Kapitel 27
Rhodri ließ Stephs letzte Tasche auf
den Küchenfußboden fallen. Kurz sah er sich um. Das Haus wirkte
ganz normal. Offenbar war in ihrer Abwesenheit nichts Schlimmes
passiert. »Wenn du nichts dagegen hast, fahr ich gleich weiter nach
Hause. Ich bin völlig erledigt.« Er grinste. »Wir telefonieren
morgen, ja?«
Sie nickte. Aus Rhodri und ihr waren auch auf der
Fahrt quer durch halb Europa keine Freunde geworden. Sie hatten
sich fast die ganze Zeit gestritten und waren bei allem
unterschiedlicher Meinung gewesen: was sie wegen Jess unternehmen,
wie sie wegen Daniel vorgehen, welche Route sie nehmen sollten. Zum
Schluss hatten sie sich immer wieder am Steuer abgelöst und waren
mehr oder weniger nonstop gefahren.
»Wir hätten das Auto stehen lassen und fliegen
sollen«, sagte Steph jetzt erschöpft.
»Zu viel Gepäck.« Neben ihren eigenen Koffern und
Taschen hatten sie auch noch Jess’ Gepäck.
Sie lächelte matt. »Bis später, Rhodri. Grüß deine
Mutter von mir. Morgen oder übermorgen schaue ich mal
vorbei.«
Sie sah ihm nach, wie er wieder ins Auto stieg,
wendete und zum Tor hinausfuhr, dann ging sie langsam in die Küche.
Der Kühlschrank würde natürlich leer sein. Vermutlich gab es
überhaupt nichts zu essen im Haus.
Seufzend trat sie ans Fenster und schaute hinaus.
»Tja, Eigon, meine Liebe. Bist du noch hier mit deiner Kinderstimme
und deiner Lust daran, meine Keramik durchs Atelier zu werfen?«,
sagte sie laut. Sie bekam keine Antwort. Sie drehte sich um und
ging ins Esszimmer. Das Fenster, von dem Jess gesagt hatte, es sei
zerbrochen, war repariert worden. Der Handwerker hatte die Rechnung
auf den Tisch gelegt. Das Gras auf dem kleinen Rasen hinter dem
Haus war knapp einen halben Meter hoch gewachsen. Sie seufzte
wieder. Das Haus kam ihr sehr leer vor.
Sie ging in die Küche zurück, nahm den Hörer ab und
wählte Jess’ Mobilnummer. Es war ausgeschaltet. Sie versuchte es
mit Williams. Sein Handy war ebenfalls aus. Na, toll!
Sie schloss die Tür zum Durchgang auf und ging ins
Atelier. Wie immer war es dort staubig, es roch nach Ton, Farbe und
Lasur. Steph ging zur Werkbank und fuhr mit dem Finger über die
Oberfläche, blies den Staub von den Regalen, auf denen die Stücke
standen, die für die Galerie in Hereford und die Boutique in London
bestimmt waren. Abgesehen von der einen Kiste mit den zerbrochenen
Keramiken wirkte alles unberührt. Alles war so, wie sie es
zurückgelassen hatte. Plötzlich empfand sie den unbändigen Wunsch,
wieder zu arbeiten, das Atelier mit Leben zu füllen, den Brennofen
einzuheizen.
Wo bist du?
Die Stimme war so leise, dass sie sie beinahe
überhört hätte. Sie spürte, wie sie sich anspannte.
Wo bist du? Können wir jetzt
rauskommen?
»Scheiße!«, fluchte Steph laut. »Nein, das dürft
ihr nicht, verdammt nochmal! Verschwinde! Lass mich in Ruhe. Reicht
es nicht, dass du Jess das Leben in Rom zur Hölle machst? Lass uns
einfach in Frieden!«
Sie marschierte zum Atelier hinaus, knallte die Tür
hinter sich ins Schloss und ging in die Küche zurück. »Du wirst
mich nicht aus meinem geliebten Haus vertreiben, und du wirst mir
keine Angst einjagen, ist das klar? Ich höre dir nicht zu. Nein,
nein und nochmals nein!«
Stück für Stück schleppte sie das Gepäck die Stufen
hinauf. Jess’ Taschen stellte sie in das Zimmer, das ihre Schwester
offenbar bewohnt hatte, ihre Sachen brachte sie in ihr eigenes
Schlafzimmer. Sie ließ alles auf den Boden fallen und sah sich um.
Auf dem Bett lag eine formlose, kaputte Puppe. Steph überlief ein
eiskalter Schauder. Einen Moment war sie so verängstigt, dass sie
sich nicht bewegen konnte. Lachend schüttelte sie das Gefühl dann
ab. Natürlich, Jess musste die Puppe für sie hingelegt haben. Ein
Scherz? Ein Geschenk? Wer konnte das bei Jess schon so genau
wissen?
Sie nahm die Puppe in die Hand. Sobald sie sie
berührte, erstarrte sie wieder vor Angst, die Puppe fiel zu Boden.
Stephs Hände zitterten vor Entsetzen. Die Puppe war nass, frisches
Moos und Blätter klebten an ihr. Steph starrte auf sie hinunter,
roch das feuchte, modrige Laub. »Scheiße!« war das Einzige, das sie
noch hervorbringen konnte. Sie machte auf dem Absatz kehrt, lief
die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Draußen war die Luft
frisch und sauber, der Himmel ein strahlendes Blau, hier und dort
durchsetzt von weißen Wattebauschwolken, die rasch über das breite
Flusstal auf die englische Grenze zutrieben. Über ihr erklang ein
tiefes, heiseres Krächzen. Ein Rabe flog mit bedächtigen
Flügelschlägen auf den Wald zu. Noch während sie ihn beobachtete,
hörte sie den Schrei eines Bussards hoch oben am Himmel. Plötzlich
ließ der Raubvogel sich wie ein Stein auf den Raben fallen, der ihm
in letzter Sekunde auswich, ein oder zwei Minuten verfolgten die
beiden
Vögel sich wütend, ehe sich der Bussard wieder in die Höhe
schraubte und der Rabe im sicheren Blätterdach verschwand.
Steph drehte sich um und betrachtete das Haus. Es
lag schläfrig im Sonnenschein da, Rosen rankten sich um die Tür, in
einem Zimmer waren die Vorhänge halb zugezogen und bildeten einen
blauen Farbklecks im grauen Stein. Es war ein glückliches
Haus.
Aber in diesem Tal gab es Unglück.
Und jetzt diese Puppe.
Langsam ging Steph ins Haus zurück. Sie griff zum
Hörer und wollte gerade Megan anrufen, als sie innehielt. Wenn sie
das tat, würde Rhodri kommen. Er würde davon ausgehen, dass sie
Hilfe brauchte. Seine überbordende, selbstgefällige Hilfe. Guter
Gott, so bald wollte sie ihn wirklich nicht wiedersehen. Kurz
entschlossen wählte sie eine Nummer in Frankreich.
»Mummy? Bist du da? Bitte nimm ab.«
Sie hörte ein schabendes Geräusch, dann eine
atemlose Stimme. »Steph? Einen Moment, Liebes. Lass mich das Ding
noch wegräumen.« Ein weiteres Krachen, dann schließlich hörte sie
ihre Mutter richtig in den Hörer sprechen. Jetzt lächelte Steph.
Sie stellte sich ihre Mutter vor, ihre Hippie-Klamotten, ihre
wilden grauen Haare, ihre rauen Hände von der vielen Gartenarbeit,
wenn sie zu Hause in ihrem Häuschen in den atlantischen Pyrenäen
war, die Haut gegerbt von der Sonne tausend tropischer Länder, in
denen sie gewandert war und geschrieben und sich mit Einheimischen
ausgetauscht hatte, ihre Augen ein durchdringendes Stahlblau.
»Entschuldige, ich hab gerade einen Korb Gemüse
reingebracht.« Aurelia war immer noch außer Atem. »Wie geht’s? Ich
habe von euch beiden seit Ewigkeiten nichts gehört.«
Steph biss sich auf die Unterlippe. »Mummy, es sind
ziemlich schreckliche Sachen passiert.« Eigentlich hatte sie nicht
gleich damit herausplatzen wollen, aber die Stimme ihrer Mutter
hatte unvermittelt kindliche Hoffnungen in ihr geweckt. Plötzlich
wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihre Mutter zu sehen, ihr
ansteckendes Lachen zu hören, den wunderbaren Duft des Shampoos zu
riechen, das sie aus Rosmarin und Lavendel selbst zubereitete, und
die seltsamen Blumendüfte, die sie auf ihren Reisen kaufte.
In ihrer unordentlichen, warmen, chaotischen Küche
in Frankreich setzte sich Aurelia mit besorgtem Gesicht auf einen
Stuhl. »Na, erzähl mal, Liebes«, sagte sie.
Steph redete sehr lange. Zwischendrin wurde ihr
klar, dass sie den Hörer so fest umklammert hielt, dass ihre Finger
taub wurden. Als sie ans Ende ihrer Erzählung anlangte, nahm sie
ihn schließlich in die andere Hand.
»Und wo ist Jess jetzt?«, fragte Aurelia nach einer
Weile.
»Immer noch in Rom. William will mit ihr nach
Cornwall fahren, um sie bei seinen Eltern in Sicherheit zu
bringen.«
»Bist du ganz allein in Ty Bran?«
Steph nickte, sie war den Tränen nahe.
»Und was hast du mit dieser Puppe gemacht?«
»Sie liegt noch oben auf dem Boden.«
»Ich glaube, du solltest sie nach draußen bringen,
Liebes. Fass sie nicht wieder an. Nimm eine Zange oder etwas in der
Art und trag sie vorsichtig nach draußen, geh nicht grob mit ihr
um. Bring sie irgendwo in Sicherheit. Sie könnte für das Kind, das
sie dorthin gelegt hat, sehr kostbar sein.«
»Das Kind, das sie dorthin gelegt hat, ist seit
zweitausend Jahren tot!«
»Ich weiß. Aber das spielt keine Rolle.« Aurelia
seufzte. »Soll ich kommen?«
Steph nickte lautlos. Dann riss sie sich zusammen.
»Nein, das ist nicht nötig. Sag mir einfach, ich soll mich nicht so
haben.« Mühsam brachte sie ein Lachen zustande.
»Eigentlich wollte ich dich nächsten Monat sowieso
besuchen«, sagte Aurelia, ohne auf Stephs Einwand einzugehen. »Ich
will mich mit meinem Verleger wegen meines nächsten Buches treffen.
Ich kann die Reise ja einfach vorverlegen. Ich könnte morgen bei
dir sein. Und jetzt, was machst du heute Abend? Deinen Bemerkungen
entnehme ich, dass du lieber nicht zu den Prices gehen möchtest,
obwohl Megan sich über deinen Besuch freuen würde, wenn ich mich
recht entsinne. Aber warum übernachtest du nicht im Pub? Sandra
würde dir ein Zimmer geben. Sie ist doch immer noch da, oder? Sie
würde sich bestimmt riesig freuen.«
Steph lächelte. »Mach dir keine Sorgen, ich komme
schon zurecht. Aber es wäre sehr schön, wenn du kommen würdest.
Wirklich. Ich brauche jemanden, der mir die Ohren langzieht!«
Aurelia lachte. »Das glaube ich auch.« In Gedanken
machte sie bereits Pläne. »Ich buche den ersten Flug, den ich
bekommen kann. Ich rufe dich von London an, vielleicht kannst du
mich am Zug abholen. Bis dann.«
Als Steph den Hörer auflegte, ging es ihr viel
besser. Sie warf einen Blick zur Treppe. Tu es jetzt, sofort. Eine
Zange. Hatte sie eine Zange? Sie schaute auf die Leiste mit den
vielen Haken, an denen ihre Kochutensilien hingen. Die Zange war
noch genau an ihrem Platz. Steph holte tief Luft, nahm sie vom
Haken und ging die Treppe hinauf.
Die Puppe lag genau dort, wo sie sie hatte fallen
lassen. Steph starrte sie an. Sie war real, daran bestand kein
Zweifel, sie hatte sie gespürt, gerochen, den feuchten Fleck
gesehen, den sie auf ihrem Bett hinterlassen hatte. Aber es war
ein Gespenst, das die Puppe dort abgelegt hatte. Es musste eins
gewesen sein. Hätte Jess sie hingelegt, wäre die Puppe schon längst
getrocknet.
Steph griff mit der Zange nach der Puppe. Dann
überlegte sie es sich anders. Ein kleines Mädchen hatte die Puppe
hier zurückgelassen, ein kleines Mädchen, das sie vielleicht als
ihren kostbarsten Schatz betrachtet hatte. Die wollte sie doch
nicht mit einer Zange aufheben! Sie bückte sich, hob sie mit
Zeigefinger und Daumen hoch. Die Puppe war noch feucht und kalt,
aber sie fühlte sich real an. Am ausgestreckten Arm trug Steph sie
vor sich her die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus und legte
sie oben auf die Mauer, die den Hof vom Wald trennte. »Bring sie
irgendwo in Sicherheit«, hatte ihre Mutter gesagt. Sie hatte Recht.
Sie, Steph, sollte sich darum kümmern, dass die Puppe sicher
aufbewahrt wurde. Sie schaute zum Wald. Jess hatte gesagt, dass die
Stimmen von dort kamen. Sie ging zu dem kleinen Schuppen, in dem
sie ihre Gartengeräte und den Schubkarren aufbewahrte. Dort lagen
auch ein paar alte Kisten. Sie fand eine Holzkiste, in der einmal
eine Flasche besonders guter Champagner verpackt gewesen war. Sie
hatte genau die richtige Größe. Steph legte die Puppe hinein,
schloss den Deckel und steckte die Kiste in eine Nische in der
Mauer. Einen Moment hielt sie inne und schaute zum Wald. Es war
nichts zu hören. Dann kehrte sie ins Haus zurück und schloss die
Tür hinter sich, lief in ihr Schlafzimmer und riss die Tagesdecke
vom Bett. Dann eilte sie wieder nach unten und stopfte sie in die
Waschmaschine.
Julius wartete schon auf sie, als sie aufwachte.
Sobald sie in die Tür ihrer Hütte trat, glitt er von der Mauer, auf
der er gesessen hatte, und kam zu ihr. »Wie geht es dir?« Er
lächelte sie an. Beim Anblick seiner warmen braunen Augen
schmolz sie dahin, sie ließ sich von ihm in die Arme schließen und
einen Kuss auf die Stirn geben.
»Mir geht es sehr gut. Gibt es Neuigkeiten von
deinem Großvater?«
Er nickte. »Sie sind in Sicherheit. Junilla hat ihn
in ein Haus näher bei Rom gebracht. Dort, wo auch Petrus
untergekommen ist.«
»Gott sei Dank!« Einen Moment konnte Eigon gar
nicht fassen, dass sie jetzt alle in Sicherheit waren. Julius schob
sie sanft von sich, nahm ihre Hand und führte sie zu dem Baumstamm,
der ihnen als Bank diente. Außer ihnen war niemand da. Ein leicht
rauchendes Feuer brannte inmitten des Steinkreises, darüber hing
ein Kessel voll Wasser. Es war gerade erst gefüllt worden und noch
nicht heiß.
»Eigon, ich muss dir etwas sagen«, begann er sacht.
»Es sind nicht nur gute Nachrichten eingetroffen.«
»Was?« Beklommen sah sie zu ihm. »Antonia?«
»Mit Antonia ist alles in Ordnung. Sie ist hier in
der Nähe. Momentan sind wir alle in Sicherheit, aber der Bote, der
von Großvater kam, hatte noch eine andere Nachricht, Eigon. Eine
für dich.« Er griff nach ihrer Hand. »Es geht um deine Mutter, mein
Herz.«
Eigon spürte, wie sie sich vor Angst verkrampfte.
»Was ist mit ihr?«
»Anscheinend konnte sie sich ein Leben ohne deinen
Vater nicht vorstellen.«
»Was meinst du damit?« Entgeistert starrte Eigon
ihn an.
»Sie hat sich das Leben genommen, Eigon. Es tut mir
sehr leid.«
Vor Entsetzen riss Eigon die Augen auf. »Nein, das
würde sie nie tun! Warum denn? Nein …!« Aber sie kannte den Grund.
Jetzt, wo ihr geliebter Gemahl tot war, ebenso wie Togo und
Gwladys, und nachdem Eigon aus ihrem Leben
verschwunden war, war Cerys niemand mehr geblieben. Sie war ihrem
geliebten Caradoc ins Land der ewigen Jugend gefolgt, im sicheren
Glauben, dass sie beide eines Tages zusammen zu einem neuen Leben
wiedergeboren würden. Eigons Augen füllten sich mit Tränen, einen
Moment konnte sie sich gar nicht bewegen, so überwältigt war sie
von ihrer Trauer.
Erst sehr viel später stand sie auf und ging vom
Feuer fort, um den Blick über die Berge schweifen zu lassen. Ein
goldgelber Schmetterling umtanzte sie einen Augenblick und flog
dann fort. Jetzt war sie es, die allein zurückblieb.
Julius folgte ihr nicht, sondern saß einfach
wartend auf dem Baumstamm und schaute ins Feuer, bis sie
schließlich von selbst zurückkam. »Wie hat sie es gemacht?«
»Ich glaube, sie hat Gift genommen.«
Eigon presste die Lippen zusammen. »Sie muss sehr,
sehr unglücklich gewesen sein.« Sie schaute zu ihm, ihre Wangen
waren noch nass von Tränen.
Er nickte und wischte sie sanft mit den
Fingerspitzen fort.
»Und es ist doch eine Sünde, oder nicht? Sich
selbst das Leben zu nehmen?«, flüsterte Eigon nach einer langen
Stille. Ihre Stimme zitterte.
Julius zuckte mit den Schultern. »Deine Mutter war
keine Christin. Und dein Vater auch nicht.«
»Das heißt, in unseren Augen sind sie verdammt?«
Eigon erhob sich wieder und ging rastlos auf und ab. »Das kann
nicht sein.« Heftig wandte sie sich zu ihm um. »Das heißt doch,
dass alle Menschen, die bisher gelebt haben, in die Hölle kommen,
bis auf uns wenige Seelen.«
Hilflos schüttelte Julius den Kopf. »Ich weiß
nicht, ob das stimmt. Darüber musst du mit Petrus sprechen. Er
möchte dich sehen, Eigon. Ich habe dem Boten gesagt, dass du und
ich einen Weg finden werden, heute Abend zu ihm zu kommen.«
»Und was, wenn jemand uns sieht?« Geistesabwesend
war sie wieder von ihm fortgegangen, in Gedanken war sie noch bei
ihrer Mutter.
»Wir sorgen dafür, dass sie uns nicht sehen.«
Sie machte ihn nicht auf die Sinnlosigkeit dieser
Bemerkung aufmerksam. Offenbar stand jeder Baum und jede Mauer in
Rom in Titus Marcus Olivinus’ Lohn.
Ihre einzige Hoffnung bestand in ihrer Verkleidung
und dem Schutz ihrer inbrünstigen Gebete. Das hatte schon einmal
funktioniert, warum nicht ein weiteres Mal? Irgendwie mussten sie
zu Petrus gelangen, und es schien das Vernünftigste, sofort
aufzubrechen, bei Tageslicht, wie Menschen, die nichts zu
befürchten hatten. Sie machten sich am späten Nachmittag auf den
Weg, beladen mit Körben von Lebensmitteln, die sie als Geschenke
mitbrachten und die gleichzeitig dem Zweck dienten, sie überzeugend
wie einen Bauern und seine Frau aussehen zu lassen, die einem
Kunden rechtzeitig zu seiner abendlichen Essenseinladung ihre
Erzeugnisse brachten. Sie trugen schlichte Gewänder und waren
allein, keine Sklaven, keine Eskorte begleiteten sie. Eigon ritt
auf einem Maultier, Julius ging neben ihr her. Er grinste zu ihr
hinauf. »Und? Wie gefällt dir das Leben als einfache
Bauersfrau?«
Die Bemerkung riss sie aus ihren schwermütigen
Gedanken, sie lächelte verlegen. »Es gefällt mir sehr gut.« Ihre
Augen waren noch rot vom vielen Weinen.
Er griff nach ihrer Hand, mit der anderen führte
sie das Maultier. Die am Sattel befestigte Weinamphore baumelte
zwischen ihnen, die Körbe mit Obst und Gemüse und Brot hingen zu
beiden Seiten von Eigon herab. »Kannst du dir
vorstellen, die Frau eines Mannes zu werden, der kein Bauer ist?«
Mit blitzenden Augen schaute er zu ihr hinauf.
»Das ist denkbar.« Ein Glücksgefühl durchflutete
sie, für einen Moment verebbte ihre Trauer.
»Ich dachte, ich könnte gleich nach unserer Ankunft
mit Großvater sprechen«, sagte er leise. »Ich hätte so gern seinen
Segen, wenn ich heirate.« Er hielt immer noch ihre Hand.
»Und hast du dir schon überlegt, wen du heiraten
könntest?« Sie studierte angelegentlich die Ohren des
Maultiers.
»Ja, das habe ich. Ich dachte, ich könnte eine Frau
heiraten, die ein bisschen anders ist. Nette römische Mädchen sind
so langweilig. So«, er wedelte mit seiner freien Hand durch die
Luft, »so römisch.«
Sie lächelte. »Und würde Felicius deine Hochzeit
mit einer Frau billigen, die nicht langweilig und römisch
ist?«
»Das weißt du doch. Seit Monaten macht er
Andeutungen, ich solle mich beeilen und die Betreffende fragen,
sonst käme mir noch jemand zuvor.« Er zögerte. »Aber ich bin davon
ausgegangen, dass dein Vater seine Zustimmung verweigern würde.« Er
fasste ans Zaumzeug und brachte das Maultier zum Stehen.
»Eigentlich wollte ich dich heute nicht mit dieser Frage
überrumpeln, wo du so unglücklich bist, Eigon. Ich weiß, es ist
nicht gerade einfühlsam von mir.« Seine Stimme war sehr sanft.
»Aber die Zeiten sind gefährlich und unsicher. Heute besteht die
Gelegenheit, Großvater zu fragen, und wenn du einwilligst, möchte
ich Petrus bitten, uns zu trauen.«
Sie sah ihn verblüfft an. »Heute?«
»Na ja, vielleicht morgen!« Er zuckte mit den
Achseln.
Einen Moment starrte sie ihn ungläubig an, dann
stieß sie einen kleinen Freudenj auchzer aus, sprang aus dem Sattel
und schlang ihm die Arme um den Hals. Das Maultier schrie
unwillig. Lange Zeit blieben sie eng umschlungen in der Mitte der
Straße stehen, gefangen in ihrem leidenschaftlichen Kuss. Erst ein
mit Kohlköpfen beladener Wagen, der ihnen entgegenrumpelte, brachte
sie in die Realität zurück. Als der Fahrer pfiff und Obszönitäten
schrie, lösten sie sich lachend voneinander, und Julius hob Eigon
wieder in den Sattel.
»Wir haben noch ein ganzes Leben vor uns, um uns zu
küssen, mein Liebling. Schauen wir zu, dass wir ankommen, bevor es
dunkel wird und Großvater sich Sorgen macht.« Er klatschte dem
Maultier auf die Flanke, das empört lostrabte.
Es war spät, als sie schließlich in dem Haus
außerhalb von Rom eintrafen, in dem Petrus die letzten Wochen
verbracht hatte. Von außen war es ein schlichtes, unauffälliges
Gebäude, aber die Innenhöfe und die Räume, in die sie geführt
wurden, waren wunderschön möbliert und sehr behaglich.
Petrus begrüßte sie beide mit einem Kuss und führte
sie in den Raum, in dem er arbeitete und seine Briefe schrieb. Als
er sich zu ihnen drehte, fand Eigon, dass er älter und bedrückter
aussah als bei ihrer letzten Begegnung. Seine Miene wirkte
verwundert.
»Ich freue mich natürlich sehr, euch zu sehen, aber
mir ist nicht klar, warum ihr hier seid. Wir haben die Nachricht
bekommen, dass ihr Felicius im Bauernhaus erwartet. Er ist heute
früh dorthin aufgebrochen.«
Julius runzelte die Stirn. »Da kann etwas nicht
stimmen. Uns wurde gesagt, dass Großvater hier sei. Wir haben euch
Obst und Gemüse aus dem Garten mitgebracht.«
Er warf einen Blick zu Eigon. »Unser Bote hat auch
Nachrichten für Eigon überbracht.« Er machte eine kurze Pause.
»Das muss ein Missverständnis gewesen sein.« Seine Stimme wurde
schärfer. »Wir haben doch den Boten nicht falsch verstanden?«
Petrus sah besorgt drein. »Ich hole Drusilla und
fragen sie, wer Felicius heute früh die Nachricht überbracht
hat.«
Er eilte hinaus, stützte sich dabei aber schwer auf
seinen Stab. Julius schaute zu Eigon. »Ich habe kein gutes
Gefühl.«
Sie nickte schaudernd. Ihre Aufregung und ihre
Freude waren verflogen, zurück blieb eine eisige Kälte in der
Magengrube. »Ist es möglich, dass Titus herausgefunden hat, wo
Felicius ist?«, flüsterte sie. »Und wir? Dass er es die ganze Zeit
schon wusste?«
Julius verzog das Gesicht. »Wer weiß, mein
Liebling. Beten wir zu Gott, dass du Unrecht hast.«
Petrus kehrte in den Raum zurück, begleitet von
einer hübschen Frau Mitte dreißig mit schwarzem Haar und dunklen
Augen. Sie sah besorgt drein. Wie sich herausstellte, war sie
Drusilla, die Cousine Pomponia Graecinas. »Es war ein junger Mann«,
sagte sie. »Er klopfte an der Tür und sagte, ihr wäret in
Sicherheit in den Bergen, und dein Großvater solle so bald wie
möglich zu euch kommen.«
»Wie sah er aus?«, fragte Julius. Drusilla machte
eine ausweichende Geste. »Ich habe ihn nicht gesehen. Er hat mit
einer Sklavin gesprochen. Er sagte, er könne nicht warten, er müsse
noch andere Haushalte mit ähnlichen Botschaften aufsuchen.« Nervös
fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und schaute zwischen
Julius und Petrus hin und her. »Verstehe ich das recht, dass ihr
diesen Boten gar nicht geschickt habt?«
Julius schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Ich gehe
zurück.«
»Ich komme mit.« Eigon griff nach seiner Hand, doch
er entzog sie ihr sofort wieder. »Nein. Es ist besser, wenn ich
allein gehe. Allein bin ich schneller, und dann weiß ich, dass
wenigstens du in Sicherheit bist.« Streng sah er zu ihr, dann wurde
sein Gesicht wieder weicher, und er nahm ihre Hände in seine. »Ich
leihe mir ein Pferd, dann bin ich sehr schnell wieder da. Es ist ja
gut möglich, dass das alles nur ein Missverständnis ist und
Großvater von Marcellus schon gehört hat, wo wir sind, und sofort
kehrtgemacht hat. Dann begegne ich ihm unterwegs.«
Einen Moment schmiegte Eigon sich an ihn. »Bitte,
pass auf dich auf. Ich könnte es nicht ertragen, dich noch einmal
zu verlieren.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Lippen. »Ich bin so
bald wie möglich wieder hier. Und dann bitten wir Petrus, uns zu
trauen!« Er grinste zu dem alten Mann hinüber. »Ich wollte zuerst
Großvater um seinen Segen bitten, aber jetzt bitte ich dich um
deinen, für meine Reise. Ich werde Großvater finden, und Antonia
bringe ich auch gleich mit. Sie wären sicher sehr verärgert, wenn
wir ohne sie heiraten würden.«
Damit war er fort.
Eigon starrte auf den Boden, plötzlich war sie
wieder den Tränen nahe. Drusilla legte ihr einen Arm um die
Schultern. »Ihm passiert schon nichts, du wirst sehen. Komm mit,
wir unterhalten uns ein bisschen und überlassen Petrus seinen
Briefen und seinen Gebeten.« Sie lächelte dem alten Mann freundlich
zu.
Er nickte. »Es wird mir eine große Freude sein,
euch beide zu trauen«, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln.
»Das ist etwas, auf das wir uns freuen können.«
Eigon wachte noch vor Morgengrauen auf. Kurz
schaute sie sich in dem unbekannten Raum um, wusste zunächst nicht,
wo sie war, dann setzte sie sich voll Angst auf. In der Tür stand
eine Gestalt. »Was ist?«
Der Junge, der an ihre Tür geklopft hatte, hatte
eine Lampe bei sich. Schatten tanzten über die Wände und die Decke.
»Bitte kommt, Herrin. Schnell.«
Sie legte sich eine Decke um die Schultern und
folgte ihm. Im großen Raum hatte sich eine Gruppe von Menschen
versammelt. Einer der Sklaven ging umher und entzündete die Lampen.
Drusilla war auch da, sie weinte.
»Was ist los? Was ist passiert?« Auf einmal empfand
Eigon mehr Angst als je zuvor im Leben.
Petrus lehnte schwer auf seinem Stab. Er war noch
in die alte blaue Tunika gekleidet, die er am Abend zuvor getragen
hatte. Sein Gesicht war eingefallen. »Meine Liebe, ich fürchte, ich
habe sehr schlechte Nachrichten für dich.« Er streckte die Arme
nach ihr aus. »Sei auf das Schlimmste gefasst.« Er schob einen
jungen Mann vor sich, der bislang neben ihm gestanden hatte. Seine
Kleider waren zerrissen und mit Staub bedeckt. Es dauerte einen
Moment, bis Eigon in ihm Silas erkannte, der sie aus der Villa
ihres Vaters begleitet hatte.
»Was ist passiert?« Ihr Mund war völlig trocken.
Sie blickte in die Gesichter der Umstehenden und schüttelte
verzweifelt den Kopf. »Nein. Bitte, nicht.« Fast ohne es zu merken,
war sie auf Petrus zugetreten. Er legte ihr einen Arm um die
Schultern. »Sei stark, mein Kind.«
»Wir sind verraten worden.« Silas schüttelte den
Kopf, seine Schultern bebten vor unterdrücktem Schluchzen. »Ich war
unten am Bach, um Wasser zu holen, als ein Trupp Soldaten den Berg
heraufkam. Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht,
irgendjemanden festzunehmen. Sie haben einfach alle getötet. Alle.
Die Frauen. Stephanus’ Kinder. Marcellus.« Seine Stimme drohte
überzuschnappen. »Felicius Marinus. Antonia. Alle.«
Eigon erstarrte. Sie wusste, dass er sprach, aber
sie konnte ihn nicht mehr hören. Julius’ Gesicht erschien vor ihr.
Sein
Lächeln, sein Mund, seine Augen. Die Arme nach ihr
ausgestreckt.
»Wir saßen zusammen beim Essen.« Er sprach weiter,
aber die Worte drangen kaum noch zu ihr durch. »Felicius war
angekommen. Er suchte nach dir und Julius.« Jetzt schüttelte er
wieder den Kopf. »Es war eine List. Sie müssen ihm gefolgt
sein.«
Eigon hörte ihm nicht mehr zu. Sie löste sich aus
Petrus’ Armen und ging zur Tür. Benommen trat sie ins Atrium hinaus
und schaute in den Teich, der in der Mitte eingelassen war. Wenn
sie erwartet hatte, dort Szenen des Blutbads zu sehen, so wurde ihr
das erspart. Das Wasser lag klar und ruhig über dem Mosaik von
Pflanzenblättern.
Als Petrus schließlich zu ihr kam, begegnete sie
seinem Blick mit klaren Augen. »Das ist alles meine Schuld.
Dahinter steckt Titus Marcus Olivinus. Wären es Neros Leute
gewesen, hätten sie sie alle festgenommen und in den Kerker
gebracht, um sich an ihrem Tod zu weiden. Das war eine persönliche
Sache. Er hat jeden einzelnen Menschen umgebracht, den ich liebe.
Wahrscheinlich stand er auch hinter dem Tod meiner Mutter.«
Ihre Stimme zitterte ein wenig.
Petrus nahm ihre Hand. »Komm, meine Liebe, lass uns
beten. Schütte Jesus dein Herz aus. Lass dich von ihm
trösten.«
Fünf Tage blieb sie noch bei Petrus und Drusilla,
dann brach sie auf, um nach Britannien zurückzukehren.