich
weiß.«
»Ich dachte, ich würde ihn in der Nähe spüren.«
Eigon machte eine hilflose Geste. »Du weißt doch, unser Volk spürt
manche Sachen einfach. Manchmal sehen wir die Menschen, die
gestorben sind. Aber er ist nicht da.«
»Er ist bei Jesus, Eigon. Er ist jetzt in
Sicherheit und ruht in Frieden.«
Eigon kämpfte gegen die Tränen an. »Ich spüre
keinen Frieden. Wenn ich etwas gespürt habe, dann Zorn. Aber mit
jeder Meile, die wir nach Norden fahren, entfernen wir uns von
seinem Schatten.«
Drusilla runzelte die Stirn. Sie wünschte, Commios
wäre bei ihnen. Er würde Eigon ablenken und sie beide mit seinem
Humor und seiner Tatkraft aufmuntern, aber jetzt stritt
er sich gerade mit einem aus der Mannschaft, fuchtelte mit den
Armen herum und deutete aufs Land hinaus, während der Frachter
unentwegt nach Norden fuhr. Sie drehte sich wieder zu Eigon.
»Hast du immer noch das Gefühl, dass dieser Titus
nach dir sucht?«, fragte sie leise. Commios hatte vor einer Weile
beschlossen, dass auch Drusilla von diesem Mann wissen müsse, der
ihnen womöglich folgte. Eigon hatte ihre Gefährten sehr schnell
davon überzeugt, dass er ihnen bereits auf den Fersen war. Diese
Kelten glaubten an eine Welt der Schatten und Ahnungen und Echos,
die für einen gebürtigen Römer ein Rätsel darstellten. Aber es
bestand kein Zweifel, dass Eigon von Dingen wusste, die den
Wahrnehmungshorizont anderer Menschen überstiegen.
Eigon seufzte tief. »Ich habe Angst, das Fenster in
die Dunkelheit zu öffnen. Es ist zu durchlässig. Wenn ich ihn sehe,
kann er mich auch sehen.«
Drusilla schauderte. »Dann hoffen wir, dass er noch
in Rom ist und weder dienstfrei bekommt noch einen
Passierschein!«
Jetzt schließlich gesellte Commios sich zu ihnen.
Eigon wandte sich zu ihm. »Und? Hast du den Streit für dich
entschieden?«
Er hob die Augenbrauen. »Welchen Streit denn? Der
Mann wusste, dass er nur verlieren kann, wenn er sich mit mir
anlegt!«
»Dürfen wir erfahren, worüber ihr euch so ereifert
habt?«, fragte Drusilla.
»Das ist nichts für weibliche Ohren!« Commios
lachte, war zu beiden gleichermaßen freundlich, wie Eigon bemerkte.
»Ihr werdet euch freuen zu hören, dass das Boot beim nächsten Dorf
anlegt, und dort gibt es eine Taverne, wo es zu essen gibt und wir
Teile für das Ruder bekommen
können, das offenbar beschädigt ist. Dann können wir an Land essen
und uns vielleicht sogar die Beine ein bisschen vertreten.«
Und einen bleibenden Eindruck hinterlassen bei
einem der Wirtsleute. Zwei römische Frauen, die mit nur einem Mann
als Begleitung reisten, waren auf dem Fluss eher ungewöhnlich.
Zumal die beiden Frauen ausgesprochen attraktiv waren und sich nach
Kräften bemühten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
William öffnete die Flügeltüren, die aus dem
kleinen Wohnzimmer seiner Erdgeschosswohnung nach draußen führten,
und trat in seinen handtuchgroßen Garten. Er freute sich immer,
nach Hause zu kommen. Diese Wohnung war sein Zufluchtsort, der Ort,
an dem er seine Wunden geleckt hatte, nachdem er und Jess sich
getrennt hatten. Nein, nachdem er sich von Jess getrennt hatte. Sie
hatte Recht. Die freundliche Zurechtweisung im Flugzeug hatte er
verdient. Er hatte geglaubt, was er in den letzten Tagen für sie
getan hatte, hätte alles verändert, hätte den Kummer, den er ihr
bereitet hatte, wieder wettgemacht. Aber dem war nicht so.
Natürlich nicht. Überhaupt war ihr ganzes Dilemma eigentlich seine
Schuld. Wären sie noch zusammen gewesen, hätte er sie nach der
Disco nach Hause gebracht, oder sie wären zu ihm nach Hause
gegangen. Dann hätte Daniel nie die Möglichkeit gehabt, ihr zu
folgen, sich Zutritt zu ihrer Wohnung zu verschaffen und das zu
tun, was er getan hatte. William schauderte vor Abscheu. Der
Schuft. Der widerliche, ekelerregende Schuft!
Er rief bei der Polizei an. Der Beamte dort hörte
ihm ruhig und aufmerksam zu, notierte Namen und Adressen und
schüttelte dann seufzend den Kopf. »Wenn Miss Kendal diese Sache
nicht verfolgen will, dann sind uns die
Hände gebunden. Und sie hat Recht: Wenn es keine Beweise gibt,
können wir nichts unternehmen.«
»Aber Sie können seinen Namen notieren. Sie können
die Augen nach ihm offen halten. Sie können ihn beobachten, und
wenn er etwas tut …« William schüttelte den Kopf. »Er ist
gefährlich. In Rom hat er versucht, mich umzubringen. Und er hat
Jess gedroht. Der Mann ist durchgedreht. Sie müssen doch etwas
unternehmen können!«
Aber sie konnten nichts unternehmen. Mit dem Rat,
sich zu melden, wenn er erneut Anlass zur Sorge habe, beendete der
Polizist das Gespräch höflich, aber bestimmt. William trat auf die
Straße hinaus und fuhr Richtung Schule. Er hatte das Gefühl,
dringend mit seinem Chef sprechen zu müssen.
Catherine Barker öffnete die Tür des Hauses, das
dem Schulgebäude direkt gegenüberlag. Sie empfing ihn mit einem
strahlenden Lächeln. Die Ehefrau des Rektors war eine ungemein
attraktive Frau mit leuchtend roten Haaren und smaragdgrünen Augen,
zehn Jahre jünger als ihr Mann. Sie sprach Englisch mit dem Anflug
eines irischen Einschlags. »William! Wie schön, dich zu sehen. Komm
rein. Brian ist oben. Ich hole ihn.«
Brian, groß, hager und drahtig, mit einer weißen
Mähne und einer gesunden Gesichtsfarbe, ging William in sein
Arbeitszimmer im ersten Stock voraus und schloss die Tür hinter
ihnen. Catherine blieb am Fuß der Treppe stehen und sah den beiden
Männern besorgt nach.
»Es tut mir leid, Brian. Ich hoffe, sie ist jetzt
nicht gekränkt. Aber ich finde, das sollte momentan unter uns
bleiben.« Da Brian ihn nicht aufforderte, sich zu setzen, hob
William selbst einen Stapel Bücher von einem Stuhl und nahm Platz,
ehe er zu erzählen begann.
»Jess wollte nicht, das irgendjemand davon
erfährt«, sagte er, als er das Ende der Geschichte erreichte. »Sie
hat
sich mit Händen und Füßen gewehrt, jemandem etwas davon zu sagen.
Es gibt keine Beweise. Es steht ihr Wort gegen Daniels, und in den
vergangenen Wochen hat Daniel alles darangesetzt, ihre
Glaubwürdigkeit zu zerstören und sie unter Druck zu setzen.«
»Und du sagst, dass er ihr nach Rom gefolgt ist?«,
meinte Brian nachdenklich. »Weiß Nat davon? Ich habe versucht, ihn
zu erreichen, und sie wusste nicht so recht, wo er ist.«
»Das glaube ich sofort«, sagte William trocken.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihr irgendetwas davon
erzählt hat.« Er machte eine kurze Pause. »Warum willst du ihn denn
erreichen?«
»Wegen einer seiner Schüler. Ashley. Der hat Ärger
mit der Polizei. Eine dumme Sache. Ein Missverständnis, wenn du
mich fragst, aber der Junge ist schwarz, und, na ja …« Er zuckte
mit den Schultern. »Du weißt ja, wie’s geht. Das könnte seine
Zukunft zerstören, und dabei sieht alles so gut für ihn aus.«
»Er war Jess’ Schützling. Du hättest sie anrufen
sollen.«
»Ich habe nicht gewusst, wie ich sie erreichen
kann. Ich habe bei ihr zu Hause angerufen, und die Frau, mit der
ich sprach, sagte, sie wohne bloß zur Untermiete dort und Jess sei
für ein halbes Jahr verreist. Vergiss nicht, sie hat an der Schule
gekündigt.«
William verzog das Gesicht. »Sie war bei ihrer
Schwester in Wales. Daniel ist ihr dorthin gefolgt.« Er machte eine
kurze Pause. »Vielleicht kann ja ich etwas für Ash tun. Ich habe
ihn auch unterrichtet.«
Brian nickte. »Ich gebe dir die Nummer, bei der du
anrufen musst.« Er schlenderte zum Fenster und schaute auf die
Straße hinunter. Die Hände hatte er in der Hosentasche vergraben.
»Das ist vielleicht eine verdammt dumme Geschichte. Ich habe mich
für Daniel eingesetzt und ihn
zur Beförderung vorgeschlagen, als Rektor einer eigenen Schule. Er
hat - er hatte - eine große Zukunft.« Er zögerte kurz. »Und du
sagst, die Polizei interessiert sich nicht dafür?«
William schüttelte den Kopf.
»Ehrlich gesagt, überrascht mich das nicht. Bei
jemandem wie Ash, da sind sie schnell bei der Hand, oder bei
jemandem, der es auf kleine Kinder abgesehen hat, aber ein
potenzieller Mörder …« Er drehte sich um und stützte sich seufzend
aufs Fenstersims. »Können wir die Geschichte Catherine erzählen?
Sie schweigt wie ein Grab, und sie verfügt über eine gute
Menschenkenntnis. Vielleicht fällt ihr ein, was wir tun
können.«
William nickte. »Natürlich.«
»Liebst du Jess noch, William?«
William lachte wehmütig. »Wenn, dann ist es zu
spät. Ich habe sie verloren.«
Eine Weile stand Daniel auf dem Bürgersteig und
schaute nachdenklich zu Williams Haustür. Er grinste verschlagen.
Reiner Zufall, dass er den Schlüssel noch hatte, den William ihm
vor zwei Jahren gegeben hatte, als sie gemeinsam an einem
Schulprojekt arbeiteten. William hatte vergessen, ihn
zurückzufordern, und Daniel hatte ihn einfach behalten. Die ganze
Zeit hatte er im Handschuhfach gelegen, und als Daniel am
Nachmittag zu Williams Wohnung gefahren war und zwischen den ganzen
Bonbons, dem Abfall und den alten Kugelschreibern und Parkscheinen
danach gesucht hatte, hatte er ihn tatsächlich gefunden. Er steckte
ihn ins Schloss und öffnete die Tür. »William? Bist du da?«
Die Wohnung war leer, Williams Tasche lag direkt
neben der Wohnungstür. Offenbar hatte er nicht einmal ausgepackt,
bevor er wieder weggegangen war. Nachdenklich sah
Daniel sich um. Tja, wohin war William wohl in solcher Eile
aufgebrochen? Er ging zum Telefon und drückte auf Wiederwahl.
Die Polizei.
Fluchend ließ er sich auf einen Stuhl fallen,
stützte das Kinn auf die Hände und dachte angestrengt nach.
Jess saß am Straßenrand in ihrem Wagen, nur wenige
Hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt, und hörte
Caractacus. Die Musik trug sie mit sich fort, beschrieb die
geliebten Hügel von Malvern, das Getümmel der Schlacht, das Elend
der Niederlage. Eigon klang völlig falsch. Alle klangen völlig
falsch. Irgendwie stimmte die ganze Oper nicht, aber die Musik war
ungemein kraftvoll. Nationalistisch, mitreißend, lyrisch.
Schließlich war sie zu Ende. Jess schloss die Augen. Sie war völlig
kaputt, aber sie wusste nicht, wo sie schlafen konnte. Der blanke
Hohn. Ihre Wohnung lag um die Ecke, Jess war aus Gewohnheit
hierhergefahren, zu müde, um auf die lange Fahrt nach Wales
aufzubrechen, und hatte die Untermieterin schlicht vergessen. Sie
hätte Williams Einladung annehmen sollen, erst einmal zu ihm zu
fahren. Sie versuchte noch einmal, Steph zu erreichen. Ihre
Schwester hob immer noch nicht ab, und auch der Anrufbeantworter
schaltete sich nicht ein.
Stöhnend lehnte sie sich zurück und schloss wieder
die Augen. Wenigstens hatte sie für dieses Viertel einen
Parkausweis. Sie konnte das Auto stehen lassen und sich etwas zu
essen holen. Sie ging zu ihrem Lieblingsinder und bestellte sich
Reis, ein Hühner-Madras und einen Papadam zum Mitnehmen. Der Junge
hinter der Theke erkannte sie und begrüßte sie wie eine alte
Bekannte. Das hellte ihre Laune ein wenig auf. Sie kaufte sich noch
eine Dose Bier und setzte sich wieder in ihren Wagen. Als es dunkel
wurde,
ging das Licht in ihrer Wohnung an. Sie stopfte das
Verpackungsmaterial in die Plastiktüte, stieg aus und warf alles in
einen überquellenden Abfalleimer, der an der Straßenecke stand.
Dann setzte sie sich wieder ins Auto, trank ihr Bier und schaute zu
ihrem beleuchteten Wohnzimmerfenster hinauf. Eine halbe Stunde
später wurde das Licht ausgeschaltet.
Ihre Suche nach einer anderen CD beförderte eine
Zusammenstellung meditativer Musik zutage, die William ihr vor
mehreren Jahren nach einer besonders aufreibenden Schulinspektion,
die sie beide den letzten Nerv kostete, geschenkt hatte. Sie
lächelte traurig. Der gute alte William. Warum wanderten ihre
Gedanken immer wieder zu ihm? Hatte sie vielleicht einen großen
Fehler gemacht, ihn einfach so zurückzulassen? Der sehnsüchtige
Ausdruck in seinen Augen beim Abschied ging ihr nicht aus dem Kopf.
Plötzlich fasste sie einen Entschluss. Sie würde zu ihm fahren und
ihn bitten, sie für die Nacht bei sich aufzunehmen. Und sie würde
die Gelegenheit nutzen, ihm richtig zu danken für alles, was er für
sie getan hatte, und ihm sagen, dass sie wusste, wie viel er für
sie aufs Spiel gesetzt hatte. Sie würde dafür sorgen, dass sie sich
in aller Freundschaft trennten. Sie legte die CD ein, startete den
Wagen und fuhr zu den zarten Klängen Debussys aus der Parklücke
hinaus.
William schloss die Wohnungstür auf und trat in
den Flur. Er hatte den ganzen Abend bei den Barkers verbracht. Sie
hatten ihn eingeladen, sich in ihrer gemütlichen Küche mit ihnen an
den Esstisch zu setzen. Ihre beiden halbwüchsigen Töchter waren
herein- und herausgesprungen und hatten sie ein wenig von ihrer
düsteren Stimmung abgelenkt. Als die Mädchen schließlich
ausgegangen waren und sie warteten,
dass der Kaffee durchlief, wandte Catherine sich wieder an ihren
Gast.
»Du solltest wirklich nach ihr schauen, William.
Ich wette, sie hat es sich mittlerweile anders überlegt.
Wahrscheinlich tut es ihr schon bitter leid, dass sie dich in die
Wüste geschickt hat.«
William grinste. »Meinst du wirklich?«
»Mir würde es auf jeden Fall bitter leidtun, wenn
ich an ihrer Stelle wäre.« Sie lächelte. Er musste doch wissen, wie
attraktiv er auf Frauen wirkte. »Ruf sie an und wirf dich ihr zu
Füßen. Sag ihr, dass du ihr Sklave sein wirst, ihr bewaffneter
Leibwächter, ihr Beschützer, was immer. Aber du darfst sie diese
Sache nicht allein durchstehen lassen.«
»Ich wollte sie nach Cornwall bringen. Ich dachte,
bei meinen Eltern könnte ihr nichts passieren.«
»Hast du ihr das gesagt, oder hast du sie
gebeten?«
William schaute sie verblüfft an, dann lachte er.
»O mein Gott, du hast Recht. Wahrscheinlich habe ich sie gar nicht
gefragt. Ich fand es einfach eine gute Idee.«
»Dann ruf sie an. Jetzt.« Catherine deutete zur
Tür. »Da hören wir dich nicht bitten und betteln.«
Keine zwei Minuten später war William wieder
zurück. »Sie geht nicht ran.« Er legte sein Handy auf den
Tisch.
Catherine warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Wahrscheinlich hat sie sich irgendwo für die Nacht ein Zimmer
genommen. Versuch es morgen früh nochmal.«
William runzelte die Stirn. Wenn das Handy
ausgeschaltet wäre, wäre sofort die Mailbox angesprungen. Wenn es
nicht ausgeschaltet war, wäre es in ihrer Jackentasche oder ihrer
Handtasche, und sie würde es hören. Er spürte, wie Sorge sich in
ihm breitmachte.
Keine halbe Stunde später fuhr er nach Hause.
Als er die Wohnung betrat, blieb er stehen.
Irgendwie fühlte es sich anders an. Es war zwar dunkel und still,
aber er spürte, dass jemand da war. »Jess? Bist du das?«
Er konnte sich nicht erinnern, ob sie noch einen
Schlüssel hatte. Zumindest hatte er jetzt noch einen Grund mehr,
mit ihr zu reden. Wegen Ash. »Jess, Brian hat mit mir über Ash
gesprochen.« Er suchte nach dem Lichtschalter und betätigte ihn.
Nichts passierte. Er knipste den Schalter ein paarmal auf und ab,
dann trat er verwundert ins Zimmer und tastete nach der kleinen
Stehlampe auf dem Tisch. »Jess? Bist du da?«
Er sah die Gestalt hinter sich überhaupt nicht. Nur
ein leises Geräusch aus der Dunkelheit. Noch während er
herumwirbelte, hob sich eine Hand, die etwas Hartes, Schweres
hielt. Es landete mit einem dumpfen Krachen auf seinem Kopf. Ohne
einen Laut von sich zu geben, sackte William zu Boden.